Als nur sehr unregelmäßiger Benutzer des Forums, der mit der Suchfunktion auch öfter seine Schwierigkeiten hat, weiß ich jetzt mal wieder nicht, ob meine Frage schon in einem anderen Strang behandelt wurde. Sollte das der Fall sein, würde ich die Moderation bitten, meinen Post entweder in den entsprechenden Strang zu verlegen, oder gleich in diesen hier -Was hat Euch zeitgenössische Musik zu bieten?- in dem ich ursprünglich antworten wollte, und der mir nun auch als Aufhänger dienen muss.
(Ich versuche, es kurz zu machen und hoffe, die Kurve noch zu kriegen.)
Jedenfalls wollte ich auf die Frage, was zeitgenössische Musik denn eigentlich zu bieten habe, zuerst mich selbst zitieren, da ich über Mahlers Zehnte mal geschrieben habe, dass sie wie ein musikalischer Schwamm funktionieren würde, und man sich nach einer guten Interpretation gereinigt fühle und "jeder depressiv-verwegene Schmutz in einem" erstmal aufgesaugt sei und entfernt.
Und im Grunde, das wäre dann mein Punkt gewesen, ist es genau dieser Effekt, den mir "zeitgenössische Musik" eben bietet, und der bei Boulez z.B., bei Nono, bei Lachenmann, bei Rihm usw. noch viel stärker ist als bei Herrn Mahler. (Auch deswegen, weil die Reinigungswirkung von Pli Selon Pli vorallem auch quälende Aggressionen mit einschließt.)
Natürlich durfte aber dann der Hinweis nicht fehlen, dass ich "zeitgenössisch" und "modern" in dem gleich unwissenschaftlichen, eigentlich völlig polemischen Sinne verwende wie ihre Gegner - das heißt, dass ich zwar die Wertung umkehre, aber es in mir auch immer denkt, dass das Klavierkonzert von Schoenberg (1942) viel "moderner" ist, viel "zeitgenössischer" als das "Tirol Concerto" Philip Glass' (2000).
Ich will jetzt freilich nicht sagen, dass es im Gegenteil sehr "wissenschaftlich" wäre, die Modernität eines Werkes schlicht an dessen Entstehungsdatum fest zu machen...
(Oder will ich das sagen? Jedenfalls wäre das eine der Streitfragen, um die es hier gehen sollten.)
...sondern dass der Effekt, den ich suchen und den ich einer Musik finde, die ich dann als zeitgenössisch, als modern usf. bezeichne, präziser nicht in derjenigen Musik zu finden ist, die "zeitgenössisch" ist, sondern in Musik, die von den Gegner des Zeitgenössischen schlicht als Krach bezeichnet wird - but you don't have to call it music, if the term shocks you.
Wie auch immer: die Frage sollte nun also lauten, wann Musik (wann Kunst an sich) denn eigentlich modern ist und wann sie nicht nur zeitgenössich, sondern zeitgemäß ist.
Ich vermute, dass diese -vielleicht etwas unscharfe Frage- drei verschiedenen "Fraktionen" sich positionieren lässt:
Die erste verwirft nicht nur die Relevanz des Entstehungsdatums, sondern auch die Vorstellung, dass veränderte gesellschaftliche Bedingungen maßgeblichen Einfluß auf die Beantwortung haben - stattdessen sei zumindest die Essenz einiger menschlicher Gegebenheiten (Liebe, Krankheit, Tod usw.) unabhängig von den gesellschaftlichen Bedingungen und insofern könne auch die sensible Freude eines Figaro z.B. die Menschen aller Zeiten bewegen, erreichen und be-reichern - große Musik könne also insofern immer "zeitgemäß" sein.
Die zweite Fraktion könnte...
auch ausgehend von einem Bild des Menschen, der als größenßteils oder sogar völlig "leeres Blatt" zur Welt komme, das von der jeweiligen Kultur dann bis in's Intimsten hinein beschriftet werde
...betonen, dass die Veränderung dieser gesellschaftlichen Umstände insofern auch die Wahrnehmung eines Kunstwerks so entscheidend beeinfluße, dass es "nach Auschwitz eigentlich barbarisch" sei, noch eine kleine Nachtmusik zu schreiben, zu hören; dass man die pastorale Unschuld irgendeines klassizistischen Quartetts ohnehin nicht mehr nachvollziehen könne und die vornehmste Aufgabe der Kunst ja auch gar nicht darin bestünde, dem Menschen die immer schreckliche Gegenwart erträglich(er) zu machen, sondern sie das Grauen auch grauenhaft abbilden müsse, damit der Hörer eben nicht in künstl(er)ische Paradiese flüchte, sondern Mut bekomme zur Revolution.
[Derlei Beispiele gebe es noch viele: können die religiösen Analphabeten der Gegenwart eigentlich noch eine Matthäus-Passion verstehen? Findet man einen Zugang zur Zauberflöte, wenn man sie unter Berücksichtigung der Gender-Frage analysiert und zu dem Schluß kommt, dass dort schlimme Gedankenverbrechen lauern ("Nichts höheres als Mann und Frau", "Sie ist ein Weib, hat Weibersinn" usf.) von denen man sich permanent "distanzieren" muss, damit man von unseren politisch korrekten Gesinnungsgouvernanten nicht des Schlechtdenks wegen zum Volksfeind deklariert wird?]
Die dritte Fraktion jedenfalls könnte betonen, dass klassische Musik eigentlich immer schon ein Minderheitenphänomen gewesen sei und dies in Zukunft auch bliebe.
Damit wäre sie quasi (wie die Philosophie) immer zeitgemäß, aber auch immer unzeitgemäß. Jedenfalls in ihrer allgemeinen Form, die Frage nach spezifischen Werken bliebe noch unbeantwortet.
(Ebenfalls variieren könnte dann auch die Reichweite, weil es freilich einen Unterschied macht, ob nur der alte Fritz den Bach gern' hört, oder nur der kleine Angestellte eines Museums, der sich in einem Umfeld von Liebhabern bewegt, deren Einfluß so gering ist wie der Einfluß derjenigen, die statt CDs halt Briefmarken sammeln.)
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Langweilig wie ich bin, finde ich selbst jedenfalls, dass in allen drei "Fraktionen" eine Wahrheit steckt. Und wie zu Beginn gesagt, wirkt Boulez etwa auf mich ja so wie ein Schwamm, der "negative Triebimpulse" aufsaugt, wegwischt, sodass man sich nach dem "Genuß" seiner Musik in einem Zustand der erleichterten Erschöpfung befindet.
(Man müsste hier noch differenzieren zwischen der Wirkung seiner zweiten Klaviersonate, einem Stück wie Caminantes... Ayacucho von Nono oder der Hamletmaschine von Rihm.)
Aber wie in der modernen Literatur z.B. auch, verlangt diese Musik eine gewissen Leidensfähigkeit und ein großes Durchhaltevermögen. Aber wer es schafft, ein Stück von Boulez oder einen Roman von Beckett wirklich durchzuhalten (auch wenn es manchmal weh tut) der wird meiner Erfahrung nach auch reich belohnt am Schluß.
Ich wiederhole das nur deshalb, weil der Gegensatz zu dieser Schwammfunktion für mich in der Musik von Mozart zu finden ist, der mir auch als Argument für die "erste Fraktion" dienen soll. Denn seine großen Werken wirken auf mich jetzt eben nicht wie ein Schwamm, sondern wie ein Vergrößerungsglas meines jeweiligen Seelenzustands, und wenn ich etwa traurig bin, melancholisch und dann den Figaro höre, wirkt er auf mich auch immer so und mit einem immer völlig herzzereißendem Unterton. (Al fiero tormento / di questo momento / Quest' quell' anima appena / Resistere or sa...)
Wenn ich im Gegensatz dazu fröhlich bin und gut gelaunt, dann hach: ja finde ich auf einmal, dass die Musik doch total heiter ist und wie verkomponierter Frühling.
Insofern glaube ich also auch, dass Mozart oft viel weniger harmlos ist, als moderne Komponisten - denn es ist ja nicht immer nur angenehm, den eigenen Zustand intensiviert vor Augen geführt zu bekommen. Zuweilen erschrickt man dann über sich selbst...
Jedenfalls: aus dieser Sicht heraus muss eben der angesprochene Figaro z.B. als (immer) zeitgemäß betrachtet werden.
Trotzdem denke ich auch, dass Musik, um als zeitgemäß bezeichnet zu werden, die jeweilige Zeit eben reflektieren muss und Opern, für die das adelige Recht der ersten Nacht von Bedeutung ist, eigentlich nicht als zeitgemäß zu betrachten sind.
(...und äh: nein, das ist jetzt kein Widerspruch, sondern Dialektik Bzw. die Trennung von Musik - Text. Wie auch immer.)
Insofern glaube ich eigentlich und irgendwie ja auch, dass Stockhausen, Boulez und Nono schon lange nicht mehr zeitgemäß sind: das waren sie in den sechziger, siebziger Jahren. Zeitgemäß heute wäre der oft hollywoodeske und melancholische Minimalismus eines Arvo Pärt, der zudem noch von religiösen Motiven durchtränkt ist, die aber oft nur auf das "Credo" beschränkt sind oder auf Text gar verzichtet und wie im Film nur "Ohoooo Ahhaaaa Eeeheee" zu hören ist. Nicht zu vergleichen jedenfalls mit einer Bach'schen Kantate a la "Ich sehne mich nach meinem Tod."
Ich kann mich bzgl. Pärt aber auch irren, weil ich mich nicht eingehend mit seiner Musik beschäftigt habe und es auch eine Weile her ist, dass ich CDs von ihm gehört habe. Trotzdem scheint er mir als Beispiel zu taugen - vorallem für eine allgemeine Tendenz in der Kulturszene, die man in gewisser Weise als "reaktionär" bezeichnen könnte: Gerhard Richter schimpft jetzt immer öfter über "das Häßliche", die Mozart-Statue von Lüpertz und malt stattdessen Kerzen, Landschaften; die Bilder von Norbert Bisky sehen so aus, als hätte Steven Spielberg versucht, Leni Riefenstahl nachzufilmen, jemand wie Martin Mosebach erhält den Büchner-Preis (man denke an seine Aussagen bzgl. moderner Kunst, Ästhetik in der "Häresie der Formlosigkeit"), der Daniel Kehlmann verschimpfte jüngst das Regietheater und schreibt schon, obgleich erst Mitte 30, einen Beststeller über zwei Intellektuelle aus dem 18. Jahrhundert. Wahrscheinlich auch der Typ, der schon mit Ende 20 eine Rotweinsammlung anlegt...
Mein Problem wäre jetzt weniger das Reaktionäre (ich bin ich vielerlei Hinsicht ja selber einer), sondern dass man diese Beschreibung unbedingt in Anführungszeichen setzen muss, da ich oft den Eindruck habe, dass nicht an die großen Werke der Vergangenheit angeknüpft wird, sondern nur der hollywoodeske und vereinfachte Abglanz dieser Werke produziert wird (Gerhard Richter und die Essays Mosebach schätze ich aber sehr ein melancholischer Unterton bei dem gleichzeitigen Optimismus, der uns ja allerorten auferlegt wird, damit die Konsumquote nicht einbricht - dann eingängige, vermeintlich klassische Formen und ein bisschen Weltflucht: alles einmal umrühren und wir haben das, was unserer Zeit vielleicht entspricht.
Robert Spaemann, den ich wirklich sehr schätze, sagte einmal, dass sich die Philosophie vorallem auch mit dem beschäftige, was immer sei und dem, was auf sie zu komme, aber dass das eigentliche Witterungsorgan für künftige Zeiten eher die Kunst sei. Insofern deckt sich das ja mit diesem halbgare Pseudokonservatismus, den wir vielerorts ja beobachten können: Pseudokonversative, die nur deshalb von "Werten" faseln, weil sie als nützlich für das Wirtschaftswachstum verstanden werden und alle Werte, die dem Wirtschaftswachstum nicht dienlich sind (Religion, Geschlechterrollen usw.), sofort fallengelassen werden.
Sö. Jetzt habe ich zwar ellenlang herumgeschrieben, bin öfter vom Thema abgekommen und noch häufiger in die Polemik verfallen, aber ich glaube, ich klicke jetzt trotzdem mal auf "Neues Thema erstellen."