Hallo Paminas und Taminos!
Ich habe auch heuer eine Weihnachtsgeschichte geschrieben die ein wenig Einblick bieten soll in die vergangene Zeit.
In diesem Jahr verwendete ich die Erzählungen meiner Mutter über die ersten Weihnachten nach Kriegsende, die auch sie [Jahrgang 1948] wiederum nur aus Erzählungen ihrer Mutter kannte.
Die Protagonisten sind meine Großeltern und meine Tanten. Den in der Geschichte auftretenden jungen Roy lernte ich persönlich kennen als er in den Achtzigern Europa besuchte. Er war zu diesem Zeitpunkt ein rüstiger alter Mann und ich ein kleine Bub. Die folgende Geschichte stützt sich auch auf seine Aussagen und das bedeutet, dass sich das alles auch so zugetragen hatte.
Diese Geschichte klagt niemand an und sucht auch nicht nach irgendwelchen Schuldigen, sonder gibt lediglich einen Zustand wieder.
Ich widme diese Geschichte meiner Mutter. Sie hat mir ihre Erinnerungen schon oft erzählt und nun gibt es die Geschichte vom Päckchen aus Amerika endlich schwarz auf weiß.
Was ich Euch zu Weihnachten wünsche?
Nun ja – Wir haben doch schon alles!
Ich denke, dass die folgende Geschichte ein Denkanstoss ist. Wir sollten uns alle bewusst sein, dass eine Gabe zu Weihnachten, und sei sie auch noch so klein, ein Zeichen ist und nicht der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein.
Wenn man dem, der weniger hat als ich, etwas schenkt, so bedeutet dies: Ich habe dich nicht vergessen.
Ich wünsche Euch allen besinnliche Weihnachten, feiert schön mit Euren Lieben.
Paul? 
---------------------------------------------
Post aus Amerika
von Jürgen Paul Schütz
Österreich, 24. Dezember 1945 – befreit nach mehreren Weihnachten, an denen man die Lichter über Europa bis Amerika, China und nach Bethlehem sehen konnte und die stillen, heiligen Nächte dem Schreien der Soldaten in den Schützengräben gewichen waren. Am Ostrand: das Burgenland - jetzt russische Zone, wo trotz Befreiung erneut die abgestochene Sau am Dachboden versteckt wurde, weil sich sonst die hungrigen Siegermächte darüber hergemacht hätten. Vor einem Monat kam er heim, abgemagert, fast keine Tränen mehr, bis ihm plötzlich seine kleine Tochter in die Arme lief, die er zuletzt gesehen hatte, als sie auf die Welt gekommen war. Auf diese Welt, die nichts besseres zu tun hatte, als sich erneut den Schädel einzuschlagen, sechs endlos lange Jahre. Eine Welt, deren Erde nun getränkt war vom Blut mehrerer Millionen und kaum noch Nährboden bot für Weihnachtsbäume. Der abgemagerte Mann in seiner zerschlissenen Uniform hob das kleine Bündel Leben in die Höhe und drückte es an sich, und von weiter hinten kam auch seine Frau, die man bereits vom Wald ins Dorf herein geholt hatte – „Rosa, der Johann ist da!“ riefen sie. Jetzt saßen sie erstmals wieder gemeinsam in der Mette, ein Dorf weiter, in das sie mit offenen Schuhen durch den Schnee hin gewatet waren. In dieser Nacht war der Weg nicht zu weit gewesen und die Kälte schmerzte auch nicht wie an anderen Tagen, weil es etwas Besonderes war, Christi Geburt zu feiern. Immerhin war er der Erlöser und nahm im weiteren Verlauf seines Daseins doch alle Sünden dieser Welt auf sich. Wie kann ein einzelner Mensch all diese Sünden tragen?
Chicago, November 1945 – Während Theresia Orangen, Bohnenkaffee, Schokolade, kalifornische Dosenpfirsiche in einen Karton schichtete, erinnerte sie sich zurück an damals, als sie die Freiheitsstatue zum ersten Mal erblickt hatte und die lange Reise von Bremerhaven über den Atlantik zu Ende ging. Sie und Hans waren nur zwei von vielen hundert tausend gewesen, die damals in den Zwanzigern ihre Heimat für immer verlassen hatten, ihr geliebtes Österreich. Ausgebrannt von der langen Reise, zusammengepfercht auf Ellis Island, der Träneninsel, hatte man sie begutachtet, untersucht und überprüft. Sie und die vielen anderen Emigranten aus Russland, Deutschland, Polen, Italien, Holland und von wo überall sie herkamen, waren damals so nah, und doch noch so fern von der neuen Welt, man wusste, dass immer wieder Leute zurückgeschickt wurden. Abermals musste sich das junge Ehepaar der Ungewissheit stellen, wie es nun weiterging. Und was würde sie erwarten, wenn sie an Land gehen durften? Nach zwei Wochen die wie eine Ewigkeit schienen betraten sie, unsicher was die Zukunft bringt, als neue Amerikaner den Kontinent und begannen ein neues Leben.
Wie viel Not musste man erleiden um die Heimat und die Lieben für immer hinter sich zu lassen, nicht mehr dabei als einen Koffer und die Kleider am Leib, und gerade genug Geld für die Hinreise ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das man nur vom Hörensagen kannte? Wie viel Hunger, Leid und Trübsal brauchte es, um die grünen Hügel des geliebten Burgenlandes für immer hinter sich zu lassen? Als sie nun, mehr als zwanzig Jahre danach, ihren beiden in Amerika geborenen Kindern sagte, dass sie einen Karton zusammenpacke und diesen nach Austria/Europe schicken werde, erklärten diese sie für einfältig. Theresias Sohn, Roy, nun schon ein junger Mann, konnte nicht glauben, dass tatsächlich irgendwo in dieser Welt jemand Wert auf ein paar Schuhe legte, einen Pullover, ein paar Meter Stoff oder auf Dosengemüse und Thunfischkonserven. Man hatte nicht viel vom Krieg mitbekommen, zumindest nicht in einer anderen Form als man es aus Zeitungen und aus dem Radio erfuhr. Roy griff nach einer der Schokoladetafeln und brach sich eine Rippe davon ab, mit der er gelangweilt die Küche verließ. Theresia sah es ihm nach, dankbar dass es ihnen so gut ging, um noch etwas wegschicken zu können nach Österreich. Sie wusste aus Rosas Briefen, was los war im Burgenland, und dass ihr zuckerkranker Schwager dringend Arznei benötigte, die es dort nirgendwo gab. Regelmäßig sendete sie ihre Päckchen und nutzte die unbegrenzten Möglichkeiten, die die neue Welt ihr bot. Ihre bäuerliche Phantasie hätte vor zwanzig Jahren nicht ausgereicht, um sich das zu erträumen, was sie später im reichen Amerika vorgefunden hatte.
Johann und Rosa kamen spät zur Kirche und nahmen in einer der hinteren Bänke Platz, falls die Kinder zu weinen anfingen. Die ältere der beiden Töchter saß auf seinem Schoss und die kleine schlief an Rosas Brust, während der Pfarrer der vielen Gefallenen gedachte in dieser ersten Weihnachtsandacht nach dem Krieg. Johann dachte unterdessen wieder zurück an die Monate, die seit seiner Flucht aus der Gefangenschaft verstrichen waren. An seine Herbergssuche, vorbei an den Amerikanern und an den Russen, ohne Papiere, nur noch getrieben vom Ziel, nach Hause zu kommen in den kleinen Heimatort, in dem seine Familie lebte; getrieben von der täglichen Sorge, wie es ihnen wohl ergehen mochte. Wenn sie abends in der finsteren Küche beim Licht der einzigen Kerze saßen, sprach er davon, und immer wieder musste er von neuem mit seiner Fassung und den Tränen kämpfen, weil ihn der Herrgott gesund wieder heimgebracht hatte.
„U.S. Mail“, in dicken, fetten Buchstaben, las Robert, der Postmeister auf dem fest verschnürten Karton, der am Vormittag vom Postbus abgeladen wurde, so schwer dass ein Zweiter mit abpacken musste. Durch diese Aufschrift, die vielen Stempel und Briefmarken, und schlussendlich wegen des Bildes der Freiheitsstatue, präsentierte sich diese Schachtel wie ein Versprechen. Groß war die Neugier auf den dem Inhalt des Kartons, aber noch größer der Respekt gegenüber dieser Sendung von der anderen Seite des Erdballs. „Bestimmt sind da gute Sachen drin, und das Insulin für den Paul“, dachte sich der alte Postmeister. Auch er wusste um Pauls Diabetes und die Wichtigkeit dieses Paketes, in dem sich wie schon oft die lebenswichtige Medizin befand.
Jetzt, in der Kirche, stand er nicht weit hinter Johann und Rosa, während der Pfarrer vom Jesuskind in der Grippe erzählte und von den drei Weisen aus dem Morgenland, die ihm ihre Geschenke darboten. Gleich würde er hinübergehen zu den Beiden und ihnen von ihrem Geschenk aus dem Überübermorgenland berichten, dachte er sich. Er sollte ihnen noch heute Nacht, wenn die Mette vorüber ist, das Postamt aufsperren und den Schatz übergeben - sie werden einen Schubkarren brauchen, um diese große Schachtel heimzubringen, dachte er weiter und lächelte.
Johann sah sich in der kleinen Kirche, um und es entging ihm nicht, dass viele Männer fehlten - gefallen oder vermisst. Er nahm Rosa bei der Hand und drückte sie ganz fest, Tränen liefen ihr über die Wangen. Er war dankbar, wieder daheim zu sein. Zwar hatten sie nicht viel, aber es gab das notwendigste zu Essen, auch Holz zum Heizen war da und letztendlich gab es auch keine anderen Verlangen mehr, außer dem Wunsch, dass es nie wieder so einen Krieg geben sollte. „Mit unseren paar Habseeligkeiten wird’s morgen ein bescheidenes Christtagsessen geben“, dachte sie. Aber auch das war nicht schlimm, denn die Kinder waren noch zu klein, um es zu verstehen und die Alten waren es gewohnt zu hungern. Natürlich, es gab ein wenig Hoffnung, dass es besser werden konnte, aber daran glaubte niemand wirklich, bis Rosa hinter sich plötzlich eine Stimme flüstern hörte. Es war Robert der Postmeister, der ihrem Mann auf die Schulter tippte. Und als Johann sich umdrehte, sagte der Postmeister zu ihnen:
„Ihr habt´s ein Packerl bekommen, aus Amerika!“
