Lieber Maticus,
wenn ich deinen Satz aufschlüssele, nennst du drei Punkte, die für dich bei dem Gedicht im Vordergrund stehen und zu denen ich einige Anmerkungen machen möchte:
- die Klage über die Verhältnisse,
- die Verzweiflung, die zum Suizid geführt hat und
- die Anklage gegen die unehrenhafte Behandlung, durch die moralisierenden, herrschenden, verdammenden Instanzen.
Die „Klage über die Verhältnisse“ ist sehr allgemein formuliert, da Verhältnisse sowohl die gesellschaftlichen als auch die privaten – von wem: von der Figur Loreley oder von Schostakowitsch? – sein können. „Klage“ trifft es meines Erachtens ebenfalls nicht. Achte ich nicht auf den Text, sondern auf die Musik höre ich weniger eine Klage im Sinne eines anklagenden Verhaltens, sondern tiefe, verzweifelte Trauer.
„Verzweiflung, die zum Suizid geführt hat“, hilft mir ebenfalls nicht viel weiter. Ja, Verzweiflung im Sinne von verzweifelter Trauer ist, wie eben gesagt, auch nach meinem Höreindruck die vorherrschende Gefühlslage. Allerdings schreibst du, dass die Verzweiflung
Beweggrund für den Suizid gewesen sei. Damit versetzt du die nach meinem Eindruck zeitlich nach dem Suizid – im vierten Satz - herrschende Verzweiflung zeitlich vor den Suizid Loreleys, also in den dritten Satz. Der Beweggrund Loreleys, sich zu töten, wird im Gedicht benannt: Der infolge des Verlustes des Geliebten eingetretene Verlust des Lebensmutes ist es. So heißt es in der Rückübersetzung Morgeners: „Fort von hier zog mein Liebster, nun ist alles so leer, sinnlos ist diese Welt, Nacht ist rings um mich her.“
Als dritten Punkt nennst du „die Anklage gegen die unehrenhafte Behandlung, durch die moralisierenden, herrschenden, verdammenden Instanzen“. Ja, da gebe ich dir Recht. In Apollinaires Lilien-Gedicht wird das Los des Selbstmörders beschrieben: Er wird alleingelassen. Niemand kümmert sich um ihn, niemand trauert um ihn. Oben habe ich, haben wir aber bereits übereinstimmen festgestellt, dass Schostakowitschs Musik tiefe Trauer zum Ausdruck bringt. Indem Schostakowitsch zu diesem Text traurige Musik schreibt, gibt er einen Kommentar zum Gedichtinhalt ab, der verbalisiert lautet: „Ich trauere um dich.“ Indem Schostakowitsch somit zum Ausdruck bringt, dass er darüber trauert, dass niemand um den Selbstmörder trauert, kritisiert er – klagt er an –, dass der Selbstmörder derart behandelt wird.
Für beachtenswert halte ich in diesem Zusammenhang jedoch, dass der Schwerpunkt des Leidens des Selbstmörders nicht in dem Nichtkümmern, in dem Fehlen des Kreuzes liegt, sondern in den Plagen der Lilien, die aus Wunde, Herz und Mund wachsen. Versteht man die Lilien nur als Symbol für das Verfluchtsein, als Ausfluss der Verdammung durch die Umwelt, bleibt die Interpretation konsistent. Gibt man dem Bild der Lilien darüber hinaus allerdings eine eigenständige Bedeutung, ist sie es nicht mehr. Für die eigenständige Bedeutung spricht, dass es nicht in der Macht der Kirche oder sonstiger gesellschaftlicher Gruppen liegt, die Lilien wie beschrieben wachsen – und bluten – zu lassen.
Zitat
Im Internet finde ich, dass weiße Lilien "seit der Antike ein Symbol der Reinheit und der Schönheit, aber auch Symbol des Todes" sind (Wikipedia). Auch oft als Mariensymbol. Gibt das irgendeinen Hinweis?
Mir waren weiße Lilien bisher nur als Totenblumen oder besser Beerdigungsblumen bekannt, nicht als Symbol für Reinheit, Schönheit und Maria. Weitere Hinweise zu diesem Thema kann ich somit leider nicht geben. Das Verständnis der Lilien als Mariensymbol lässt mich assoziieren, dass sowohl Maria nach katholischem Verständnis als auch Loreley (nach Heines Gedicht, s. o.) Jungfrauen waren, dass folglich ein weiterer Bezug zwischen den Sätzen drei und vier besteht. Ob diese Verbindung allerdings von Schostakowitsch gewollt war, möchte ich bezweifeln, hat er doch nicht das Heinegedicht, sondern das Apollinaire-Gedicht vertont (vermutlich hat er allerdings das Heine-Gedicht gekannt).
Anlässlich deiner Bemerkungen zu meinem vorangegangenen Beitrag, insbesondere zu dem in der Tat nicht hundertprozentig passenden Zitat, habe ich mich erinnert, irgendwo mal etwas über Schostakowitschs Einstellung zum Selbstmord gelesen zu haben. Ich habe mich auf die Suche gemacht und Folgendes gefunden, das hier bei allem Vorbehalt zur Verallgemeinerung dieser Aussagen und ihrer Übertragbarkeit auf die 14. Sinfonie wiedergegeben werden soll:
In den Wolkow-Memoiren heißt es (S. 202 f.):
„Der Kranke beginnt zu agieren. Und bei analoger Entwicklung der Krankheit hängt alles davon ab, wie kräftig die Psyche des Patienten ist und wie stark die Krankheit. Wenn die Ängste sich verschlimmern, kann die Krankheit zum völligen Zusammenbruch der Person führen. Der Mensch versucht, den angsterregenden Phänomenen zu entfliehen, und denkt schließlich an Selbstmord. Was Selbstmord ist, hat Soschtschenko mir erklärt. Er hat mir erklärt, warum der Tod als Retter erscheinen kann: Ein Kind begreift nicht, was der Tod ist. Es seiht nur, Tod ist Abwesenheit. Es sieht, dass man vor Gefahren fliehen, weggehen kann. Dieses „Nicht-da.Sein“ nennt das Kind Tod. So hat der Tod für ein Kind nichts Schreckliches.
Wenn ein Mensch krank ist, sind seine Gefühle die eines Kindes, sie befinden sich auf niedrigstem psychischem Niveau. Ein Kind fürchtet Gefahren mehr als den Tod, Selbstmord ist Flucht vor Gefahr. Er ist die Handlung eines Kindes, das vom Leben zu sehr erschreckt wurde.
In meinem nicht sehr heitern Leben gab es viele traurige Ereignisse. Und es gab Perioden, in denen sich die Gefahr besonders verdichtete, mich besonders hart bedrängte. Dann verstärkte sich auch die Angst besonders. In der Periode, von der ich schon erzählte, war ich dem Selbstmord nahe. Die Gefahr schreckte mich und ich sah keinen Ausweg. Ich war ganz und gar von Furcht beherrscht, war nicht mehr Herr meines eigenen Lebens. Meine Vergangenheit war ausgestrichen. Meine Arbeit, meine Fähigkeiten - sie wurden nicht mehr gebraucht. Und die Zukunft bot keinen Hoffnungsschimmer. Ich wollte einfach verschwinden. Das war der einzig mögliche Ausweg. Ich dachte mit Erleichterung daran. In dieser kritischen Zeit halfen mir Soschtschenkos Gedanken. Er hielt Selbstmord nicht für eine Geistesverwirrung, sondern für einen im höchsten Grade infantilen Akt, für die Meuterei der niederen Kräfte über die höheren, den vollständigen und endgültigen negativen Sieg.“
Diese Ausführungen zu Grunde legend (die Authentizität Wolkows Memoiren ist umstritten) sehen wir, dass Schostakowitsch den Selbstmord negativ sah. Die verklärte Betrachtungsweise des künstlerischen Freitods lag ihm fern.
Zu den Ausführungen passend ist der doch eher negative Kommentar, den Schostakowitsch im Brief vom 10. Juli 1969 an Glikman zum Selbstmord Nina Jefimowna Basners (Glikman, S . 278, Glikman erklärt, dass es sich um die Ehefrau des Komponisten W. E. Basners gehandelt habe, die ihrem Leben im Zustand der Depression durch Selbstmord ein Ende setzte):
“Der Tod Nina Jefimowna Basners hat mich erschüttert. Sie war ein sehr guter Mensch. Die Krankheit hat ihren Willen gebrochen: Sie hat Familie, Haus und Kinder verlassen.“
Andererseits hat Schostakowitsch durchaus zu Ehren der Lyrikerin Marina Zwetajea, die 1941 Selbstmord begangen hat, einen Liederzyklus komponiert (op. 143: Sechs Romanzen nach Gedichten von Marina Zwetajewa).
Darüber, wie Schostakowitsch sich zu dem Selbstmord Majakowskis im Jahre 1930 verhalten hat, zu dem er über Meyerhold in den Zwanzigern nähere Verbindungen geknüpft hatte (s. „Die Wanze“), ist mir nichts bekannt.
Erwähnenswert ist überdies die Oper „Lady Macbeth von Mzensk“, in dem der Geliebte am Ende auf dem Weg in die Verbannung Selbstmord begeht.
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Bei einer Suche im Internet nach Zusammenhängen zwischen Schostakowitsch und Selbstmord bin ich auf eine Seite zur 14. Sinfonie gestoßen, die neben den Lied-Texten weitere lesenswerte Erkenntnisse zu bieten hat und die ich euch daher hier empfehlen möchte:
"http://home.pages.at/tobiashock/musiklk/schostakowitsch.html"
Viele Grüße
Thomas