Das „Requiem für einen jungen Dichter“ Lingual für Sprecher, Sopran- und Baritonsolo, drei Chöre, elektronische Klänge, Orchester, Jazz-Combo und Orgel nach Texten verschiedener Dichter, Berichte und Reportagen war vor allem zum Zeitpunkt seiner Erstaufführung im Dezember 1969 in Düsseldorf mit nichts zu vergleichen. Am 23, 24. und 25. April wagten sich die Berliner Philharmoniker zusammen mit mehreren ARD-Rundfunkchören und dem Dirigenten Peter Eötvös, der in den 1960er Jahren noch bei Zimmermann studierte, an das Werk.
Die Entstehungsgeschichte des Requiems für einen jungen Dichter ist langwierig und nicht ohne Umwege. In einem Brief an den NWDR vom 1. November 1956 schreibt Zimmermann von einem Oratorium über die letzten Dinge, mit Texten u.a. aus Psalm 139 und 148 und Textausschnitten der Bhagavadgita, Boethius, Novalis Hymnen an die Nacht, Dostojewskijs Großinquisitor, James Joyce Ulysses und anderem. 1963, als sich Zimmermanns musikalische Sprache grundlegend gewandelt hatte, sieht das Projekt so aus, dass es eine Vertonung des Nachruf auf Sergej Jessenin von Wladimir Majakowskij werden sollte, einschließlich der Mitwirkung eines Arbeiterchores von 300 Sängern. In der endgültigen Fassung ist das Requiem eine Spiegelung der Geschichte des 20 Jahrhunderts von 1920 – 1970. Die Texte sind auf 3 Chöre, Solisten, Sprecher und zwei vierkanalige Tonbänder verteilt und enthalten den lateinischen Requiem-Text ebenso wie Philosophische Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein, Alexander Dubceks Rede vom 27.8.68 nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, Papst Johannes des 23. Ansprache im 2. Vatikanischen Konzil, aus James Joyces Ulysses den Monolog der Molly Bloom, Teile des Grundgesetzes der Bundesrepublik, aus Aischylos Prometheus und aus einer Parlamentsrede Andreas Papandreous, einer Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy vom 31.10.56 während des Ungarischen Volksaufstandes und Texte von Mao, Kurt Schwitters, aus Hitlers Rede anlässlich des Einmarsches in die Tschechoslowakei vom 16.3.1939 und von Neville Chamberlain 1938 und dann auch von Wladimir Majakowskij den Nachruf auf Sergei Jessenin.
Außerdem musikalische Zitate von Messiaens „L`Ascension“, Richard Wagners Liebestod und von Zimmermanns eigener Sinfonie in einem Satz. Dies alles nur in den ersten 25 Minuten des über eine Stunde langen Werkes. Es ist fraglich, ob solch eine Komposition die Kategorien einer Kantate oder eines Oratoriums vielleicht sprengt. Zimmermann selbst bezeichnete das Werk als Lingual, ein Ritual mit der Sprache also. Die Texte bieten eine geschichtliche Dokumentation des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem mit den Schattenseiten, sie sind nicht miteinander vereinbar, unpassend, stellen sich gegenseitig in Frage. In ihrer Zusammenstellung bieten sie auch keine Lösung der gestellten Fragen. Sie erscheinen im ersten Teil des Requiems fast immer von den im Raum verteilten Lautsprechern wiedergegeben, umgeben den Hörer von allen Seiten, führen ihn in die Landschaft eines räumlich verteilten Radiohörspiels, bei dem vor allem der Raum die musikalische Komponente darstellt.
In der Mitte des Werkes steht ein „Ricercar“ zu vier Stimmen, auch hier von Lautsprechern wiedergegeben, eine Sprechfuge fast, über eine Passage aus Konrad Bayers „Der sechste Sinn“: „frage: worauf hoffen? Es gibt nichts was zu erreichen wäre außer dem Tod. Also, üblicherweise wird versucht ein ziel möglichst schnell zu erreichen, wenn es bekannt. Ich habe gegen meine natur versucht und gegen meinen instinkt (!) den optimistischen Standpunkt einzunehmen. Ich habe viel versucht. Ich habe gegen mein besseres wissen behauptet: das leben ist wert gelebt zu werden um seiner selbst willen. Wie dumm, ein vorwand diese unangenehme prozedur nicht vornehmen zu müssen… “
Die musikalische Form einer gesprochenen Fuge wird zu einem Symbol, als Fuge zum Ablauf eines Gesetzes, auch als Orientierungs- und Anhaltspunkt in der musikalischen Tradition. Andererseits prägt der Inhalt dieses Textes im Mittelpunkt des Werkes die vorangegangenen und die folgenden Passagen und bietet Einblicke auf den Standpunkt, in dem Zimmermann sein Werk möglicherweise gesehen hat. In dem jungen Dichter, dessen Ableben in unterschiedlichen Texten zitiert wird, sah Zimmermann auch sich selber und seine Situation.
Als das Werk aufgeführt wurde, war er nicht dabei, sondern befand sich in einer psychiatrischen Klinik. Seit Mitte der 1960er Jahre hatten bei ihm depressive Tendenzen zugenommen, die dann zu einer massiven Krise Ende der 60er Jahre führten. Nach seinem Klinikaufenthalt verwendete er seine Zeit darauf, die noch ausstehenden Auftragswerke zu Ende zu schreiben, das Orchesterstück Photoptosis für die Eröffnung des Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und die im Gesamtcharakter mit dem Requiem verwandte „Ekklesiatische Aktion“ "Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne" für das Kulturprogramm der olympischen Segelwettbewerbe in Kiel. Fünf Tage nach Fertigstellung dieses Werkes, nachdem seine Frau mit den Kindern in die Ferien gefahren war, nahm sich Zimmermann am 10. August 1970 in seinem Haus in Frechen-Königsdorf bei Köln das Leben.
Vor diesem Hintergrund erscheinen die Texte des Requiems nicht nur als politische Aussagen, als Anklagen und Utopien, sondern auch als Ausdruck der Verfassung, in der sich der Komponist befand. Unter diesen Texten ist dann die Passage aus Hans Henny Jahnns Roman „Die Niederschrift des Gustav Anias Horn 1“ ein noch vergleichsweise optimistisches Selbstportrait des Komponisten: „Die Frage, wer ich wirklich bin, ist auch heute noch nicht stumm in mir. Ich schaue zurück, und es ist leicht, die Tatsachen aufzuzählen. Es sind fünfzig Kompositionen von mir gedruckt worden. Viele Kammer- und Symphonieorchester haben sich der Noten bedient. Hin und wieder ist es zur Aufführung größerer Werke gekommen. Ein paar Orgelspieler plagen sich mit meinen Präludien und Fugen. Zeitungsschreiber haben mich gelobt und getadelt. In den neueren Handbüchern des Wissens steht mein Name als der eines bedeutenden und eigenwilligen Komponisten aufgeführt… Seit manchen Jahren bin ich fast stumm; ich weiß nicht, ob ich mit einer Art Müdigkeit kämpfe, mit einem Überhandnehmen eines unbegreiflichen Todes.“
Zimmermann als Komponist im üblichen Sinne des Wortes zeigt sich neben den finsteren Texten eher in den musikalischen Zitaten des Werkes, die trotz der riesigen Besetzung oft nur über Lautsprecher laufen, die Inseln der Schönheit und des paradiesischen Friedens der Musik darstellen: Zitiert werden nicht etwa Stockhausen oder Mahlers Sechste oder Schönbergs „Überlebender aus Warschau“, sondern Messiaens früh komponierte und fast bedingungslos positive L`Ascension für Orgel oder Milhauds La creation du monde. Sandor Weöres Gedicht „Dob es tanc“ erscheint als Bild inneren Friedens. Dies ist der lyrische Abschnitt des Requiems, und Zimmermann komponiert hier, gemäßigt modern, traditionell, lyrisch, mit einfachen Melodielinien, die von einer Jazzcombo bluesartig begleitet werden. Caroline Stein sang das wunderschön. Auch so etwas konnte Zimmermann komponieren, und irgendwann einmal war das ja auch seine musikalische Sprache. Diese Insel der Lyrik, nach zwei Minuten bereits vorbei, ist einer der wenigen optimistischen Momente des Requiems. Ein anderer sind die Zitate des „Hey Jude“ der Beatles. Aber selbst hier erscheint das Motiv der Trennung und des Abschieds. Paul McCartney schrieb das Lied ursprünglich für John Lennons fünfjährigen Sohn Julian, der sehr unter der Trennung seiner Eltern litt. John Lennon hatte sich kurz zuvor von seiner ersten Frau Cynthia scheiden lassen. Immerhin ist hier noch Zuversicht erkennbar: Take a sad song and make it better.. Diese kurzen Augenblicke stehen in Zusammenhang und im Gegensatz mit dem Schrei nach Frieden, mit dem Zimmermanns Requiem endet.
Im letzten Teil wird das „dona nobis pacem“ in vielstimmigen Clustern eingefordert. Dem Friedensaufruf gehen Tonbandmontagen aus politischen Demonstrationen und Reden von Stalin und von Roland Freisler und, wie gesagt, dem „Hey Jude“ der Beatles voraus. In diese Szenerie sind auch musikalische Zitate mit Symbolwert eingearbeitet: Der Satzanfang aus Beethovens Ode an die Freude, also der orchestrale Tumult vor dem „Oh Freunde, nicht diese Töne“, die sozialistische Hymne „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, dann ein krachender Schlag auf den Amboss am Ende der zweiten Melodiezeile dieses Liedes, wie in Mahlers sechster Symphonie, virtuose Carillon-Glockenspiele in halsbrecherischem Tempo und durch die Klangmassen kaum hörbar - sie alle bieten Kontrapunkte inhaltlicher und musikgeschichtlicher Gegensätze. Der Hörer befindet sich in der Mitte der von Zimmermann beschworenen „Kugelgestalt der Zeit“, von der er aus die gegensätzlichen Zitate und musikalischen Sprachen in gleicher Entfernung, aber in unterschiedlichen Richtungen erkennen kann. Vor dem letzten „dona nobis pacem“, schreiend „con tutta la forza“ eingefordert, erscheint ein rätselhaft mahnendes Zitat, noch einmal aus Konrad Beyers „Der sechste Sinn“: wie jeder weiß. wie jeder wusste. wie alle wussten. wie alle wissen. wissen das alle? das können unmöglich alle wissen. wie manche wissen. was manche arbeiter bauern generale staatsmänner wissen. wie viele menschen wissen. was fast alle menschen wissen. fast alle menschen wissen das. alle menschen sollten das wissen. was jeder menschen wissen sollte. mancher mensch weiß das. was ich wusste. wie ich wusste. wie ich, marcel oppenheimer und die damen wussten. wie ich und melitta mendel wissen. wie nina und ich wußten. Wie jeder sehen konnte. Wie fast jeder sehen konnte. wie jeder aus einiger entfernung sehen konnte. wie jeder sehen kann. Wie jeder mensch sehen kann. Solche Augenblicke setzen das Werk in das Licht eines politischen Rituals. Auch dies gehört dazu. Aber anders als das ein Jahr vorher aufgeführte „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze entzieht sich das Requiem für einen jungen Dichter dem unmittelbaren Verständnis. Der Bezug zu den Dingen, die in Vietnam geschehen sind, die Fragen eines gesellschaftlichen Neuanfangs in den späten 1960er Jahren (der außerhalb von Europa dann zunächst in die entgegen gesetzte Richtung führte), die politische Aussage stellen einen wesentlichen Teil dieses Werkes dar, aber noch nicht das Ganze.
Ein Werk wie dieses entzieht sich dem, was in einem Konzertsaal möglich ist. Jede Aufführung stellt eine Herausforderung dar. Die Rundfunkchöre aus Berlin, Leipzig, Köln und Stuttgart und die Berliner Philharmoniker unter Leitung von Peter Eötvös nutzten jede Chance, das komplizierte Gebilde auch musikalisch lebendig werden zu lassen. Sie sangen den gebotenen Notentext mit den sperrigen Akkordfolgen absolut kultiviert und bei aller massiven Kraft durchsichtig, die Massen der Blechbläser und des Schlagzeugs boten ihre apokalyptischen Signale mit unanfechtbarer Überzeugungskraft und absoluter Souveränität der Ausführung, die lauten Akkorde waren durchhörbar gestaltet, und dann erst die Klangregie der Lautsprecher – ein Gedicht. Gerade diese ist bei dieser Raumkomposition von entscheidender Bedeutung. Bei dieser denkwürdigen Aufführung in der Berliner Philharmonie also fügten sich Lautsprecherstimmen, Solosänger, Chöre und Orchester in polyphoner Kunst zusammen. Vielleicht hätten sogar Bach und Monteverdi dieses Werk nach einigen Eingewöhnungsschwierigkeiten akzeptiert.
Zimmermanns Requiem dauert etwa 65 Minuten. Es ist aufgrund seiner Dichte abendfüllend. Peter Eötvös entschied sich aber, das große Werk auch etwas anderes auszubalancieren. Vor der Pause setze er dem Requiem zwei Bachsche Choralvorspiele im prächtigen orchestralen Gewand Arnold Schönbergs sowie Richard Wagners Siegfried-Idyll entgegen. Dieses ist ja eine der leisesten, kammermusikalischen Partituren Wagners. Wie nun genau der inhaltliche Zusammenhang zu Zimmermann herzustellen wäre, ist schwierig zu sagen. Immerhin gibt es in der Zitaten des Requiems auch Isoldes Schlussgesang. Bachs Choralvorspiele „Komm Gott, Schöpfer, heiliger Geist“ und „Schmücke dich, o liebe Seele“ sind als Kommentare leichter einzuordnen. Zum einen wirken sie wie Eröffnungen eines Gedenkgottesdienstes für Bernd Alois Zimmermann, Wladimir Majakowski, Sergei Jessenin und Konrad Beyer, wie die Verwandlung dieses Konzertes in ein religiöses Ritual: Außerdem zitiert Zimmermann regelmäßig Bach, in der Oper „Die Soldaten“, in den Monologen für zwei Klaviere und dann das „Es ist genug“, das schon Alban Berg im Violinkonzert zitiert hatte, am Ende seines letzten Werkes "Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne" (1970) Ekklesiastische Aktion für 2 Sprecher, Baß-Solo und Orchester“ mit Texten aus dem Prediger Salomo (Kohelet) sowie aus dem Kapitel "Der Großinquisitor" aus "Die Gebrüder Karamasow" von Fjodor Dostojewskij.
Das Requiem wurde 1973 zuletzt in Berlin gespielt. Auch sonst sind Aufführungen sehr selten. 2005 gab es eine im niederländischen Haarlem, 2000 eine in Hamburg. In Berlin erklang das Werk jetzt an drei Abenden hintereinander. Bei der letzten Aufführung waren von den über 2000 Plätzen der Philharmonie etwa 1500 besetzt. 30 oder 40 Leute gingen, höflicherweise ziemlich leise. Gehustet hat keiner. Eigentlich ein ziemlich gutes, kultiviertes, respektvolles Publikum. Die Beifallskundgebungen am Schluss fielen sehr entschieden aus, auch mit Standing Ovations.