Beiträge von Kulturvermittler

    Das „Requiem für einen jungen Dichter“ Lingual für Sprecher, Sopran- und Baritonsolo, drei Chöre, elektronische Klänge, Orchester, Jazz-Combo und Orgel nach Texten verschiedener Dichter, Berichte und Reportagen war vor allem zum Zeitpunkt seiner Erstaufführung im Dezember 1969 in Düsseldorf mit nichts zu vergleichen. Am 23, 24. und 25. April wagten sich die Berliner Philharmoniker zusammen mit mehreren ARD-Rundfunkchören und dem Dirigenten Peter Eötvös, der in den 1960er Jahren noch bei Zimmermann studierte, an das Werk.



    Die Entstehungsgeschichte des Requiems für einen jungen Dichter ist langwierig und nicht ohne Umwege. In einem Brief an den NWDR vom 1. November 1956 schreibt Zimmermann von einem Oratorium über die letzten Dinge, mit Texten u.a. aus Psalm 139 und 148 und Textausschnitten der Bhagavadgita, Boethius, Novalis Hymnen an die Nacht, Dostojewskijs Großinquisitor, James Joyce Ulysses und anderem. 1963, als sich Zimmermanns musikalische Sprache grundlegend gewandelt hatte, sieht das Projekt so aus, dass es eine Vertonung des Nachruf auf Sergej Jessenin von Wladimir Majakowskij werden sollte, einschließlich der Mitwirkung eines Arbeiterchores von 300 Sängern. In der endgültigen Fassung ist das Requiem eine Spiegelung der Geschichte des 20 Jahrhunderts von 1920 – 1970. Die Texte sind auf 3 Chöre, Solisten, Sprecher und zwei vierkanalige Tonbänder verteilt und enthalten den lateinischen Requiem-Text ebenso wie Philosophische Untersuchungen von Ludwig Wittgenstein, Alexander Dubceks Rede vom 27.8.68 nach der Niederschlagung des Prager Frühlings, Papst Johannes des 23. Ansprache im 2. Vatikanischen Konzil, aus James Joyces Ulysses den Monolog der Molly Bloom, Teile des Grundgesetzes der Bundesrepublik, aus Aischylos Prometheus und aus einer Parlamentsrede Andreas Papandreous, einer Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Imre Nagy vom 31.10.56 während des Ungarischen Volksaufstandes und Texte von Mao, Kurt Schwitters, aus Hitlers Rede anlässlich des Einmarsches in die Tschechoslowakei vom 16.3.1939 und von Neville Chamberlain 1938 und dann auch von Wladimir Majakowskij den Nachruf auf Sergei Jessenin.



    Außerdem musikalische Zitate von Messiaens „L`Ascension“, Richard Wagners Liebestod und von Zimmermanns eigener Sinfonie in einem Satz. Dies alles nur in den ersten 25 Minuten des über eine Stunde langen Werkes. Es ist fraglich, ob solch eine Komposition die Kategorien einer Kantate oder eines Oratoriums vielleicht sprengt. Zimmermann selbst bezeichnete das Werk als Lingual, ein Ritual mit der Sprache also. Die Texte bieten eine geschichtliche Dokumentation des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem mit den Schattenseiten, sie sind nicht miteinander vereinbar, unpassend, stellen sich gegenseitig in Frage. In ihrer Zusammenstellung bieten sie auch keine Lösung der gestellten Fragen. Sie erscheinen im ersten Teil des Requiems fast immer von den im Raum verteilten Lautsprechern wiedergegeben, umgeben den Hörer von allen Seiten, führen ihn in die Landschaft eines räumlich verteilten Radiohörspiels, bei dem vor allem der Raum die musikalische Komponente darstellt.



    In der Mitte des Werkes steht ein „Ricercar“ zu vier Stimmen, auch hier von Lautsprechern wiedergegeben, eine Sprechfuge fast, über eine Passage aus Konrad Bayers „Der sechste Sinn“: „frage: worauf hoffen? Es gibt nichts was zu erreichen wäre außer dem Tod. Also, üblicherweise wird versucht ein ziel möglichst schnell zu erreichen, wenn es bekannt. Ich habe gegen meine natur versucht und gegen meinen instinkt (!) den optimistischen Standpunkt einzunehmen. Ich habe viel versucht. Ich habe gegen mein besseres wissen behauptet: das leben ist wert gelebt zu werden um seiner selbst willen. Wie dumm, ein vorwand diese unangenehme prozedur nicht vornehmen zu müssen…
    Die musikalische Form einer gesprochenen Fuge wird zu einem Symbol, als Fuge zum Ablauf eines Gesetzes, auch als Orientierungs- und Anhaltspunkt in der musikalischen Tradition. Andererseits prägt der Inhalt dieses Textes im Mittelpunkt des Werkes die vorangegangenen und die folgenden Passagen und bietet Einblicke auf den Standpunkt, in dem Zimmermann sein Werk möglicherweise gesehen hat. In dem jungen Dichter, dessen Ableben in unterschiedlichen Texten zitiert wird, sah Zimmermann auch sich selber und seine Situation.



    Als das Werk aufgeführt wurde, war er nicht dabei, sondern befand sich in einer psychiatrischen Klinik. Seit Mitte der 1960er Jahre hatten bei ihm depressive Tendenzen zugenommen, die dann zu einer massiven Krise Ende der 60er Jahre führten. Nach seinem Klinikaufenthalt verwendete er seine Zeit darauf, die noch ausstehenden Auftragswerke zu Ende zu schreiben, das Orchesterstück Photoptosis für die Eröffnung des Musiktheater im Revier Gelsenkirchen und die im Gesamtcharakter mit dem Requiem verwandte „Ekklesiatische Aktion“ "Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne" für das Kulturprogramm der olympischen Segelwettbewerbe in Kiel. Fünf Tage nach Fertigstellung dieses Werkes, nachdem seine Frau mit den Kindern in die Ferien gefahren war, nahm sich Zimmermann am 10. August 1970 in seinem Haus in Frechen-Königsdorf bei Köln das Leben.



    Vor diesem Hintergrund erscheinen die Texte des Requiems nicht nur als politische Aussagen, als Anklagen und Utopien, sondern auch als Ausdruck der Verfassung, in der sich der Komponist befand. Unter diesen Texten ist dann die Passage aus Hans Henny Jahnns Roman „Die Niederschrift des Gustav Anias Horn 1“ ein noch vergleichsweise optimistisches Selbstportrait des Komponisten: „Die Frage, wer ich wirklich bin, ist auch heute noch nicht stumm in mir. Ich schaue zurück, und es ist leicht, die Tatsachen aufzuzählen. Es sind fünfzig Kompositionen von mir gedruckt worden. Viele Kammer- und Symphonieorchester haben sich der Noten bedient. Hin und wieder ist es zur Aufführung größerer Werke gekommen. Ein paar Orgelspieler plagen sich mit meinen Präludien und Fugen. Zeitungsschreiber haben mich gelobt und getadelt. In den neueren Handbüchern des Wissens steht mein Name als der eines bedeutenden und eigenwilligen Komponisten aufgeführt… Seit manchen Jahren bin ich fast stumm; ich weiß nicht, ob ich mit einer Art Müdigkeit kämpfe, mit einem Überhandnehmen eines unbegreiflichen Todes.“



    Zimmermann als Komponist im üblichen Sinne des Wortes zeigt sich neben den finsteren Texten eher in den musikalischen Zitaten des Werkes, die trotz der riesigen Besetzung oft nur über Lautsprecher laufen, die Inseln der Schönheit und des paradiesischen Friedens der Musik darstellen: Zitiert werden nicht etwa Stockhausen oder Mahlers Sechste oder Schönbergs „Überlebender aus Warschau“, sondern Messiaens früh komponierte und fast bedingungslos positive L`Ascension für Orgel oder Milhauds La creation du monde. Sandor Weöres Gedicht „Dob es tanc“ erscheint als Bild inneren Friedens. Dies ist der lyrische Abschnitt des Requiems, und Zimmermann komponiert hier, gemäßigt modern, traditionell, lyrisch, mit einfachen Melodielinien, die von einer Jazzcombo bluesartig begleitet werden. Caroline Stein sang das wunderschön. Auch so etwas konnte Zimmermann komponieren, und irgendwann einmal war das ja auch seine musikalische Sprache. Diese Insel der Lyrik, nach zwei Minuten bereits vorbei, ist einer der wenigen optimistischen Momente des Requiems. Ein anderer sind die Zitate des „Hey Jude“ der Beatles. Aber selbst hier erscheint das Motiv der Trennung und des Abschieds. Paul McCartney schrieb das Lied ursprünglich für John Lennons fünfjährigen Sohn Julian, der sehr unter der Trennung seiner Eltern litt. John Lennon hatte sich kurz zuvor von seiner ersten Frau Cynthia scheiden lassen. Immerhin ist hier noch Zuversicht erkennbar: Take a sad song and make it better.. Diese kurzen Augenblicke stehen in Zusammenhang und im Gegensatz mit dem Schrei nach Frieden, mit dem Zimmermanns Requiem endet.



    Im letzten Teil wird das „dona nobis pacem“ in vielstimmigen Clustern eingefordert. Dem Friedensaufruf gehen Tonbandmontagen aus politischen Demonstrationen und Reden von Stalin und von Roland Freisler und, wie gesagt, dem „Hey Jude“ der Beatles voraus. In diese Szenerie sind auch musikalische Zitate mit Symbolwert eingearbeitet: Der Satzanfang aus Beethovens Ode an die Freude, also der orchestrale Tumult vor dem „Oh Freunde, nicht diese Töne“, die sozialistische Hymne „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“, dann ein krachender Schlag auf den Amboss am Ende der zweiten Melodiezeile dieses Liedes, wie in Mahlers sechster Symphonie, virtuose Carillon-Glockenspiele in halsbrecherischem Tempo und durch die Klangmassen kaum hörbar - sie alle bieten Kontrapunkte inhaltlicher und musikgeschichtlicher Gegensätze. Der Hörer befindet sich in der Mitte der von Zimmermann beschworenen „Kugelgestalt der Zeit“, von der er aus die gegensätzlichen Zitate und musikalischen Sprachen in gleicher Entfernung, aber in unterschiedlichen Richtungen erkennen kann. Vor dem letzten „dona nobis pacem“, schreiend „con tutta la forza“ eingefordert, erscheint ein rätselhaft mahnendes Zitat, noch einmal aus Konrad Beyers „Der sechste Sinn“: wie jeder weiß. wie jeder wusste. wie alle wussten. wie alle wissen. wissen das alle? das können unmöglich alle wissen. wie manche wissen. was manche arbeiter bauern generale staatsmänner wissen. wie viele menschen wissen. was fast alle menschen wissen. fast alle menschen wissen das. alle menschen sollten das wissen. was jeder menschen wissen sollte. mancher mensch weiß das. was ich wusste. wie ich wusste. wie ich, marcel oppenheimer und die damen wussten. wie ich und melitta mendel wissen. wie nina und ich wußten. Wie jeder sehen konnte. Wie fast jeder sehen konnte. wie jeder aus einiger entfernung sehen konnte. wie jeder sehen kann. Wie jeder mensch sehen kann. Solche Augenblicke setzen das Werk in das Licht eines politischen Rituals. Auch dies gehört dazu. Aber anders als das ein Jahr vorher aufgeführte „Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze entzieht sich das Requiem für einen jungen Dichter dem unmittelbaren Verständnis. Der Bezug zu den Dingen, die in Vietnam geschehen sind, die Fragen eines gesellschaftlichen Neuanfangs in den späten 1960er Jahren (der außerhalb von Europa dann zunächst in die entgegen gesetzte Richtung führte), die politische Aussage stellen einen wesentlichen Teil dieses Werkes dar, aber noch nicht das Ganze.



    Ein Werk wie dieses entzieht sich dem, was in einem Konzertsaal möglich ist. Jede Aufführung stellt eine Herausforderung dar. Die Rundfunkchöre aus Berlin, Leipzig, Köln und Stuttgart und die Berliner Philharmoniker unter Leitung von Peter Eötvös nutzten jede Chance, das komplizierte Gebilde auch musikalisch lebendig werden zu lassen. Sie sangen den gebotenen Notentext mit den sperrigen Akkordfolgen absolut kultiviert und bei aller massiven Kraft durchsichtig, die Massen der Blechbläser und des Schlagzeugs boten ihre apokalyptischen Signale mit unanfechtbarer Überzeugungskraft und absoluter Souveränität der Ausführung, die lauten Akkorde waren durchhörbar gestaltet, und dann erst die Klangregie der Lautsprecher – ein Gedicht. Gerade diese ist bei dieser Raumkomposition von entscheidender Bedeutung. Bei dieser denkwürdigen Aufführung in der Berliner Philharmonie also fügten sich Lautsprecherstimmen, Solosänger, Chöre und Orchester in polyphoner Kunst zusammen. Vielleicht hätten sogar Bach und Monteverdi dieses Werk nach einigen Eingewöhnungsschwierigkeiten akzeptiert.



    Zimmermanns Requiem dauert etwa 65 Minuten. Es ist aufgrund seiner Dichte abendfüllend. Peter Eötvös entschied sich aber, das große Werk auch etwas anderes auszubalancieren. Vor der Pause setze er dem Requiem zwei Bachsche Choralvorspiele im prächtigen orchestralen Gewand Arnold Schönbergs sowie Richard Wagners Siegfried-Idyll entgegen. Dieses ist ja eine der leisesten, kammermusikalischen Partituren Wagners. Wie nun genau der inhaltliche Zusammenhang zu Zimmermann herzustellen wäre, ist schwierig zu sagen. Immerhin gibt es in der Zitaten des Requiems auch Isoldes Schlussgesang. Bachs Choralvorspiele „Komm Gott, Schöpfer, heiliger Geist“ und „Schmücke dich, o liebe Seele“ sind als Kommentare leichter einzuordnen. Zum einen wirken sie wie Eröffnungen eines Gedenkgottesdienstes für Bernd Alois Zimmermann, Wladimir Majakowski, Sergei Jessenin und Konrad Beyer, wie die Verwandlung dieses Konzertes in ein religiöses Ritual: Außerdem zitiert Zimmermann regelmäßig Bach, in der Oper „Die Soldaten“, in den Monologen für zwei Klaviere und dann das „Es ist genug“, das schon Alban Berg im Violinkonzert zitiert hatte, am Ende seines letzten Werkes "Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne" (1970) Ekklesiastische Aktion für 2 Sprecher, Baß-Solo und Orchester“ mit Texten aus dem Prediger Salomo (Kohelet) sowie aus dem Kapitel "Der Großinquisitor" aus "Die Gebrüder Karamasow" von Fjodor Dostojewskij.



    Das Requiem wurde 1973 zuletzt in Berlin gespielt. Auch sonst sind Aufführungen sehr selten. 2005 gab es eine im niederländischen Haarlem, 2000 eine in Hamburg. In Berlin erklang das Werk jetzt an drei Abenden hintereinander. Bei der letzten Aufführung waren von den über 2000 Plätzen der Philharmonie etwa 1500 besetzt. 30 oder 40 Leute gingen, höflicherweise ziemlich leise. Gehustet hat keiner. Eigentlich ein ziemlich gutes, kultiviertes, respektvolles Publikum. Die Beifallskundgebungen am Schluss fielen sehr entschieden aus, auch mit Standing Ovations.

    Willy Decker hat als neuer Intendant der Ruhr-Triennale das neue Programm vorgestellt. Es gibt nicht nur Schönbergs "Moses und Aron", sondern ab dem 5. September eine Reihe von Inszenierungen zu Claude Vivier, unter dem Titel "Sing für mich, Tod". Dabei wird anscheinend auch
    Crois-tu en l' immortalité de l' âme? (Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele?) aufgeführt.
    Wer noch Karten möchte, sollte sich beeilen.

    Sonntag, 26.04.09 um 23:05 Uhr


    Der Musiker Claude Vivier


    Vagabund Vivier – Leben und Sterben eines Musik-Weltreisenden Shiraz, Bouchera, Paramirabo, Pulau Dewata (die Insel der Götter) oder Zipangu (wie Marco Polo Japan einst nannte).
    Schon die Titel seiner Werke lassen die Atmosphäre sagenumwobener, ferner Orte anklingen. Claude Vivier hat diese exotische Reisen tatsächlich unternommen. Der Kanadier bereiste Ende der 70er Jahre mehrfach den nahen und fernen Osten – getrieben von Sehnsucht, Fernweh und Neugier.
    Von Begegnungen mit Vivier und seiner außergewöhnlichen Musik erzählen Weggefährten, Freunde und Bewunderer: Clarenz Barlow, Johannes Fritsch, Denys Bouliane, Robert HP Platz, Reinbert de Leeuw, György Ligeti ...


    Redaktion Frank Hilberg

    Sonntag, 26.04.09 um 23:05 Uhr


    Der Musiker Claude Vivier


    Vagabund Vivier – Leben und Sterben eines Musik-Weltreisenden


    Shiraz, Bouchera, Paramirabo, Pulau Dewata (die Insel der Götter) oder Zipangu (wie Marco Polo Japan einst nannte).
    Schon die Titel seiner Werke lassen die Atmosphäre sagenumwobener, ferner Orte anklingen. Claude Vivier hat diese exotische Reisen tatsächlich unternommen. Der Kanadier bereiste Ende der 70er Jahre mehrfach den nahen und fernen Osten – getrieben von Sehnsucht, Fernweh und Neugier.
    Von Begegnungen mit Vivier und seiner außergewöhnlichen Musik erzählen Weggefährten, Freunde und Bewunderer: Clarenz Barlow, Johannes Fritsch, Denys Bouliane, Robert HP Platz, Reinbert de Leeuw, György Ligeti ...


    Redaktion Frank Hilberg


    Berliner Philharmoniker, 23., 24. und 25. April.


    Noch einmal zur Erinnerung!


    Johann Sebastian Bach
    Choralvorspiel »Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist« BWV 667 (Orchestrierung von Arnold Schönberg)
    Choralvorspiel »Schmücke Dich, o liebe Seele« BWV 654 (Orchestrierung von Arnold Schönberg)
    Richard Wagner
    Siegfried-Idyll
    Bernd Alois Zimmermann
    Requiem für einen jungen Dichter



    Berliner Philharmoniker
    Peter Eötvös Dirigent
    Caroline Stein Sopran
    Claudio Otelli Bariton
    Michael Rotschopf Sprecher
    Thomas Wittmann Sprecher
    Rundfunkchor Berlin
    James Wood Einstudierung
    MDR Rundfunkchor Leipzig
    Howard Arman Einstudierung
    Herren des WDR Rundfunkchors Köln
    Philipp Ahmann Einstudierung
    Herren des SWR Vokalensembles Stuttgart
    Celso Antunes Einstudierung
    João Rafael Klangregie

    Mittwoch, 18.03.09 um 23:05 Uhr
    Tales and Songs from the Bible of Hell Mit Patrick Hahn
    Die Vernunft muss nicht schlafen, um Ungeheuer zu gebären. Manchmal genügt es, sich die Dinge wachen Auges anzusehen. Wie den Seidenspinner, dessen lateinischer Name viel mehr über das schaurige Äußere seiner Gestalt verrät. Unwirklich schön ist dagegen Berenice, eine Gestalt aus dem nachtschwarzen Universum Edgar Allan Poes, die langsam, aber unaufhaltsam zugrunde geht. Auch dies eine „Heirat zwischen Himmel und Hölle“, wie sie William Blake im 18. Jahrhundert imaginierte und von der die „Geschichten und Lieder aus der Bibel der Hölle“ handeln, die Henri Pousseur daraus sponn.


    Elliott Sharp
    Bombyx elektronische Komposition
    Elliott Sharp – Klangerzeuger


    Johannes Maria Staud
    Berenice. Lied vom Verschwinden für Sopran, kleines Ensemble und Tonband


    Henri Pousseur
    Tales and Songs from the Bible of Hell
    Elektroakustische Musik mit vier Stimmen und Live-Elektronik
    Nach William Blake und Edgard Allan Poe
    Electric Phoenix


    Redaktion: Frank Hilberg

    Am 11. März spielte Maurizio Pollini in der Kölner Philharmonie. Das Publikum schien zunächst sich noch in einer seltsamen Starre befunden zu haben, die Stimmung war sehr gedämpft, aber es brachte dann dem italienischen Großmeister am Ende doch die durchaus angebrachten Ovationen dar. Dies war insofern erstaunlich, als dass das Programm mit Pause und Zugaben immerhin von acht Uhr bis beinahe elf Uhr dauerte. In Anbetracht des sehr kontrastreichen Aufbaus des Konzertes und auch wegen des tragischen Ereignisses des Vormittages wäre es vielleicht wünschenswert gewesen, wenn dieses Konzert noch in irgendeiner Form moderiert worden wäre. So wurden die Hörer mit einer Fülle sehr unterschiedlicher Musik konfrontiert und mit diesen Erfahrungen und auch mit anderen Fragen allein gelassen - abgesehen natürlich von der Möglichkeit des Austausches in den Pausen zwischen den Stücken. Allerdings hätte jede Form konzertpädagogischer Aufbereitung den Schluss der Veranstaltung noch später ausfallen lassen. Trotzdem - es wäre einen Versuch wert gewesen. Das Programm der Veranstaltung: Werke von jungen Komponisten der Vergangenheit, die später - Jahre nach der Komposition der aufgeführten Werke - die Anerkennung als Großmeister der Musikgeschichte fanden.


    Pollini spielte eigentlich nur in der zweiten Konzerthälfte im dann abgedunkelten Saal so etwas wie einen typischen Klavierabend mit Schönbergs Opus 11 und mit der Fantasie von Robert Schumann. Bei Schönberg beeindruckte der Überblick, mit dem der Aufbau dieser Stücke lebendig wurde. Die Einzelheiten wurde so in den Gesamtprozess integriert, dass das Ergebnis genauso schlüssig erschien wie in einem Brahms-Zyklus oder einer Beethoven-Sonate. Die emotionale Seite dieser Musik, in der Schönberg mit großer Leidenschaft eine neue Tonsprache findet, wurde im Vergleich dazu in einer besonders geformten Weise dargeboten. Statt extrovertierter Entfaltung einer aufgewühlten Stimmung wirkte in Pollinis Aufführung eine disziplinierte Strenge. Die Musik sollte für sich sprechen, der Hörer sich mit ihr auseinander setzen und dabei autonom handeln können und eben nicht von einem theatralischen Sog der Emotionen überwältigt werden.


    In Schumanns großer Fantasie - natürlich ein Liebesroman an Clara - beeindruckten im ersten und im dritten Satz vor allem die Momente, wo die Musik leiser wird, inne hält, einzelne Töne verklingen. Das war magisch und erzählte in wenigen Tönen ganze Geschichten (nicht nur im Legendenton), die vor dem inneren Auge des Hörers ablaufen konnten. Etwas zurückgenommen dagegen erschien der Überschwang des ersten Satzes, das Durchaus phantastisch und leidenschaftliche. Die Triumpfbögen des Marsches, also des Mittelsatzes des Werkes erschienen klassizistisch monumental, respektgebietend. Aber selbst in der verrückten Coda mit der Explosion des Marsches (oder Chorales, je nachdem) erschienen sie etwas distanziert, obgleich unwirklich. Es mischten sich hier natürlich auch das Staunen über die (kalte?) Pracht dieser Musik und über die Meisterschaft der restlosen Bewältigung sogar dieses Satzes.


    Vor der Pause gab es mehr als eine Stunde lang Musik von Karlheinz Stockhausen. Pollini spielte die Klavierstücke 7, 8, 9, drei im Vergleich zu den monumentalen Nummern 6 und 10 kurzen Stücken, in denen auch, wie später bei Schumann, und in noch stärkerer Ausprägung, das Verklingen der Töne, die Klangmodulationen im extremen Pianissimo und die Klangkristalle der Klavierarabesken aufhorchen ließen. Wer mag, kann sich an Stelle des Wortes Klangkristalle auch das Wort Klangdiamanten denken - Pollini setzte hier Fähigkeiten ein, die sonst vor allem seinem Lehrmeister Arturo Benedetti-Michelangeli zugeordnet werden.


    Nach den Klavierstücken 7 - 9 spielte das Klangforum Wien unter Leitung von Peter Eötvös Kreuzspiel, Zeitmaße und Kontra-Punkte. Die Spielkultur war wunderbar. Unter anderem konnte der Hörer erfahren, wie prachtvoll ein Bläserquintett klingen kann: Wie Vogelstimmen, und ganz weit weg von jeder komischen Note. Gerade auch dieser erste Konzertteil könnte an dieser Stelle vielleicht mit ausführlichen Überlegungen zu den Werken besprochen werden. Die Stücke hätten das verdient. Was den zwischen 1951 und 1960 komponierten Werken gemeinsam ist: Sie alle entstanden noch im Schatten der vorausgegangenen Katastrophe, und sie alle antworteten auf diese Katastrophe mit Schönheit, Erfindungsreichtum und Poesie.


    Pollinis Zugaben am Ende des Abends: Chopins Des-Dur-Nocturne und danach die Revolutionsetüde. Die Etüde war respektgebietend und monumental. Im Nocturne waren die gestalterischen und pianistischen Mittel auf die optimale Weise miteinander verbunden: Das große Legato, das nur aus der musikalischen Struktur und aus der Bedeutung der Mittelstimmen erweckte Tempo Rubato, die Abstufungen des Pianissimo zum entferntesten Verklingen hin.

    Edwin schreibt bestimmt noch. Ich würde ja gerne etwas schreiben, aber das ist mit Arbeit verbunden, und im Augenblick setze ich für mich andere Schwerpunkte als das. Nicht erst seit Mittwoch.


    Henri Pousseurs Musik lief mir in den 1980er Jahren über den Weg, als ich mich für die Arbeit belgischer Orchester interessiert hatte. Das Orchestre Phiharmonique de Liège führte mehrere große Werke von Pousseur auf und machte auch Aufnahmen davon. Gibt es die noch heute? Und warum spielen im Zeitalter der Europäischen Einigung nicht auch Orchester außerhalb Belgiens diese Stücke? Die Werke haben oft Bezüge zur Literatur und sind somit auch mit Chor und Gesangssolisten besetzt. Auf die Sujets weisen schon Titel wie Miroirs de Votre Faust (nach Michel Butor) oder Dichterliebesreigentraum.
    (Was für ein schöner Name für ein Musikwerk.)


    Eine Erinnerung an einen Höreindruck habe ich jetzt nur in Bezug auf ein Chorstück von Henri Pousseur:
    Tales and Songs from the Bible of Hell. Elektroakustische Musik mit vier Stimmen und Live-Elektronik.
    Nach William Blake und Edgard Allan Poe. Das Stück empfand ich einmal als sehr aufwühlend, gerade auch weil es Renaissance-Madrigale und eine mit aktuellen Mitteln arbeitende extreme Ausdruckshaltung miteinander verband. Vielleicht hatte es eine ähnliche Wirkung wie manche der dunklen Stücke von George Crumb oder manche dunklen Stellen bei Bernd Alois Zimmermann. Es scheint jetzt im Radio die Chance eines Wiederhörens zu geben: Mittwoch, 18.03.09 um 23:05 Uhr auf WDR 3.


    Und auch das elektroakustische Werk Trois visages de Liège kann nachhaltig wirken. Vielleicht sollte es öfter aufgeführt werden, auch im Hinblick darauf, dass diese ostbelgische Großstadt immer noch mit starken wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat und hier neue Perspektive für eine Identität dieser Stadt geschaffen werden sollten. Zum Teil sind die Probleme ähnlich wie im Ruhrgebiet. Allerdings hatte Liège (Lüttich) zur Zeit der Entstehung dieser elektroakustischen Portraits die Stücke nicht besonders gefördert und auf einem Open-Air-Festival elektronischer Musik stattdessen Lautsprecherwiedergaben von Gershwins Rhapsody in Blue bevorzugt - dies schrieb jedenfalls Karlheinz Stockhausen, ich glaube im ersten Band der MusikTexte. Später setzte sich das städtische Orchestre Philharmonique dann sehr für Pousseur ein. In den letzten Jahren allerdings nahm dieses Engagement dann etwas ab.


    Übrigens lese ich gerade, das in dem Festival ars musica, das im März und April vorwiegend in Brüssel stattfindet, seit heute Henri Pousseur einer der als Schwerpunkt aufgeführten Komponisten ist. Man kann also in Brüssel nicht nur gut essen, sondern auch gut hören.

    Maurizio Pollini am 11. März in der Kölner Philharmonie. Es gibt anscheinend noch Karten für dieses Konzert.


    Maurizio Pollini Klavier


    Klangforum Wien
    Peter Eötvös Dirigent


    Karlheinz Stockhausen
    Klavierstück VII (1954-1955)


    Karlheinz Stockhausen
    Klavierstück VIII (1954)


    Karlheinz Stockhausen
    Klavierstück IX (1954/1961)


    Karlheinz Stockhausen
    Kreuzspiel Nr. 1/7 (1951)
    für Oboe, Baßklarinette, Klavier, drei Schlagzeuger


    Karlheinz Stockhausen
    Zeitmaße Nr. 5 (1955-1956)
    für fünf Holzbläser


    Karlheinz Stockhausen
    Kontra-Punkte Nr. 1(1952-1953)
    für zehn Instrumente


    Pause


    Arnold Schönberg
    Drei Klavierstücke op. 11 (1909)
    1. Mäßig
    2. Mäßig
    3. Bewegt


    Robert Schumann
    Fantasie C-Dur op. 17 (1836-1839)
    für Klavier

    Berliner Philharmoniker, 23., 24. und 25. April.


    Der Vorverkauf läuft!


    Johann Sebastian Bach
    Choralvorspiel »Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist« BWV 667 (Orchestrierung von Arnold Schönberg)
    Choralvorspiel »Schmücke Dich, o liebe Seele« BWV 654 (Orchestrierung von Arnold Schönberg)
    Richard Wagner
    Siegfried-Idyll
    Bernd Alois Zimmermann
    Requiem für einen jungen Dichter




    Berliner Philharmoniker
    Peter Eötvös Dirigent
    Caroline Stein Sopran
    Claudio Otelli Bariton
    Michael Rotschopf Sprecher
    Thomas Wittmann Sprecher
    Rundfunkchor Berlin
    James Wood Einstudierung
    MDR Rundfunkchor Leipzig
    Howard Arman Einstudierung
    Herren des WDR Rundfunkchors Köln
    Philipp Ahmann Einstudierung
    Herren des SWR Vokalensembles Stuttgart
    Celso Antunes Einstudierung
    João Rafael Klangregie

    Berliner Philharmoniker, 23., 24. und 25. April.

    Der Vorverkauf läuft!

    Johann Sebastian Bach
    Choralvorspiel »Komm, Gott, Schöpfer, Heiliger Geist« BWV 667 (Orchestrierung von Arnold Schönberg)
    Choralvorspiel »Schmücke Dich, o liebe Seele« BWV 654 (Orchestrierung von Arnold Schönberg)
    Richard Wagner
    Siegfried-Idyll
    Bernd Alois Zimmermann
    Requiem für einen jungen Dichter




    Berliner Philharmoniker
    Peter Eötvös Dirigent
    Caroline Stein Sopran
    Claudio Otelli Bariton
    Michael Rotschopf Sprecher
    Thomas Wittmann Sprecher
    Rundfunkchor Berlin
    James Wood Einstudierung
    MDR Rundfunkchor Leipzig
    Howard Arman Einstudierung
    Herren des WDR Rundfunkchors Köln
    Philipp Ahmann Einstudierung
    Herren des SWR Vokalensembles Stuttgart
    Celso Antunes Einstudierung
    João Rafael Klangregie

    Auch JSB war im Café Zimmermann. Aber er komponierte dort nicht die Chaconne. Ich höre diese schicksalshafte Geigenmeditation in der Klavierübersetzung des Schweizer Chordirigenten und Organisten Rudolf Lutz und staune sehr. Wenn das die Herren Brahms und Busoni gewusst hätten! Und Bach? Dreht er sich jetzt im Grabe um? Gehen Sie bitte in die Thomaskirche und schauen Sie nach!


    Felix Mendelssohn-Bartholdy: Die erste Walpurgisnacht


    3sat, 7. Februar, 21.45 - 22.25


    NDR Chor, SWR Vokalensemble Stuttgart
    SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
    Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling


    "Die erste Walpurgisnacht" von Felix Mendelssohn Bartholdy basiert auf der gleichnamigen Ballade von Johann Wolfgang von Goethe. Der Weimaraner wollte seine im Mai 1799 verfasste Ballade von Anfang an als Chorkantate vertont wissen. Der von ihm favorisierte Komponist war zunächst Karl Friedrich Zelter, doch dieser erklärte:
    Wer das vertonen will, muss erst die alte abgetragene Kantatenuniform ablegen!
    Zelters späterer Schüler Felix Mendelssohn-Barthody wagte schließlich die Vertonung. Erste Skizzen zur Komposition entstanden 1830 auf Mendelssohns Italienreise. Die öffentliche Uraufführung fand am 10. Januar 1833 in der Sing-Akademie zu Berlin statt. Am Pult stand der Komponist selbst.


    In einem Brief an Zelter beschrieb Goethe den Inhalt der Ballade so:
    So hat nun auch einer der deutschen Altertumsforscher die Hexen- und Teufelsfahrt des Brockengebirges, mit der man sich in Deutschland seit undenklichen Zeiten trägt, durch einen historischen Ursprung retten und begründen wollen. Dass nämlich die deutschen Heidenpriester und Altväter, nachdem man sie aus ihren heiligen Hainen vertrieben und das Christentum dem Volke aufgedrungen, sich mit ihren treuen Anhängern auf die wüsten unzugänglichen Gebirge des Harzes im Frühlingsanfang begeben, um dort, nach alter Weise, Gebet und Flamme zu dem gestaltlosen Gott des Himmels und der Erde zu richten. Um nun gegen die aufspürenden bewaffneten Bekehrer sicher zu sein, hätten sie für gut befunden, eine Anzahl der ihrigen zu vermummen, und hierdurch ihre abergläubischen Widersacher entfernt zu halten und, beschützt von Teufelsfratzen, den reinsten Gottesdienst zu vollenden.
    (siehe Wikipedia-Artikel zu Die erste Walpurgisnacht)


    Der Komponist des Paulus und der Reformationssymphonie durfte dort so hübsche Verse vertonen wie den Chor der Wächter der Druiden: Diese dumpfen Pfaffenchristen, lasst uns keck sie überlisten! Mit dem Teufel, den sie fabeln, wollen wir sie selbst erschrecken. Kommt! Kommt mit Zacken und mit Gabeln, und mit Glut und Klapperstöcken lärmen wir bei nächt'ger Weile durch die engen Felsenstrecken! Kauz und Eule, Heul' in unser Rundgeheule, kommt! Kommt! Kommt!


    Während noch in den 1980er Jahren christlich-fundamentalistische Musikstudenten sich weigerten, an Aufführungen der Walpurgisnacht mitzuwirken, dürfte heute die Haltung gegenüber dem vielleicht pantheistischen Werk, das auch als Grundlage einer Verständigung zwischen den Religionen dienen kann, offener geworden sein.

    ... ein befreundeter Pianist aus der mehr oder weniger "normalen" Liga meinte zu mir, wegen Stockhausen oder Boulez mit Pollini würde er auch nach Köln fahren, nicht aber wegen Schumann. Das spiele er dann doch zu kalt. (Allerdings hat er früher Pianisten wie Rudolf Serkin, Geza Anda oder Wilhelm Kempff im Konzert gehört, er hat also andere Vergleichsmaßstäbe als die meisten Hörer heute.)


    Meine Entscheidung für den 11. März jedenfalls ist: Ich höre mir Pollini und Stockhausens Klavierstücke 7, 8, 9 nebst Kreuzspiel und Kontra-punkte, Schönbergs drei Stücke Opus 11 und Schumanns Fantasie in Köln an. Es wurmt mich wirklich, dass ich mich letzten Mittwoch nicht dazu aufraffen konnte, von Bielefeld nach Köln zu fahren, obwohl es ohne Probleme zu organisieren gewesen wäre. Die zweite Sonate von Boulez hat Pollini da scheinbar mühelos gespielt und anscheinend gerade nicht den Notentext treu dienend buchstabiert. Irgendwo hat Marc-Andre Hamelin mitgeteilt, dass Pollinis Aufführung der Sonate von Boulez erst im Konzert eine mitreißend emotionale Wirkung entfalte, auch wenn dort das letzte Maß an Perfektion der Begeisterung der lebendigen Aufführung geopfert würde.


    Stefan Rütter - in der gleichen Richtung - sagt im Kölner Stadtanzeiger dazu:
    ... Unter Pollinis Händen wirkte das halbstündige, in seinen Anforderungen an Kopf und Finger geradezu monströse Werk nicht nur schnell und schwer, sondern durchgehend brillant und virtuos. Pollini spielte auswendig - was das an Präzision und vollständigkeit kostete, könnte man wohl nur ermessen, wenn man zählend und prüfend die Noten verfolgte, statt sich von diesem eruptiven und ekstatischen Vortrag mitreißen zu lassen. So erlebte man den Pianisten nicht im Dialog mit einem herrischen, maßlos fordernden und knechtenden Notentext, sondern frei formulierend, fantasievoll entfesselt, spielend im höchsten Sinn des Wortes.

    Maurizio Pollini spielte am 21. Januar in der Kölner Philharmonie Beethovens Sturm-Sonate und die Appassionata und die zweite Sonate von Pierre Boulez. Die Besprechungen in der Kölnischen Rundschau und im Kölner Stadtanzeiger sind absolut begeistert. So heißt es bei Volker Fries in der Kölnischen Rundschau:


    ... Maurizio Pollini stellte bei seinem Klavierabend in der Kölner Philharmonie Beethovens „Appassionata“ (Sonate Nr. 23 f-moll op. 57) so dar, wie sie eigentlich nur gemeint sein kann: als ungeheure seelische Erschütterung. Da geriet die Welt, ganz im Sinne Shakespeares, gehörig aus den Fugen, und für Beethovens „Sturm“-Sonate (d-moll op. 31,2), mit der Pollini sein Programm eröffnete, hat der große Dramatiker aus England ohnehin die Vorlage geliefert...


    Der Künstler erwies sich diesmal einmal mehr als Magier. Er verwandelte die Kölner gleichsam in seine Landsleute, deren Applaus bereits in den Schlussakkord der „Appassionata“ platzte und während der letzten Zugabe, bei Chopins cis-moll Scherzo, noch deutlich vorher auszubrechen drohte...


    Nach der Pause verfolgte man schier fassungslos, wie Pollini die vier Satz-Giganten von Pierre Boulez' 2. Klaviersonate geradezu mühelos bezwang. Wie er logarithmisches Kalkül in musikalische Spannungsbögen überführte, und umgekehrt, hinter vermeintlichem Chaos ordnende Logik walten ließ, das machte den Abend zu einer ganz ungewöhnlichen Sternstunde. Nicht von ungefähr war auch das Publikum am Ende außer Rand und Band.


    Das gleiche Programm spielt Pollini am 25. Januar in Paris und am 2. Februar in Milano.


    Wer war denn da?

    Marc Pierre Toth ist ein Pianist ganz eigener Art. Nach einem anscheinend nicht ganz abgeschlossenen Chemiestudium studierte der Kanadier Klavier und hat jetzt in Hannover eine eigene Konzertreihe, in der sich regelmäßig ein Fanpublikum von etwa 200 Hörern einfindet. Weiterhin unterrichtet er an der Hochschule für Musik und Theater Hannover und spielt in Tanztheateraufführungen der Niedersächsischen Staatsoper Hannover, so in diesem Jahr die Goldbergvariationen und im Jahr davor die letzten 5 Sonaten und das vierte Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven.


    Ich selbst war in zwei Soloabenden anwesend. Es gab einige Eigenwilligkeiten in der Programmgestaltung
    (späte Beethoven-Sonaten und Brahms Opus 116 in direkter Nachbarschaft mit Liszts Bearbeitung des Pilgerchores aus Tannhäuser oder Liszts Rigoletto-Paraphrase), und er hat eine sehr spezielle Art, seine Konzerte zu moderieren (zum Beispiel mit Gesangseinlagen aus Rigoletto, wenn der Liszt dran ist), seine Ideen für Zugaben sind zum Teil haarsträubend (ich habe jetzt keine Zugabe vorbereitet, aber ich kann für Sie einen Handstand machen), aber er spielte auch eine überzeugende Aufführung der Beethoven-Sonate Opus 101 (wo er natürlich keine Angst vor der Schlussfuge zeigte) und eine Aufführung der Opus 111, in der er für die Probleme des Verhältnisses zwischen Introduktion, Allegro con brio ed appassionato und Arietta-Variationen, des Aufbaus der Steigerungskurve dieser Variationen, des Verhältnisses zwischen Melodiestimmen und Ornamentik und der Trillerketten sehr schlüssige Lösungen fand. Und natürlich ist er technisch auch sehr gut in Form.


    Die wichtigsten seiner Konzerte dürften auf den Internetseiten der Hochschule für Musik und Theater und der Niedersächsischen Staatsoper vermerkt sein.


    Der von Ulli erwähnte Bericht der Schaumburger Nachrichten erscheint mir absolut glaubwürdig und irgendwie typisch für diesen Pianisten.

    Zur Zeit finden die Vorrunden (Screening Audition Recitals) des Van Cliburn - Klavierwettbewerbes statt, und zwar in Forth Worth (Texas), New York City, Shanghai, St. Petersburg, Lugano und Hannover. In der Aula der Hochschule für Musik und Theater Hannover spielen vom 20. bis zum 24. Januar ab 13 Uhr und ab 19.30 Uhr jeweils für mehrere Stunden insgesamt über 30 junge Pianisten. Auch wenn weitgehend das Standartrepertoire zwischen Trois mouvements de Pétrouchka und Prokofjew-Sonaten vorherrscht, so dürfte doch die gestalterische Qualität der Beiträge zum Teil sehr hoch sein. Hier noch zwei originelle Beiträge aus den Programmen in Hannover:



    24. Januar, 14.50 Uhr


    Romain David (Frankreich)
    Couperin: L'Anguille (22e Ordre)
    Chopin: Ballade No. 1 in g, Op. 23
    Chopin: Ballade No. 2 in F, Op. 38
    Tristan Murail: Cloches d-adieu et un sourire (1992)
    Debussy: Etude pour les degrés chromatiques
    Debussy: Etude pour les notes répétées
    Scriabin: Etude in Des, Op. 8, Nr. 10
    Liszt: Ungarische Rhapsodie Nr. 12



    24. Januar, 15.40 Uhr


    Benjamin Moser (Deutschland)
    Rachmaninoff: Prelude in gis, Op. 32, No. 12
    Rachmaninoff: Etude-Tableau in es, Op. 39, No. 5
    Rachmaninoff: Prelude in Ges, Op. 23, No. 10
    Rachmaninoff: Prelude in B, Op. 23, No. 2
    Beethoven: Sonate Nr. 32 in c, Op. 111

    Zitat

    Original von Kulturvermittler
    ... Die Website des Musikverlages Boosey&Hawkes kündigt für die nächsten Monate noch eine ganze Reihe von Aufführungen mit größeren Werken von Claude Vivier an. Zusätzlich zu den in dieser Liste angekündigten Konzerten gibt es noch Anfang Januar in Hannover eine Aufführung von Shiraz durch den Pianisten Shai Wosner im Rahmen der Pro-musica-Konzerte.



    ... spielt er in Hannover natürlich nicht. Das aktuelle Programm von Shai Wosner in Hannover am 13. Januar ist jetzt:


    Schumann Nachtstücke op. 23
    Debussy Préludes
    Schumann Carnaval op. 9


    :boese2: :boese2: :boese2:

    ... und hier der aktuelle Zwischenstand:


    1. J. S. Bach: Englische Suite Nr. 5
    2. J. S. Bach: Englische Suite Nr. 3
    3. J. S. Bach: Englische Suite Nr. 1
    4. J.S. Bach: Englische Suite Nr. 2
    5. J.S. Bach: Englische Suite Nr. 6
    6. J.S. Bach: Englische Suite Nr. 4
    7. Chopin: Sonate h-moll Opus 58
    8. Chopin: Polonaise-Fantaisie
    9. Beethoven: Variationen aus der Sonate Opus 109
    10. Claude Vivier: Shiraz

    Das Konzertverzeichnis der Stockholmer Vladimir Horowitz Website von Christian Johansson nennt die Daten für die ersten beiden Hamburger Konzerte von Vladimir Horowitz. Wie man in den bekannten Biografien nachlesen kann, war das erste Hamburger Solorecital kein berauschender Erfolg, trotz so attraktiver Programmbeiträge wie der h-moll-Sonate von Franz Liszt. Am Tag nach diesem Soloabend war Horowitz mit seinem Manager in der Januarkälte im Tierpark Hagenbeck unterwegs und kam des Abends in das Hotel zurück. Dort erreichte ihn die Nachricht, dass er für die erkrankte Pianisten Helene Zimmermann einspringen und in der zweiten Konzerthälfte, nach Beethovens "Pastorale", das Tschaikowsky-Konzert spielen solle. Der Dirigent Eugen Papst erklärte: "Achten Sie nur auf meinen Taktstock, dann wird schon nichts passieren." Obwohl Horowitz dieser Weisung sicherlich folgte, passierte dennoch etwas, nämlich eine Aufführung, bei der schon nach wenigen Takten der Dirigent und das Publikum in ein ungläubiges, trance-artiges Staunen verfielen und anschließend den Pianisten triumphal feierten.



    Hier die Daten zu den Konzerten gemäß der Stockholmer Website:



    January 19, 1926: Hotel Atlantic, Hamburg, Germany



    Program included:
    Chopin: Barcarolle in F-sharp major, Op.60
    Liszt: Sonata in B minor


    Chopin: Etudes [unspecified selection, but among them Op.25 No.10]
    Chopin: Mazurkas [unspecified selection]
    Liszt: Fantasy on two themes from Mozart's opera Figaro's Wedding


    January 20, 1926: Hamburg, Germany [Horowitz stood in for an ill Helene Zimmermann]



    Tchaikovsky: Piano Concerto No.1 in B-flat minor, Op.23
    - Eugen Pabst, conductor/Unknown Orchestra





    Vorher spielte Horowitz 1920 bis 1925 in den drei russischen Metropolen, aber anscheinend nur acht Konzerte ingesamt. Dann spielte er im Januar 1926 mehrere Konzerte in Berlin, mit sehr anspruchsvollen Programmen, siehe unten, aber dadurch erreichte er noch nicht den Rang eines überragenden Stars. Merkwürdigerweise geschah dies erst an dem bemerkenswerten 20. Januar.





    January 2, 1926: Beethovensaal, Berlin, Germany [European Debut]



    Program included:
    Bach/Busoni: Toccata, Adagio & Fugue in C major, BWV 564 Schumann: Fantasy in C major, Op.17


    Rachmaninoff: Unspecified works
    Liszt: Reminiscences de Don Juan (after Mozart)


    January 4, 1926: Beethovensaal, Berlin, Germany [+]



    Medtner: Unspecified work(s) Ravel: Sonatine [+ other works?]
    Chopin: Sonata No.2 in B-flat minor, Op.35 [+ other works?]
    Liszt: Reminiscences de Don Juan and/or the Figaro Fantasy as completed by Busoni


    January 5, 6 or 7, 1926: Blüthner Hall, Berlin, Germany [European Concerto Debut]



    Tchaikovsky: Piano Concerto No.1 in B-flat minor, Op.23 - Oskar Fried/Berlin Symphony Orchestra


    January 14, 1926: Beethovensaal, Berlin, Germany [+]



    Bach/Busoni: Unspecified transcription(s) Schumann: Carnaval, Op.9
    Liszt: Sonata in B minor Liszt: Mephisto Waltz [unspecified]
    [Encores unknown]

    Im Juni hat Herr Ranki in Detmold gespielt, u.a. Haydn 52 und Schumann Fantasie Opus 17. Ich war nicht da, weil ich auch einmal ein paar Konzerte nicht besuchen wollte, schließlich kann man nicht alles hören. Ein mit mir befreundeter Pianist war da und erklärte, ich hätte etwas verpasst. Auf meine Anmerkung, das Konzert sei also anscheinend sehr gut gewesen, sagte er nur, es wäre nicht nur sehr gut gewesen, sondern sogar eher "spacig" oder psychedelisch. Es folgte dann von ihm noch ein Vergleich mit einem live-Erlebnis mit Geza Anda.


    Martha Argerich, Krystian Zimerman, Grigory Sokolov, Maurizio Pollini, Alfred Brendel, Pierre Laurent Aimard ...


    also ich weiss wirklich nicht, was uns dieses Zitat sagen will. Es sei denn, ich bin über die religiöse oder sexuelle Orientierung der Pianisten, die ich gerade genannt habe, absolut falsch orientiert oder überschätze deren Können. Allerdings sind trotzdem Maestro Vladimirs Aufnahmen und Konzertmitschnitte ab 1985 äußerst wertvoll und hörenswert.


    Vernachlässigt habe ich bisher die Herren Pierre Laurent Aimard und Michael Gees und die Pianistin Mitsuko Uchida. Ich hoffe, mich 2009 oder 2010 in wenigstens einem ihrer Konzerte einfinden zu dürfen.

    Aufgrund des Geschenkes meiner Eltern schätze ich mich glücklich über die einzige Aufnahme, wo Martha Argerich die Polonaise-Fantaisie spielt.



    Messiaen gab es in diesem Jahr nur in Form eines Klavierauszuges von Saint François d'Assise auf dem Gabentisch. Schließlich war ich ja immer der klugen Meinung, dass ich mir die 32 CDs umfassende Gesamtedition einfach einmal irgendwann später kaufen könnte, wenn ich das Bedürfnis danach haben würde. Schließlich hätte ich ja sowieso fast alle Werke in Aufnahmen daheim. Eine klassische Fehlentscheidung, denn jetzt gibt es die Box nicht mehr, jedenfalls nicht mehr bei JPC.


    Martha Argerichs Aufnahmen waren übrigens einer der allerersten musikalischen Eindrücke für mich als Kind, neben einigen Werken des frühen Boulez, Messiaens Visions de l`Amen im Konzert, Friedrich Guldas Beethoven-Sonaten und indischen Ragen.


    Ich selber habe in diesem Jahr Rockmusik-DVDs (Dreamtide, Thin Lizzy) und Multimedia-Geräte verschenkt.

    Lieber Edwin,


    die Rhythmen, die Farben und den ideellen Gehalt dieses Duowerkes finde ich schon stark. Aber im Vergleich zu den wenige Monate später komponierten Vingt Regards sur l`Enfant-Jésus erscheinen mir vordergründig wahrnehmbare Dinge wie z.B. die Verarbeitung der Themen und auch der Umgang mit dem Klavier noch als ein klein wenig unsicher und beinahe schwerfällig. Vielleicht denke ich bei dieser Betrachtungsweise aber auch etwas zu sehr vom Klavier aus. Jedenfalls stehen die Visions de l`Amen einer großen Konkurrenz durch die benachbarten Werke gegenüber. Was soll man denn von Messiaen zu Weihnachten hören?


    Lieber Agon,


    im Oktober habe ich mir einmal an zwei hintereinander liegenden Abenden Henzes Bassariden und Reimanns Lear live angesehen und fand beides ansprechend. Allerdings genügte es dann noch nicht für eine vertiefende Auseinandersetzung. Und von Herrn Henze mag ich wahrscheinlich nur einige Werke wie die Bassariden und die Tristan-Préludes für Klavier, Orchester und Tonband, nicht aber zum Beispiel den Prinz von Homburg. Ansonsten sind mir grundsätzlich als Opernmeister die Herren York Höller, Bernd Alois Zimmermann und Oliver Messiaen lieber und natürlich einige der älteren Meister aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und noch länger zurück. Oder Klaus Huber, wenn ich seine Oper kennen würde. Bei Reimann würde mich Bernada Albas Haus interessieren, das kenne ich gar nicht.


    Frau Schäfer finde ich natürlich gut, allein schon deshalb, weil sie 2004 in Paris in der Oper von Herrn Messiaen die weibliche Hauptrolle gesungen hat. In Bezug auf deine sehr heftige Kritik gegen die Herren Riemann und Heinze würde ich gerne die Frage stellen, ob es im 20. oder 21. Jahrhundert auch Tonsetzer gibt, die du magst. Vielleicht Igor Strawinski, auch wenn dessen bedeutendste und schönste Leistungen vielleicht nicht unbedingt in der Oper zu finden sind? Ich mag neben dem Prinzen von Homburg übrigens auch nicht Richard Wagner`s Bearbeitung (Ouvertüre?) über das Lied "God shave the King" und auch nicht seinen Kaisermarsch.




    Ich finde von Aribert-"Tantiemen"-Reimann den "Lear" sehr bewegend und höchstens in der Dauerclusterbeschallung etwas monochrom, jedoch sehr inspiriert. Insofern möchte ich diesen Komponisten nicht so kritisch sehen. Wenn der Lear nicht so am Rande des Repertoires liegen würde, hätte ich vielleicht auch etwas dazu gepostet. Allerdings finde ich die Noten von Reimanns Klaviervariationen langweilig aussehend. Aber ich habe noch nicht wirklich versucht, zu entziffern, wie das zu spielen ist.