Das ist der Knackpunkt. Das Erhabene und Religiöse, was sich damit verbindet - ist das alles nur eine nur psychologisch begründete Suggestion eines Hörers, der das in die Musik nur hineinprojiziert? Kann die Musik das "Erhabene", Heilige, Religiöse wirklich ausdrücken?
Frage 1: nein
Frage 2: ja, ich bemühe mich da jeden Sonntag, genau das zu tun.
Ich versuche es auch zu begründen, lieber Holger:
Nur sagt er: Musik kann Wirkungen erzielen, aber Gefühle eben nicht ausdrücken. Und weil die Musik keine Gefühle tatsächlich ausdrückt, sondern nur auf das Gefühl wirkt, sind diese Wirkungen auch nicht ästhetisch relevant. Ästhetisch relevant ist allein die Erfassung der musikalischen Form. Das ist dann der sehr rigoristische und konsequente "Formalismus" Hanslicks. Die Betrachtung der Gefühlswirkungen gehört nicht in die Ästhetik, sondern in die Psychologie, sagt Hanslick. Und konkret hält er dann dem "erhabenen Stil" Wagners vor, dass es da einfach nur um die psychologisch erklärbare aber ästhetisch letztlich irrelevante Wirkung, den puren Nervenkitzel nämlich, geht. Diese Wagner-Kritik findet sich dann bei Nietzsche (Wagner wolle Wirkung und nichts als Wirkung) oder in Thomas Manns hoch ironischer (und sehr selbstironischer) Tristan-Novelle.
Zunächst einmal: wer kennt vom Herrn Hanslick irgendein kleines musikalisches Werk? Oder gar ein großes Musikwerk?
Kann sich der Mann auch nur im entferntesten mit dem Über-Genie Richard Wagners messen?
Bruckner erkannte als Musiker, was für ein Kaliber Wagner war. Er war ihm - manche sagen sogar bis zur Peinlichkeit- vollkommen "erlegen" und verhielt sich ihm gegenüber "unterthänig".
Bruckners heutige Anhänger finden oft, dass er das gar nicht nötig gehabt hätte, sicher nicht ganz zu unrecht. Andererseits ist Bruckners grenzenlose und fachlich sehr untermauerte Bewunderung Wagners auch mehr als berechtigt.
Wer war nun ein E. Hanslick? Ein sehr brillianter Intellektueller, ja, durchaus. Aber wenn es um den Zugang zum inneren Wesen der Musik geht, ist er im Verhältnis zu Leuten wie Brahms (den er ja stützte), Bruckner oder Wagner - sorry- nur ein Winzling, vor allem wenn es um die Frage geht, Gefühle verschiedener Art musikalisch ausdrücken zu wollen.
Was er hier betrieb, ist in meinen Augen eine semantische Haarspalterei, die um ihrer selbst oder um der Polemik Willen angezettelt wurde.
Allein deshalb neige ich sehr stark dazu, in dieser damaligen Auseinandersetzung dem praktischen Vollblutmusiker Richard Wagner voll und ganz rechtzugeben.
Was ist denn schon "ästhetisch relevant"?
Für mich ist Wagners (und Bruckners) Ästhetik mehr als relevant. Den Überlegungen eines Hanslicks hingegen kann ich da nicht allzu viel Relevanz zusprechen.
Nur sagt er (Hanslick): Musik kann Wirkungen erzielen, aber Gefühle eben nicht ausdrücken. Und weil die Musik keine Gefühle tatsächlich ausdrückt, sondern nur auf das Gefühl wirkt, sind diese Wirkungen auch nicht ästhetisch relevant. Ästhetisch relevant ist allein die Erfassung der musikalischen Form. Das ist dann der sehr rigoristische und konsequente "Formalismus" Hanslicks. Die Betrachtung der Gefühlswirkungen gehört nicht in die Ästhetik, sondern in die Psychologie, sagt Hanslick.
Was sind denn für diesen Hanslick überhaupt "Gefühle", und wie drückte er sie aus, wenn er denn welche hatte?
Der Mann stand sich m.E. mit seiner scharfen Intellektualität durchaus selbst im Wege. Ärgerte er sich, dass die Innovationen Wagners nicht vorher über seinen Schreibtisch gingen?
Wenn er sagt, dass "ästhetisch relevant" allein die "Erfassung der Form" sei, dann vermute ich eine gewisse Verkopfung in seiner Rezeption. Wenn man etwas als ästhetisch empfindet ( !) , sind das nicht auch Gefühle oder nur Überlegungen?
Das Gesicht einer wunderschönen Frau entspricht ja durchaus ästhetischen Idealen, wie z.B. Proportion. Gleiches gilt für Autos, sogar für Hifi-Geräte, auf denen der Blick des Genießers stundenlang verweilen kann. Doch geht dem Gefühl zunächst einmal formale ästhetische Analyse voraus? Nicht immer, wie ich meine.
Ich habe ja selbst als Kind und Jugendlicher mit großen Gefühlen z.B. die Beethoven-Symphonien mit einem Jecklin-Float-Kopfhörer auf dem Kopf alle x-Mal durcherlebt, ja durchlitten. Nach der 9. ( natürlich mit Karajan...) musste ich anschließend regelmäßig in die Badewanne....
Dabei möchte ich behaupten, dass ich damals von der symphonischen Form nicht allzu viel verstanden und erfassen konnte, weil ich vielleicht erst ab 12 Jahren anfing, überhaupt so etwas wie Sonatensatzform mit Exposition, Durchführung, etc. auch intellektuell zu verstehen.
Hanslick argumentierte hier meiner Vermutung nach so, weil er mit Wagners fließender Art des Komponierens auf Kriegsfuß stand. Wagners Harmonik moduliert frei, erweckt Erwartungen und enttäuscht sie positiv; statt der Sonatensatzform gibt es Leitmotive, und in Sachen Oper hat er - danke dafür, lieber Richard- die damals schon anachronistische Nummernoper abgeschafft.
Die Franzosen des 18. Jahrhunderts haben ähnlich verächtlich auf die eruptive italienische Musik des Barocks geschaut. Diese "vulgären Italiener" hatten ja nicht diese Tänze, die in ihrer Symmetrie einem barocken Prachtgarten vergleichbar sind. Denen fehlte wohl die französische Kültür... 
Was hätte denn Wagner noch erzielen sollen, wenn nicht Wirkung? Belehrung, gar Störung oder Irritation? Nun, der Hanslick war ja irritiert. Dass man immer gestört werden muss, um sich eines Besseren belehren zu lassen, das meinen ja heute viele. Manche kleben sich da sogar auf Berliner Haupstraßen fest, eine Methode, bei der aus meiner Sicht der Schuß höchstwahrscheinlich nach hinten losgeht. Aber das wollen wir hier nicht vertiefen. Jedenfalls glaube ich nicht, dass es gut wäre, wenn eine Musik wirkungslos wäre.
Es auch eine Frage, wie eine Musik gehört wird. Wer nicht Gehörtraining studiert hat, oder es dann später nicht mehr praktiziert, der gibt möglicherweise bei der intellektuellen Erfassung der Harmonik Wagners schnell auf. Sollte er dabei trotzdem nicht unmusikalisch sein, dann gerät er damit emotional in die Hände des Komponisten, was dessen Absicht war. Das Gesamtkunstwerk aus Bühne und Schauspiel etc. tut ein Übriges: der Intellekt des Publikums wird nicht in gelehrter Art Weise (wie mit einer Fuge) gefüttert, sondern die Emotionen der Leute werden mit direktem Zugang zum Unbewussten gekonnt gelenkt und maximiert ( heute funktioniert es eher seltener, weil immer weniger Leute überhaupt ein Gehör haben).
Durch all das sah Hanslick die Tradition der europäischen Kulturmusik stark gefährdet, was ihn möglicherweise polemisch werden ließ. Wenn er, wohl durch seinen Intellekt seinen eigenen Gefühlen schon entfremdet, von "verrottetet Gefühlsästhetik" sprach, dann begab er sich damals auf das kellertiefe Niveau des ebenfalls Hoch-Intellektuellen Goethe, der Schuberts Vertonungen seiner Texte durchaus ablehnte und irgendwelchen anderen viertklassigen Komponisten tatsächlich aus ästhetischen Gründen den Vorzug gab.
Im Fach Musikgeschichte hat uns unsere Professorin den "Erlkönig" in der von Goethe bevorzugten Fassung vorgespielt, danach die bekannte Vertonung Schuberts. Den Namen des anderen Komponisten habe ich jetzt vergessen, und das bedaure ich auch nicht. Es war ein harmloser, netter Singsang, der, im wahrsten Sinne des Wortes, im Rahmen, in der Form blieb.
Wie konnte der Mann, der diesen mächtigen Text verfasste, nur so eine belanglose Vertonung bevorzugen, bei der alles in schöner langweiliger Ordnung vor sich hin dudelte?
Ich nehme an, weil Goethe zwar nicht unmusikalisch war, aber das wahre Feuer der Musik nicht wirklich in ihm brannte. "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen" hätte man dem guten Johann Wolfgang in diesem Fall zurufen müssen. Er konnte mit der - bei mir jedenfalls- immer wieder Betroffenheit und Gänsehaut auslösenden Musik Schuberts wohl wenig anfangen.
Nun kannte ich auch einen älteren Freund ( schon verstorben) der beim Thema Bruckner-Symphonien auch gerne von der Erfassung der "Forrrrm" redete.
Immerhin liebte er seinen Bruckner ( von dem ich noch gar nichts verstand) während es ja für einen Hanslick nicht gut genug war, dass Bruckner die alte Form der Symphonie durchaus zur Anwendung brachte. Aus der Sicht Hanslicks hat Bruckner wahrscheinlich die traditionsreiche symphonische Tradition mit wagnerischem Gift kontaminiert.
Auch in Foren liest man immer wieder, dass man doch die Form bei Bruckner gut heraushören müsse. Gerne wird dann Günter Wand angeführt, der sich ja durchaus zum Ziel setzte, Bruckner als Symphoniker darzustellen, "ohne Weihrauch", wie er -leider- selbst auch sagte.
Zum Glück hat Bruckner so komponiert, dass auch bei Wand noch genügend Weihrauch in der Luft schwebte, ob er es denn wollte oder nicht. Weihrauch duftet wunderbar, und wenn man mich fragt, was die wichtigsten Arbeiten sind, die ein Mann verrichten kann, dann sage ich: entweder die Gestik etwa eines Thielemann beim Bruckner-Dirigieren, oder die Ernsthaftigkeit eines Priesters, mit der z.B. in der Basilica of the National Shrine of the Immaculate conception, Washington D.C. während des Eingangschorals der Altar inzensiert ( beräuchert ) wird.
Es scheinen sinnlose Tätigkeiten zu sein, die aber mit tiefstem Ernst und hochkonzentriert ausgeführt werden. Ich finde das wichtiger als Autos reparieren oder vertickern zu können.
Hier transzendiert etwas, hier entsteht eine geheimnisvolle Verbindung zum nicht Profanen, zur mystischen, unsichtbaren Welt.
Und die Sache mit der auch so bedeutsamen Form ist auch zweifelhaft: Bruckner benutzt rhythmische Motive, erst langsam, dann mit halb so großen Notenwerten. Die wiederholt er dann zuweilen sehr oft - ja wie oft eigentlich? Das hat zwar eine innere Symmetrie, wenn man sich die sich entwickelnden Blöcke anschaut, folgt aber mehr einer expressiven Gesetzmäßigkeit als der starren Sonatensatzform. In diesen Wiederholungen und Steigerungen liegt eine Urkraft. Man könnte an eine Gruppe Affen denken, die einen gewissen Laut austoßen. Dann fallen andere mit ein, dann wird es schneller und immer lauter. Man schaukelt sich hoch....bis es zu einem mehr oder weniger katastrophalen Ausbruch kommt. So etwas gibt es auch in der Natur, z.B. bei Vulkanen. Ja, auch der menschliche Sexualakt ist gar nicht so weit davon entfernt.
Nun könnte man sagen, dass all dieses Archaische und Animalische doch alles Mögliche ausdrücke, bloß nicht Erhabenheit, gar Heiligkeit.
Da muss ich mit der katholischen Lehre antworten: aus Gottes Sicht ist der Sexualakt ein sich gegenseitiges Hingeben von Mann und Frau. Der Mann sagt zur Frau: Mein Leib für Dich - und umgekehrt.
Die Eucharistie ist dem tatsächlich auf eine mystische Weise wesensverwandt: Christus gibt sich voll und ganz seiner Braut (der Kirche) hin. Das geht soweit, dass der gläubige Katholik mit dem Empfang der Eucharistie Gott "ißt." "Dies ist mein Leib"...."Das ist mein Blut".
Darüber hat auch Ratzinger Erhellendes geschrieben....
Diese hochheilige Vereinigungsmystik bestätigt mir, was ich schon seit vielen Jahren empfand, nämlich dass die musikalischen Neuerungen Wagners -im Tristan-Vorspiel herrlich introduziert und im Parsifal vollständig implementiert- durchaus geeignet waren und sind, religiöse Dinge zum Ausdruck zu bringen. Der Bruckner hat das jedenfalls erkannt und sein inneres Sehnen, diese Dinge zum Ausdruck bringen zu wollen, in seiner Klangwelt realisiert.
Die Betrachtung der Gefühlswirkungen gehört nicht in die Ästhetik, sondern in die Psychologie, sagt Hanslick.
Es mag herausfordernd sein, dem intellektuell entgegenzuhalten. Doch klingt es so, als wenn mit mir etwas nicht stimme, weil ich einen gewissen Akkord (z.B. fis-moll über Dis) als ambivalent und mystisch empfinde, weshalb ich ggf. die Hilfe eines Psychologen bräuchte, weil ich meiner nüchternen ästhetischen Beurteilungskraft beraubt zu sein scheine.
Ein paar Takte aus Bruckners oder Wagners Musik sollten aber reichen, solche Betrachtungen als unsinnig beiseite zu legen.
Jeder Musiker will Emotionen vielfältigster Art ausdrücken. Wenn Musik - nach Hanslick- an sich keine Emotionen ausdrücken kann, dann fragt man sich, warum dann die Komponisten in ihrer grassierenden Verirrung immer und immer wieder "expressivo" in die Noten geschrieben haben.
"Ich falle gerade innerlich zusammen, meine Hoffnungslosigkeit erdrückt mich" - wenn einer das in Tönen ausdrücken konnte, dann war es wohl Schubert.
Und das erhebende Gefühl, eine hehre Götterburg zu betrachten, dort oben, auf dem Berge (Wälder befinden sich darunter...) - wer konnte diese Noblesse, dieses Edle, Hehre, ja Heilige besser in Tönen zum Ausdruck bringen als Wagner, eben mit dem herrlichen Blechbläsermotiv aus dem Rheingold?
Nun müssen wir aufpassen, dass wir hier nicht zu sehr in allgemeine Betrachtungen abschweifen.
Ich beziehe mich also auf das grimmige Scherzo der 9. von Bruckner.
Anfangs hört man leise in den Bläsern einen bedrohlich klingenden Cis-Moll- Quint-Sext-Akkord. Erst erscheint er in einem Anapäst-Rhythmus, dann bleibt er liegen. Über dem liegenden Akkord hört man nun Akkordbrechungen von oben nach unten, durch die hohen Streicher im Pizzikato vorgetragen. Die tiefen Streicher antworten darauf in umgekehrter Arpeggiorichtung.
Das Spielchen wird auf eine neue Ebene gehoben, nach oben transponiert, dann kommen noch ein paar Takte mit Achtelfiguren, danach ein sich wiederholendes Motiv aus zwei Tönen bestehend, welches wie ein Zweierpaar klingt, aber eigentlich hemiolisch aus dem 3/4-Takt entsteht. Eine kurze Pause, und dann bricht auf einem Bb7 4# mit Terz D im Bass im Forte-Fortissimo die Hölle los.
Das wäre eine kurze Formanalyse, aber was höre/empfinde ich da? Der gefährliche Moll-Quint-Sextakkord im Anapäst-Rhythmus setzt die Szene für das dräuende Gefühl eines nahenden Unheils. Wie vor einem Gewitter wirkt das tropfende Pizzikato als Vorboten von Schlimmeren. Durch das Hochtransponieren der Szene ( im wagnerschen Stil) wird das Gefühl der Gefährlichkeit verstärkt. Man ahnt, dass hier etwas kommt, was nicht aufzuhalten ist. Bei den Legato-Achtelnoten könnte man an anschwellende Bäche denken, darüber warnende Rufe von Vögeln.
Dann kommt die Katastrophe doch schneller als erwartet - wahrscheinlich hat Bruckner schon den Klimawandel und das Ahrtal vorausgesehen.
Erst stampft das Orchester brutal und unisono auf dem D, dann kommt dieser Bb7 4# mit Terz D im Bass, der sich nach klassischer Lehre eigentlich nett und sittsam nach Eb-Dur auflösen müsste. Macht er aber nicht!
Die Stelle klingt mir gar nach einer Vorabschattung von Heavy-Metal-Musik für ein Orchester.
Aus religiöser Sicht könnte man an drohende Zornschalen aus der Offenbarung denken, die dann ein Engel schneller als vorher geahnt ausgießt. Man kann also bei der Stelle an ein Gewitter, aber auch an das Gericht Gottes denken, was bei einer Bruckner-Symphonie vielleicht gar nicht so abwegig wäre.
Gerade diese Stelle wird in ihrer rohen Naturgewalt in meinen Ohren in der Aufführung mit Karajan und den Wiener Philharmonikern ( DVD/ YouTube-Film, siehe oben) am "besten", d.h. Horror auslösend, gespielt. Später, mit den Berlinern, ( s.o.) ist das dem alten Dirigenten nicht mehr so geglückt - warum auch immer.
Ich möchte im Grundsatz noch einmal betonen, dass ich aufgrund vieler wunderbarer Hörerfahrungen die Bruckner-Arbeit Günter Wands sehr schätze und liebe, nicht dass das jemand falsch versteht. Gerade hörte ich mit ihm die 4. und die 5. Bruckners - wunderbare Hörerfahrungen. Wer sich ernsthaft für Bruckner interessiert, kommt an Wand nicht vorbei.
Gruß
Glockenton