Es gibt in dieser Entwicklung einige interessante Bruchstellen, die das Verhältnis von Meister und Lehrling in Frage stellen und verändern. Eine dieser Bruchstellen ist die Französische Revolution. In der großen Wende, die durch sie bewirkt wurde, kann man erkennen, wie die gesamte Musikausbildung und auch das Musikleben eine grundsätzlich neue Funktion bekamen. Das Verhältnis Meister-Lehrling wurde nun durch ein System, eine Institution ersetzt: das Conservatoire. Das System dieses Conservatoire könnte man als eine politische Musikerziehung bezeichnen. Die Französische Revolution hatte fast alle Musiker auf ihrer Seite, und man war sich bewusst, dass mit Hilfe der Kunst, und ganz besonders der Musik, die nicht mit Worten arbeitet, sondern mit geheimnisvoll wirkenden „Giften“, Menschen beeinflusst werden können. Die politische Nutzung der Kunst zur offensichtlichen oder unmerklichen Indoktrinierung der Staatsbürger oder der Untertanten war natürlich von alters her bekannt; sie wurde nur in der Musik nie vorher so planmäßig eingesetzt.
Bei der französischen Methode, eine bis in die letzten Einzelheiten durch konstruierte Vereinheitlichung des musikalischen Stils zu erzielen, ging es darum, die Musik in das politische Gesamtkonzept zu integrieren. Das theoretische Prinzip: die Musik muss so einfach sein, dass sie von jedem verstanden werden kann (wobei das Wort „verstanden“ eigentlich nicht mehr zutrifft), sie muss jeden rühren, aufputschen, einschläfern … ob er nun gebildet ist oder nicht; sie muss eine „Sprache“ sein, die jeder versteht, ohne sie lernen zu müssen.
Diese Forderungen waren nur nötig und möglich, weil die Musik der Zeit davor sich primär an die „Gebildeten“ wendet, also an Menschen, die die musikalische Sprache gelernt haben. Die Musikerziehung hat im Abendland von jeher zu den wesentlichen Teilen der Erziehung gehört. Wenn nun die traditionelle Musikerziehung eingestellt wird, hört die elitäre Gemeinschaft von Musikern und gebildeten Hörern auf. Wenn jedermann angesprochen werden soll, ja der Hörer gar nichts mehr von Musik zu verstehen braucht, muss alles Sprechende – das Verstehen erfordert – aus der Musik eliminiert werden; der Komponist muss Musik schreiben, die auf einfachste und eingängigste Weise direkt das Gefühl anspricht. (Philosophen sagen in diesem Zusammenhang: Wenn die Kunst nur noch gefällt, ist sie auch nur für Ignoranten gut.)
Unter dieser Voraussetzung also hat Cherubini das alte Meister-Lehrling Verhältnis im Conservatoire aufgehoben. Er ließ von den größten Autoritäten der Zeit Schulwerke schreiben, die das neue Ideal der Egalité (der Gleichmäßigkeit) in der Musik verwirklichen sollten. In diesem Sinne hat Baillot seine Violinschule, hat Kreutzer seine Etüden geschrieben. Die bedeutendsten Musikpädagogen Frankreichs mussten die neuen Ideen der Musik in einem festen System niederlegen. Technisch ging es darum, das Sprechende durch das Malende zu ersetzen. (…) Diese Revolution in der Musikerausbildung hat man derart radikal durchgeführt, dass innerhalb weniger Jahrzehnte überall in Europa die Musiker nach dem Conservatoire-System ausgebildet werden. Geradezu grotesk aber erscheint mir, dass dieses System heute noch die Basis unserer Musikerziehung ist! Alles, was vorher wichtig war, wurde dadurch ausgelöscht!
Es ist interessant, dass einer der ersten großen Bewunderer der neuen Art, Musik zu machen, Richard Wagner war. Er dirigierte das Orchester des Conservatoire und war begeistert, wie nahtlos Auf- und Abstrich der Geigen ineinander übergingen, wie großflächig ihre Melodien waren, dass nunmehr mit der Musik gemalt werden könnte. Er erklärte später immer wieder, er habe ein derartiges Legato mit deutschen Orchestern nie wieder erreicht. Ich bin der Meinung, dass diese Methode optimal ist für die Musik Wagners, aber dass sie geradezu tödlich ist für die Musik von Mozart. Genaugenommen erhält der heutige Musiker eine Ausbildung, deren Methode sein Lehrer so wenig durchschaut wie er selbst. Er lernt die Systeme von Baillot und Kreutzer, die für die Musiker von deren Zeitgenossen konstruiert wurden, und wendet sie auf die Musik völlig anderer Zeiten und Stile an. Offensichtlich ohne sie neu durchzudenken, werden sämtliche theoretischen Grundlagen, die vor hundertachtzig Jahren sehr sinnvoll waren, noch immer in die heutige Musikerausbildung übernommen, aber nicht mehr verstanden. (…) Brahms sagte einmal, man müsse ebensoviel Zeit dafür aufwenden, zu lesen wie Klavier zu üben, um ein guter Musiker zu werden. Damit ist eigentlich auch für heute alles gesagt. Da wir nun einmal Musik aus etwa vier Jahrhunderten aufführen, müssen wir, anders als die Musiker früherer Zeiten, die optimalen Aufführungsbedingungen jeder Art von Musik studieren. Ein Geiger mit der perfektesten Kreutzer/Paganini-Technik möge nicht glauben, damit das Rüstzeug für Bach oder Mozart erworben zu haben. Dafür müsste er die technischen Voraussetzungen und den Sinn der „sprechenden“ Musik des 18. Jahrhunderts wieder zu verstehen und zu erlernen trachten.
Es handelt sich hier nur um die eine Seite des Problems, denn auch der Hörer müsste zu einem viel umfassenderen Verständnis herangeführt werden. Derzeit leidet er noch immer unter der Entmündigung in der Folge der Französischen Revolution, ohne es zu wissen. Schönheit und Gefühl sind bei ihm, wie bei den meisten Musikern, die einzigen Komponenten, auf die das Musikerleben und –verstehen reduziert ist. (…)