Hier nun eine Fortsetzung:
Es werden nun die Aufnahmen von Toscanini (NBC SO, 1947), Mravinsky (Leningrad PO, 1960), Abbado (WPO, 1974), Karajan (BPO, 1976), Jansons (Oslo PO, 1984), Sinopoli (Philharmonia Orchestra, 1989) und Celibidache (MPO, 1992) betrachtet.
Zu Celibidache ist zu sagen, dass er 59 Minuten für dieses Werk braucht, die übrigen Dirigenten jedoch nur zwischen 41 und 47 Minuten. Bei der 5.Sinfonie Tschaikowskys fand ich seinen Ansatz sehr überzeugend (siehe auch den entsprechenden Thread), hier überspannt er m. E. des Bogen und ist lediglich als Ausnahmeerscheinung interessant, als Gegensatz, als Alien, nicht als ernsthafter Gegenstand eines Vergleichs und wird darum im folgenden nicht besprochen.
Der Kopfsatz ist formal eine Sonatensatzform, bei der Durchführung und Reprise in intelligenter Weise miteinander verzahnt sind. (Dies widerlegt zum Teil den Vorwurf formaler Beliebigkeit.) Einer Analyse von Thomas Kohlhase in der Goldmann-Schott-Taschenpartitur im wesentlichen folgend, finden wir folgende Abschnitte:
T. 1-18 Einleitung in drei Abschnitten zu 6 Takten
T. 19-160 Exposition
T. 19-88 Hauptsatz
T. 19-42 1. Thema (mit Entwicklung)
T. 43-88 Episode
T. 89-142 Seitensatz
T. 89-100 2. Thema
T. 101-129 Episode
T. 130-142 2. Thema wiederholt
T. 143-160 Schlussgruppe
T. 161-304 Durchführung
T. 161-170 Einleitung
T. 171-201 1. Teil, beginnend mit Fugato, gesteigert bis ins fff
T. 202-229 2. Teil, beginnend mit Zitat aus der russischen Totenmesse in den Posaunen, innerer Höhepunkt
T. 230-276 3. Teil, gleichzeitig Reprise des 1. Themas, äußerer Höhepunkt
T. 277-304 Ausklang
T. 305-335 Reprise
T. 305-317 Reprise des 2. Themas
T. 318-335 neue Schlussgruppe
Alle Dirigenten nehmen die Einleitung langsamer als notiert (adagio, Viertel = 54), Toscanini, Mravinsky, Karajan und Sinopoli fast ohne rubato, Abbado und Jansons verweilen ein wenig auf den Spitzentönen.
Das erste Thema (Allegro non troppo, Viertel = 116) nimmt Toscanini schneller als notiert. Bei ihm macht es am den Eindruck von atemlosen, gehetzten Dahinhuschen. Bei piu animando (Blechbläserfanfaren T. 19ff.) hat er allerdings keine Temporeserven mehr. – Mravinsky ist hier deutlich langsamer, lässt aber das erste Motiv des Themas stets mit Nachdruck spielen. Überhaupt ist Deutlichkeit auch in Nebenstimmen sein Anliegen. – Abbado hat sogar bei der Wiederholung des ersten Themas in der Flöte Zeit für ein Minirubato, fast noch langsamer als Mravinsky, sehr behutsam und detailbeachtend. Auch die Blechbläserfanfaren am Höhepunkt der Episode lässt er nicht voll ausspielen, hebt sich die Dramatik für später auf. Trotzdem klingt es bei ihm geradezu sportlich und schlank. – Karajan ist deutlich drängender, legt den Vortrag auf Steigerung und Nachlassen hin an. Die absteigenden Holzbläser-Tonleitern zu Beginn der Episode werden kaum phrasiert. Karajan lässt den Höhepunkt deutlich kräftiger ausspielen als Abbado. – Jansons spielt rhythmisch sehr exakt, allerdings um ein Haar zu penibel, als dass das Stück wirklich atmen würde. – Bei Sinopoli hört man sofort, was Jansons fehlt: Eine gewisse Weichheit, Biegsamkeit des Vortrages, die bei allem Tempo, aller Ereignisdichte die Noten mit einem zärtlichen Trauerflor umgibt.
Das zweite Thema, Andante (Viertel = 69), con sordini, teneramente, molto cantabile, con espanzione ( = Streicher mit Dämpfern, zart, sehr gesanglich, mit Ausdehnung). - Toscanini ist als einziger im Tempo, gönnt sich aber – wie allen anderen – Dehnungen der langen Melodietöne. Deutliches Anziehen des Tempos zu Beginn der Episode (vorgeschrieben sind nun Viertel = 100). Bei Wiederholung des zweiten Themas (ohne Dämpfer) ist er genau im Tempo. Sentimentalität kann man ihm sicher nicht vorwerfen. – Mravinsky nimmt das zweite Thema langsamer, zurückhaltender, aber mit stärkeren Akzente da, wo der Komponist sie vorgeschrieben hat und auch an anderen Stellen. Das macht einen süßlicheren Eindruck als bei Toscanini, ohne deswegen sentimental zu sein, es hat etwas schwärmerisches. Mravinsky zieht in der Episode bei der Steigerung der Lautstärke auch das Tempo an. – Abbado macht alles, was in der Partitur steht (Tempo mal ausgenommen), aber er sucht keine Extreme. Das zweite Thema wirkt sehr ausgeglichen, quasi gemäßigte Tschaikowsky-Breiten. Es fällt die Natürlichkeit des Abbadoschen Vortrages auf. – Karajan lässt die Crescendi und Decrescendi des 2. Themas stärker ausspielen als Abbado. Er lässt die vorgeschriebene Beschleunigung zu Beginn der Episode nicht spielen, sondern bleibt quasi im Tempo des zweiten Themas. Am Ende der Episode scheint er dann aufholen zu wollen. Das steht anders in der Partitur. Bei der Wiederholung des zweiten Themas mögen Karajanverächter mit dem Finger auf den Breitwandsound zeigen, aber es klingt hinreißend. – Jansons ist da zurückhaltender mit der espanzione, das zweite Thema hat bei ihm etwas wehmütiges, was aber auch daran liegt, dass er die vorgeschriebenen Akzente kaum beachtet. Das gilt auch für die Wiederholung – Blech und Holz haben eben nur p bis mf, allen ff der Streicher zum Trotz. Karajan war da pauschaler – auch wenn’s bei ihm noch so schön klingt, es steht so nicht da und ist so nicht gewollt. – Auch Sinopoli sagt beim zweiten Thema dem Klangbad ab und bevorzugt eine verschattete Darstellung des Materials. Zügig, drängend geht es dann durch die Episode. Bei der Wiederholung mag man zunächst gar nicht glauben, dass die Dämpfer weg sind.
Zeit für ein Zwischenfazit: Karajan klingt toll, aber eben nach Karajan und nicht unbedingt nach Tschaikowsky. Jansons ist im ersten Thema zu pedantisch und im zweiten zu nachlässig. Bei den anderen muss man noch sehen, wo die Reise hingeht. Abbado und Sinopoli gefallen mir bis jetzt am besten.
Die Durchführung. Hier sind die Unterschiede interessanterweise marginal und eher in der Klangtechnik und in der Virtuosität des Orchesters zu suchen. Einzige Stelle zur Unterscheidung ist der (äußere) Höhepunkt der Durchführung (T. 285), wo der Dirigent entscheiden muss, ob und wie viel er im Tempo nachgibt. – Toscanini hat ein sehr angemessenes Tempo, ist keinesfalls zu schnell. Bei T. 285ff gibt er kaum im Tempo nach. – Mravinsky lässt zu Beginn der Durchführung sehr schroff spielen (wieder das gewöhnungsbedürftige Vibrato der russichen Trompeter beim Höhepunkt des 1. Teils). Etwas deutlicheres Nachgeben im Tempo bei T. 285ff als bei Toscanini. – Bei Abbado finden wir hervorragendes Orchesterspiel in allen Gruppen, deutlich besser als New York oder Leningrad. Bei der Reprise des 1. Themas nimmt er ein wenig Fahrt weg. Beim Anlaufen zum Höhepunkt wird es dann immer breiter, schließlich quasi halbes Tempo – steht so nicht in der Partitur (largamente steht nur in der Streicherstimmen und bezieht sich wohl auf die Bogenführung), auch wenn es seine Berechtigung im dramatischen Kontext haben mag. Überzeugend ist es aber allemal. – Die Berliner Philharmoniker stehen ihren Wiener Kollegen sicher nicht nach. Kaum Tempoverbreiterung am Höhepunkt! – Jansons wird beim Anlaufen zum Höhepunkt abrupt langsamer (T. 277ff.) und verschenkt somit vieles von der möglichen Wirkung dieser Stelle. – Sinopoli beginnt die Durchführung geradezu explosiv, die Nebenstimmen in Holz und Hörnern während des Fugatos sind deutlicher zu hören als bei anderen. Sinopoli behält den Drive unterschwellig beim Choral aus der Totenmesse bei, es kocht quasi bei geschlossenem Deckel weiter (Celli/Bässe) und beruhigt sich erst bei Beginn der Durchführung des 1. Themas, um dann sofort wieder in Fahrt zu kommen. Das ist bis jetzt eine absolut stimmige Tempodramaturgie. Ab T. 277 wird allerdings auch er deutlich langsamer (quasi halbes Tempo) – schade. Bis jetzt der einzige eventuelle Schwachpunkt einer ausgezeichneten Interpretation.
In der Reprise des zweiten Themas sind die Charakteristika aus der Exposition wiederzuerkennen: Toscanini der schnellste, hier für meinen Geschmack zu schnell. Etwas zu buchstabiert die Coda. – Mravinsky expansiver als Toscanini mit einem fetten letzten Höhepunkt. Die Coda ähnlich wie Toscanini, jedoch deutlicher artikuliert. – Abbado ist auch in der Reprise wieder introvertierter als Mravinski. Recht legato in der Coda. – Karajan dreht bei der zweiten incalzando-Stelle noch mal auf. Sehr weihevoll wird die Coda vorgetragen. Das ist dramaturgisch sehr stimmig, ist allerdings meilenweit vom in der Partitur angegebenen Tempo entfernt (Viertel = 80). - Bei Jansons geht es recht sachlich nach Hause. Unaufgeregt auch die Coda bzw. Schlussgruppe, ohne einen Hauch von Verklärung. Es wirkt etwas buchstabiert. – Auch bei Sinopoli haben sich nach der Durchführung die Wogen zunächst geglättet, er macht allerdings noch zwei kräftige Tempowellen (in der Partitur so vorgeschrieben: incalzando = drängend), betont sachlich auch die Coda.
(Leider habe ich nicht die Einspielungen von Furtwängler, Mengelberg, Fricsay, Cantelli, Bernstein und Solti. Mal sehen.)
Bei Interesse wird die Besprechung fortgesetzt ...