Im Alter von 20 Jahren erlebte der Komponist Alban Berg 1905 in Wien eine von Karl Kraus organisierte Privataufführung des Schauspiels „Die Büchse der Pandora“ von Frank Wedekind. Das Schauspiel ist die direkte Fortsetzung von Wedekinds Theaterstück „Der Erdgeist“, das 1898 in Leipzig uraufgeführt wurde. Im Mittelpunkt beider Stücke steht Lulu, eine Frau mit unbestimmter Vergangenheit, der die Männer (und eine lesbische Gräfin) reihenweise ob ihrer sexuellen Attraktivität verfallen, die sich für Lulu zugrunde richten (und dabei eine oftmals grotesk-lächerliche Figur machen) und die der Lulu einen enormen, gesellschaftlichen (und finanziellen) Aufstieg ermöglichen, bis diese, am Ende der Handlung, alles Geld verliert und auf dem Strassenstrich in London landet, wo sie ein Opfer des legendären Mörders Jack the Ripper werden wird.
Beide Stücke galten der damaligen Zeit als „unanständig“ und „unmoralisch“ und wurden von der Zensur verfolgt, was dazu führte, dass Aufführungen so gut wie immer nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden konnten.
Alban Berg war von der Figur der Lulu fasziniert, aber erst rund zwanzig Jahre später, nachdem er sie kennengelernt hatte, 1928, entschloss sich Berg, aus der Vorlage von Frank Wedekind eine Oper zu machen. 1934 war dann das Particell der „Lulu“ weitgehend fertiggestellt. Zum 60. Geburtstag von Bergs Lehrer, Arnold Schönberg, dem die Oper „Lulu“ auch gewidmet ist, erklang erstmals eine Suite mit Musik aus der „Lulu“, die Erich Kleiber dirigierte.
Die Folge dieser Aufführung der „Lulu-Suite“ war, dass die „öffentliche Meinung“ gegen Alban Berg hetzte und Berg dann im Nazi-Jargon als „unerwünschter Kulturbolschwik“ galt. Die Werke von Alban Werk wurden nicht mehr aufgeführt und der Dirigent Erich Kleiber verliess im Jahr 1935 Deutschland.
Als Alban Berg am heiligen Abend des Jahres 1935 verstarb, hinterliess er seine Oper „Lulu“ unvollendet. Zwei Akte waren komplett fertiggestellt, das Particell zum dritten Akt wies Lücken auf und die Angaben zur Instrumentierung waren unvollständig.
Alban Bergs Witwe, Helene Berg, hat die Vervollständigung der „Lulu“ verboten. Nach ihrem Tod im Jahr 1976 hat der Komponist Friedrich Cerha die „Lulu“ vervollständigt. Am 24.02.1979 wurde diese dreiaktige Version erstmals in Paris gezeigt, der Dirigent war Pierre Boulez, die Regie hatte Patrice Chéreau übernommen.
Nicht alle Bühnen zeigen die „Lulu“ in der dreiaktigen Version. Immer wieder wird auch das Fragment aufgeführt, oft ergänzt durch jene Teile des dritten Aktes, die noch von Berg selbst stammen. In Basel ist das Stück nun in einer gekürzten Version zu erleben. Die ersten beiden Akte sind vollständig, so, wie sie Berg komponiert hat. Im dritten Akt fehlt das erste Bild, das erzählt wie Lulu, die erpresst wird, vor der Polizei in der Verkleidung eines Pagen fliehen muss. Es schliesst also an den zweiten Akt direkt das Bild an, das Lulu als billige Prostituierte in London zeigt.
Calixto Bieito wollte „Lulu“ schon seit längerer Zeit inszenieren. Kein Wunder bei einem Regisseur, der immer wieder Sexualität, oft in Verbindung mit Gewalt, in seinen Inszenierungen zeigt, der versucht, uns etwas über unser Verhältnis zueinander und über den Umgang miteinander mitzuteilen, der Moral und Scheinmoral zum Thema macht und der doch dabei das Individuum nie aus dem Auge verliert. In seinen stärksten Momenten ist das Theater des Calixto Bieito tief menschlich und berührend.
Die enorme Qualität und die ungeheuere Kraft der Baseler „Lulu“ liegt in einer Personenführung, die sich mit den besten Schauspielaufführungen messen lassen kann. Es ist schier unglaublich, zu was Opernsängerinnen und Opernsänger in der Lage sind, wenn ein Regisseur sie zu fordern versteht, wenn es einem Regisseur gelingt, einen hohen Identifikationsgrad zwischen den ausführenden Künstlerinnen und Künstlern und den von ihnen dargestellten Rollen herzustellen.
Da sitzt jede Geste, jede Bewegung und vor allem auch jeder Gesichtsausdruck. Da wird mit dem Einsatz des ganzen (auch gegebenenfalls nackten) Körpers gespielt, dass einem der Atem stockt. Ich habe lange nicht mehr erlebt, dass Sängerinnen und Sänger derartig bedingungslos und Grenzen überschreitend auf einer Bühne miteinander agiert haben – grandios.
Bieito inszeniert Lulu in einem quasi geschlossenen Rahmen – die Personen der Handlung sind immer dieselben, selbst, wenn sie als Doppelrollen konzipiert worden sind. Das trifft auch auf die Garderobiere und den Gymnasiasten zu, der hier eine etwas biedere, blonde, langhaarige Oberschülerin mit Labtop, Zigarette und lesbischen Neigungen ist. Der Bühnenraum (der eiserne Vorhang ist zu Beginn ganz geschlossen) zeigt in der Mitte zwei ineinandergesetzte Bilderrahmen, die Bühne selbst ist von Metallrahmen eingefasst, die sich auch auf der Bühne fortsetzen, der Orchestergraben ist ins Bühnenbild integriert, vor dem Orchestergraben gibt es einen Laufsteg vor dem Publikum.
Zu Beginn in der Bühnenmitte ein pinkfarbenes Pferd, man erkennt angedeutet ein Fotoatelier, auf dem Pferd der Tierbändiger, der stumm die Peitsche schwingend, auf dem Pferd reitet. Der Tierbändiger tritt vor das Publikum, führt seine wilden Tiere vor, es sind Männer aus dem Publikum, die gleich die Hosen runterlassen. Nur Lulu kommt in eine graue Wolldecke gehüllt und von Polizisten begleitet eher bedrückt und ängstlich auf die Bühne. Der Tierbändiger wird am Ende seiner Szene einer Barbie-Puppe den Kopf abbeissen und deren Blut trinken.
In der ersten Szene sitzt dann Lulu auf dem Pferd, sie trägt knappste Reizwäsche zu scharfen Schuhen mit enorm hohen Absätzen und die von einem Fotografen geschossenen Pin-Ups werden auf die Leinwand in dem Bilderrahmen projiziert.
Die Handlung läuft wie vorgesehen ab, die sexuellen Spielereien zwischen dem Fotografen und Lulu sind deutlich und drastisch, z. B., wenn der Fotograf seine Kamera genau zwischen Lulus Beine schiebt und ihre Scham fotografiert. Der Ehemann von Lulu überrascht die beiden und stirbt den schnellen Herztod und wie Lulu mit dem Toten zuerst spricht und sich dann auf ihn setzt, ist eine von vielen sehenswerten Momenten dieser Inszenierung.
Im zweiten Bild werden riesige Fotografien (Lulu hat den Fotografen zwischenzeitlich geheiratet) vom Schnürboden heruntergelassen. Alle zeigen die nackte Lulu, mal gefesselt, mal mit einem Telefon, aber immer mit laszivem Gesichtsausdruck.
Auch die Auseinandersetzung zwischen Lulu und Dr. Schön lebt von einer minutiösen Personenregie, die gewalttätig ist, aber dann in eine Art oralen Sex mündet.
Drastisch das Ende des Fotografen und ganz stark die Lulu in einem Nichts von Kleid, wenn sie Dr. Schön das Blut ihres Gatten abwischt.
Ein echter Clou das folgende Bild: man sieht keine Theatergarderobe, sondern eine noble Strip-Bar. Vorne, auf dem Laufsteg, sieht man den Prinzen in einer Phantasie-Uniform, mit Schuhen mit Stiletto-Absätzen und transvestitischem Make-Up, er hat einen Obstkorb dabei, aus dem er eine Melone nimmt, die er sexuell anzüglich verspeisen wird. Lulu ist die Hauptattraktion dieser Strip-Bar. Sie trägt eigentlich kein Kostüm mehr, nur ihre Brustwarzen sind noch bedeckt, dazu ein winziges Höschen und eine Art Diadem. Während sie mit Alwa plaudert, wirft sich ihr der Prinz zu Füssen, den sie mit ihren hohen Absätzen traktiert oder dem sie sich auch auf den Rücken stellt. Danach wird der Prinz Lulu die Beine ablecken, über die Alwa immer wieder ein Getränk schütten wird.
Den normalen Bargästen auf der Bühne serviert ein Boy in einem Lederslip Natursekt direkt vom Erzeuger.
Nachdem Lulu ihre Nummer abgebrochen hat und sie von Dr. Schön zur Rede gestellt wurde, diktiert Lulu dem Dr. Schön die Auflösung von dessen Verlobung: Schön tippt alles brav als SMS in sein Handy.
Nächstes Bild, Auftritt Gräfin Geschwitz: hier ist keine Bilderbuchlesbe zu sehen, vielmehr ist die Geschwitz eine elegante Frau im Hosenanzug mit einem enorm weit ausgeschnittenen Oberteil.
Dr. Schön in seinem schwarz-weiss gestreiften Pyjama geht sicher zur keiner Börse mehr, der Mann, der sich schon eine Waffe besorgt hat, steht kurz vorm Wahnsinn. Während er beobachtet, wer so alles seine Frau scharf findet, klatscht er rote Farbe auf ein grosses Bild von Lulu im Hintergrund. Der Tierbändiger, sein Sohn Alwa, Schigolch, ein Penner mit einem Einkaufswagen, der wahrscheinlich nicht Lulus Vater ist, aber die Minderjährige missbraucht hat, die Gymnasiastin, die Geschwitz und der Prinz, der jetzt, krank, ohne Hose und mit verschmiertem Make-Up und einer Sauerstoffmaske, einen Rollator mit dem Sauerstoff vor sich herschiebend, den Diener bei Dr. Schön gibt – sie alle sind Lulus sexueller Attraktivität rettungslos erlegen.
Lulu tötet Dr. Schön in einem Gerangel mit dessen Revolver und wird von der Polizei verhaftet.
Das nächste Bild erzählt nicht nur die Rettung der Lulu aus dem Gefängniskrankenhaus – es zeigt auch, wie sich die Gymnasiastin die Pulsadern öffnen und wie Alwa mit Schigolchs Hilfe den Tierbändiger umbringen wird. Als Lulu den Gefängnisoverall auszieht, ist sie schön und verführerisch, wie eh und je.
Das letzte Bild: in der Mitte ein Kübelcontainer mit Müllsäcken, im Vordergrund Lulu in einem Pelzmantel – sie ist heruntergekommen und mitgenommen. Jetzt macht sie es mit jedem und wird wohl mehr als einmal um ihren Lohn betrogen. Alwa, Schigolch und die Geschwitz sind noch bei Lulu.
Ganz zum Schluss gelingt Bieito noch einmal eines jener Bilder, die tief in der Erinnerung des Zuschauers hängen bleiben werden: als sie mit Jack the Ripper um den Dirnenlohn feilscht, reisst sich zuerst die Geschwitz die Bluse vom Leib und bietet sich an, dann wird Lulu den Pelzmantel sinken lassen und steht ganz vorne nackt an der Rampe: alles, was sie noch besitzt, ist ihr Körper. Sie geht mit Jack zu dem Container, dort wird Jack Lulu töten. Fast liebevoll leckt er sich Lulus Blut von der Hand, bevor er der Geschwitz die Kehle durchschneiden wird.
Das, was die Sopranistin Marisol Montalvo darstellerisch leistet, ist phänomenal. Eine schmale, attraktive Frau ist das, die eine Beweglichkeit an den Tag legt, die aussergewöhnlich ist. Und sie bewegt sich in den ungewöhnlichen Kostümen völlig natürlich. Tief berührend, wenn sie am Ende ganz nackt auf der Bühne steht.
Die Stimme ist eher klein, müht sich auch mit den exaltierten Tönen und den vertrackten Sprüngen merklich, die Sängerin weicht auch zu Vereinfachungen aus, aber wenn man das gesehen hat, tritt eine solche Kritik merklich zurück.
Ein perfekt agierender Dr. Schön ist Claudio Otelli, ein Mann, der immer latente Gewalt ausstrahlt und der seinen etwas groben, phonstarken Bariton hier ideal zur Geltung bringen kann.
Ebenfalls erstklassig die Mezzospranistin Tanja Ariane Baumgartner als Gräfin Geschwitz, deren ausgeglichene, dunkel timbrierte Stimme auch den Schlussatz noch souverän beherrscht – darstellerisch ist auch sie ein Erlebnis.
Erwähnenswert der Tenor Rolf Romei als Maler (hier als Fotograf) und Andrew Murphy als obszön-brutaler Tierbändiger.
Erin Caves, der Alwa, war als indisponiert angekündigt, schade, nach dem sehr positiven Eindruck in Chemnitz hätte ich den Sänger auch als Alwa gerne bei voller Stimme erlebt.
Musikalisch war der Abend beim knapp 40jährigen Dirigenten Gabriel Feltz in besten Händen. Feltz half den Sängerinnen und Sängern, wo es ging, war präzise bei den Einsätzen und hat damit diesem schwierigen Bühnenkonzept mit zu seiner ausgezeichneten Wirkung verholfen. Mit Hingabe setzte das Orchester die Partitur von Alban Berg um, viele Details wurden hörbar gemacht, geradezu vertraut klang die Musik, die einstmals verstörte.
Grosser Jubel für diese Aufführung, für die Protagonisten, den Dirigenten und nicht zuletzt für den Regisseur Calixto Bieito, der oftmals so stark in seiner Inszenierung ist, dass man ihm einige Überzeichnungen gerne verzeiht.