Beiträge von Alviano

    Lieber Edwin,


    herzlichen Dank für diesen Versuch, die Arbeiten Goodalls genauer einzuordnen. Sie sind nämlich nicht - und schon gar nicht pauschal - Aufnahmen aus der ersten Reihe, weder musikalisch, noch vokal.


    Gerade beim "Ring" finde ich viele Stellen - im orchestralen Bereich - hörenswert. Diese sehr langsamen Tempi (und Goodall schafft es, den Spannungsbogen zu halten) lenken die Aufmerksamkeit auf die Details, auf den Klang, zumindest da, wo das Orchester nicht in voller Stärke zum Knallen gebracht wird, so auch im ersten "Walküren"-Akt, die "Todverkündigung" hast Du bereits genannt, "Siegfried", 2. Akt würde ich auch erwähnen wollen.


    Ob man das Gesamtkonzept für gelungen hält, ist eine andere Frage, ich habs bereits angedeutet, mein Stil ist das auch nicht.


    Beim "Tristan" fand ich die Tempi nicht so störend, wie bei Bernstein, hier würde ich aber die Frage, ob das ausserordentliche des Stückes, die enorme emotionale Kraft der Musik, die Auslotung des Klangspektrums in der Interpretation von Goodall wirklich dem Werk gerecht wird, kritisch beurteilen.


    "Parsifal" ist schwierig - da ist mit Meier eine interessante Kundry zu hören, Ellsworth als Parsifal schlägt sich anständig und McIntyre erfreut zumindest den Hörer, der seinen Wotan schätzen gelernt hat mit einem willkommenen Wiederhören, Joll ist als Amfortas reichlich grauenhaft.


    Die musikalische Seite? Dann doch lieber Knappertsbusch...


    Ansonsten ist der Einstiegsbeitrag einfach schlecht recherchiert - die Hinweise auf Goodalls politische Haltung finden sich allenthalben und provozieren zumindest Nachfragen.

    Es ist offensichtlich notwendig, genau die Dinge in den Blickpunkt der Musikfreund/innen zu rücken, die mit eindeutiger Interessenslage absichtsvoll verschwiegen werden. Es soll jede/r wissen, dass Goodall ein überzeugter Faschist war. Dafür, dass sich jemand dann aufgrund dieser Tatsache Goddall-Aufnahmen nicht mehr ins Regal stellen mag, habe ich grosses Verständnis.


    Musikalisch ist Goodall weit von dem entfernt, was ich persönlich präferiere. Aber seine Art des Dirigierens übt einen ganz eigenen Reiz aus, der zum Zuhören zwingt


    Als kürzlich seine frühe "Meistersinger"-Aufnahme erschienen ist, bedurfte es nicht der sehr lobenden Besprechung dieser Aufnahme durch einen hier nicht gänzlich unbekannten Musikjournalisten einer Zeitung aus der österreichischen Hauptstadt, um mein Interesse zu wecken.

    Eine Entführung ist für die betroffenen Opfer eine Extremerfahrung, eine, die sie ihr Leben lang verfolgen wird. Jan-Philipp Reemtsma hat seine Entführung im Bericht „Im Keller“ zu verarbeiten versucht und Einblicke in die Abläufe, in die Gedanken des Opfers gegeben, er hat geschildert, was mit dem Individuum bei einer Entführung geschieht.


    Lange vorher, im Jahr 1756, hat der Mozart-Zeitgenosse Johann-Gottlob Krüger angenommen, dass man Experimente mit der menschlichen Seele machen kann, in dem man den Menschen in Extremsituationen bringt, in die er normalerweise nicht geraten würde. Er folgerte, dass sich nicht nur aus der Veränderung der Seele Veränderungen des Leibes ergeben würden, sondern auch umgekehrt, durch Veränderungen des Leibes Veränderungen an der Seele sichtbar würden.


    Genau hier setzt die Inszenierung von Mozarts „Entführung aus dem Serail“ durch Joachim Schloemer an. Es wird keine stringent ablaufende Handlung mehr erzählt, sondern das Publikum erlebt eine Versuchsanordnung mit fünf Menschen in einer Entführungssituation, initiiert von Bassa Selim (verkörpert durch die ausgezeichnete Schauspielerin Marianne Hamre), in einer Art Fliegerkombi mit weisser Halbmaske und schwarzem Schnurrbart, omnipräsent, und die Ergebnisse seiner Menschenversuche penibel in ein rotes Notizbuch eintragend.


    Schloemer bricht die Form des Singspiels vollständig auf. Nicht nur, dass einzelne Arien ausgetauscht werden, die Sprechpartien übernimmt ausschliesslich Bassa Selim, die Texte werden ergänzt, z. B. mit Textpassagen des oben angesprochenen Johann-Gottlieb Krüger, die Musik stammt nicht nur von Mozart, sondern an einigen Stellen improvisiert das „Freiburger Barockorchester“, unterstützt vom Percussionisten Murat Coskun.


    Die Fünf Sängerinnen und Sänger werden durch die gleiche Anzahl von Tänzerinnen und Tänzern gedoppelt. Das entspricht der Beschreibung von Reemtsma, dass sich die Persönlichkeit im Entführungsfall in ein „Ich“ und in „den Körper“ aufspaltet – eine Art Schutzmechanismus, der das Überleben sichern soll.


    Der Orchestergraben ist weit hochgefahren und auf der linken Seite führen einige Treppenstufen von der Bühne zum Orchester hinunter. Auf der Bühne im Hintergrund eine Spiegelfläche, in der sich das Publikum erkennen kann, davor, angeschrägt und symetrisch ausgerichtet, zwölf grosse Würfel, je vier in drei Reihen. Über diesen Würfeln ein Spiegel, der es ermöglicht, von oben dem Experiment auch an den Stellen zu folgen, die das Publikum von vorne nicht sehen kann.


    Was nun an Aktionen zwischen den Tänzer/innen, der Schauspielerin und den Sänger/innen abläuft, sind oft frei assoziierte Bilder zum Thema Entführung, zur Problematik der Beziehung zwischen Tätern und Opfern und Innenansichten und seelische Kämpfe – oder auch Tröstungen - der handelnden Figuren.


    Dabei nutzt Schloemer jede Konstellationsmöglichkeit. Einmal singen die Sänger und Sängerinnen völlig ruhig ihre Arien, während nur die Tänzerinnen und Tänzer agieren, ganz stark sind aber die Momente, wo die Sängerinnen und Sänger und die Tänzerinnen und Tänzer zu einer Einheit in der Aktion werden, wo die Bewegung Hand in Hand mit dem Gesang geht.


    Manche Bilder werden nur schlaglichtartig präsentiert, andere erinnern an Guantanamo oder Abu Ghuraib, besonders beeindruckend, dass drei der vorderen Würfel sich öffnen lassen und dann den Blick auf ein jeweils ca. 2 x 2 Meter grosses Wasserbassin freigeben. Gleich zu Beginn sieht man in einem solchen Bassin die Tänzerin der Konstanze, frei in dieser Kiste schwebend, eingesperrt und nur die Luftblasen des Atemgerätes verraten, dass der so eingesperrte Mensch noch lebt. An späterer Stelle dann drei solcher Wasserbassins, in dem die eingeschlossenen sich langsam drehen.


    Im zweiten Teil enthalten die Würfel dann die Bibliothek des Bassa Selim – es ist zynisch, aber wohl leider wahr, dass die sadistischen Peiniger nicht nur hirnlose Idioten, sondern belesene, aber zu keiner Empathie fähige Menschen sind.


    Das Ende ist perfide: während der Entführung ist die einzige Bezugsperson für das Opfer der Täter. Es entwickelt sich eine Beziehung zu den Peinigern, vielleicht sogar so etwas wie Solidarität, wie wir es vom sogenannten „Stockholm-Syndrom“ her kennen. In Mozarts „Entführung“ läuft alles auf eine Hinrichtung der Menschen hinaus. Erst im allerletzten Moment erfolgt eine Begnadigung. Elias Canetti hat diese Zuspitzung in „Masse und Macht“ als die höchste Stufe der Machtausübung beschrieben. Niemand kann einen wirklich hingerichteten wieder zum Leben erwecken, aber eine Begnadigung im allerletzten Moment kommt diesem „Schenken“ eines neuen Lebens sehr nahe. Die Begnadigten in der Freiburger „Entführung“, unmaskiert, geradezu in ziviler Kleidung, alle zehn, feiern ihren Peiniger mit Jubelgesängen und merken gar nicht, wie sie durch eine herunterfahrende Wand vom Ort ihrer Qual ausgeschlossen werden, jenem Ort, der nach ganz eigenen Gesetzen funktioniert und in dem sie sich alle irgendwie eingerichtet haben, Als sie merken, was geschehen ist, wird ihnen ihre Situation klar – sie gehen in eine ungewisse Zukunft, werden aber – so beschreibt es Reemtsma – ihre Gefangenschaft nie vergessen können.


    Bassa Selim, im Schlussbild als Geschäftsfrau unserer Tage zu erkennen, bleibt gleichfalls gefangen zurück, die Bühne wird abgeräumt, die Bücher verpackt, der Spiegel herbgesenkt, endlos die Erkenntnisse des Experimentes zu Protokoll gebend, schliesst sich der hintere Bühnenteil.


    Grandios das „Freiburger Barockorchester“ unter der Leitung von Attilio Cremonesi. Sehr zügige Grundtempi, enorm angeschärftes Klangbild, oft heftig auffahrend – es ist ein Erlebnis, Mozart in dieser Form neu begegnen zu können und es ist dankenswert, dass Cremonesi dieses ungewöhnliche Konzept mitträgt. Selbstverständlich gibt es Auszierungen, die dem Zeitgeschmack entsprechen – und auch die zwei Sängerinnen und die drei Sänger zeigen, dass sie diese Technik stilsicher beherrschen.


    Gesungen wird ordentlich, Johannes Chum, der Belmonte, muss seinen durchsetzungsstarken Tenor sogar manchmal etwas zurücknehmen, besticht aber gerade durch die dynamische Bandbreite seiner Stimme und bemüht sich redlich um die mitunter enormen Anforderungen seiner Partie. Bemerkenswert, wie genau der Sänger auch im Umsetzen der choreographischen Elemente seiner Rolle ist.


    Brigitte Gellert ist eine Konstanze, die sich über weite Strecken schonungslos verausgabt, das macht kleine Probleme, manche nicht ganz gelungene Passage, vergessen.


    Nicht ganz zuverlässig der Bass Rafael Sigling in der schwierigen Partie des Osmin, ebenfalls mitunter an der Grenze seiner Stimme agierend der Tenor Eberhard-Francesco Lorenz als Pedrillo und ansprechend die Sopranistin Lini Gong als Blonde.


    Über die Tänzerinnen und Tänzer gibt es nur erfreuliches zu berichten. Mit enormem Körpereinsatz sind Graham Smith (Belmonte), Alice Gartenschläger (Konstanze), Clint Lutes (Pedrillo) und Su-Mi Jang (Blonde) voll bei der Sache.


    Der Tänzer des Osmin hatte sich den Fuss verstaucht. An seiner Stelle sprang der knapp 50-jährige Joachim Schloemer selbst ein – und konnte nach diesem herausragenden Theaterabend den Applaus des begeisterten Publikums persönlich entgegennehmen.

    Ich möchte nochmal kurz auf den Baseler "Orfeo" zurückkommen - der entspricht wohl am ehesten dem, was Thomas intendiert hat. Diese Hochzeitsgesellschaft (also die Opernbesucher/innen) nimmt richtig aktiv an der Handlung teil. Die Leute werden mit Sekt versorgt, Euridice plaudert mit einigen, zum Hochzeitsfoto werden auch einzelne Zuschauer/innen mit auf die Treppe gebeten und dort freundlich begrüsst - und das beste ist: die Leute machen mit, einige etwas schüchtern, aber mit der Spass bei der Sache.


    Ein zweites Element in dieser Inszenierung, ist die Arbeit mit der Videokamera: die ganze Feierlichkeit wird auf Videowände übertragen. Und so kann es passieren, dass man sich plötzlich, riesenhaft vergrössert, selbst auf der Leinwand entdeckt und so Teil der Inszenierung wird.

    Es würde mich freuen, wenn der eine oder die andere sich die Aufführung anschauen würde. Beiden Werken begegnet man nicht allzu häufig auf der Bühne - und das ist in beiden Fällen schade. Der de Falla lebt stark von den spanischen Elementen der Musik, das ist richtig mitreissend und die musikalische Zeichnung der Salud ist in ihren besten Momenten anrührend.


    Zur Vorbereitung gibt es CDs: bei der "L´heure espagnol" würde ich die Aufnahme unter der Leitung von Lorin Maazel empfehlen - eine rundum gelungene Sache mit Jane Berbié, Jean Giraudeau, Gabriel Bacquier, José van Dam und Michel Sénéchal. Es spielt das Orchestre National von Radio France.


    "La vida breve" gibt es in guten Einspielungen unter der Leitung von Garcia Navarro mit Teresa Berganza als Salud, Alicia Nafé als Grossmutter und José Carreras als Paco oder unter der Leitung von Rafael Frühbeck de Burgos mit Victoria de los Angeles als Salud, Carlo Cossutta als Paco und Inès Rivadeneyra als Grossmutter.


    Ab Mai kann man in Freiburg eine andere Inszenierung von "La vida breve" kennenlernen - der Regisseur dort heisst: Calixto Bieito.

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    (...) wie Alviano in seiner stets eleganten Art nobel formulierte


    Aber nicht doch, lieber Edwin...


    Manchmal würde ich mir wünschen, dass auch ich in der Lage wäre, so famos und schnörkellos komplexe Dinge in einem Satz abhandeln zu können, wie das nur wirklich grosse Denker, die mit ausserodentlicher, sprachlicher Begabung gesegnet sind, hinbekommen und die dann auch noch Kraft ihrer starken Argumente von vorneherein jeden Widerspruch obsolet machen.

    Viele kürzere Opern eignen sich nicht dafür, mit ihnen einen ganzen Opernabend zu bestreiten. Deshalb setzt man sie gerne mit einer passenden, ebenfalls kurzen Oper gemeinsam auf den Plan. Solche Paarungen haben oftmals einen ganz eigenen Reiz, wie man jetzt am Frankfurter Opernhaus einmal mehr erleben durfte.


    In Frankfurt wurde „L´heure espagnol“ von Maurice Ravel mit „La vida breve“ von Manuel de Falla gekoppelt, zweimal Spanien, einmal eine heitere Oper, ein andermal ein tragisches, eher veristisches Drama mit Musik, verbunden durch das gleiche Bühnenbild.


    Maurice Ravel wurde als Sohn eines schweizer Ingenieurs und einer spanischen Mutter geboren. Diese spanischen Wurzeln bestimmten immer wieder auch seine Musik, nicht nur im wohl berühmtesten Stück des Komponisten, dem „Bolero“, sondern auch zum Beispiel in der „L´heure espagnol“. Der kleine Einakter (Libretto: Franc-Nohain, ein Pseudonym von Étienne-Maurice Legrand) wurde 1911 in Paris uraufgeführt und erzählt die Geschichte des Uhrmachers Torquemada und seiner Frau Concepción.


    Die beiden sind ein eher ungleiches Paar, der Uhrmacher interessiert sich mehr für seine Uhren, als für seine Frau, was Concepción dazu verleitet hat, sich einen Liebhaber zuzulegen. Der ist ein dichtender Schöngeist, Gonzalve mit Namen, und besucht Concepción jeden Donnerstag, wenn Torquemada ausser Haus ist, um die Uhren der Stadt Toledo, hier spielt das Stück, aufzuziehen. Auch an diesem Donnerstag erwartet Concepción ihren Liebhaber und drängt den Ehemann förmlich aus dem Haus. Leider ist genau zu diesem Zeitpunkt ein Kunde im Laden des Uhrmachers aufgetaucht: der Maultiertreiber Ramiro ist mit einer kaputten Uhr gekommen und Torquemada bittet diesen, auf ihn bis zu seiner Wiederkehr zu warten. Aber so leicht lässt sich die ehebruchwillige Concepción nicht um ihr Rendevouz bringen. Sie bittet den etwas einfältigen Ramiro, eine von zwei Standuhren, die im Laden stehen, nach oben in ihr Schlafzimmer zu bringen. Der erfüllt die Bitte und kaum ist Ramiro mit der Uhr verschwunden, betritt Gonzalve den Laden. Um den Liebhaber nun unbemerkt in ihr Schlafzimmer zu bekommen, versteckt Concepción Gonzalve in der zweiten Uhr, teilt dem zurückgekommenen Ramiro mit, dass sie nun die andere Uhr oben haben möchte und der brave Mauleseltreiber schleppt die Uhr mit Gonzalve nach oben und bringt die andere wieder herunter. Zwischenzeitlich ist aber der Bankier Don Inigo Gomez eingetroffen, auch er hofft auf ein Liebesabenteuer mit Concepción. Diese lässt ihn allerdings stehen, weil das Objekt ihrer Begierde zwischenzeitlich in ihrem Schlafzimmer eingetroffen ist. Don Inigo versteckt sich in der nun wieder unten angekommenen, leeren Standuhr. Im Schlafzimmer klappt die Sache nicht so, wie Concepción sich das vorgestellt hat – der Dichter sondert nur lyrischen Süsskram ab, anstatt zum Liebesspiel zu schreiten – also muss die Uhr wieder runter und dafür die andere Uhr mit dem Bankier nach oben. Ramiro schleppt ein weiteres Mal die Uhren durch das Haus. Kandidat No. 2 hat aber das Problem, dass er, etwas aus den Fugen geraten, in der Uhr feststeckt und gleichfalls als Liebhaber nicht zu gebrauchen ist. Die Uhr muss, mit dem feststeckenden Bankier darinnen, wieder hinunter. Jetzt erst erkennt Concepción, dass der männlich-muskulöse und starke Mauleseltreiber doch eigentlich genau das Kaliber Mann ist, das ihren Wünschen am ehesten entspricht. Da auch Ramiro Concepción sehr anziehend findet, kommt er ihrer Aufforderung, er möge sie nach oben begleiten, und zwar gänzlich ohne Uhr, gerne nach. Als Torquemada zurückkommt, weiss er wohl, was da in seinem Haus vorgeht, da aber sowohl der Bankier, als auch der Dichter jeweils eine Standuhr kaufen, übersieht Torquemada die Untreue seiner Frau gefliessentlich. Diese wird in Zukunft ihre Freizeit mit dem scharfen Mauleseltreiber verbringen.


    Ganz anders das Stück von Manuel de Falla, der nur wenige Monate jünger als Ravel war. „La vida breve“, das Libretto schrieb Carlos Fernández-Shaw, die Uraufführung fand im April 1914 in Nizza statt, erzählt das Schicksal der jungen Salud und ihrer unglücklichen Liebe zu Paco.


    In einem Zigeunerviertel in Granada lebt die junge, arme Salud mit ihrer Grossmutter. Salud hat sich in den hübschen und reichen Paco verliebt, der sie verführt und ihr die Ehe versprochen hat. Der Liebhaber kommt zu spät zu einer Verabredung, Salud macht sich Sorgen, aber die Grossmutter beruhigt das Mädchen. Endlich kommt Paco und zerstreut die Sorgen des Mädchens. Ein alter Zigeuner steckt der Grossmutter, dass Paco schon morgen eine andere, reiche Frau heiraten wird.


    Am nächsten Tag ist die Hochzeit zwischen Paco und seiner Braut Carmela in vollem Gange. Vor dem Haus verfolgen Salud, die Grossmutter und der alte Zigeuner das Geschehen. Salud singt vor dem Fenster des Hauses und macht so Paco auf sich aufmerksam. Salud und ihre Begleitung betreten das Haus. Salud erklärt allen, dass Paco sie betrogen hat. Das Mädchen stolpert und bricht tot vor Paco zusammen.


    Die Inszenierung in Frankfurt stammt von dem noch jungen Regisseur David Hermann, der zu den interessantesten Regisseuren seiner Generation gehört. Die Bühne ist von Anfang an offen, man sieht ein drei geteiltes Podest, im Hintergrund eine halbkugelförmige Holzgitterwand, dahinter führt eine Treppe nach oben. An der Holzgitterwand angedeutete Uhren, in der Mitte des Raumes die beiden Standuhren, rechts eine Sitzmöglichkeit, links ein grünes Sofa, davor ein grosser Kerzenständer mit einer Kerze darauf.


    Die Musik von Ravel zitiert nicht nur spanische Musik, so am Ende z. B. eine Habanera, sondern imitiert auch das Ticken von Uhren und das macht Ravel so geschickt, das man gar nicht richtig hört, wie kompliziert diese Musik teilweise gebaut ist.


    Während des kurzen Vorspiels Ticken und Schlagen also in der Musik die Uhren und man sieht jeweils eine der angedeuteten Uhren auf der Bühne aufleuchten. Unter dem Podest links werkelt der Uhrmacher Torquemada. Der Maulesetreiber hat nicht nur die Uhr, die repariert werden muss, mitgebracht – er hat einen ganzen Stierkopf dabei, an dessen Horn die Taschenuhr hängt. Der Onkel von Ramiro war nämlich ein berühmter Toreador und diese Uhr hat dem Onkel bei einem Stierkampf das Leben gerettet. Kurzerhand stülpt Ramiro den Stierkopf auf den Kerzenständer und von dort aus schaut uns das Tier die ganze Oper über an.


    Concepción ist leicht bekleidet, was den Mauleseltreiber zuerst etwas verlegen macht, so dass er gar nicht böse darum ist, dass Zimmer mit einer der Uhren verlassen zu können.


    Der Gonzalve ist ein rechter Schöngeist, er plaudert munter unsinnige Verse aus und man ahnt schon, dass der wohl keinen feurigen Liebhaber abgeben wird.


    Auch der Bankier Don Inigo Gomez taugt dafür wohl nicht, ihm fehlt es an der nötigen Feinfühligkeit für ein Schäferstündchen: kaum angekommen, steht er recht schnell nur noch in seinen roten Undershorts da.


    Wenn der Dichter aus dem Schlafzimmer zurückgetragen wird, ist er im Grunde genommen nackt – nur noch ein grosses Feigenblatt für das Nötigste bedeckt seine Blösse.


    David Hermann streift manchmal die Klamotte, aber er überzieht nur ganz selten. Das Stück läuft unterhaltsam und schnell ab, die Inszenierung lässt keine Langeweile aufkommen und bietet den Sängern und der Mezzsopranistin hinreichend Gelegenheit, ihr schauspielerisches Können unter Beweis zu stellen.


    Am Ende kommen die fünf Personen nach vorne, die Bühne dreht sich und man sieht dann ein Obdachlosenlager an einer Müllhalde – hier wird nach der Pause „La vida breve“ beginnen.


    Keine Zigeunersiedlung also, sondern Obdachlose sind da zu sehen, die im Müll nach verwert- und wohl auch essbaren Dingen suchen. Rechts ein Zelt, in dem Salud lebt und wo sie als Krankenschwester die Obdachlosen versorgt. Vorne rechts sitzt auf einem alten Sessel in einem zerschlissenem Trainingsanzug die Grossmutter, die sich mit Klebstoffschnüffeln längst den Verstand weggeätzt hat. Damen der besseren Gesellschaft bringen ihren Müll vorbei. Die Stimmen von Arbeitern und die Geräusche der Umwelt dringen nur von Ferne an diesen trostlosen Ort.


    Paco tritt auf, leger in eine Trainingshose und in ein Shirt gekleidet – er drängt Salud ins Zelt, während die Grossmutter die Wahrheit über den Liebhaber ihrer Enkelin erfährt.


    Die Bühne dreht sich, man erkennt jetzt noch in Grundzügen die Uhrmacherwohnung aus dem ersten Teil des Abends. Ganz im Vordergrund ein edles Badezimmer, ganz in weiss, auf dem Badewannenrand die Braut Carmela in ihrer Brautkleidung. Paco tritt zu ihr und Carmela reicht Paco ein Messer, mit dem er sich die Pulsadern öffnen wird.


    Am Tag der Hochzeit sieht man eine bunte Hochzeitsgesellschaft mit einem Flamenco-Sänger und einem Gitarristen. Ein Tänzer und zwei Tänzerinnen in klassischen, spanischen Kostümen, der Mann als Torero, begleiten das Geschehen.


    Während drinnen gefeiert wird, steht Salud vor dem Fenster im Schatten, alleine, fast im Dunkeln. Sie beschliesst, hineinzugehen. Im letzten Moment der Oper, soeben hat Salud gerade Pacos Verrat geschildert, wird sie plötzlich die Kerze im Vordergrund vom Kerzenständer reissen und mit enormer Kraft ihren Kopf auf den Kerzenständer donnern – der Dorn dringt tief durchs Auge ins Gehirn des Mädchens, Blut läuft in Strömen herunter.


    Es ist vor allem eine ausgefeilte Personenführung, die hier zu bewundern ist. David Hermann gelingen glaubwürdige Aktionen und die Sängerinnen der Salud und der Grossmutter folgen dem Regisseur mit starkem, körperlichen Einsatz.


    Beeindruckend Barbara Zechmeister als Salud. Die Stimme ist auch in der Tiefe erstaunlich präsent und die Sopranistin verblendet das untere Register geschickt. In der Höhe hat Zechmeister noch Entwicklungspotential, aber hier deutet sich ganz langsam ein Wechsel zu dramatischeren Partien an – ein sehr gelungenes Rollenportrait.


    Stark auch die Grossmutter der Elisabeth Hornung. Die Sängerin, langjähriges Ensemblemitglied im benachbarten Darmstadt und in Frankfurt schon vor Jahren als eine der Walküren zu hören, singt sich mit ihrer orgelnden, von den Jahren hörbar angegriffenen Stimme, durchaus für sich einnehmend durch die Partie.


    In der „L´heure espagnol“ ist Claudia Mahnke mit ihrer schönen Altstimme eine enorm präsente Concepción, Daniel Behle gibt eine ausgezeichnete Tenorkarrikatur als Gonzalve ab und Aris Argiris ist ein glaubwürdiger Ramiro.


    Johannes Debus dirigiert beide Stücke beeindruckend – besonders im Ravel bringt Debus die verschiedenen Elemente der Musik, die Farbigkeit der Instrumentierung, die leicht komplizierte Rhythmik erstaunlich gut zur Wirkung. Etwas schwächer der de Falla, da fehlt ein ganz klein wenig das mitreissende der tänzerischen Stücke, hier gelingen die lyrischen Passagen besser.


    Ein spannender, ein gelungener Abend , dem das Publikum viel zustimmenden Beifall spendete.

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    Original von Fairy Queen
    Ist das hier eine Regietheaterinszenierung der neuesten Tamino-Oper?
    Beim wem muss man Mânnchen machen, um eine Rolle zu bekommen?


    Liebe Fairy,


    ich fände es ganz wunderbar, wenn Du im Bühnenhintergrund diesem Muster entsprechend



    auf dem Sofa herumrollen könntest und dabei in extremer Sopranlage Vokalisen singen würdest, die immer wieder in Schreie übergehen. Rechts hinter dem Sofa steht ein splitterfasernackter Jüngling, der mahnend den Klavierauszug des aufgeführten Werkes dem Publikum entgegenhält, während im Vordergrund ein Herr im schwarzen Anzug Fotos von Theateraufführungen zerreisst und dabei laut "Schande" ruft, dachtest Du an so etwas...?

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    Original von Michael M.
    Aber allmählich bekomme ich ein schlechtes Gewissen und hoffe, dass es morgen gelingt, diesen thread wieder zu der eigentlichen Intention des thread-Starters zurückzuführen.


    Lieber Micha,


    da wären wir schon zwei gewesen, ich habe nämlich auch schon darüber nachgedacht, wie wir hier wieder die Kurve zum Thema hin bekommen. Aber es ist sehr erfreulich, dass beides, also die Frage, wie das Publikum in die Inszenierung einbezogen werden und wie der Umgang mit dem Stück selbst möglich sein kann, hier diskutiert werden soll.


    Wie ich an den letzten Postings feststellen kann, gibt es bei den vorgestellten Positionen abslolut keine Diskrepanz zu meiner eigenen Haltung, das ermutigt doch, in diesem Sinne weiterzudenken.


    Die Sorge von Thomas, hier zu weit zu gehen, kann ich ein wenig verstehen, aber wir müssen in der Diskussion auch nicht bequem sein.


    Die Oper funktioniert ein klein wenig anders, als das Schauspiel - aber natürlich würde der Oper die Radikalität eines Schleef oder Castorf sehr gut tun. Es müsste nur ein Weg gefunden werden, der der Oper adäquat ist, die 1 : 1 Umsetzung der theatralischen Mittel funktioniert meiner Meinung nach nur bedingt. Nehmen wir Schleef oder Kruse: beide rhythmisieren den Text sehr eigenwillig - das ist in der Oper so kaum möglich, nicht unmöglich, aber halt schon schwerer zu realisieren.


    Ansonsten wirklich nur ganz kurz: auch ich bin für weitestgehende Freiheit in der Assoziation, das Stück ist das Spielmaterial, das nicht sakrosankt ist, Brüche oder Ergänzungen wären da noch das harmloseste, was ich mir vorstellen kann.


    Macht Spass!

    Lieber Micha,


    eines habe ich vergessen: "Werktreue" ist für mich ein leerer Begriff, der beschreibt nichts, aber das nur am Rande.


    Schleefs Inszenierungen waren auch "Sprechopern", klar, nicht nur, aber auch. Nur hätte seine Form des Umgangs (z. B.) mit den Kollektiven in der Oper nicht funktioniert. Diese enormen Repetitionen, auch in der Bewegung, wären mit der Musik nicht gegangen. Dazu die Rhythmisierung des Textes, wo der Ausdruck (oft) über dem Inhalt steht, die extremen Dynamikwechsel, das ist in der Oper nicht abbildbar - und wie der Zuschauer auf unter grauen Militärmänteln bis auf die Militärstiefel nackte Männer, die sich stampfend über eine Bühne bewegen, reagieren würde, möchte ich nicht zu jedem Preis erfahren.


    So viel für heute, ich reiss mich jetzt mal los.

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    Original von Liebestraum
    In meinen Opernführer steht zu "Aida":


    Ort der Handlung: Memphis und Theben in Ägypten
    Zeit der Handlung: Herrschaft der Pharaonen


    na ja, so wie es eben auch aus dem Libretto hervorgeht...


    So - und jetzt kannst du mal lange darüber nachdenken, warum das als Antwort auf meine Frage nicht taugt, aber: keine Sorge, ich werde das nicht vertiefen.

    Zitat

    Original von Liebestraum
    Wenn ich in eine "Aida" gehe habe ich so meine Assoziationen:


    Ägypten
    Pharao
    Gottheiten


    nichts habe ich davon gefunden...


    Jetzt möchte ich aber auch mal ganz tief in den Mustopf greifen: was, bitteschön, hat "Aida" mit Ägypten zu tun...?

    Ich bin einfach zu müde, um noch heute in diese Diskussion einzusteigen, werde dies aber nachholen.


    Lieber Micha, wenn Du Thalheimers "Katya" oder "Rigoletto" nicht gesehen hast, kannst Du Dir eventuell "Entführung" in Berlin anschauen, die Oper wird in dieser Saison in der Lindenstrassenoper in der Inszenierung von Michael Thalheimer Premiere haben. Ich habe die "Katya" gesehen und Thalheimer bleibt sich treu - aber: die unglaubliche Reduktion, die man von ihm im Schauspiel gewohnt ist, findet selbstverständlich nicht statt, Thalheimer ist in der Oper "gefangen" und damit in seiner künstlerischen Kraft auch gebremst.


    Marthaler kommt die Oper stärker entgegen, seine Erzählweise ist eine andere, das funktioniert deutlich besser.


    Ich weiss nicht, ob Castorf nach "Otello" (in Basel) überhaupt nochmal Oper gemacht hat - aber ich würde vermuten, dass sich seine Vorstellung von Theater in der Oper nur unzureichend umsetzen lassen.


    Mich hätte immer interessiert, wie der von mir hochgeschätzte Einar Schleef Oper inszeniert hätte...


    Herbert Fritsch war immer genial - nach vier langen Stunden setzte dann das ein, was Du beschrieben hast - der Dialog mit dem entfliehenden Publikum, Sternstunden, sag ich da nur...


    Demnächst gerne mehr.

    Zitat

    Original von Liebestraum
    Ich bin ja nun nicht mehr ganz so jung. In Jugendjahren hatte ich ein Theater-Anrecht, da kostete mich die beste Preiskategorie 14,55 DDR-Mark für eine Opernaufführung - Sprechtheater 8,55 DDR-Mark. Das konnte ich mir locker leisten...


    Verzeihung, das habe ich nicht gefragt. Als Westler wäre für mich so ein Preis natürlich auch sensationell gewesen - aber das gabs hier nicht.

    Zitat

    Original von Liebestraum
    Ich gehöre nämlich nicht zu denen, die sich einen Stehplatz kaufen oder sich im 3. Rang aufhalten. Für mich ist ein Opernbesuch immer auch noch etwas Besonderes, für das ich auch etwas mehr Geld ausgebe.


    Sind "Leute, die sich einen Stehplatz kaufen" oder die sich "im 3. Rang" aufhalten" Besucher zweiter Klasse? Ich habe mir in meinen jungen Jahren gar nichts anderes leisten können, als dritten Rang und war froh, für um die DM 10,00 einen vernünftigen Platz zu bekommen, von dem aus ich gut sah und gut hören könnte.


    Und wo bitte steht in diesem Text, dass ich behaupten würde, drei Opernhäuser seien für Berlin zu viel? Verzeihung, aber ich wehre mich gegen die Unterstellung, ich hätte mich diesbezüglich in der von Dir behaupteten Weise positioniert.

    Das Theater Erfurt konnte tatsächlich die Oper „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill als Erstaufführung ankündigen. Während andere Werke von Weill schon in den 20er und am Anfang der 30er Jahre in Erfurt gezeigt wurden, blieb die „Mahagonny“-Oper dort unaufgeführt. Löblich also, dass diese Lücke nun mit einer Co-Produktion geschlossen wurde, beteiligt sind ausser Erfurt die Städte Nancy und Luxembourg.


    Die Regie übernahm Philipp Himmelmann, die szenische Einrichtung für Erfurt Patrick Bialdyga.


    Die Bühne ist zu Beginn völlig leer und es schneit. Das Gaunertrio, angeführt von Leokadja Begbick, betritt die Bühne, die Begbick, im blauen Hosenanzug, hält Hundeleinen in der Hand, die in der Seitengasse verschwinden. Ihre Partner, Fatty und Dreinigkeitsmoses, sehen wie Zuhälterkarrikaturen aus.


    An den Hundeleinen zerrt die Begbick grellfarbene Plüschhunde herein, die sich alsbald ihrer Plüschhülle entledigen und die Mädchen von Mahagonny, inklusive der Jenny, stehen auf der Bühne, Bilderbuchnutten sind das, denen man eine Karriere auf dem Strich nicht abnimmt. Die Mädchen dürfen dann, immer angeleint, ins Publikum schwärmen und mit den Herren in den ersten Parkettreihen flirten, bis sie wieder auf die Bühne zurück müssen.


    Quer durchs Publikum – und quer über die Stuhlreihen – kommen die vier Freunde Jim, Jack, Bill und Joe nach Mahagonny, keine Holzfäller, sondern Pauschaltouristen der 70er Jahre, die am Hoteltresen, der jetzt auf der Bühne steht, bei der Begbick einchecken. Hinter diesem Tresen eine Art Bühnenproszenium aus Gold mit einer zweiten Spielebene oben und einem Vorhang unten. Durch diesen Vorhang kommen eine Riege von Männern in grün-weissen Trainingsanzügen, sie sind wohl auf dem Weg zum Frühsport, und auch die Neuankömmlinge tauschen ihre Privatkleidung erst mal gegen solche einheitlichen Sportsachen.


    Auf der oberen Spielebene sieht man einen Bilderbuchstrand mit Palmen und Liegestühlen, aber auch unten wird viel auf Liegestühlen herumgefläzt, überall stehen die „Verboten“-Schilder und die Handlung läuft ohne irgendeine erwähnenswerte Aktion ab.


    Philipp Himmelmann kann keine Minute für seine Zurichtung des Stückes interessieren, das bleibt alles oberflächlich, ohne jede Idee und ohne Aussage. Dem Regisseur ist zu „Mahagonny“ nichts eingefallen und er inszeniert sich bieder und langweilig am Stück entlang.


    Der Fress-Tod des Tobby Higgins ist Klamotte, der Liebesakt unbedeutend, der Boxkampf ohne Pfiff und die Gerichtsszene mit ihren käuflichen Richtern belanglos. Weder gelingt es Himmelmann, die erheblichen, tänzerischen Elemente der Musik umzusetzen, noch den Figuren irgendeine Fallhöhe mitzugeben, die Charaktere bleiben ohne Entwicklung, gleichförmig und leblos. Am Ende, wenn sie kollektiv den Jim Mahoney, dessen grösstes Verbrechen es ist, kein Geld zu besitzen, ermordet haben, stehen sie auf der Bühne und singen die Schlusstakte der Oper frontal ins Publikum, das ist arg wenig.


    Die gespielte Fassung ist fragwürdig: während der Szene mit dem Liebesakt sieht man Jim, wie er a tergo mit Jenny verkehrt. An dieser Stelle wird das „Kranich-Duett“ eingeschoben, das macht keinen Sinn, der Charakter dieser Szene ist ein anderer, als der des Duettes. Ebenfalls unverständlich, dass man das Stück mit dem „Gott in Mahagonny“ kurz vor Schluss gestrichen hat. Das bereitet nämlich eigentlich die Schluss-Szene vor, die hier in Erfurt unorganisch und aufgesetzt wirkt.


    Auch musikalisch war das ein schwacher Abend, was vor allem am Dirigenten Ewald Donhoffer lag. An kaum einer Stelle schlägt Donhoffer aus der Partitur Funken, alles kommt sehr langsam, uninspiriert und zerdehnt daher, dem Dirigenten fehlt jedes Händchen für diese Musik.


    Gesungen wird mässig. Karan Armstrong war schon in früheren Jahren mit ihrem scharf-tremolierenden Sopran oftmals eine Zumutung. Wie sie sich ohne jede Tiefe durch die Begbick schreit, ist weitgehend eine Zumutung.


    Besser die Jenny von Marisca Mulder, eine Sopranstimme, die sicher eingesetzt wird und auch in der Höhe noch zu überzeugen vermag.


    Gut auch der Tenor Erik Fenton, der zwar den Song-Stil von Weill wenig beherrscht, der aber sicher über die Runden kommt und vielleicht mehr auf Stil, als auf Kraft setzen sollte.


    Bei den übrigen Mitwirkenden fällt der Bariton Máté Sólyom-Nagy (Bill) positiv und der Bass Dario Süß mit einem merkwürdig engem und ungenauem Bass negativ auf.


    Der Chor bräuchte vielleicht noch die eine oder andere Probe oder einen Dirigenten, der die Aufführung besser zusammenhält.


    Freundlicher Beifall für alle Beteiligten.

    Zitat

    Original von timmiju
    Das Thema "drei Opernhäuser in Berlin sind zu viel" ist ja schon reichlich abgedroschen.


    Hat das hier jemand behauptet? Ich jedenfalls nicht. Also bitte nichts hineinlesen, was da nicht steht.


    Die Oper als Kunstform muss ihre Gegenwartstauglichkeit und Zukunftsfähigkeit immer etwas stärker unter Beweis stellen, als es das Schauspiel tun muss.


    Dass es Menschen gibt, die die Oper nicht mögen, die ihr ablehnend gegenüberstehen, wird man akzeptieren müssen. Es befremdet mich alledings, dass ich die Feinde der Oper auch in einem Klassikforum vorfinde und dass sich jemand freut, wenn Aufführungen vom Plan genommen werden.

    Der erste Teil von Liebestraums Einlassung ist eine Tatsache - die "Aida"- Vorstellungen am 08. und 12.04.2009 sind wegen zu geringer Auslastung abgesetzt worden. Der zweite Teil der Aussage ist eine Behauptung. Ob die Aufführung wegen der Inszenierung nicht nachgefragt wird, muss nicht so sein - da können auch andere Gründe, musikalische wie aussermusikalische, eine Rolle spielen.


    Sowohl am 08.04., als auch am 12.04. zeigt z. B. die Lindenoper eine Neu-Produktion des "Lohengrin" - es sind die beiden einzigen Vorstellungen ausser der Premiere, die in dieser Spielzeit zu sehen sein werden. Es handelt sich nicht nur um eine sog. "Festtage"-Aufführung (zu exorbitanten Preisen), sondern wohl um einen absoluten Renner. Die Inszenierung stammt vom hochgelobten und bayreuth-erfahrenen Regisseur Stefan Herheim. Auch dieses interessante Konkurrenz-Angebot könnte ein Grund dafür sein, warum das operninteressierte Berlin der Bismarckstrassenoper fernbleibt.


    Die Verknüpfung von der Tatsachenbehauptung mit einer Mutmassung ist zumindest fragwürdig und fällt ob ihrer Intention auf den Autor zurück.

    So, wie Liebestraum das hier vorstellt, kann man das Thema seriös nicht diskutieren.


    Die Bismarckstrassenoper steckt insgesamt in einer Krise - an der die Intendatin Kirsten Harms nicht zur Gänze unschuldig ist.


    Sollte in Berlin eine Schliessung eines Opernhauses oder eine Umstruktierung innerhalb der drei Opernhäuser der Stadt anstehen, dann könnte ich mir gut vorstellen, dass die Bismarckstrassenoper die Verliererin in diesem Spiel ist.


    Das hat dann aber mit nicht gut verkauften Aufführungen nur am Rande zu tun.

    Zitat

    Original von Mela
    Unglaublich fand ich die Szene, in der Lulu im letzten Akt, nachdem sie Jack the Ripper bzw. hier ganz deutlich Dr. Schön anfleht, bei ihr zu bleiben, ihren Mantel fallen lässt und völlig nackt dasteht. Im ganzen Stück bisher war Nacktheit oder Fast-Nacktheit immer erotisch (nie ordinär), an dieser Stelle überhaupt nicht mehr. Hier steht nur noch eine unglaublich einsame, verletzliche nackte Frau. Ich hatte wirklich einen dicken Klos im Hals.


    Liebe Mela,


    das ging mir ganz genauso. Dieser Moment hat mich tief berührt, gerade weil die Nacktheit der Lulu auf den Fotos oder ihre dürftige Bekleidung der ersten Akte ein völlig andere Qualität hatte, als diese Situation am Ende des Stückes, wo eine gebrochene Frau sich völlig ausliefert, das ist eine Art der Entblössung, die über die reine Nacktheit hinausgeht, die mitleiderregend ist. Ein tieftrauriger Moment, wenn die zitternde Lulu auf diesen Müllsäcken steht und plötzlich weiss, was gleich passieren wird.


    Marisol Montalvo war noch beim Schlussapplaus sehr befangen, es hat einen Moment gedauert, bis sie sich lösen konnte und dann auch den Jubel des Premierenpublikums dankbar annahm.


    Schön, dass Du aufgrund Deines Besuches in Basel die ungewöhnliche Qualität dieser Aufführung bestätigen kannst.


    Dass das "Paris"-Bild gestrichen wurde, finde ich auch ein ganz klein wenig schade. Auf der einen Seite empfinde ich diese Szene immer als arg langatmig, auch nicht gerade die Handlung befördernd und musikalisch nicht so aufregend, wie das, was man vorher gehört hat. Auf der anderen Seite fehlt eine Handlungsstation die zeigt, wie Lulu abstürzt, der Wechsel vom Ende des zweiten Aktes direkt in das "London"-Bild kommt so etwas unvermittelt. Dramaturgisch funktioniert das allerdings in Basel recht gut und die Begründung für die Streichung des "Paris"-Bildes ist nachvollziehbar.

    Zitat

    Original von pbrixius


    Hermes meint zu der Aufnahme: "Auch wegen Cionis Edgardo eine Aufnahme, die Bestand hat" ...


    Liebe Grüße Peter


    Da sollte aber unterschieden werden: nur, weil einem persönlich ein Name nicht geläufig ist, ist doch der betreffende Sänger kein "No Name".


    Renato Cioni ist hier als Edgardo stilistisch bestens besetzt und zeichnet sich durch eine hohe Musikalität und geschickte Phrasierung aus. Die Stimme wirkt manchmal etwas eng, aber nie angestrengt und auch die Atembeherrschung ist - so habe ich das in Erinnerung - sehr gut.


    Abraten würde ich unbedingt von Montserrat Caballé als Lucia. Was die Caballé an grauenhaftem Geschrei abliefert, bei insgesamt arg mütterlichem Timbre und weitgehend schmerzhaften Koloraturen, ist eine der unterirdischsten Darbietungen dieser Partie, die ich kenne. Es ist kein Vorteil, wenn die Plattenfirma stolz mitteilt, dass die Caballé die Partie in der originalen Tonlage eingespielt hat, wenn sich das Ergebnis so anhört. Ihr zur Seite steht allerdings ein gut singender José Carreras, für Anhänger/innen dieses Tenors gäbe es dann schon einen doch gewichtigen Kaufgrund für diese Aufnahme.

    Hallo, ihr Lieben,


    vielen Dank für die freundlichen Rückmeldungen, die mir diesmal wirklich gut tun, weil ich schon zwei DIN-A4-Seiten vollgeschrieben hatte - bevor ich alles im virtuellen Papierkorb entsorgt habe. Ich war mit meinem Text hochgradig unzufrieden - und habe dann nochmal von vorne angefangen.


    Das Problem bei der Beschreibung dieser Inszenierung, ist die sehr dichte und starke Bildwirkung - es gibt keinen Moment, der nicht perfekt ausgearbeitet wäre, auch, wer nur am Rand der Bühne präsent ist, ist nicht nur einfach anwesend, sondern erfüllt eine szenische Funktion. Hier also in etwa den roten Faden der Regiearbeit nachvollziehbar zu machen, ist keine ganz einfache Aufgabe. Zumal viele der Details unglaublich genau beobachtet sind, aber sich dem Leser, der die Aufführung nicht gesehen hat, nicht unbedingt erschliessen müssen.


    Auf der Homepage des Baseler Theaters kann man einige Bilder der Produktion sehen, vielleicht schaut der eine oder die andere mal rein.


    Gabriel Feltz ist leider schon wieder "auf dem Sprung" - verständlich, dass dieser Dirigent nachgefragt wird, aber ich hätte Basel eine längere Zusammenarbeit gegönnt. Das Dirigat geht in eine etwas andere Richtung, als ich das von Bouelz oder Gielen kenne, aber ich habe das als sehr stimmig wahrgenommen und mich gefreut, dass hier ein Dirigent der jüngeren Generation sich mit einem solchem Einsatz für die Musik von Berg engagiert. Feltz machte beim begeisterten Schlussapplaus einen bescheidenen Eindruck - ganz erstaunlich: alle Sängerinnen und Sänger spendeten ihrem Dirigenten und dem Orchester Beifall und es gab von der Bühne kommend "Bravo"-Rufe für Feltz und die Musiker/innen.


    Auch die Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner verlässt Basel. Sie wird Ensemblemitglied in Frankfurt - auch hier hätte ich Basel gegönnt, die Sängerin halten zu können, aber ganz traurig bin ich über ihren Wechsel in die unmittelbare Nachbarschaft natürlich nicht...


    Bieito bleibt sich mit der "Lulu" treu - keine Frage, aber seine Inszenierung wirkt stärker fokussiert als andere seiner Arbeiten, konzentrierter und sicher deshalb auch insgesamt "rund". Gerade diese "Lulu" würde ich auch Zuschauer/innen empfehlen, die entweder noch nie einen Bieito gesehen oder anderen Arbeiten des Regisseurs skeptisch gegenüber stehen.


    Die Sopranistin Marisol Montalvo wollte die "Lulu" unbedingt mit Bieito machen - das Ergebnis dieser Verbindung ist eine Sternstunde zeitgemässen Musiktheaters, ich kann die von Edwin geschilderte Begeisterung des Rezensenten der "Wiener Zeitung" sehr gut verstehen.


    Ja, und das gilt besonders für severina, schauts euch an, wenn ihr könnt, die Aufführung ist wert, dass sie möglichst viele Zuschauer/innen findet.

    Im Alter von 20 Jahren erlebte der Komponist Alban Berg 1905 in Wien eine von Karl Kraus organisierte Privataufführung des Schauspiels „Die Büchse der Pandora“ von Frank Wedekind. Das Schauspiel ist die direkte Fortsetzung von Wedekinds Theaterstück „Der Erdgeist“, das 1898 in Leipzig uraufgeführt wurde. Im Mittelpunkt beider Stücke steht Lulu, eine Frau mit unbestimmter Vergangenheit, der die Männer (und eine lesbische Gräfin) reihenweise ob ihrer sexuellen Attraktivität verfallen, die sich für Lulu zugrunde richten (und dabei eine oftmals grotesk-lächerliche Figur machen) und die der Lulu einen enormen, gesellschaftlichen (und finanziellen) Aufstieg ermöglichen, bis diese, am Ende der Handlung, alles Geld verliert und auf dem Strassenstrich in London landet, wo sie ein Opfer des legendären Mörders Jack the Ripper werden wird.


    Beide Stücke galten der damaligen Zeit als „unanständig“ und „unmoralisch“ und wurden von der Zensur verfolgt, was dazu führte, dass Aufführungen so gut wie immer nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden konnten.


    Alban Berg war von der Figur der Lulu fasziniert, aber erst rund zwanzig Jahre später, nachdem er sie kennengelernt hatte, 1928, entschloss sich Berg, aus der Vorlage von Frank Wedekind eine Oper zu machen. 1934 war dann das Particell der „Lulu“ weitgehend fertiggestellt. Zum 60. Geburtstag von Bergs Lehrer, Arnold Schönberg, dem die Oper „Lulu“ auch gewidmet ist, erklang erstmals eine Suite mit Musik aus der „Lulu“, die Erich Kleiber dirigierte.


    Die Folge dieser Aufführung der „Lulu-Suite“ war, dass die „öffentliche Meinung“ gegen Alban Berg hetzte und Berg dann im Nazi-Jargon als „unerwünschter Kulturbolschwik“ galt. Die Werke von Alban Werk wurden nicht mehr aufgeführt und der Dirigent Erich Kleiber verliess im Jahr 1935 Deutschland.


    Als Alban Berg am heiligen Abend des Jahres 1935 verstarb, hinterliess er seine Oper „Lulu“ unvollendet. Zwei Akte waren komplett fertiggestellt, das Particell zum dritten Akt wies Lücken auf und die Angaben zur Instrumentierung waren unvollständig.


    Alban Bergs Witwe, Helene Berg, hat die Vervollständigung der „Lulu“ verboten. Nach ihrem Tod im Jahr 1976 hat der Komponist Friedrich Cerha die „Lulu“ vervollständigt. Am 24.02.1979 wurde diese dreiaktige Version erstmals in Paris gezeigt, der Dirigent war Pierre Boulez, die Regie hatte Patrice Chéreau übernommen.


    Nicht alle Bühnen zeigen die „Lulu“ in der dreiaktigen Version. Immer wieder wird auch das Fragment aufgeführt, oft ergänzt durch jene Teile des dritten Aktes, die noch von Berg selbst stammen. In Basel ist das Stück nun in einer gekürzten Version zu erleben. Die ersten beiden Akte sind vollständig, so, wie sie Berg komponiert hat. Im dritten Akt fehlt das erste Bild, das erzählt wie Lulu, die erpresst wird, vor der Polizei in der Verkleidung eines Pagen fliehen muss. Es schliesst also an den zweiten Akt direkt das Bild an, das Lulu als billige Prostituierte in London zeigt.


    Calixto Bieito wollte „Lulu“ schon seit längerer Zeit inszenieren. Kein Wunder bei einem Regisseur, der immer wieder Sexualität, oft in Verbindung mit Gewalt, in seinen Inszenierungen zeigt, der versucht, uns etwas über unser Verhältnis zueinander und über den Umgang miteinander mitzuteilen, der Moral und Scheinmoral zum Thema macht und der doch dabei das Individuum nie aus dem Auge verliert. In seinen stärksten Momenten ist das Theater des Calixto Bieito tief menschlich und berührend.


    Die enorme Qualität und die ungeheuere Kraft der Baseler „Lulu“ liegt in einer Personenführung, die sich mit den besten Schauspielaufführungen messen lassen kann. Es ist schier unglaublich, zu was Opernsängerinnen und Opernsänger in der Lage sind, wenn ein Regisseur sie zu fordern versteht, wenn es einem Regisseur gelingt, einen hohen Identifikationsgrad zwischen den ausführenden Künstlerinnen und Künstlern und den von ihnen dargestellten Rollen herzustellen.


    Da sitzt jede Geste, jede Bewegung und vor allem auch jeder Gesichtsausdruck. Da wird mit dem Einsatz des ganzen (auch gegebenenfalls nackten) Körpers gespielt, dass einem der Atem stockt. Ich habe lange nicht mehr erlebt, dass Sängerinnen und Sänger derartig bedingungslos und Grenzen überschreitend auf einer Bühne miteinander agiert haben – grandios.


    Bieito inszeniert Lulu in einem quasi geschlossenen Rahmen – die Personen der Handlung sind immer dieselben, selbst, wenn sie als Doppelrollen konzipiert worden sind. Das trifft auch auf die Garderobiere und den Gymnasiasten zu, der hier eine etwas biedere, blonde, langhaarige Oberschülerin mit Labtop, Zigarette und lesbischen Neigungen ist. Der Bühnenraum (der eiserne Vorhang ist zu Beginn ganz geschlossen) zeigt in der Mitte zwei ineinandergesetzte Bilderrahmen, die Bühne selbst ist von Metallrahmen eingefasst, die sich auch auf der Bühne fortsetzen, der Orchestergraben ist ins Bühnenbild integriert, vor dem Orchestergraben gibt es einen Laufsteg vor dem Publikum.


    Zu Beginn in der Bühnenmitte ein pinkfarbenes Pferd, man erkennt angedeutet ein Fotoatelier, auf dem Pferd der Tierbändiger, der stumm die Peitsche schwingend, auf dem Pferd reitet. Der Tierbändiger tritt vor das Publikum, führt seine wilden Tiere vor, es sind Männer aus dem Publikum, die gleich die Hosen runterlassen. Nur Lulu kommt in eine graue Wolldecke gehüllt und von Polizisten begleitet eher bedrückt und ängstlich auf die Bühne. Der Tierbändiger wird am Ende seiner Szene einer Barbie-Puppe den Kopf abbeissen und deren Blut trinken.


    In der ersten Szene sitzt dann Lulu auf dem Pferd, sie trägt knappste Reizwäsche zu scharfen Schuhen mit enorm hohen Absätzen und die von einem Fotografen geschossenen Pin-Ups werden auf die Leinwand in dem Bilderrahmen projiziert.


    Die Handlung läuft wie vorgesehen ab, die sexuellen Spielereien zwischen dem Fotografen und Lulu sind deutlich und drastisch, z. B., wenn der Fotograf seine Kamera genau zwischen Lulus Beine schiebt und ihre Scham fotografiert. Der Ehemann von Lulu überrascht die beiden und stirbt den schnellen Herztod und wie Lulu mit dem Toten zuerst spricht und sich dann auf ihn setzt, ist eine von vielen sehenswerten Momenten dieser Inszenierung.


    Im zweiten Bild werden riesige Fotografien (Lulu hat den Fotografen zwischenzeitlich geheiratet) vom Schnürboden heruntergelassen. Alle zeigen die nackte Lulu, mal gefesselt, mal mit einem Telefon, aber immer mit laszivem Gesichtsausdruck.


    Auch die Auseinandersetzung zwischen Lulu und Dr. Schön lebt von einer minutiösen Personenregie, die gewalttätig ist, aber dann in eine Art oralen Sex mündet.


    Drastisch das Ende des Fotografen und ganz stark die Lulu in einem Nichts von Kleid, wenn sie Dr. Schön das Blut ihres Gatten abwischt.


    Ein echter Clou das folgende Bild: man sieht keine Theatergarderobe, sondern eine noble Strip-Bar. Vorne, auf dem Laufsteg, sieht man den Prinzen in einer Phantasie-Uniform, mit Schuhen mit Stiletto-Absätzen und transvestitischem Make-Up, er hat einen Obstkorb dabei, aus dem er eine Melone nimmt, die er sexuell anzüglich verspeisen wird. Lulu ist die Hauptattraktion dieser Strip-Bar. Sie trägt eigentlich kein Kostüm mehr, nur ihre Brustwarzen sind noch bedeckt, dazu ein winziges Höschen und eine Art Diadem. Während sie mit Alwa plaudert, wirft sich ihr der Prinz zu Füssen, den sie mit ihren hohen Absätzen traktiert oder dem sie sich auch auf den Rücken stellt. Danach wird der Prinz Lulu die Beine ablecken, über die Alwa immer wieder ein Getränk schütten wird.


    Den normalen Bargästen auf der Bühne serviert ein Boy in einem Lederslip Natursekt direkt vom Erzeuger.


    Nachdem Lulu ihre Nummer abgebrochen hat und sie von Dr. Schön zur Rede gestellt wurde, diktiert Lulu dem Dr. Schön die Auflösung von dessen Verlobung: Schön tippt alles brav als SMS in sein Handy.


    Nächstes Bild, Auftritt Gräfin Geschwitz: hier ist keine Bilderbuchlesbe zu sehen, vielmehr ist die Geschwitz eine elegante Frau im Hosenanzug mit einem enorm weit ausgeschnittenen Oberteil.


    Dr. Schön in seinem schwarz-weiss gestreiften Pyjama geht sicher zur keiner Börse mehr, der Mann, der sich schon eine Waffe besorgt hat, steht kurz vorm Wahnsinn. Während er beobachtet, wer so alles seine Frau scharf findet, klatscht er rote Farbe auf ein grosses Bild von Lulu im Hintergrund. Der Tierbändiger, sein Sohn Alwa, Schigolch, ein Penner mit einem Einkaufswagen, der wahrscheinlich nicht Lulus Vater ist, aber die Minderjährige missbraucht hat, die Gymnasiastin, die Geschwitz und der Prinz, der jetzt, krank, ohne Hose und mit verschmiertem Make-Up und einer Sauerstoffmaske, einen Rollator mit dem Sauerstoff vor sich herschiebend, den Diener bei Dr. Schön gibt – sie alle sind Lulus sexueller Attraktivität rettungslos erlegen.


    Lulu tötet Dr. Schön in einem Gerangel mit dessen Revolver und wird von der Polizei verhaftet.


    Das nächste Bild erzählt nicht nur die Rettung der Lulu aus dem Gefängniskrankenhaus – es zeigt auch, wie sich die Gymnasiastin die Pulsadern öffnen und wie Alwa mit Schigolchs Hilfe den Tierbändiger umbringen wird. Als Lulu den Gefängnisoverall auszieht, ist sie schön und verführerisch, wie eh und je.


    Das letzte Bild: in der Mitte ein Kübelcontainer mit Müllsäcken, im Vordergrund Lulu in einem Pelzmantel – sie ist heruntergekommen und mitgenommen. Jetzt macht sie es mit jedem und wird wohl mehr als einmal um ihren Lohn betrogen. Alwa, Schigolch und die Geschwitz sind noch bei Lulu.


    Ganz zum Schluss gelingt Bieito noch einmal eines jener Bilder, die tief in der Erinnerung des Zuschauers hängen bleiben werden: als sie mit Jack the Ripper um den Dirnenlohn feilscht, reisst sich zuerst die Geschwitz die Bluse vom Leib und bietet sich an, dann wird Lulu den Pelzmantel sinken lassen und steht ganz vorne nackt an der Rampe: alles, was sie noch besitzt, ist ihr Körper. Sie geht mit Jack zu dem Container, dort wird Jack Lulu töten. Fast liebevoll leckt er sich Lulus Blut von der Hand, bevor er der Geschwitz die Kehle durchschneiden wird.


    Das, was die Sopranistin Marisol Montalvo darstellerisch leistet, ist phänomenal. Eine schmale, attraktive Frau ist das, die eine Beweglichkeit an den Tag legt, die aussergewöhnlich ist. Und sie bewegt sich in den ungewöhnlichen Kostümen völlig natürlich. Tief berührend, wenn sie am Ende ganz nackt auf der Bühne steht.


    Die Stimme ist eher klein, müht sich auch mit den exaltierten Tönen und den vertrackten Sprüngen merklich, die Sängerin weicht auch zu Vereinfachungen aus, aber wenn man das gesehen hat, tritt eine solche Kritik merklich zurück.


    Ein perfekt agierender Dr. Schön ist Claudio Otelli, ein Mann, der immer latente Gewalt ausstrahlt und der seinen etwas groben, phonstarken Bariton hier ideal zur Geltung bringen kann.


    Ebenfalls erstklassig die Mezzospranistin Tanja Ariane Baumgartner als Gräfin Geschwitz, deren ausgeglichene, dunkel timbrierte Stimme auch den Schlussatz noch souverän beherrscht – darstellerisch ist auch sie ein Erlebnis.


    Erwähnenswert der Tenor Rolf Romei als Maler (hier als Fotograf) und Andrew Murphy als obszön-brutaler Tierbändiger.


    Erin Caves, der Alwa, war als indisponiert angekündigt, schade, nach dem sehr positiven Eindruck in Chemnitz hätte ich den Sänger auch als Alwa gerne bei voller Stimme erlebt.


    Musikalisch war der Abend beim knapp 40jährigen Dirigenten Gabriel Feltz in besten Händen. Feltz half den Sängerinnen und Sängern, wo es ging, war präzise bei den Einsätzen und hat damit diesem schwierigen Bühnenkonzept mit zu seiner ausgezeichneten Wirkung verholfen. Mit Hingabe setzte das Orchester die Partitur von Alban Berg um, viele Details wurden hörbar gemacht, geradezu vertraut klang die Musik, die einstmals verstörte.


    Grosser Jubel für diese Aufführung, für die Protagonisten, den Dirigenten und nicht zuletzt für den Regisseur Calixto Bieito, der oftmals so stark in seiner Inszenierung ist, dass man ihm einige Überzeichnungen gerne verzeiht.

    Lieber Micha,


    ob Nigel Lowery eine schlechte Inszenierung gemacht hat, weiss ich nicht - darüber habe ich nichts erfahren.


    Dass Clemens die Aufführung nicht gefallen hat, das haben wir alle zur Kenntnis genommen. Damit wird er natürlich nicht gleich zu einem Anhänger konservativen Theaters - aber die Art und Weise, wie er sich äussert, bedient die Ressentiments, die dem zeitgemässen Musiktheater entgegengebracht werden. Wenn sich Clemens nicht differenzierter äussern möchte, wird er auch die Kritik an der Art und Weise, wie er sich einlässt, akzeptieren müssen.

    Lieber Michael, lieber Peter,


    wir sind ja ein diskussionsfreudiges Forum. Grundsätzlich teile ich Edwins Auffassung. Als ich den Text von Clemens das erste Mal gelesen hatte, habe ich viel über die Befindlichkeiten des Berichtenden, aber wenig über die besprochene Aufführung erfahren. Der von Edwin zitierte Satz, dass weitere Details entbehrlich seien, ist da symptomatisch: da will jemand nicht die Inszenierung vorstellen, sondern seinem Missfallen Ausdruck geben.


    Und das tut er in genau dem Stil, den wir aus anderen Diskussionen zum Thema "Opernregie - wozu?" hinlänglich kennen. Deshalb ist es kein Wunder, dass genau jene Positionen wieder hervorgekramt werden, die wir die letzten Tage mit mehr oder weniger Freude gelesen haben.


    Ich bin auch nicht der Meinung, dass die Kritik an der Form der Besprechung dazu führt, dass dann jemand gar nichts mehr schreibt - ein Feedback, auch ein deutliches, muss ausgehalten werden.


    Mit dem "Subjektivem" habe ich kein Problem, eher schon damit, dass im angeführten Beispiel die Polemik den Inhalt ersetzt. Jeder soll auch erkennen lassen, wie seine persönliche Meinung zu dem ist, was er da im Theater gesehen hat. Aber da der oder die Berichtende sich an eine Leserschaft wendet, die das Stück eben nicht gesehen hat, ist es erstmal notwendig, genau das mitzuteilen, was zu sehen ist und sich auch ein wenig Gedanken darüber zu machen, wie die Intention des Regisseurs ausgesehen hat, unabhängig davon, ob das jetzt gefällt oder gelungen ist.


    So verstehe ich auch Edwins Anfrage an mich: es geht nicht darum, dass hier etwas "richtiggestellt" werden soll oder dass man sich eine Aussage wünscht, die dem eigenen "Gusto" entspricht, sondern dass ein Eindruck vom szenischen Ablauf vermittelt wird, der die Inszenierung erfahrbar macht. Um das gleich anzufügen: ich habe den "Wildschütz" in der Inszenierung von Nigel Lowery weder in Stuttgart, noch in Köln gesehen. Ich halte zwar den "Wildschütz" für eines der stärkeren Stücke von Lortzing - ein Plot, aus dem man was machen kann - aber das ist jetzt keine Oper, für die ich unbedingt auf Reisen gehen würde.


    So - und jetzt sollte ich mich an die Besprechung der gestrigen Premiere in Basel machen, mit der möchte ich nämlich gerne heute noch online gehen.