Da ist sie wieder, die Frage, die sich vermutlich niemals wird beantworten lassen. Nämlich nach der historisch korrekten Aufführung.
Wir wissen inzwischen eine ganze Menge über die Aufführungspraxis zumindest seit dem Barock. Originalinstrumente wurden entdeckt und nachgebaut, hier und da Kommentare zur damaligen Aufführungspraxis gefunden, doch nichts und niemand wird uns das Aufführungserlebnis der damaligen Zeit zurückbringen.
Selbst wenn es damals schon Schallkonserven gegeben hätte, dann wäre es immer noch nicht gesagt, dass diese den historisch korrekten Klang schildern. Ich kann mich noch gut an meine erste Begegnung mit Lionel Rogg erinnern, damals fragte ich ihn nach seinen ersten Einspielungen Bachscher Orgelwerke mit einem penetrant durchdringenden Prinzipal Bass. Er antwortete, das habe nicht er verbrochen, sondern der Toningenieur, gegen den er sich leider auch aufgrund des geschlossenen Vertrages nicht durchsetzen konnte.
Also selbst die Konserve bringt nicht zwingend die korrekte Aufführung zurück.
Was also bleibt ist das Notengerüst, die Kenntnis originaler Instrumente und eine Forschung, die die eine oder andere Erkenntnis zur damaligen Aufführungspraxis gebracht hat. Wobei bereits umstritten ist, ob die Instrumentenkenntnis wirklich allgemein maßgeblich ist. Nicht nur Orgeln wurden von verschiedenen Instrumentenbauern höchst unterschiedlich ausgelegt. Würde man, um bei diesem Beispiel zu bleiben, den norddeutschen/holländischen Orgeltyp zum Standard erheben, dann würden sämtliche Orgeln südlich der Alpen nicht als Orgeln bezeichnet werden können, denn ihnen fehlen nahezu grundsätzlich die Zungenregister. Auch im süddeutschen Raum sind etliche Orgeln nach italienischer Manier ohne Zungenregister gebaut worden, zum Beispiel die Orgel in Kloster Ettal.
Eher schon einen Standard können wir wohl bei den Streichinstrumenten und den verbreitetsten Blasinstrumenten annehmen. Doch beim Cembalo dürfte es damals ebenso wenig einen echten Standard wie bei den Orgeln gegeben haben.
Unter anderem deshalb wurden damals viele Werke einfach für Tasteninstrumente geschrieben, ohne auch nur vorzuschreiben, welches Tasteninstrument dazu genommen werden soll. Natürlich wird man eines der großen Orgelwerke Bachs schlecht auf einer kleinen einmanualigen Orgel, womöglich noch mit angehängten Pedal spielen können, wie sie damals durchaus noch ziemlich verbreitet waren. Schließlich konnte sich nicht jede Gemeinde in der Hochblüte der Orgel-Baukunst gleich ein neues Instrument leisten.
Nur wenige Orgeln aus dieser Zeit haben Original die Zeiten überdauert. Doch auch sie können nicht als Standard für die damalige Orgelbaukunst gelten, sie können bestenfalls einen Begriff davon geben, wie damals der Orgelbauer X oder der Orgelbauer Y eine Orgel gebaut haben.
Je mehr bestimmte Instrumente standardisiert wurden, umso genauer wurde auch die Notation. Eine einigermaßen genaue Notation beginnt in der Frühklassik, im Barock war sie nur hinsichtlich des tragenden Gerüstes üblich. Es war also jedem Musiker selbst überlassen, was er aus dem Gerüst machte beziehungsweise mit welchen vorhandenen Instrumenten etwas aufgeführt wurde.
Dass dabei sicherlich gelegentlich auch die Absicht des Komponisten nahezu ins Gegenteil verkehrt wurde, blieb dabei nicht aus.
Solange wir keine Ohrenzeugen haben, die sich noch ganz genau erinnern können, wie es damals klang, insbesondere, wenn der Komponist das Werk selbst aufführte, möglichst noch ohne Einschränkungen bezüglich der Musiker und Solisten, nur dann hätten wir Zeugnis über die damalige Aufführungspraxis.
Musik transportierte bis in die Klassik hinein unter anderem, trotz oder vielleicht gerade wegen der strengen Mathematik des systematischen Aufbaus eines Werkes, Gefühlswelten, ebenso wie ein Bild. Noch stärker wurde das in der Romantik.
Gerade der Barock ist das Zeitalter des Überschwanges in der Architektur, der Malerei wie auch der Musik. Nochmals überhöht im Rokoko.
Daran würde ich eben mal wieder erinnert. Ich hätte mir gerade aus dem Usenet einige Interpretationen des Weihnachtsoratoriums angehört, wobei ich mich darauf beschränkte, den Eingangschor aus dem Usenet zu laden, um überhaupt feststellen zu können, ob mir das gesamte Werk von diesem Interpreten den Download überhaupt wert ist. Um es gleich zu sagen, es blieb beim Eingangschor, egal, was ich gerade im Usenet entdeckt hatte.
Jauchzet, frohlocket! Ich hörte wohl die Worte, hörte die Instrumente, doch ein jauchzen oder gar frohlocken konnte ich nicht hören. Eher ein Bemühen, das Werk fehlerfrei zu singen. Ansonsten deutliche Unterschiede bei der Tontechnik. Mal blass und ohne Kontraste, wie ein Foto, das ausgelaugt ist, mal mit saftigen Kontrasten, die schon wieder unnatürlich wirken. Ich habe gerade für eine Webseite etliche Fotos überarbeitet und weiß, wie schwierig es ist, die Mitte zwischen blass und allzu starker Wirkung zu finden.
Gerade bei den Chorwerken tun wir uns eigentlich noch leicht, geben doch die Worte schon vor, wie die Musik interpretiert werden sollte. Dazu braucht es keine Tempoangaben, braucht es nicht mehr als ein Gespür für die Worte. Doch schon hier fehlen mir manchmal die Worte, wenn ich einige Interpretationen höre, die mit dem gesungenen Wort eigentlich nichts mehr gemein haben.
Ich kenne nur eine einzige Interpretation der Violinkonzerte von Bach, bei der die Solovioline wirklich jubelt. Es ist natürlich nicht HIP. Ich kenne Einspielungen der Orgelwerke auf historischen Instrumenten, zum Beispiel der Orgel der St Laurenskerk, Alkmaar, die mit ihrem donnernden Prinzipal Bässen schon geradezu eine Vergewaltigung der Musik, der Orgel und des Hörers darstellen. Das wäre so, als ob ich im Photoshop die Farben in ein unnatürliches leuchten vor möglichst dunklem Hintergrund bringen wollte.
Was hat das mit Originalinstrumenten zu tun, was hat das überhaupt mit der Diskussion um HIP oder HOP zu tun?
Die grundsätzliche Frage scheint mir eher, sich hinein zu fühlen und zu denken in das Zeitalter, in dem diese Musik entstand, sein Lebensgefühl, dem Ausdruck des Lebensgefühls in der Musik, seinen religiösen Überzeugungen, die sich im Lauf der Jahrhunderte gewaltig geändert haben, und nach Möglichkeit sogar in den Komponisten, was letztendlich kaum möglich sein dürfte, um auch nur einigermaßen werkgetreu zu sein.
Doch schon beim Lebensgefühl ergeben sich die gravierenden Unterschiede zwischen heute und damals und damit auch die Schwierigkeit, ein Werk halbwegs historisch korrekt aufzuführen. Damals gab es noch keine zwei Weltkriege, damals gab es noch keine Umweltverschmutzung, damals war die Welt noch halbwegs scheinbar in Ordnung. Damals gab es auch noch ein echtes Privatleben und nicht die Diskussion der Politiker um die präventive Überwachung der Bürger eines Landes bis hinein ins Schlafzimmer. Umgekehrt gab es damals jedoch noch ziemliche Willkür einzelner Herrscher. Insbesondere bei den Werken des Barock und der Frühklassik gilt es nicht nur zu bedenken, dass der Instrumentenbau außer bei den Orgeln seitdem noch einen gewaltigen Fortschritt gemacht hat, sondern dass danach ganz andere Moden kamen, die die barocke wie auch die Aufführungspraxis der Frühklassik in Vergessenheit geraten ließen. Mit anderen Worten, uns fehlt die lebendige Tradition, wenn überhaupt, dann gibt es diese noch halbwegs bei den Orgelwerken Bachs. Halbwegs nur deshalb, weil die Orgel als Instrument in der Romantik wieder entdeckt wurde, jedoch auf eine völlig andere Art als im Barock. Barock war einfach seit der Klassik nicht mehr in. In der Romantik schon dreimal nicht mehr, zumindest bis Mendelsohn Bach wieder entdeckte. Doch auch da war Bach noch lange nicht wirklich in, sondern die Wiederentdeckung gerade am Anfang.
Statt einer lebendigen Tradition wird nun versucht, herauszufinden, wie man damals wohl ein Werk aufgeführt hatte. Wobei vieles dabei spekulativ bleibt, mangels konkretem Wissen und insbesondere Hör-Erlebnis. Und mangels eines vergleichbaren Lebensgefühls sowohl der Musiker als auch der Hörer. Selbst wenn wir eine Zeitreise zurück machen könnten, die damalige Welt wäre uns fremd wie auch ihre künstlerische Überhöhung.
Daher scheint mir die ganze Diskussion um HIP oder HOP, die hier zum Teil sehr leidenschaftlich geführt wird, in einer gewissen Weise daneben. Das Barockmusik mit Sicherheit nicht so musiziert wurde, wie die teils monumentale, klangmalerische Musik der Romantik, das dürfte wohl jedem einleuchten. Doch wo steht geschrieben, dass Barock das exakte Gegenteil, nämlich trocken und minimalistisch sein müsste?
Gerade von Bach ist neben vielen Noten, die teilweise noch nicht einmal seine eigenen waren, sondern eben von Telemann oder einem seiner Verwandten abgeschrieben, um die lästige Pflicht der Neuaufführung einer Kantate im sonntäglichen Gottesdienst erfüllen zu können, auch einiges an Schriftwechsel erhalten. Schriftwechsel, indem er sich unter anderem über die magere Ausstattung von Chor und Orchester beschwert. Vergleichbar etwa, Bach hätte lediglich eine einmanualige Orgel zur Verfügung gehabt, um seine großen Orgelwerke darauf auf führen zu können. Oder ein Spinett für seine großen Cembalowerke.
Das Notengerüst alleine, ohnehin im Barock meist noch ohne Tempo Angaben und mit lediglich beziffertem General Bass, bezüglich der Tasteninstrumente sogar völlig freigestellt, bedeutet noch lange nicht, dass man diese Musik einfach vom Blatt spielen kann. Wie viel hängt an der Person des Dirigenten wie auch seiner Musiker, also des Klangkörpers, den er leitet. Ich hatte damals unmittelbar mitbekommen, wie Celibidache aus dem drittklassigen Orchester Münchner Philharmoniker ein Weltklasse Ensemble bildete, gegen teils erheblichen Widerstand sowohl des Orchesters als auch der Kulturpolitiker.
Welch ein Unterschied in der Musik vorher und nachher, obwohl es in beiden Fällen derselbe Dirigent, dieselben Noten und sogar dieselben Säle für die Aufführung waren.
Dass jemand HIP macht, heißt noch lange nicht, dass er auch gute Musik macht. Ebenso wenig wie ein Weinbauer, der auf biologische Landwirtschaft umstellt, plötzlich etwas vom Wein versteht, doch Bio verkauft sich gut, selbst wenn der Wein im Keller völlig verdorben wurde. So wie beim Entstehen des Weins die Trauben nicht mehr als der Rohstoff sind, so ist bei der Musik das Notengerüst der Rohstoff für die Musik. Der Wein entsteht durch sachkundige und liebevolle Pflege im Keller, die Musik braucht dazu noch zusätzlich den schöpferischen Geist, der das Werk eigenständig und lebendig interpretiert. Das lebendige ist ohnehin ein Problem in dieser Diskussion, denn wirklich lebendige Musik gibt es als Konserve bestenfalls bei einer Live-Aufnahme. Doch selbst das bedeutet nicht, dass der Dirigent das Werk nochmals genau so aufführen würde. Denn auch der Dirigent entwickelt sich weiter.
Was bleibt, ist schlicht und ergreifend unser Geschmack, unsere Hörgewohnheiten, unser persönliches Verständnis eines Werks, daraus erwachsen auch unsere Vorlieben für bestimmte Interpreten wie auch ihre Aufführungspraxis. Ein absolut richtig gibt es in der Musik nicht, wenn es so wäre, dann würde es völlig genügen, wenn mit den heutigen Aufnahmetechniken ein Komponist ein Werk einmalig absolut richtig auf führt und in Zukunft nur noch die Aufnahme abgespielt würde. So ungefähr, wie es bei Popkonzerten teilweise üblich ist, nämlich nur noch Show der Musiker zu einer Musik, die als Play-back vom Tonträger kommt.
Doch gerade in einem Klassikforum sollte die lebendige Musik, die Freude am Musizieren wie auch die Weiterentwicklung der Musiker wie auch der Hörer im Vordergrund stehen, nicht die müßige und letztendlich nicht beantwortbare Diskussion um die richtige historische Aufführungspraxis.
Ich möchte hier auch nochmal einen Punkt aufnehmen, der bereits vor drei Jahren in diesem Thread diskutiert wurde, nämlich akademisch oder künstlerisch. Ich möchte daran erinnern, dass es in der Malerei einen deutlichen Unterschied zwischen akademischen Malern und Künstlern gibt. Beides hat seine Berechtigung, doch der akademische Maler schaft mit Sicherheit keine Kunst. Der Unterschied zwischen beiden ist auch nicht, dass sich beide mit den Grundlagen der Malerei wie auch früheren Stilrichtungen befassen, der Unterschied ist vielmehr, dass der Künstler sich zu einem völlig eigenen Stil entwickelt, oft genug seiner Zeit sogar weit voraus ist und deshalb auch oft genug verarmt stirbt, weil erst die Nachwelt den Genius entdeckt. Was in der Malerei gilt gilt prinzipiell auch für die Musik. Es gibt nun mal einen Unterschied zwischen akademisch brav gespielt und einer Musik, die mich vom Stuhl reißt. Aus einem Schüler eines begnadeten Musikers, der auch als Professor an einer Musikhochschule lehrt, wird noch lange nicht selbst ein hervorragender Musiker, der seine Hörer vom Stuhl reißen wird. Der eine Schüler bleibt ein Akademiker, der andere entwickelt sich zum Künstler, der das Notengerüst wie auch das Wissen um die Instrumente lediglich als Rohstoff für die Musik ansieht. Statt sich sklavisch irgendwelchen Lehrmeinungen zu unterjochen.