Beiträge von Barockbassflo

    Lieber Heldenbariton,


    interessant, dass Du Toscanini bei Brahms so hochschätzt. Ich finde die DVD-Version der ersten Symphonie (Testament) und seine Dritte ganz besonders mitreißend, aber die Zweite ist auch sehr sehr schön.


    Hat mich damals schwer überrascht, ich hätte nicht vermutet, dass Toscanini so ein guter Brahmsinterpret sein könnte (was allerdings fürs Doppelkonzert dann wieder gar nicht gilt...).


    Ich hoffe mal, dass sich bald jemand (Herreweghe???) an eine Einspielung mit historischen Instrumenten macht!


    Flo

    Eine m.E. nicht ganz unoriginelle Aufnahme wurde noch nicht erwähnt bisher: das Chamber Orchestra of Europe unter Paavo Berglund:



    Brahms gilt ja oft als "schwer" und "dick" bzw. man assoziiert ihn mit einem wohlig-resigantiven Klangbad von schwelgerischer Fülle. Das famose Chamber Orchestra of Europe unter Berglund beschreiten einen anderen Weg. Brahms wird hier in kleiner Besetzung in fein ausgehörter Transparenz und mit großer Liebe zum Detail gestaltet. Dabei tritt an die Stelle einer Fülle des Wohllauts aus der großen Zahl und dem großen Ton mit großem Vibrato eine Fülle des feinnervigen Gestaltens.


    Dieses beglückt in seiner Aufmerksamkeit für z.B. die vital um eine Winzigkeit geschärft punktierten Begleitrhythmen, durch die sorgfältig bis an die Grenzen geführte Ausschöpfung des dynamischen Spektrums und eine frei atmende Gestaltung jeder Phrase. Die Symphonie entfaltet sich in frei auf einem großen Grundpuls schwingender, betont cantabler Gestaltung der einzelnen Abschnitte.


    Dabei ergibt sich der Ausdrucksreichtum nicht aus der schieren von philharmonischen Heerscharen entfesselten Klangflut, sondern aus liebevoller Gestaltung jeder noch so kleinen Einzelheit. Dieses Orchester hört unglaublich gut aufeinander, baut aufeinander auf, setzt fort, dialogisiert zwischen den Stimmen - und das alles in exquisiter Klangkultur. Die Streicher beschränken ihr Vibrato auf das zur Genießbarmachung der Stahlsaiten und dem jeweiligen Ausdruck erforderliche und zeichnen sich durch eine auf modernen Instrumenten ungewöhliche Differenziertheit in der Bogenführung aus. Was zu einem hochdifferenzierten, konzentrierten, intensiv leuchtenden Streicherklang führt, in den sich die Bläser feinfühlig integrieren - nicht genug preisen kann ich vor allem die Flöten, die sich hier wunderschön integrieren und damit für mich ihren modern-metallischen Schrecken verlieren.


    Auch werden nicht nur die großen Linien frei atmend entfaltet, auch die kleineren Einheiten werden wundervoll differenziert gestaltet: man kann auch Brahms artikulieren, ohne die Linien zu brechen. Mehr als das, man kann die Linien dadurch zu pulsierendem Innen-Leben erwecken, das man gar nicht vermutet hätte.


    Lyrischer Geist dominiert, allerdings ist er schlanker als gewöhnlich umgesetzt. Pastoral - aber eher im Sinne eines Spazierganges an einem sonnigen Frühlingsmorgen als rotweingestützten Sommerabendgenusses.


    Vielleicht einen Hörversuch wert...


    :hello:
    Flo

    Der Legende nach eignen sich die Goldbergvariationen ja ganz besonders für schlaflose Nächte - so sei es denn, dass ich hier auch noch meinen Senf dazugebe.


    Zwar kenne ich von den Goldbergvariationen nicht allzu viele Aufnahmen (Landowska 33, Gould 55 und 81, Hewitt), aber diese hier mit Richard Egarr



    scheint mir bemerkenswert zu sein. Mich jedenfalls hat sie schwer begeistert.


    Richard Egarr spielt auf einer Ruckers-Kopie, die mit echten Federkielen versehen und nach der von Bradley Lehman rekonstruierten Bach-Stimmung gestimmt ist (Lehman erklärt seine Entdeckung auf seiner Website w*w.larips.com sehr ausführlich). Mir fehlt der Sachverstand, um die klangliche Gesamtwirkung in Einzelkomponenten aufzulösen, aber es handelt sich um ein für meinen Erfahrungshorizont ganz außergewöhnlich warmen, vollen, runden, leuchtkräftigen Klang. Der Anriss der Töne ist wesentlich sanfter als üblich und es gibt am Anfang jedes Tons ein ganz bezauberndes kleines Crescendo aus dem Nichts. Und die Abweichung der Stimmung von der gleichschwebenden Temperatur gibt dem Klang eine warme, irisierende Lebendigkeit, so scheint es mir.


    Schon dieses lyrische Klangerlebnis allein wäre die Anschaffung mehr als wert gewesen, doch hat Richard Egarr noch mehr zu bieten. In seinem Begleitessay (die im Internet publizierte ausführliche Version, die leider nicht den Weg ins Booklet gefunden hat) beruft er sich unter anderem auf - Leopold Stokowski (!), und entsprechend klangsinnlich hat er seine Interpretation dann auch gestaltet.


    Die Tempi sind eher auf der langsamen Seite, alles entwickelt sich wunderbar organisch und unaufgeregt Schritt für Schritt und Ton für Ton in einem großen Bogen. Egarr spielt alle Wiederholungen, verziert geschmackvoll und bedient sich mit geradezu unheimlicher Souveränität der Inegalité. Diese hohe Kunst der Quasi-Punktierung gleicher Notenwerte entfaltet er auf der Basis eines felsenfesten Grundpulses mit einem feinen Ohr für das relative klangliche Gewicht jeder Note, was ein wesentliches Element für die organische Entwicklung des Werks in einem großen Fluss ist.


    Cembalistisches Feuerwerk sucht man hier vergebens, dafür wird man sanft durch eine an feinsten Schattierungen reiche Wunderwelt geführt, die einen mit wie aufblühend sich entfaltenden warmen Klängen umgibt.


    Nicht Bach für die Insel, eher Bach auf der Insel ;)


    :hello:
    Flo


    Lieber Ben,


    alles vorgemerkt für bessere Zeiten mit mehr Zeit und Kies...


    Die IV. ist übrigens die einzige DRD-Aufnahme die ich kenne. Ich werde sie nochmal mit der Inbal-Aufnahme vergleichen. Mit Partitur in diesem besond'ren Fall, denn normalerweise leiste ich mir keine Partituren, weil ich ja eh' nur mitlesen kann, ich armer halber musikalischer Analphabet - vielleicht sollt' ich mich ja mal einige Monate des CDhörens enthalten und mich stattdessen meinem sträflich vernächlässigten Gehörbildungsprogramm widmen...


    Wenn der Tag doch nur 30 Stunden hätt' :rolleyes:


    Wie dem auch sei, es wird ein brucknerhaltiges 2007!


    Mit den besten Wünschen für selbiges,
    Flo

    Meine ganz persönliche Vorstellung vom reinen Kunstgenuss ist die Auflösung des Selbst in der Kunst - das Ich wird zur Form des Kunsterlebnisses.


    Am intensivsten erlebe ich das beim Kontrabassspielen wenn es mir gelingt, mich aktiv dienend ins Ensemble zu integrieren und die Melodieinstrumente von unten mit Fundament und Energie zu versorgen. Vor allem beim Continuospielen (natürlich mit Darmsaiten und Barockbogen) führt das regelmäßig zu in Worten nicht zu beschreibenden Glückserlebnissen totaler Erlösung von der Individuation.


    Weshalb ich auch meist reich transpirierend von verzückt lächelnd hinter meinem Bass gesichtet werde...


    Völlig unprofessionell.


    Flo

    Lieber Ben,


    ...macht es doch beim Musikwissenschaftlichen Verlag wie beim Mozarteum: dann kann ich auch mit Partitur die Aufnahmen verfolgen (was ich liebend gerne täte, ich würde auch liebend gerne mal eine Art Seminar zu Bruckner-Symphonien besuchen wo man sie Takt für Takt "voranalysiert" bekommt...).


    Ich mag die Aufnahme übrigens, sie gefällt mir besser als Inbal, wenn mir auch der zweite Satz insgesamt zu schnell und ein wenig gehetzt vorkommt. Aber ich kann eben die Interpretation nicht anhand der Partitur kontrollieren, und bin deswegen für Deine fundierten Kritiken immer sehr dankbar. Sollten mehrere von der schreibenden Zunft so machen!



    Flo

    Lieber Christian,


    als COE-Bewunderer (weil sie die Tücken ihres modernen Instrumentariums im Griff haben) habe ich mir die Beethoven-Klavierkonzerte geleistet und bereue den Kauf nicht. Eine konsequent lyrische Version der alten Schlachtrösser, der man die innerlich überzeugte Liebe zum Detail in jedem Takt anhört.


    Manches habe ich spritziger im Ohr, etwa die letzten Sätze der ersten beiden Konzerte, aber warum nicht einmal eine andere Lesart, wenn sie denn so von Herzen kommt wie hier.


    Mir geht sie jedenfalls zu Herzen, und das ist alles, was ich von einer Aufnahme verlange...


    Solo-CDs von ihm habe ich nicht und das wird sich in der nächsten Zeit auch nicht ändern, da weder Zeit noch Budget ausreichen, um alles interessante zu erwerben. Daher bleibt es für mich erstmal bei der Erforschung historischer Instrumente :yes:.


    Aber Aimard und das COE demonstrieren hier nachdrücklich, dass man auch auf modernen Instrumenten eine klanglich und musikalisch ansprechende Interpretation gestalten kann - ganz besonders glücklich bin ich beim COE z.B. mit dem Flötisten, der es tatsächlich schafft, seine Metallquerflöte so umsichtig zu bedienen, dass sie nicht das ganze Holz aus dem Gleichgewicht bringt und mein zartes Trommelfell durchlöchert.


    Was alles nichts daran ändern kann, dass z.B. Schoonderwoerd schon rein vom Instrumentarium her so viele Vorteile hat, dass Aimard immer nur eine interessante Ergänzung sein kann.


    :hello:
    Flo

    Ganz kurz in aller Eile:


    Ronald Brautigam nimmt gerade bei BIS alle Beethovensonaten auf. Im Moment hält er bei Vol. 4. Die Aufnahmen sind über meine Begriffe gut, deswegen schreibe ich da auch nix zu.


    Er spielt auf einer ganz wunderbaren McNulty Kopie nach Walter, ein herrliches Instrument mit einem großen Reichtum an Klangfarben, besonders eindrucksvoll der volle, runde, nachtschwarze Bass. Beethoven gewinnt dadurch und durch sein Spiel m.E. ganz enorm, Kempff, Backhaus, Gulda, Gilels können seitdem bei mir nicht mehr mithalten und ich erwarte sehnsüchtigst die nächsten Folgen.


    Brautigams Spiel lässt sich schlagwortartig als eine Art entspannterer, freierer Gulda charakterisieren, soweit das bisher möglich ist. Für mich der Idealfall:



    Aber bitte mit einem Körnchen Salz nehmen, ich bin momentan dermaßen Fortepiano-begeistert dass ich moderne Instrumente kaum mehr aushalten kann, ich empfinde sie als kalt, klanglich arm und ganz unglaublich brutal im Vergleich.


    Was es auch gibt sind Beethovens 4. und 5. Klavierkonzert mit Schoonderwoerd ebenfalls auf historischen Instrumenten mit atemberaubenden Ergebnissen:



    Für mich Aufnahmen in einer Kategorie für sich, die ich nicht missen möchte und die mein Beethovenverständnis auf ein ganz neues Fundament gestellt haben.


    Und die zwei Beethovenviolinsonaten mit Sepec und Staier



    machen auch ganz furchtbar Lust auf mehr...


    Was für ein Segen, dass man nicht mehr gezwungen ist, sich mit dürren, schlecht restaurierten Schepperkästen oder modernen Edelstahltonschleudern abzufinden!


    Flo

    Also wenn ich's recht bedenke: ich höre nur mit (metaphorisch) offenem Mund, und das "analytische Hirn" kann ich im Rahmen seiner arg beschränkten Möglichkeiten nur reminiszierend anwenden.


    Ich höre bei Musik eigentlich gar nicht so sehr Töne, sondern lebe sehr stark in den Klängen und meinen dadurch erregten Emotionen - stricto sensu höre ich daher gar nicht Musik, sondern erlebe ihre Reflexe in meinem Inneren, es ist eine Art unbewusstes völliges Aufgehen in der Musik, das gar keine abgesonderte Wahrnehmung der Musik als solcher mehr zulässt.


    Sehr schwarmgeistig ;).


    :hello:
    Flo

    Liebe Sophia, lieber Ulli,


    da seid Ihr nicht allein - aber antiquarisch sind die Gesamtausgaben von 1839 bzw. 1859 nicht besonders teuer.


    Schaut alternativ wal bei Wiki, da ist ein Link zur Arno Schmidt-Gesellschaft, die haben Wieland komplett als Faksimile ins Netz gestellt, kostenfrei.


    Ich wünsche mir vor allem, dass ich um Weihnachten rum mal wieder zum Lesen komme - und Wieland steht da ganz oben auf der Liste.


    :hello:


    Flo

    Also ich konstruiere die Kunst- und Religionsfreiheit durchaus so weit dass ein Mensch das Recht hat, zu glauben, er habe mit Bruckner "gechannelt".


    So lange er kein Pogrom auf Wissenschafter ausruft ;)


    Bedenklich wird es für mich eher, wenn man so einem Ansatz die Berechtigung abzusprechen versucht: da ist es dann mit der Freiheit nicht mehr weit her - denn der Rationalismus kann am falschen Ort auch in Sektierertum oder Schlimmeres ausarten.


    :hello:
    Flo

    Lieber Blackadder,


    dann sind wir uns einig - ich sehe gerade, dass ich mich missverständlich ausgedrückt bzw. zu sehr auf den Kontext vertraut habe: ich wollte natürlich keineswegs die Kunst als umfassendes Mittel der Welterkenntnis propagieren, sondern nur sagen, dass sich in der Kunst selbst das Wesentliche der emotionalen Wirkung (die Eichendorff'sche Seele die ihre Flügel ausspannt und nach Haus fliegt) nicht ausschließlich wissenschaftlich erklären lässt.


    Und gleich zur Klarstellung:


    NATÜRLICH leistet die Wissenschaft in der Kunst extrem wichtige Beiträge - ich als hardcore-HIPist könnte schwerlich etwas anderes vertreten. Nur: sie ist eben nicht alles in der Kunst.


    :hello:
    Flo

    Lieber Ben,


    da hüpft mir ja das Herz im Leibe: was hat denn meine ganz persönliche Bewunderung oder nicht-Bewunderung Deiner künstlerischen (unabhängig von Deiner wissenschaftlichen) Leistung mit der Frage zu tun, ob Eure Leistung eine rein wissenschaftliche oder (was sie natürlich ist!) auch eine künstlerische ist???


    Ich halte daher Deinen aus meiner Äußerung gezogenen Umkehrschluss für nichts weniger als zwingend.


    Lieber Ben,


    bitte - warum muss sich beides denn per se ausschließen?


    ?(


    Flo

    Zitat

    Original von ben cohrs
    Lieber Barockbassflo:
    Damit sprechen Sie allerdings unserer Arbeit jegliche künstlerische Inspiration ab. Besten Dank auch... :kotz:


    Nein, wie kommst Du denn darauf? Habe ich das irgendwo geschrieben?


    Zitat

    Ich kann nur noch einmal darauf hinweisen, daß die wissenschaftliche Grundlage das eine ist; auf der anderen Seite ist Nicola Samale nicht nur Dirigent, sondern auch ein guter, erfahrener und in Italien sehr erfolgreicher Komponist, der gerade die Urauffühurung seiner sechsten Oper vorbereitet... :yes:


    Wer bestreitet denn das?


    Zitat

    Natürlich ist es bei aller nur erdenklicher Sorgfalt in der Methode unerläßlich, sich in Bruckners Geisteswelt einzufühlen -- worum wir nunmehr seit über 20 Jahren prozesshaft bemüht sind. Wenn Sie uns dieses Einfühlungsvermögen absprechen (wie es auch Herr Marthe tut), machen Sie sich genau jener Methode schuldig, derer Sie mich bezichtigen. :angry:


    Ich würde Deine Wut ja verstehen, wenn es denn so wäre - aber über Deine und Deiner Mitstreiter künstlerische Inspiration habe ich doch gar nichts gesagt? Warum sollte ich bestreiten wollen, dass man auf wissenschaftlicher Basis inspiriert arbeiten kann?


    Wo habe ich denn irgendwem das Einfühlungsvermögen abgesprochen?



    Lieber Ben,


    wer täte das nicht? Im Ernst, das ist doch eine Grundherausforderung der menschlichen Existenz!


    Und bitteschön, ich stelle alles mögliche in Frage, aber sicher nicht die Vernunft - man muss sich nur ihrer Grenzen bewusst sein.


    Ich verstehe wirklich wirklich wirklich nicht, warum man sich in diesen Fragen nicht einfach vertragen kann.


    Ich hab' halt einfach gern soviel Bruckner wie nur möglich: Karajanbruckner, Jochumbruckner, Furtwänglerbruckner, Cohrsbruckner, Marthébruckner - mir gibt (fast) alles irgend etwas und bereichert mich.


    Betrübte Grüße,
    Flo

    Lieber Blackadder,


    genau!


    Was ich meine ist nur: die Tatsache, dass Peter Jan Marthé sich auf rational nicht nachvollziehbare und damit auch nicht kritisierbare Inspiration beruft hat zwei Seiten.


    Erstens kann er damit natürlich keinen Geltungsanspruch auf wissenschaftlicher Grundlage erheben - und das will er ja auch gar nicht.


    Zweitens kann auf diese irrationale Weise aber immer noch ein vollwertiges Kunstwerk entstehen, genauso wie eine ergreifende Interpretation eines Notentextes auf wissenschaftlicher Erkenntnis aufgebaut sein kann, aber nicht sein muss.


    Wogegen ich mich wende ist jedes Ausschließlichkeitsdenken.


    Genausowenig wie Peter Jan Marthé seinen Bruckner wissenschaftlich beweisen könnte wenn er es denn wollte kann man den musikalischen Wert davon wissenschaftlich widerlegen.


    Und ich kann mir nicht helfen: der Wesenskern der Kunst liegt für mich im Irrationalen.


    Wobei ich selbst keinerlei Notwendigkeit sehe, hier zu wählen: mich ergreift Peter Jan Marthés Bruckner genauso mächtig wie mich die Cohrs et al. - Rekonstruktion interessiert. Ich bewundere die wissenschaftliche Leistung von Herrn Cohrs, was mich aber nicht daran hindert, die künstlerische Leistung von Peter Jan Marthé zu bewundern.


    Ich finde es einfach nur traurig, dass hier so ein völlig überflüssiger Grabenkrieg geführt wird, wo doch beide Standpunkte sich nicht einmal berühren.


    Eine Debatte "Religion" (im weitesten Sinne) gegen Wissenschaft kann hier gar nicht geführt werden, es fehlt am tauglichen Objekt!


    Herzlich,
    Flo

    Zitat

    Original von ben cohrs
    Nun -- eine solche Reaktion war zu erwarten und spricht wiederum für sich. :no:


    (...) [E]ine andere Welt führen, in der es so profane Dinge wie Partituren und Meinungen anderer nicht mehr gibt ... :D


    ... und wir Armseligen hier unten haben dann endlich unsere Ruhe... :jubel:


    :hahahaha:


    Die hochwissenschaftliche Ruhe zwischen Bibliotheksregalen, wo Mensch und Kunst auf die rational nachvollziehbare Seite beschränkt sind und wo Inspiration und Emotion keinen Platz hat.


    Nicht einmal in der Kunst.


    Und für die Toleranz gegenüber allem, was man nicht rational beweisen kann, gibt es auch keinen Platz.


    Gerade nicht in der Kunst.


    Genausowenig wie für die Erkenntnis, dass gerade die vernünftige Überlegung es gebietet, hier Toleranz walten zu lassen: der wissenschaftliche Ansatz und der inspirierte Ansatz in der Kunst schließen sich nur für den radikal aus, der nicht fähig ist, das eigene Tun und Denken zu relativieren. Kunst kann wissenschaftlich-rational gesehen werden, muss das aber nicht.


    Ich dachte, es hätte da so vor 250 Jahren im fernen Königsberg so eine beperückte Figur gegeben, die sich recht hingebungsvoll und Aufschlussreich mit solchen Dingen beschäftigt hätte...


    Nein, Ben, die Kunst ist größer, weiter und reicher als die Wissenschaft, und auf der Welt gibt es wenigstens in der Kunst genug Platz für alle.


    Wer sich auf Inspiration beruft, riskiert im Misslingensfalle, Unglauben zu ernten.


    Wer sich auf die Vernunft beruft, riskiert im Misslingensfalle, seine radikale Beschränktheit zu offenbaren.


    Es fragt sich schon sehr, wessen Reaktion hier wofür spricht und wer hier die größeren Probleme hat, andere Meinungen zu akzeptieren.


    Ein trauriges Schauspiel:


    „Daran erkenn´ ich den gelehrten Herrn!
    Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern,
    Was ihr nicht fasst, das fehlt euch ganz und gar,
    Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei nicht wahr,
    Was ihr nicht wiegt, hat für euch kein Gewicht,
    Was ihr nicht münzt, das meint ihr, gelte nicht.“


    :hello:
    Flo

    Vor Jahren hatte ich die IX. Symphonie von Bruckner (noch ohne Finale) mehrere Male unter der Leitung von Peter Jan Marthé in seinem Orchester mitspielen dürfen. Eine tief bereichernde und sicher prägende Erfahrung für mich, die meine Erwartungen an die aktuelle CD fast unerfüllbar hoch geschraubt hat, ist doch der emotionale Eindruck beim aktiven Spielen von ganz anderer Intensität als beim bloßen Hören.


    Entsprechend schwer habe ich mich irritierenderweise nach einem überwältigenden ersten Höreindruck zunächst bei weiteren Hördurchgängen mit der Aufnahme auch getan, denn selbstredend hat sich in der Zwischenzeit auch Peter Jan Marthés Gestaltung dieses Werks verändert. So habe ich denn einige Durchgänge gebraucht, um mich von den Erinnerungen lösen und den neuen Eindrücken öffnen zu können.


    Das Ergebnis lässt sich in schlichte Worte fassen:


    Lieber Herr Marthé, vielen Dank für diese tief berührende Musik!


    Schwierig wird’s bei der Frage, was mich denn nun warum so tief berührt hat.


    Zunächst ein paar Erinnerungen an den Dirigenten Peter Jan Marthé.


    So mancher Leser der bisherigen Beiträge versucht vielleicht, durch all den Pulverdampf hindurch ein Bild zu machen von dieser polarisierenden Figur Peter Jan Marthé, die in einigen Beiträgen wie ein Fall von mediengerecht inszenierten, aggressiven Obskurantismus erscheint. Ein Bild, das ich nicht bestätigen kann. Ich habe unter Peter Jan Marthé neben anderen Werken die Bruckner-Symphonien V, VII, VIII und IX spielen dürfen und kenne ihn als einen Dirigenten, für den weder die Selbstdarstellung noch das bedruckte Papier auf den Notenständern im Vordergrund stehen, sondern die Musik als dasjenige, was mit den notierten Tönen gemeint ist. Es ging ihm immer sehr stark darum, dass wir jungen Musiker nicht einfach gekonnt die Töne abspulen, sondern dass wir lebende Klänge produzieren. Dass wir die Musik nicht professionell-distanziert spielen, sondern dass wir sie leben. Ich kann mich in diesen Zusammenhang auch erinnern, dass es manchmal einiger Mühe bedurfte, um uns aus den uns eintrainierten Mustern zu reißen und uns begreifen zu lassen, dass „Ausdruck“ nicht etwas ist, was man der Musik wohldosiert und geschmackvoll hinzufügt, sondern dass der Ausdruck das Wesen der Musik ist. Zum Erreichen dieses Zwecks bediente er sich eines reichen Schatzes sprechender Metaphern für den von ihm gewollten Ausdruck.


    Hinzu kommt seine ganz außergewöhnliche Sensibilität für den Klang als solchen. Sein Hinweis auf das von ihm in Indien praktizierte lange meditative Singen eines einzigen Tones erklärt mir dies rückblickend: oft begann er unsere Proben mit einer kurzen Konzentrationsübung für das versammelte Orchester, der eine gemeinsame Einspielübung folgte, in der wir langsam einen Akkord aufbauten und lange, lange aushielten – bei 120 Musikern und guter Intonation ergeben sich dann sehr schnell ganz unglaubliche, irisierende Obertonkaskaden, die ein ganz neues Gefühl für den Gesamtklang und für das Spielen im Ensemble erzeugen und die Musiker klanglich und intonatorisch ganz enorm sensibilisieren können.


    In seinen Konzerten habe ich auf diesen Fundamenten aufgebaute Erlebnisse von einer Intensität gehabt, die ich in Worten nicht beschreiben kann. Es gab nie ein fest einstudiertes Ablaufschema des jeweiligen Werks, in jedem Konzert gingen wir aufs neue gemeinsam auf die Reise, die uns immer wieder auf neuen Wegen zum Ziel führte – es ist ein Erlebnis ganz eigener Qualität, wenn ein riesiges Orchester zu einem großen Organismus zusammenwächst und im Konzert dann einzelne Stellen sich auf einmal völlig anders entwickeln als bisher, wenn das ganze Orchester und der Dirigent zu einer großen Einheit mit dem Publikum und dem Klang im Raum werden und sich dieses unbegreifliche Gefühl einstellt, das nur der kennt, der selbst schon einmal Ähnliches erlebt hat.


    Möglich ist so etwas nur mit einem Dirigenten, der sein Handswerkszeug beherrscht und gleichzeitig offen ist, der sich tragen lassen kann von so einem plötzlich eintretenden Zustand, ohne die Kontrolle zu verlieren oder diesen Zustand durch sein Eingreifen zu zerstören indem er das Orchester „aufweckt“.


    Für mein Empfinden spielt man in solchen Momenten die Musik nicht mehr, man „ist“ die Musik. Peter Jan Marthé wusste solche Momente in großer Zahl und Ausdehnung zu erreichen.


    Diese Qualitäten finde ich in weiter gereifter Form in der Aufnahme wieder.


    Natürlich sind die Tempi der ersten drei Sätze langsam, wenn man sie in Metronomziffern ausdrückt. Ich halte das aber für ein musikalisch zweifelhaftes Kriterium, denn das gefühlte Tempo ist eine hochkomplexe Sache, die viel damit zu tun hat, wie die Musik gestaltet ist. Peter Jan Marthé legt äußersten Wert auf die klanglichen Aspekte, und ein entsprechend reicher und differenzierter Klang braucht dann einerseits mehr Raum, wirkt aber andererseits nicht „zu langsam“, weil der Verlust an Metronom-Tempo durch einen Gewinn an akustischer Information ausgeglichen wird.


    In ähnlicher Weise empfinde ich Peter Jan Marthés Lesart auch keinesfalls als kontrastarm oder geglättet. Es ist nur so, dass er bei den großen Ausbrüchen weniger mit klanglicher Härte und Schärfe arbeitet, sondern mit Klangvolumen, also ein anderes Mittel einsetzt. Auf CD ist natürlich die Klangfarbe effektiver zu transportieren, aber wenn man sich in die spezifische Klangsprache einhört merkt man sehr schnell, dass da keinesfalls Dinge verschwiegen werden, es wird eben nur in einer anderen Klangsprache gesagt. Über die man selbstredend streiten kann.


    Allerdings passt die Dramatik durch Fülle auf fast schon unheimliche Weise in den Kirchenraum von St. Florian. Ein Beispiel: lange hatte ich Probleme mit den Brucknerschen Scherzi, ich wusste einfach nicht, was ich mit dieser „polternden“ Musik anfangen sollte. Wozu doch diese pralle Sinnlichkeit in solch sakralem Rahmen? Dann habe ich sie unter Peter Jan Marthé in St. Florian erlebt, und auf einmal passte alles zusammen. Der Gegensatz bestand nur in meiner Fehlvorstellung: St. Florian als barocke Kirche zeigt geradezu exemplarisch, dass Sinnenfreude, überbordende Fülle. monumentale Pracht ebensogut Elemente transzendentaler Erfahrung sein können wie Schlichtheit und Askese. Es ist dieser barock katholische Aspekt Bruckners, den Peter Jan Marthé meiner Meinung nach sehr zu Recht zu voller Geltung bringt.


    In diesem Geiste empfinde ich die ersten drei Sätze als ganz außerordentlich gelungen, Details können wir dann bei Bedarf im weiteren Verlauf erörtern.


    Und das Finale?


    Hier wird die Sache noch einmal schwieriger, denn auf einmal geht es nicht mehr um Details der Interpretation eines als gültig vorausgesetzten Textes, sondern es ist eine Stellungnahme verlangt zum Werk als solchem. Da ist zumindest meine musiktheoretisch unzureichend bewehrte Hilflosigkeit groß, so dass ich nur sagen kann: natürlich ist der letzte Satz „anders“ als die ersten drei, aber ich empfinde ihn als einen folgerichtig entwickelten, das ganze Werk krönenden, vollwertig neben den ersten Sätzen stehenden Satz – eigener Art, aber auch eigenen und vollen Rechts. Und seine Andersartigkeit empfinde ich nicht als einen sinnwidrigen Bruch, sondern als stimmige Antwort auf die ersten drei Sätze.


    In summa: eine große Leistung, die ich dankbar bewundernd meiner Sammlung einverleibe.


    Davor verblasst dann für mich auch die aktuelle Kontroverse um Peter Jan Marthé in diesem Forum, was nicht heißt, dass ich sie nicht interessiert verfolge. Und immer mal wieder schmunzeln muss, wenn Ben leicht „angefressen“ mit Fakten um sich wirft und inquisitorische Fragen stellt oder laut lachen wenn Edwin eine seiner brillanten Salven abfeuert…


    Ich kann dazu nur sagen: ich halte Peter Jan Marthé nicht für einen abgebrühten PR-Strategen, sondern für einen hochsensiblen Künstler. Und für Transzendenz bin ich nicht zuständig. Aber wenn es einen gibt, dem ich glaube, dass er selbst glaubt, dass Bruckner ihm den Auftrag erteilt hat: dann ist das Peter Jan Marthé.


    Aber das schöne ist ja: es handelt sich hier um Musik, und ein Kunstwerk muss ja nicht aus rational nachprüfbaren Quellen strömen, um ein vollwertiges Kunstwerk zu sein!


    Was mir den Luxus ermöglicht, mich in dieser Debatte auf allen Seiten wiederzufinden: ich freue mich an Edwins Fechtkünsten und daran, dass er seine Auffassung genauso mit heiligem Ernst verteidigt wie Peter Jan Marthé, ich studiere Bens Postings und hoffe, dass es bald eine CD seines aktuellen Forschungsstandes geben wird und gleichzeitig bin ich hellauf begeistert von und tief dankbar für Peter Jan Marthés Leistung.


    Es ist doch wunderbar, dass Musik und Nachdenken über Musik so enorm vielfältig sein kann, ohne dass sich die Extreme ausschließen müssen.


    :hello:
    Flo

    Lieber Alfred, lieber Paul,
    vielleicht wird es ja auch im Konzertleben so wie auf dem Tonträgermarkt, dass es ein buntes Nebeneinander der verschiedensten Auffassungen gibt.


    Für die historische Aufführungspraxis gibt es noch wesentliche Teile des 19. Jh. zu erobern - ich warte z.B. sehnsüchtigst auf Verdi, mehr Wagner, Mahler auf Instrumenten ihrer Zeit. Bruno Weil und Philippe Herreweghe sind da schon ein gutes Stück vorangekommen, und mit sehr vielversprechenden Ergebnissen (hoffentlich vollendet Herreweghe bald seinen Bruckner-Zyklus und nimmt Weil bald mal eine Verdi-Oper auf!).


    Hinsichtlich von HIP weist das Chamber Orchestra of Europe meines Erachtens in eine glänzende Zukunft - wenn man's so gut macht, ist das ganze kein fauler Kompromiss mehr, sondern klingt einfach nur ziemlich gut. Vor ein paar Tagen haben sie hier in London Beethoven VII gespielt, moderne Instrumente, allerdings historische Trompeten (die trotzdem alles kurz und klein geblasen haben; das war aber auch der einzige Schwachpunkt), alles wunderbar transparent, (meist) vorbildliche Klangbalance und einfach sehr musikalisch gespielt.


    Und ich weiß nicht, lieber Paul, ob Herr Thielemann in München nicht eines Tages eine schwer mengelbergisierende Matthäuspassion auf die Bühne des Gasteigs stellen wird... Er verkauft sich jedenfalls sehr erfolgreich als Vertreter der romantisch-opulenten Schule.


    Ich denke, dass jede Richtung je nach Größe und Solvenz ihres Publikums sich in ihrer Nische etablieren wird und dass wir im Konzert wie auf Tonträgern ein stets breiteres Spektrum bekommen werden.


    Und wie breit dieses Spektrum sein kann, sehen wir ja an der aktuellen Bruckner IX-Situation: immerhin und glücklicherweise gelingt es ja beiden Parteien, ihren jeweiligen Extremstandpunkt aufzuführen: wenn das nicht ein paradiesischer Zustand ist!


    Ich blicke jedenfalls dankbar auf die Gegenwart und sehr optimistisch in die Zukunft...
    Flo

    Im Moment Stokowskis vierte Mendelssohn:



    Trotz modernen Instrumentariums eine unglaublich vitale, fein durchgehörte, klangsinnliche, lebendig phrasierte, pulsierend atmende "Italienische".


    Danach gibt's dann noch zum wiederholten Male Marthés neunte Bruckner:



    Ebenfalls äußerst klangsinnlich, aber - der Musik angemessen - wesentlich intensiver im Ausdruck, dabei nicht weniger fein ausbalanciert und wunderbar ausdrucksvoll "gesungen".


    Je öfter ich die Aufnahme höre (und im Geiste auffülle mit allerlei schönen Erinnerungen), desto mehr halte ich Herrn Marthé mit einer seltenen Kombination der besten Eigenschaften Stokowskis und - Celibidaches begabt: menschliche Kathedralen der Klänge mit ekstatischem Klangsinn errichtet und von Leidenschaft beseelt.


    Welterusten,
    Flo

    Zitat

    Original von sagitt
    Sagitt meint:


    hatte ich schon geheult, weil Staier und concerto Köln nur vier Mozart-Konzerte eingespielt haben ?


    Lieber sagitt,


    vielleicht tröstet Dich ja



    die Einspielung mit Jos van Immerseel und seinem Orchester Anima Eterna ein wenig?


    Die frühdigitale Tonqualität lässt leider den Obertonreichtum des Fortepianos nicht voll zur Geltung kommen, aber (technisch) akzeptabel klingen diese mich jedenfalls musikalisch voll befriedigenden Aufnahmen dann doch.


    :hello:
    Flo

    Lieber Edwin,


    auch von mir herzlichen Dank für die Leseliste - mal schaun, was sich davon auftreiben lässt, denn ich habe eine große Schwäche für alles austrikisierende ;).


    Und das mit Doderers Sprache wird halt wieder mal so eine von den berühmten Geschacks- und Empfindensfragen sein, denn wie gesagt: ich würd' mir am liebsten von jeder Seite was unauslöschlich ins Hirnchen brennen um es parat zu haben...


    Lieber GiselherHH,


    ja, der Gaulschreck hat schon was - fröhlich apokalyptische Rokokotändelei feinster Sorte, die ich sehr genossen habe. Aber zu Doderer komme ich öfter zurück - im Moment stehe ich auf der Hälfte der Erleuchteten Fenster (die mir im Moment nach einer Art Vorübung für die Strudlhofstiege aussehen).


    Flo

    Lieber Observator,


    wie es scheint habe ich da noch einiges aufzuholen an Doderer-Lektüre – hätte ich damals doch gleich die C.H. Beck Kassette mit dem Gesamtwerk kaufen sollen…


    Auch die Biographie sowie das ABC kenne ich nicht – lohnt sich die Anschaffung bzw. gibt es bei Doderer-Biographen eine dem Fall Karajan vergleichbare Aufspaltung in Hagiographen und Vollverächtern?


    Wenn die Biographie gut ist werde ich sie sicher auch auf die Liste setzen, denn die näheren Lebensumstände dieses Autors würden mich schon interessieren.


    Lieber (von mir nicht als aggressiv empfundener) Johannes,


    der „genius loci“ insbesondere der Strudlhofstiege (incl. des Frl. Paula Schachl als der Dryas derselbigen) wird auch im Roman selbst oft beschworen – aber Doderer leistet ebenso wie die von Dir erwähnten Autoren die literarische Vergegenwärtigung des genius loci. Das Wien wie Doderer es beschreibt hat es so ja nie gegeben, von den Äußerlichkeiten abgesehen…


    Aber Doderer braucht (ähnlich wie Johnson) beim ersten Durchgang enorm viel Geduld – das ist genau was ich meinte mit dem Fehlen von „action“: er verfolgt nicht einen Erzählfaden sondern webt ein buntes Geflecht aus kurzen Fädchen. Die für mich einzig mögliche Lesehaltung ist dem Melzerischen Kèf vergleichbar, nur dass in diesem Falle Doderer selbst die legale Droge für den „Denkschlaf“ darstellt. Um ihn genießen zu können muss ich mich quasi treiben lassen auf dem Doderer-Meer und diese herrliche Sprache und seine spielerisch raffinierte Ironie in ihrem eigenen Tempo auf mich wirken lassen. Und das klappt auch bei mir selbsterklärtem Doderer-Enthusiasten nur für eine begrenzte Anzahl von Seiten am Tag, ähnlich wie bei Wielands schriftgewordenen Tagträumen. Im Kern ist Doderer wohl Epos gewordene Lyrik – mehr Schubert als Beethoven gewissermaßen ;).


    Wobei es eigentlich auf jeder Seite (und es sind deren 909) mindestens eine Wendung gibt die ich am liebsten auswendig lernen würde: „das Heilige Bayerische Reich Preußischer Nation“ etwa (für mich als Isar-Preiß’n natürlich ein besonderes Schmankerl) oder die abschließende Diagnose des Amtsrates Julius Zihal: „Glücklich ist vielmehr derjenige, dessen Bemessung seiner eigenen Ansprüche hinter einem diesfalls herabgelangten höheren Entscheid so weit zurückbleibt, daß dann naturgemäß ein erheblicher Übergenuß eintritt“ oder Doderers Diagnose der schriftstellerischen Ausgangsbasis in der Gegenwart: „Wir können nicht mehr in römischer Quadrata schreiben. Gut schaun wir aus [ironisch gemeint].“ und so weiter und so weiter ad infinitum…


    Und Melzer ist, solcherart genossen, alles andere als ein langweiliger Charakter, ganz im Gegenteil. Um ihn kreisen die Ereignisse, im melzerischen Spiegel brechen sich die Reflexe der mit dramatischerem Eigenleben ausgestatten Charaktere (wie René oder Etelka oder dem Durchbrecher Negria), jedoch nicht ohne ihre Spuren zu hinterlassen und Melzers aufkeimendem „Zivil-Verstand“ Nahrung zu geben. Nicht umsonst ist der Untertitel ja auch „Melzer und die Tiefe der Jahre“!


    Am End’ bleibt aber der Ton der Schlüssel – und wenn einem der nicht zusagt, dann bleibt die Türe zum Doderer’schen Universum eben zu. Was zu verschmerzen ist, es gibt schließlich auch ohne Doderer mehr Bücher als man in einem Leben in sich aufnehmen kann…


    Trotzdem und deswegen: sollen/können wir einen Doderer-Thread eröffnen?


    Austrophile Grüße,
    Flo

    Lieber Observator,


    die Dämonen haben mir auch schon einiges Lesevergnügen verschafft, wenn ich sie auch stellenweise deutlich schwächer finde als die Strudlhofstiege.


    Soeben vom Buchhändler geholt habe ich



    hauptsächlich wegen der Menschwerdung des Amtsrates.


    Ansonsten kenne ich noch die Merowinger, dieses burleske Häufchen Nonsens - ich fand's nett zu lesen, aber hatte bisher nicht das Bedürfnis, die Lektüre zu wiederholen.


    Die Wasserfälle von Slunj und Frühwerk sowie Tagebücher kenne ich noch gar nicht und wäre für jeden Hinweis dankbar.


    Ich bin halt einfach verliebt in seine Sprache, aber man muss schon in sehr entspannter Grundverfassung sein um seine Romane genießen zu können, sonst treibt einen der Mangel an "action" völlig zur Verzweiflung. Aber für stillere Stunden geht für mich nicht viel über seinen sprachlichen und gedanklichen Reichtum und seinen kaustischen, auf feinen Beobachtungen aufbauenden Witz!


    Ich melde mich dann, wenn ich mit der Strudlhofstiege durch bin und die erleuchteten Fenster gelesen habe...


    Aus still gefräßigem Idyll grüßt
    Flo

    Zum bestimmt vierten Mal lese ich gerade:



    Heimito von Doderer, die Strudlhofstiege.
    Ich weiß, auch so ein skrupelloser Karriere-PG, aber schreiben hat er halt schon können. Und wie.


    Ein sonnenhelles Monstrum das nur so strotzt vor genial-austriakisch charmanten Wendungen. Herrlich zum genießen der Sprache und des Wiener Lokalkolorits: satirisch-psychologisch gewürzter Eskapismus pur.


    Kommt jedenfalls für mich gleich nach Uwe Johnson und weit weit vor Thomas Mann...


    Flo

    Lieber Herbert,


    obwohl nicht Deiner Meinung kann ich Dich sehr gut verstehen - es kommt halt darauf an, wie man es empfindet. Es lebe die Vielfalt!


    Lieber Johannes,


    ja, leider stimmt das mit der Tonqualität - aber für Azetate von 1934 geht es eigentlich.


    Die Raucheisen-Edition habe ich mir erst vor ein paar Tagen kommen lassen und werde in der nächsten Zeit immer mal wieder meine Eindrücke mitteilen. Das dürfte dann ja automatisch zu einer Erörterung der Brahms-Lieder führen.


    Ich freue mich jedenfalls schon auf den Meinungsaustausch!
    Flo

    Joseph Freiherr von Eichendorff
    Sängerleben:


    Zweifel


    Könnt es jemals denn verblühen,
    Dieses Glänzen, dieses Licht,
    Das durch Arbeit, Sorgen, Mühen
    Wie der Tag durch Wolken bricht,
    Blumen, die so farbig glühen,
    Um das öde Leben flicht?

    Golden sind des Himmels Säume,
    Abwärts ziehen Furcht und Nacht,
    Rüstig rauschen Ström und Bäume
    Und die heitre Runde lacht,
    Ach, das sind nicht leere Träume,
    Was im Busen da erwacht!

    Bunt verschlingen sich die Gänge,
    Tost die Menge her und hin,
    Schallen zwischendrein Gesänge,
    Die durchs Ganze golden ziehn,
    Still begegnet im Gedränge
    Dir des Lebens ernster Sinn.

    Und das Herz denkt sich verloren,
    Besser andrer Tun und Wust,
    Fühlt sich wieder dann erkoren,
    Ewig einsam doch die Brust.
    O des Wechsels, o des Toren,
    O der Schmerzen, o der Lust!