Vor Jahren hatte ich die IX. Symphonie von Bruckner (noch ohne Finale) mehrere Male unter der Leitung von Peter Jan Marthé in seinem Orchester mitspielen dürfen. Eine tief bereichernde und sicher prägende Erfahrung für mich, die meine Erwartungen an die aktuelle CD fast unerfüllbar hoch geschraubt hat, ist doch der emotionale Eindruck beim aktiven Spielen von ganz anderer Intensität als beim bloßen Hören.
Entsprechend schwer habe ich mich irritierenderweise nach einem überwältigenden ersten Höreindruck zunächst bei weiteren Hördurchgängen mit der Aufnahme auch getan, denn selbstredend hat sich in der Zwischenzeit auch Peter Jan Marthés Gestaltung dieses Werks verändert. So habe ich denn einige Durchgänge gebraucht, um mich von den Erinnerungen lösen und den neuen Eindrücken öffnen zu können.
Das Ergebnis lässt sich in schlichte Worte fassen:
Lieber Herr Marthé, vielen Dank für diese tief berührende Musik!
Schwierig wird’s bei der Frage, was mich denn nun warum so tief berührt hat.
Zunächst ein paar Erinnerungen an den Dirigenten Peter Jan Marthé.
So mancher Leser der bisherigen Beiträge versucht vielleicht, durch all den Pulverdampf hindurch ein Bild zu machen von dieser polarisierenden Figur Peter Jan Marthé, die in einigen Beiträgen wie ein Fall von mediengerecht inszenierten, aggressiven Obskurantismus erscheint. Ein Bild, das ich nicht bestätigen kann. Ich habe unter Peter Jan Marthé neben anderen Werken die Bruckner-Symphonien V, VII, VIII und IX spielen dürfen und kenne ihn als einen Dirigenten, für den weder die Selbstdarstellung noch das bedruckte Papier auf den Notenständern im Vordergrund stehen, sondern die Musik als dasjenige, was mit den notierten Tönen gemeint ist. Es ging ihm immer sehr stark darum, dass wir jungen Musiker nicht einfach gekonnt die Töne abspulen, sondern dass wir lebende Klänge produzieren. Dass wir die Musik nicht professionell-distanziert spielen, sondern dass wir sie leben. Ich kann mich in diesen Zusammenhang auch erinnern, dass es manchmal einiger Mühe bedurfte, um uns aus den uns eintrainierten Mustern zu reißen und uns begreifen zu lassen, dass „Ausdruck“ nicht etwas ist, was man der Musik wohldosiert und geschmackvoll hinzufügt, sondern dass der Ausdruck das Wesen der Musik ist. Zum Erreichen dieses Zwecks bediente er sich eines reichen Schatzes sprechender Metaphern für den von ihm gewollten Ausdruck.
Hinzu kommt seine ganz außergewöhnliche Sensibilität für den Klang als solchen. Sein Hinweis auf das von ihm in Indien praktizierte lange meditative Singen eines einzigen Tones erklärt mir dies rückblickend: oft begann er unsere Proben mit einer kurzen Konzentrationsübung für das versammelte Orchester, der eine gemeinsame Einspielübung folgte, in der wir langsam einen Akkord aufbauten und lange, lange aushielten – bei 120 Musikern und guter Intonation ergeben sich dann sehr schnell ganz unglaubliche, irisierende Obertonkaskaden, die ein ganz neues Gefühl für den Gesamtklang und für das Spielen im Ensemble erzeugen und die Musiker klanglich und intonatorisch ganz enorm sensibilisieren können.
In seinen Konzerten habe ich auf diesen Fundamenten aufgebaute Erlebnisse von einer Intensität gehabt, die ich in Worten nicht beschreiben kann. Es gab nie ein fest einstudiertes Ablaufschema des jeweiligen Werks, in jedem Konzert gingen wir aufs neue gemeinsam auf die Reise, die uns immer wieder auf neuen Wegen zum Ziel führte – es ist ein Erlebnis ganz eigener Qualität, wenn ein riesiges Orchester zu einem großen Organismus zusammenwächst und im Konzert dann einzelne Stellen sich auf einmal völlig anders entwickeln als bisher, wenn das ganze Orchester und der Dirigent zu einer großen Einheit mit dem Publikum und dem Klang im Raum werden und sich dieses unbegreifliche Gefühl einstellt, das nur der kennt, der selbst schon einmal Ähnliches erlebt hat.
Möglich ist so etwas nur mit einem Dirigenten, der sein Handswerkszeug beherrscht und gleichzeitig offen ist, der sich tragen lassen kann von so einem plötzlich eintretenden Zustand, ohne die Kontrolle zu verlieren oder diesen Zustand durch sein Eingreifen zu zerstören indem er das Orchester „aufweckt“.
Für mein Empfinden spielt man in solchen Momenten die Musik nicht mehr, man „ist“ die Musik. Peter Jan Marthé wusste solche Momente in großer Zahl und Ausdehnung zu erreichen.
Diese Qualitäten finde ich in weiter gereifter Form in der Aufnahme wieder.
Natürlich sind die Tempi der ersten drei Sätze langsam, wenn man sie in Metronomziffern ausdrückt. Ich halte das aber für ein musikalisch zweifelhaftes Kriterium, denn das gefühlte Tempo ist eine hochkomplexe Sache, die viel damit zu tun hat, wie die Musik gestaltet ist. Peter Jan Marthé legt äußersten Wert auf die klanglichen Aspekte, und ein entsprechend reicher und differenzierter Klang braucht dann einerseits mehr Raum, wirkt aber andererseits nicht „zu langsam“, weil der Verlust an Metronom-Tempo durch einen Gewinn an akustischer Information ausgeglichen wird.
In ähnlicher Weise empfinde ich Peter Jan Marthés Lesart auch keinesfalls als kontrastarm oder geglättet. Es ist nur so, dass er bei den großen Ausbrüchen weniger mit klanglicher Härte und Schärfe arbeitet, sondern mit Klangvolumen, also ein anderes Mittel einsetzt. Auf CD ist natürlich die Klangfarbe effektiver zu transportieren, aber wenn man sich in die spezifische Klangsprache einhört merkt man sehr schnell, dass da keinesfalls Dinge verschwiegen werden, es wird eben nur in einer anderen Klangsprache gesagt. Über die man selbstredend streiten kann.
Allerdings passt die Dramatik durch Fülle auf fast schon unheimliche Weise in den Kirchenraum von St. Florian. Ein Beispiel: lange hatte ich Probleme mit den Brucknerschen Scherzi, ich wusste einfach nicht, was ich mit dieser „polternden“ Musik anfangen sollte. Wozu doch diese pralle Sinnlichkeit in solch sakralem Rahmen? Dann habe ich sie unter Peter Jan Marthé in St. Florian erlebt, und auf einmal passte alles zusammen. Der Gegensatz bestand nur in meiner Fehlvorstellung: St. Florian als barocke Kirche zeigt geradezu exemplarisch, dass Sinnenfreude, überbordende Fülle. monumentale Pracht ebensogut Elemente transzendentaler Erfahrung sein können wie Schlichtheit und Askese. Es ist dieser barock katholische Aspekt Bruckners, den Peter Jan Marthé meiner Meinung nach sehr zu Recht zu voller Geltung bringt.
In diesem Geiste empfinde ich die ersten drei Sätze als ganz außerordentlich gelungen, Details können wir dann bei Bedarf im weiteren Verlauf erörtern.
Und das Finale?
Hier wird die Sache noch einmal schwieriger, denn auf einmal geht es nicht mehr um Details der Interpretation eines als gültig vorausgesetzten Textes, sondern es ist eine Stellungnahme verlangt zum Werk als solchem. Da ist zumindest meine musiktheoretisch unzureichend bewehrte Hilflosigkeit groß, so dass ich nur sagen kann: natürlich ist der letzte Satz „anders“ als die ersten drei, aber ich empfinde ihn als einen folgerichtig entwickelten, das ganze Werk krönenden, vollwertig neben den ersten Sätzen stehenden Satz – eigener Art, aber auch eigenen und vollen Rechts. Und seine Andersartigkeit empfinde ich nicht als einen sinnwidrigen Bruch, sondern als stimmige Antwort auf die ersten drei Sätze.
In summa: eine große Leistung, die ich dankbar bewundernd meiner Sammlung einverleibe.
Davor verblasst dann für mich auch die aktuelle Kontroverse um Peter Jan Marthé in diesem Forum, was nicht heißt, dass ich sie nicht interessiert verfolge. Und immer mal wieder schmunzeln muss, wenn Ben leicht „angefressen“ mit Fakten um sich wirft und inquisitorische Fragen stellt oder laut lachen wenn Edwin eine seiner brillanten Salven abfeuert…
Ich kann dazu nur sagen: ich halte Peter Jan Marthé nicht für einen abgebrühten PR-Strategen, sondern für einen hochsensiblen Künstler. Und für Transzendenz bin ich nicht zuständig. Aber wenn es einen gibt, dem ich glaube, dass er selbst glaubt, dass Bruckner ihm den Auftrag erteilt hat: dann ist das Peter Jan Marthé.
Aber das schöne ist ja: es handelt sich hier um Musik, und ein Kunstwerk muss ja nicht aus rational nachprüfbaren Quellen strömen, um ein vollwertiges Kunstwerk zu sein!
Was mir den Luxus ermöglicht, mich in dieser Debatte auf allen Seiten wiederzufinden: ich freue mich an Edwins Fechtkünsten und daran, dass er seine Auffassung genauso mit heiligem Ernst verteidigt wie Peter Jan Marthé, ich studiere Bens Postings und hoffe, dass es bald eine CD seines aktuellen Forschungsstandes geben wird und gleichzeitig bin ich hellauf begeistert von und tief dankbar für Peter Jan Marthés Leistung.
Es ist doch wunderbar, dass Musik und Nachdenken über Musik so enorm vielfältig sein kann, ohne dass sich die Extreme ausschließen müssen.
Flo