Unter dem Eindruck der Nürnberger Prozesse wurde der ursprüngliche Schluss, der Gut und Böse gegeneinander abwog und kein Urteil fällte („Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück“), in der Oper dahingehend abgeändert, dass die Richter verkündeten: „Ah ja, ins Nichts mit ihm, und ins Nichts mit allen wie er!“
DAS VERHÖR DES LUKULLUS
Lieber Musikwanderer,
wenn ich den Worten von Hans Borgelt, dem Autor des Buches "Das war der Frühling von Berlin" (Schneekluth-Verlag, München, 1980) glauben darf, so war die Entstehung und Rezeption des LUKULLUS wesentlich komplizierter, als aus Deiner Beschreibung hervorgeht. Die zahlreichen Änderungen, die nachträglich in Text und Musik vorgenommen wurden, waren weniger auf den Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher 1945/46 zurückzuführen als auf ideologische Vorgaben der ostdeutschen SED und ihrer Führungsspitze.
Die Premiere des Stücks fand unter dem obigen Titel am 17. März 1951 in der Staatsoper Unter den Linden, Berlin-Ost, statt. Es war keine Probeaufführung, sondern die offizielle Premiere des Werks.
Bereits im Vorfeld hat ein heftiger Kampf um die Aufführung der Oper stattgefunden. Es ging vornehmlich darum, ob das Werk als "realistisch", wie es die Parteilinie der SED verlangte, oder als "formalistisch", wie es nach neuesten Vorgaben aus Moskau nicht zu sein hatte, einzustufen sei. Selbstverständlich folgten die ostzonalen Machthaber gehorsam den Vorgaben des "großen Bruders".
Die folgenden Zitate sind sämtlich dem oben genannten Buch von Hans Borgelt entnommen, der zum Zeitpunkt der Premiere des Stücks als Musik- und Kulturredakteur bei der "Berliner Zeitung" beschäftigt war, die in Ost-Berlin verlegt wurde.
"Ausgerechnet in dieser wilden Zeit liefen in der Staatsoper die Vorbereitungen für ein ganz besonderes, aber plötzlich sehr gefährlich gewordenes Ereignis: die Uraufführung einer Oper von Bertholt Brecht mit der Musik von Paul Dessau; Titel: DAS VERHÖR DES LUKULLUS.
Es war eine avantgardistische Oper. Ihre Musik fußte nicht unbedingt auf dem 'kulturellen Erbe', und sie erhob auch kaum Anspruch darauf, sich in die Ohren schlichter Werktätiger einschmeicheln zu wollen. Mit anderen Worten: Dessaus Musik war abstrakt und neutönend, kühn instrumeniert. Ja, es muß gesagt werden: sie war >formalistisch<.
Aber - der Komponist war Altkommunist.
Und der Inhalt, aus einem früheren Hörspiel Brechts weiterentwickelt: Lukullus, der römische Feldherr, gerät nach seinem Tod in das >Reich der Schatten< und wird schließllich vor das Gericht der Unterwelt gerufen. Dieses hatte zu entscheiden, ob eines seiner vermeintlichen Verdienste ausreicht, ihn vor der Verdammung ins Nichts zu bewahren (...) Ein Stück also, in dem nicht die Sonne des Optimismus lachte, obendrein mit unübersehbarer pazifistischer Tendenz, was in Anbetracht der Drohgebärden allüberall so gar nicht in die SED-Landschaft paßte ....
Aber - der Dichter war Altkommunist.
Es läßt sich leicht denken, daß der Intendant der Staatsoper, Ernst Legal, auf den dieses Stück sich mit rasanter Geschwindigkeit zubewegte, sich in einer prekären Lage befand. Zumal er mit dem Makel behaftet war, aus dem bürgerlichen Lager zu kommen.
Im damals noch nicht durch die Sektorengrenzen behinderten Berlin sprach sich rasch herum, daß sich in der Staatsoper etwas tat, was möglicherweise zu einer Sensation werden könnte. Man hörte teils Wunderdinge von der Eigenheit des neuen Werks, und entsprechend hoch waren die Erwartungen des Publikums, doch zwei Tage vor der Premiere stand plötzlich an den Kassenschaltern: "Kein Vorverkauf", und wer am Premierenabend zur Oper eilte, wurde lapidar mit dem Wort "Ausverkauft" abgespeist.
Hans Borgelt, der als Pressevertreter natürlich im Besitz einer Karte war, fährt in seiner Beschreibung fort: "Als ich meinen Platz einnahm, staunte ich noch mehr. Das ganze Parkett war von Mitgliedern der Volkspolizei und der FDJ besetzt, Uniformen gemischt mit Zivilkleidung. Da ging mir ein Licht auf: Das zuständige Ministerium hatte die Karten an ein 'ausgewähltes Publikum' verteilt; was da saß, war nichts anderes als ein Querschnitt durch das 'Volk der Werktätigen'. 'Vox populi' war hier befohlen."
In der Ehrenloge hatten Staatspräsident Wilhelm Pieck und kein Geringerer als der 'Spitzbart' Walter Ulbricht, der sicher alles andere als ein Experte für Musik und Kultur gelten konnte, Platz genommen. Scheinbar sollte unliebsames Aufsehen vermieden werden, denn wie hätte es ausgeschaut, wenn zu diesem Anlaß keine offiziellen Vertreter erschienen wären?
"Die Aufführung begann. Das Publikum, die meisten von ihnen wahrscheinlich zum erstenmal in einer Oper (...) erlebten in einer kühnen Tonsprache eine Musik, die sich schnell einprägte, mit folkloristischen Motiven neben kunstvoll durchgearbeiteten Zwölftonsätzen. Fast bewegungslos lauschten die Zuhörer. Zwei Stunden später erlebte die Staatsoper den sensationellsten Erfolg, den es je hier gegeben hatte, hallte der Raum von rasenden Beifallsstürmen wider."
Nicht zuletzt klatschten die Uniformierten, während den von der SED-Führung bestellten Pfeifern bald die Luft ausging. Den Parteifunktionären ebenfalls. Sie blickten irritiert auf ihren Präsidenten, der sich nebst Begleitung ganz rasch entfernte und nicht mehr gesehen ward.
"Was war geschehen? Ganz einfach: Dichtung und Musik, so schwer sie in Einzelheiten vielleicht verständlich war, hatten das Publikum in ihren Bann gezwungen, mitgerissen. Ein 'befohlenes' wie unvorbereitetes Publikum hatte dem neuen Werk ein echteren Empfang bereitet, als es einem versnobten Premierenpublikum jemals möglich gewesen wäre.
Der Dirigent der Aufführung war übrigens kein Geringerer als Hermann Scherchen, der nach der so spektakulären Uraufführung entnervt das Feld räumte.
Borgelt weiter: "Dessau und Brecht, immer wieder gerufen, tanzten voller Freude vor dem Vorhang umher, neben ihnen die genialen Helfer: Scherchen, Völker, Caspar Neher und die Sängerschar. (...)
Ich schrieb eine überschwengliche Kritik und ging damit zum Verlagsleiter. 'Da haben sie die Reaktion des Publikums. Sie war ungeheuer.' Er hatte bereits davon gehört, schien es aber noch nicht wirklich zu glauben ....
Meine Kritik erschien weder am nächsten noch am übernächsten Tag. Keine Zeitung des Ostsektors nahm auch nur mit einer Zeile von dem Ereignis Kenntnis."
Damit die Leser des Ostsektors nicht ausschließlich auf westliche Presseberichte angewiesen waren, beauftragte die SED-Führung schließlich den Kulturredakteur des SED-Zentralorgans 'Neues Deutschland', Franz Lüdecke, eine 'keimfreie' Kritik herauszugeben. Sie erschien am 22.3.1951 mit folgendem Wortlaut:
"Ein hochbegabter Dramatiker und ein talentierter Komponist haben sich in ein Experiment verirrt, das aus ideologischen und künstlerischen Gründen mißlingen mußte und mißlungen ist. (...) Das Weltfriedenslager mit seinen mehr als 800 Millionen unter der Führung der Sowjetunion ist nicht nur kein 'Schattengericht', sondern es hat die reale Macht, alle Kriegsverbrecher einer sehr irdischen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen.
Die Musik ist dünn und bruchstückhaft (....) Brecht selbst dürfte schon um 1940 (als sein Text entstand) zu der Einsicht gekommen sein, daß sein dichterisches Sinnbild nicht auf der Höhe der historischen Situation war und heute ganz offensichtlich nicht der Wirklichkeit entspricht."
Nach Monaten des Schweigens, am 12. Oktober 1951, kam schließlich die Neuinszenierung des "Lukullus" heraus. Tatsächlich hatten Brecht und Dessau klein beigegeben und an ihrer Oper die befohlenen "Verbesserungen" vorgenommen. Dessau hatte sicher großes Interesse daran, sein erstes Musikdrama auf die Bühne zu bringen, und Brecht war bekanntlich keine Kämpfernatur. Er hatte seinen Text noch einmal überarbeitet und alle "anrüchigen" Stellen entweder gestrichen oder entschärft. Die entscheidende Änderung wurde aber dem Titel des Stücks zuteil: Aus dem 'objektivistischen' Titel 'Das Verhör des Lukullus' wurde 'DIE VERURTEILUNG DES LUKULLUS', und damit wurde der 'negative Held' von vorneherein abqualifiziert. Das genau entsprach den Wünschen und Vorgaben der SED.
Ich zitiere noch einmal Hans Borgelt: "Brecht und Dessau wollten eine 'gewisse Disproportioniertheit berichtigen, die darin bestand, daß das Gericht musikalisch nicht so zu Worte kam wie der Angeklagte'. Genauer gesagt: die gerügte pazifistische Tendenz wurde abgeschwächt, der 'Verteidigungskrieg' dagegen aufgewertet. Und als Lukullus gefragt wurde, weshalb er im Schattenreich der Toten weile, antwortete er nunmehr:
'Weil ich, das Land zu verteidigen, aufrief:
Mann, Kind und Frau
In Hecke und Wasserloch
Mit Beil, Hacke und Pflugschar
Am Tag, in der Nacht
In der Rede, im Schweigen
Frei oder gefangen
Im Angesicht des Feinds
Im Angesicht des Todes.'
Wenig später siedelte Hans Borgelt nach West-Berlin über und war dort als freier Journalist für diverse Zeitschriften tätig. Er starb 2000 in Berlin.
LG Nemorino