Ekstase im goldenen Käfig
Eine grandiose Premiere von „Tristan und Isolde“ war das gestern Abend in Düsseldorf. Sängerisch und orchestral überragend, inszenatorisch phänomenal. Was will man mehr?
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Es ist offenkundig, an was Claus Guth bei seiner „Tristan“-Interpretation gedacht hat. „Hab acht, Richard! Botschaft von Mathilde!“ - so könnte die Überschrift dieser Rezension auch lauten. Guth siedelt das Stück in der Villa Wesendonck an, und das Konzept geht auf, komponierte der Meister sein Werk doch einst unter dem Eindruck der Liebe zu Mathilde Wesendonck. Christian Schmidt hat bei Bühne wie Kostüm ganze Arbeit geleistet, schafft im I. Akt rote, dann im II. und III. blaue, kalte Räume. König Marke ist in diesem goldenen Käfig also Otto Wesendonck. Das klingt erstmal simpel, ist aber enorm überzeugend und mitreißend.
Wenn sich der Vorhang zum I. Akt öffnet, blicken wir in Isoldes Zimmer. Die Braut liegt in einem Doppelbett, ein Brautkleid hängt auf einem Torso an der Tür. Brangäne sitzt am Frisiertisch. Sie ist wie Isolde gekleidet, trifft ungern eigene Entscheidungen - deutlich wird das in ihrem Besuch bei Tristan, als sie sich abwimmeln lässt. Hier wechselt die Szene zu einem Flur mit sechs Stühlen, auf zweien sitzen Tristan und Kurwenal, letzterer liest Zeitung. Tristans Gefährte unterstreicht Nomen durch Gesten und ist recht karikativ gezeichnet. Als Tristan endlich zu Isolde tritt, folgt er ihr auf die mit hohen Pflanzen verstellte Terasse, die beiden müssen sich erst finden. Er folgt ihr schließlich in ein weiteres Zimmer, das wie Isoldes eingerichtet ist, doch auf dem Bett liegen blutige Kleidungsfetzen: Morold! Hier wird auch der Liebestrank eingenommen, und nachdem sich die Bühne nochmals gedreht hat, finden sich die nun Verliebten mitten zwischen den Hausbediensteten (Matrosen also) wieder, und in den letzten Takten tritt Marke in die Tür.
Das erste Bühnenbild des II. Aktes stellt einen Flur mit drei Doppeltüren dar. Brangäne und Isolde diskutieren, bis diese schließlich die Lampen löscht und in einem Raum geht. Dort befindet sich im Freeze eine Festgesellschaft, unter den Gästen auch Tristan, der sich aus der Starre löst und Isolde erkennt. Und als dann Tristan „Oh sink hernieder, Nacht der Liebe“ anstimmt, als er und Isolde wieder an der Wand des Flures sitzen, und dazu ein Lichtspiel wie sich in der Dämmerung brechende Schatten von Blättern erscheint (Licht: Jürgen Hoffmann), da war man tatsächlich für einige Zeit dem „himmelhöchsten Weltentrücken“ verfallen und realisierte, was man hier gerade erlebte.
Die Liebenden gehen nun in einen weiteren Raum, in dem sich ein gedeckter Banketttisch befindet. Nachdem sie zunächst an entgegengesetzten Enden Platz genommen haben, fegt Tristan Geschirr und Kerzenleuchter zur Seite, als Kurwenal hereinstürzt: „Rette dich, Tristan!“ In ihrer Not laufen die beiden genau in die Arme eines Tribunals aus dem grantelnden Marke und seinem Hofstaat, die an einem ungedeckten Banketttisch sitzen. Nach seiner Erzählung geht Marke allein auf dem Flur, ein starkes Bild. Tristan lässt sich von Melot eine Wunde mit dem Speisemesser schlagen.
Der III. Akt beginnt vor der Fassade der Villa. Wir sehen nun erstmals, wie alt das Gebäude bereits ist: Aufgeplatzte Ziegelsteine zwischen dreckigem Naturstein. Wieder gibt es drei Türen, die mittlere ist nach hinten versetzt. Tristan sitzt reglos auf einem Stuhl, während Kurwenal Korken von Bierflaschen in seinen Stiefel zu werfen versucht. Der Hirt ist wie die beiden Helden ein Obdachloser. Tristan geht wieder in das Bankettzimmer, schließlich in Isoldes, wo ein Doppelgänger seiner auf dem Bett liegt. In Ohnmacht fällt er vor der Fassade, nun auf einer anderen Seite des Hauses. Der Kampf zwischen Kurwenal und Melot findet wieder vor dem ersten Bühnenbild statt. Das Ende, der Liebestod, begibt sich wieder im Bankettzimmer, Tristan liegt tot auf dem Tisch, der ihm und Isolde zur Erfüllung hätte dienen sollen. Isolde sinkt hin, Marke und Brangäne wenden sich zum Gehen.
Claus Guth schafft berückende, beeindruckende Bilder, überzeugt mit ausgefeilter Personenregie und wird kongenial von Christian Schmidt unterstützt. Dass das Regietheater gefühllos sei oder gar den Komponisten verachte, diese Behauptung darf man nach dieser Inszenierung anzweifeln. Denn trotz aller Veränderungen respektiert Guth den Text: Das ist der „Tristan“. Und nicht ein „Tristan, wie ihn Guth gern hätte“.
Auch musikalisch blieben keine Wünsche offen. Allem voran das phänomenale Dirigat von Axel Kober, der große Bögen spannt, Ekstase schafft, fast furtwänglersche dramaturgische Ausgefeiltheit erreicht. Freilich bringt er hin und wieder die Sänger leicht in Bedrängnis, die sich jedoch nicht zum Forcieren verleiten lassen, und auch die Balance zwischen Bühne und Graben wird in den Folgevorstellungen noch wachsen. Doch den orgiastischen Klängen, die Kober entfaltete, verzeiht man das gern.
Unauffällig der Chor (Gerhard Michalski), aber der hat in dieser Oper ja eh nicht viel zu tun. Als schönstimmiger junger Seemann gefiel Jussi Myllys, gleiches gilt für den Hirten von Markus Müller und den Steuermann von Rolf Broman. Als Melot konnte Dmitri Vargin Akzente setzen. Annette Seiltgen verkörperte eine schauspielerisch untadelige, sängerisch überzeugende Brangänge. Skurill der Kurwenal von Oleg Bryjak: Mit näselndem Timbre, übertrieben weit vorn platzierten Vokalen (i!), indifferentem Kraftgebolze und Nichtbehandlung des Textes war sein Beitrag der schwächste des Abends, zudem sehr befremdlich. Dass der Mann auch den Sachs singt, nahm ich ungläubig zur Kenntnis (wie man das wohl aushalten soll?), ebenso wie seine im Programm erwähnten Auftritte in Chicago, Paris und London. Mein Nebenmann sagte bei seinem Vorhang: „Die Überraschung des Abends!“, und das ganze Haus feierte Bryjak. Die Geschmäcker sind halt verschieden. Als König Marke war Hans-Peter König aufgeboten. Die Wochen an der Met haben sich ausgezahlt. Mit noch mehr Selbstbewusstsein, so scheint es, noch mehr Ausstrahlung steht dieser Hüne auf den Brettern, und sein ohne Registerbruch geführter, warmer, runder, voller Bass strahlt durchs ganze Haus, mit makelloser Diktion und berührendem Ausdruck. Auch darstellerisch verleiht König seiner Figur beeindruckendes Profil. Wie sagte meine Nebendame nach dem II. Aufzug? „Der König hat mich noch nie enttäuscht!“ Kann ich mir vorstellen. Die darstellerische Größe war auch Janice Baird als Isolde eigen, doch gerade im I. Akt musste man sich fragen, warum sie diese Rolle auch an der Met gesungen hat. Kloßiges, gaumiges Singen mit großem, waberndem Tremolo, unsicher angegangene Spitzentöne machten ihren Beitrag nicht immer zur reinen Freude. Im II. Akt fing sie sich, fand mehr Farben, verfiel im III. aber doch wieder in groteske Vokalverfärbungen – schlicht ärgerlich, dass sie „Unbewusst, höchste List!“ sang. Die Krone des Abends gebührt jedoch Ian Storey für seinen großartigen Tristan. Er verausgabt sich schauspielerisch vollkommen, stellt sich ganz in den Dienst der Inszenierung. Auch vokal bietet er ein beeindruckendes Porträt. Ohne größere Schwächen malt er ein Gemälde aus Piani, Kantilenen und beherrschten Ausbrüchen, beglückt den Zuhörer mit der Textbehandlung eines Liedsängers. Eine bessere Interpretation dieser Partie ist heutzutage nur schwer vorstellbar.
Dass das Opernhaus Düsseldorf nur zu etwas mehr als drei Vierteln gefüllt war, stimmte nachdenklich. Die Ausgebliebenen haben auf jeden Fall etwas verpasst. Ich für meinen Teil habe noch nie so viel "Bravo" gerufen, zumal für das Regieteam. Zum Abschluss möchte ich eine Kritik zitieren, die einst John Amis zu einem Liederabend von Dietrich Fischer-Dieskau schrieb. Sie endet mit den Worten: „Nachdem man ein paar Superlative geschrieben und das Programm geschildert hat, bleibt einem als Kritiker nur noch, 'finis' unter die Kritik zu schreiben, nach Hause zu gehen und dem Himmel zu danken, dass man das erleben durfte.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
DEUTSCHE OPER AM RHEIN DÜSSELDORF/DUISBURG
Richard Wagner: Tristan und Isolde. Düsseldorfer Premiere der Koproduktion mit dem Opernhaus Zürich am 29. Mai 2010. Solisten: Ian Storey (Tristan), Hans-Peter König (König Marke), Janice Baird (Isolde), Oleg Bryjak (Kurwenal), Dmitri Vargin (Melot), Annette Seiltgen (Brangäne), Markus Müller (Ein Hirt), Rolf Broman (Ein Steuermann), Jussi Myllys (Stimme eines jungen Seemanns). Inszenierung: Claus Guth, Bühnenbild und Kostüme: Christian Schmidt. Chöre: Gerhard Michalski. Musikalische Leitung: Axel Kober.