Die Inschriften "Moyses" und "Hellespontica" beziehen sich auf die beiden Statuen, die auf den beiden Löwenkapitellen "agieren": links Moses mit den Gesetzestafeln (auf den ja schon Severina richtig hingewiesen hat), rechts die sog. hellespontische Sibylle. Die Sibyllen waren ursprünglich antik-pagane Prophetinnen, deren Weissagungen seit den Anfängen der christlichen Religion auf Christus und seine Vita bezogen wurden. So haben sie auch Einzug in die christliche Bildtradition gehalten, am bekanntesten in der Sixtinischen Decke Michelangelos. Die hellespontische Sibylle ist im Gegensatz z.B. zur tiburtinischen aber nur selten dargestellt worden - warum Tizian sie hier augewählt hat, weiß ich auf Anhieb nicht.
Moses und die Sibylle präfigurieren bzw. prophezeien Christus, deshalb sind sie als parallele Figuren dargestellt. Durch Christi Kreuzestod wird ja nach christlicher Auffassung das alte mosaische Gesetz außer Kraft gesetzt und durch die lex nova abgelöst - nach einer Formulierung von Paulus: die steinernen Tafeln (des Moses) weichen den fleischgewordenen Tafeln des Herzens (Christi). Dass die hellespontische Sibylle die Passion Christi weissagt, ist ja hinreichend dadurch deutlich gemacht, dass sie Kreuz und Dornenkrone trägt.
Die Kombination des alttestamentlichen Moses und der antik-paganen Sibylle steht auch für die jüdischen und die antiken Wurzeln des Christentums (im übertragenen Sinne wohl auch: für die Wurzeln von Tizians Kunst). Beide sind gemäß ihrer präfigurierenden Funktion als Statuen dargestellt, also in einem anderen Realitätsmodus als die "gegenwärtigen" Trauernden rund um Christus - was spätestens seit dem 15. Jahrhundert ein beliebter Kniff ist, bei Tizian aber durch die extreme Lebendigkeit der Statuen konterkariert wird. Die Löwen, auf denen sie stehen, lassen sich vielfältig deuten, verweisen in Venedig aber immer auch auf den Markuslöwen.
Viele Grüße
Bernd