Beiträge von Leiermann

    Danke für den hochinteressanten Bericht, Christian.

    Ich habe Anfang der 90er studiert und kann mich erinnern, dass die Ligeti-Etüden für einige Aufregung an der Hochschule sorgten. Meine Klavierprofessorin wies mich natürlich auf Volker Banfield hin, der sich als einer der Ersten an die ihr zufolge "zum Teil unspielbaren" Etüden wagte. Ihm sind ja auch einige von den früheren gewidmet.

    Meine Professorin war mit Erika Haase befreundet, die im Nachbarraum unterrichtete, und bekam deswegen auch immer brühwarm mit, was Haase, die "spezialisiert" auf wichtige Etüdenwerke war, gerade so trieb. Diese beschäftigte sich ebenfalls verhältnismäßig früh mit den "neuen" Ligeti-Kompositionen und hielt ihre Arbeit u.a. auf einer viel beachteten CD-Aufnahme fest, die bereits 1991 erschien.

    Aber auch unter den Studierenden entstand eine Art Ligeti-Fieber, weil früh klar war, dass hier frisches Repertoire vorlag, das Maßstäbe setzte und mit Sicherheit "bleibend" sein würde. Zudem bot es neben der kompositorischen Qualität auch einen beträchtlichen "sportlichen" Reiz.

    Was mich jetzt überrascht hat, ist deine Bemerkung, dass es immer noch einen nur kleinen Kreis von Pianisten gibt, der so über den Dingen steht, dass der Zyklus konzertreif gespielt werden könnte. Scheint ein wirkliches Monster zu sein. Das Schöne aber ist, dass der kompositorische Esprit beim Hören der Stücke quasi zu greifen ist. Die Musik wirkt m.E. bei guten Darbietungen sehr direkt und macht in einem positiven Sinne richtig viel Spaß (zumindest wenn man zuhört).

    Das sollte man, aber die Zeichen dieses Respekts ändern sich doch mit der Zeit. Mir persönlich ist alles recht, was nicht mich bzw. andere Besucher in ihrer Konzentration stört. Und selbst das gilt bei mir nicht uneingeschränkt (...)

    Das halte ich für eine stimmige Sichtweise, die auf das Wesen dessen abzielt, worum es in Konzertsituationen geht. Und die zudem berücksichtigt, dass je nach Voraussetzungen auch Begriffe wie "Respekt" und "Störung" semantisch variiert werden können, um unterschiedlichen Situationen gerecht zu werden.

    Mit einem großzügigen Blick auf die Kleidung von Besuchern habe ich überhaupt kein Problem, denn ich komme ja, um etwas zu hören. Ich selbst finde es dementsprechend aber richtig blöd, wenn jemand in meiner Nähe geräuschvoll nach Hustenbonbons fingert oder anfängt zu flüstern. Und die das tun, sind oft genug eben die feinen Herren und Damen in Anzug und Kleid.

    Wenn ich in der Elphi sitze und zwischen Sätzen geklatscht wird (das kommt dort einigermaßen häufig vor), dann weiß ich, dass da Eventpublikum anwesend ist. Einerseits finde ich es dann oftmals schade, weil es den "puristischen" Genuss stört, andererseits denke ich: Schön, dass ihr da seid und eure Begeisterung ausdrücken wollt. Ich weiß auch von Musikern, dass sie das z.T. ähnlich ambivalent sehen.

    Insgesamt bin ich aber nicht unzufrieden mit dem, was hier in HH so an "Konsens" und "Konzertdisziplin" üblich ist. Viele Leute kommen leger und hören intensiv und begeisterungsfähig zu. Grobe Aussetzer und Handyklingeln erlebe ich fast nie. Der große Saal der Laeiszhalle ist bei klassischen Konzerten tendenziell etwas ruhiger als die Elphi (je nach Sitzplatz aber akustisch schlechter), in den beiden kleinen Kammermusiksälen ist aber sowieso fast immer sehr konzentrierte Ruhe.

    Es wurden die Regietheater-Dogmen "eingehämmert", mit dem Presslufthammer in den Boden gerammt wie Stahlstützen als Fundamente für ein Gebäude für die Ewigkeit.

    Wo auch immer du das her hast: Aber du bist derjenige, der hier als ästhetischer Dogmatiker über andere Musiktheaterauffassungen hinweg eine Ewigkeits-Verbindlichkeit in den Thread hämmern wollte (und immer noch will). Davon zeugen auch deine nicht enden wollenden Wiederholungen, die schon lange von schlagwortartigen Übertreibungen, Falschdarstellungen und Provokationen geprägt sind.


    Was aus meiner Sicht weiterhin einer deiner großen Fehler ist: die moralischen Implikationen, mit denen du hier aufwartest. Damit hattest du schon früh die Möglichkeit verschenkt, in einen reellen Dialog mit Vertretern anderer Auffassungen eintreten zu können.

    Mittlerweile legst du in puncto moralisierende Diskreditierungen anderer Auffassungen nochmal ordentlich nach. Ich kann kaum Worte dafür finden, wie befremdlich dieses Verhalten für mich ist. Natürlich sehe ich deine Not, die sich in der Aufgeregtheit widerspiegelt, mit der du hier agierst. Dies rechtfertigt aber nicht deine wilden moralisierenden Ausfälle.

    Das wäre schön, aber es steht zu befürchten, dass diese dutzende Male wiederholte Ankündigung auch diesmal nicht eingehalten wird.

    ^^

    :D;(

    Nein. Der Gedanke, dass eine Ausstattung historisch korrekt sein und der Zeit des Geschehens entsprechen muss, kommt erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auf. In den Jahrhunderten davon trug man immer zeitgenössische Kostüme, ganz wie die Jünger Jesu auf den damaligen Gemälden. Schon im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war die Tendenz zur historischen Genauigkeit deutlich abgeschwächt. Sie hat sich also nicht so besnders lange gehalten.


    Was die Frage betrifft, ob sich Carmen am Ende selbst umbringen sollte oder nicht, ist sie nicht allgemein zu beantworten oder zu kategorisieren. Es kommt ganz darauf an, wie das gemacht ist. Ist es gut gemacht, wird es überzeugen, wenn nicht, nicht. (Natürlich wird niemals jeder überzeugt sein, die Meinungen werden immer auseinander gehen, aber das ist ja klar. Aber dass irgendjemand nicht überzeugt ist, bedeutet nicht, dass das Geschehen nicht überzeugend war, sondern nur, dass es für ihn nicht überzeugend war.)


    In jedem Falle aber ist die Idee, dass die Bühnenaktion deckungsgleich auf dem Text liegen muss, nicht sinnvoll. Es gibt auch im Leben außerhalb des Theaters (das im Theater nachgeahmt wird) diesen Fall nur äußerst selten. Fast immer gibt es da eine (aussagekräftige) Diskrepanz. Darum wirkt dieses »1:1«, wie es oft – m. E. nicht besonders glücklich – genannt wird, außer in Ausnahmefällen so langweilig: Es passt einfach nicht zur Lebenserfahrung und wirkt unrichtig.

    Ich danke dir sehr, Werner. Mir scheint, als sollte ich mein Blickfeld diesbezüglich deutlich erweitern und zudem perspektivisch verändern.

    Und für den Thread heißt das: Mich überzeugt die Kritik immer mehr, dass die Frage falsch gestellt ist.

    Probieren wir es doch mal mit einer Antwort auf die Frage im Titel:


    Das Regietheater ist eine polemische Erfindung. Es handelt sich um eine Kiste, in die alles geworfen wird, was dem Geschmack einer gewissen Gruppe von Zuschauern nicht gefällt. Diese Gruppe ist durchaus heterogen, und der Geschmack, der jeweils oberstes Kriterium ist, ist keineswegs immer derselbe. Was diese Gruppe aber zu verbinden scheint (und sie als Gruppe konstituiert), ist einerseits die allgemeine Abneigung gegen die Tatsache, dass die Dinge wich entwickeln. Das drückt sich in dem Wunsch aus, dass es im Theater keine Entwicklung geben soll. Es soll auf einen vergangenem Stand eingefroren werden, jede Neuerung, jede Entwicklung, die den Entwicklungen der Welt entspricht, soll unterbleiben.

    Mein Vorurteil ist: In den letzten ca. 40-50 Jahren habe es vorwiegend im deutschsprachigen Raum die Tendenz gegeben, dass die Diskrepanz zwischen dem Bühnengeschehen resp. Bühnenbild, Kostümen usw. und dem Setting sowie dem Geschehen der jeweils verwendeten Stücke deutlich größer geworden ist. Ich wüsste gerne, ob du das bestätigen würdest.

    Und solltest du das tun: Gäbe es aus deiner Sicht die Möglichkeit, eine solche signifikante Entwicklung terminologisch zu fassen, ohne den fragwürdig aufgeladen "RT"-Begriff zu bemühen?

    Wenn Schüler von mir entrüstet/enttäuscht anmerken, es sei ja sehr komisch gewesen, dass Carmen sich am Ende auf der Bühne selbst umgebracht habe, denke ich: Aha, die RT-Sache. Im "deskriptiven" Sinne. Und ich finde dafür sprachlich bislang keine andere Lösung.

    Die Welt ist schwieriger geworden, heutzutage bedarf es dazu erst einmal komplizierter Begriffsdefinitionen und Verständigungen über die profansten, vorher für selbstverständlich gehaltenen Dinge, und selbst da wird es hochanstrengend , sich über gemeinsame Prämissen zu einigen.

    Um in die Oper zu gehen, bedarf es all dessen aus meiner Sicht überhaupt nicht. Ich gehe einfach ziemlich naiv rein und bin lediglich erwartungsfroh, dass es Musiktheater geben wird, welches mich auf unvorhersehbare Weise berührt.

    Ich erinnere lediglich eine Opernaufführung, aus der ich nahezu komplett enttäuscht hinausging. Und das war ein "Holländer", den einige hier wohl als "werktreue Aufführung" ansehen würden.

    Da es offenbar genügend Menschen wie mich gibt, hat das "RT" auch zukünftig Überlebenschancen... ;)

    Irgendwie scheint Deine Begründung zur Verbindlichkeit des Werks und der Werkgerechtigkeits-Idee zu fluktuieren. Wir hatten hierzu bereits: (i) Das ist so, weil es so ist; (ii) Das ist so, weil es der Stand der Wissenschaft ist; (iii) Die Autorität XYZ sagt das; (iv) Ohne Werkgerechtigkeit fehlt das Kriterium der Werkgerechtigkeit; (v) Ohne Werkgerechtigkeit droht Beliebigkeit (was nicht weiter belegt wurde); und recht neu (vi) Die Mehrheit der Künstler sieht das so (was ebenfalls nicht weiter belegt wurde).


    Nur eins gibt es leider nicht: eine logische, sich aus dem Wesen des Theaters ergebende Begründung, warum Theaterschaffende in dem Moment, wo sie ein Stück für ihr Theaterschaffen heranziehen, diesem Stück (oder seinem Autor) in verbindlicher Art und Weise "Werkgerechtigkeit" schulden. Deswegen geht es in der Sache auch leider nicht voran.


    LG :hello:

    Dieser Beitrag trifft für meine Begriffe voll ins Schwarze.

    Ich denke allerdings, dass es in dieser Frage prinzipiell nicht mehr "vorangehen" kann. Nicht nur, dass die hartnäckigen und bisweilen gedanklich grotesk verrenkten Versuche, eine Verbindlichkeit zu belegen, gescheitert sind. Für mich stellt es sich darüber hinaus so dar, dass der Begriff 'Verbindlichkeit' (im Sinne einer allgemeinen Festgelegtheit) in diesem Zusammenhang prinzipiell nichts zu suchen hat. Stattdessen rede ich hier bislang lieber von 'Auffassung'. Wer meint, dass Theaterschaffende, die sich auf eine bestimmte Komposition beziehen, nach dem Prinzip von "Werktreue" oder "Werkgerechtigkeit" zu schaffen haben, zeigt m.E. eine solche Auffassung (die aber grundsätzlich nicht verbindlich ist).

    Die Motivationen und Gründe hinter der Auffassung, Theater müsse sich nach "in der Sache festgelegten" Voraussetzungen richten, können vermutlich ganz unterschiedlich sein. Im schlimmsten Falle stehen dahinter pure Machtansprüche. Damit bringe ich aber z.B. Helmut Hofmann überhaupt nicht in Verbindung, dessen Beiträge aus meiner Sicht ein hohes Maß an "intrinsischem" Anspruch verraten. Man lese dafür nur seine bewundernswerten Kunstlied-Analysen. Wenn Helmut sich also hier für so etwas wie 'Werkgerechtigkeit' stark gemacht hat, kann ich dies ohne den geringsten Zweifel als eine entschiedene persönliche Überzeugung in der Sache verbuchen. Und ich ließe mir sicherlich auch anhand von einzelnen Beispielen gerne erläutern, woran er diese Überzeugung festmacht.


    Das Threadthema und die darauf bezogenen Beiträge haben mich natürlich ebenso beschäftigt wie zuvor die bereits entschiedene Frage nach den Verbindlichkeiten. Die empirischen Daten habe ich interessiert zur Kenntnis genommen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass es zukünftig auch mal die eine oder andere "Bühnen-Initiative" geben könnte, die Diskrepanzen zu Setting und Handlung der Libretti/Dramen zu verringern - eben wenn es Theaterschaffende gäbe, welche die Auffassung teilen, es solle "werkgerechter" inszeniert werden. Aber grundsätzlich bin ich mir sicher, dass das "RT-Rad" nicht mehr zurückgedreht werden kann. Wenn ich es richtig verstehe, müsste es ja sogar bis in die Zeit vor dem Wirken Max Reinhardts zurückgedreht werden. Dafür fehlt mir wirklich die Vorstellungskraft. Und es wirkt geradezu verrückt.

    Übrigens ist das so ein Punkt: Niemand verlangt von Janowski, dass er in einer bestimmten Weise, die irgendwer für die richtige hält, dirigiert. Er wird nicht engagiert, damit er das macht, was irgendwer will, sondern damit er macht, was er will.

    Das heißt ja, dass seiner künstlerischen Willkür Tür und Tor geöffnet ist! :)

    Janowski ist frei, so zu dirigieren, wie er es will und für richtig hält (und ggf. die Mitarbeit an einer Produktion zu verweigern), und alle anderen Künstler sind auch frei, so zu arbeiten, wie sie wollen und es für richtig halten. In jedem Falle mag es Leute geben, denen das nicht gefällt, und die meinen, man müsse diesen Künstlern aus genau diesem Grunde (weil es ihnen nicht gefällt) das Handwerk legen.

    Und dass es Leute gibt, die Künstlern "das Handwerk [auf höchst repressive Weise; Bemerkung von mir] legen" würden, hätten sie dazu die Möglichkeiten, bezweifle ich nicht. Das ist ein Grund für mich, in diesem Faden zu schreiben.

    Wäre es wirklich besser um die Welt bestellt, wenn es Bachs Werke, die seine Gemeinde aufgebracht haben, nicht gäbe, wenn es die »Salome« (Wilde und Strauss) oder Wedekinds Dramen oder die Gemälde der Expressionisten und so viele andere nicht gäbe, weil rechtzeitig eingegriffen wurde, so dass diese Exzesse der künstlerischen Freiheit verhindert werden konnten? Ich gestehe, dass ich da meine Zweifel habe. Wohingegen ich nicht glaube, dass die eine oder andere schlechte oder dumme Inszenierung hier und da besonders viel Schaden angerichtet hat.

    Hört sich ausgesprochen überzeugend an! :)

    Bei mir ist auch immer mehr die Haltung entstanden, dass ich mit Theater, welches mich in erster Linie befremdet oder auch ratlos zurücklässt, ziemlich konstruktiv umgehen möchte. Auch ein empfundenes "Scheitern" eines Theaterabends (oder eines Konzerts) kann ich in den meisten Fällen "konstruktiv verbuchen". Es ist für mich eine Seite der Medaille, die einfach dazugehört, wenn Kunst nicht langweilig und berechenbar sein soll. Letzteres würde ihr Wesen m.E. verfehlen.

    Der Satz ist in der Nähe einer Tautologie. Wer sieht schon ein, an einer Sache etwas zu machen, was sie um den Inhalt bringt...?


    Das Problem steckt doch im Begriff "Kern".

    Sehe ich auch so. Letztlich geht es ja wieder um Ablehnung einer als zu stark empfundenen Diskrepanz zwischen Textdichtungen und Theateraufführungen, welche sich auf diese Dichtungen beziehen. Du hast zuvor ja irgendwo geschrieben, dass es wohl eher um graduelle denn um prinzipielle Einwände gehen kann. Mir scheint das plausibel.

    Wenn sich Janowski also einreiht und eingereiht wird in die Kritikerfraktion von RT (das hat er ja schon seit Langem getan), bringt das keine neue Ausgangslage für Argumentationen, sondern verdeutlicht lediglich seine Ablehnung und den Mechanismus, dass RT-Gegner gerne alle verfügbaren Mittel und Autoritäten hinter sich bringen möchten, um die (Musik-)Theaterlandschaft in ihrem Sinne zu verändern.

    Es ändert nichts daran, dass diese Fraktion keine allgemeinen ästhetischen Verbindlichkeiten für Theaterschaffende begründen, sondern im konstruktivsten Fall lediglich persönliche Haltungen/Überzeugungen formulieren kann.

    PRINZIPIELL gilt das eigentlich für jegliche Aufführung einer Oper eine Theaterstücks oder eines Konzerts. Es sei denn, es wurde aufgezeichnet.

    Genau. Deshalb war der Vergleich zwischen den Kunstformen "Theateraufführung" und "Opernpartitur/-libretto", der hier zuvor mal ins Spiel gebracht wurde, von vornherein verfehlt. Man kann das eine nicht gegen das andere ausspielen. Da hatten mir Werner Hintze und Melomane schon sehr nett die Zusammenhänge erläutert (Dank!). Ohnehin habe ich so einige lehrreiche Gedanken aus diesem Thread gewinnen können. Und das, obwohl wir uns hier ja in einem Forum tummeln, das sich dem offenen Kampf gegen bestimmte Tendenzen der Kulturlandschaft und generell die Kunstfreiheit verschrieben hat.

    Aus eigenem Erleben würde ich Werner Hintze zustimmen: Eine Theateraufführung ist etwas Einmaliges, Unwiederbringliches. Selbst zwei Aufführungen der gleichen Produktion mit den gleichen Mitwirkenden sind niemals völlig gleich. Auch eine Video-Aufzeichnung einer Theateraufführung ist keine Konservierung dieses Theaterkunstwerks, sondern wieder etwas anderes. Dennoch kann man natürlich die Wirkungsgeschichte bestimmter Opern-Produktionen untersuchen und ggf. daraus auch etwas über deren künstlerischen Rang schließen. Wobei die Produktion ja hier nicht eine einzelne Aufführung meint, sondern - aber da wage ich mich nun auf dünnes Eis - vielleicht die diesen Aufführungen gemeinsame Konzeption?

    Ist das dann auch so etwas wie Kunstwerk?

    Auf jeden Fall fehlt der Produktion im Sinne der Konzeption ja das Wesentliche des Theaters: die Aufführung selbst.

    Wieso macht der "Jahrhundertring" immer noch so von sich reden, wenn man da ja gar nicht mehr über das Wesentliche der Kunstform 'Theater' reden kann?

    Gar keine. Für das Theaterkunstwerk ist charakteristisch, dass Produktion und Rezeption zeitlich und räumlich zusammenfallen und dass es im selben Vorgang vergeht. Es hat keinen Bestand, kann nicht konserviert (aufgezeichnet) und nicht wiederholt werden. Demzufolge ist der Vorwurf, es habe keinen Ewigkeitswert lächerlich. Denn hat das Theaterkunstwerk deshalb nicht, weil es ein Theaterkunstwerk ist.

    Danke, dazu fällt mir im positiven Sinne wirklich nichts mehr ein.

    Aber ich habe eine weitere Frage, die mich beschäftigt: Kann die Wirkungsgeschichte einer bestimmten Inszenierung Hinweise auf deren künstlerische Qualität geben? Der von Bertarido ins Spiel gebrachte "Jahrhundertring" z.B. scheint mir so etwas wie eine "bleibende Instanz" der Operngeschichte zu sein. Was ja dem "transitorischen Sein" einer Theateraufführung schon rein begrifflich überhaupt nicht entspricht.


    Edit: Wenn ich das so lese... - Klar ist, dass ich hier nicht nach einem Theaterkunstwerk im Sinne der "Aufführung" frage. Die Inszenierung bezeichnet etwas Anderes. Und da fange ich an zu schwimmen. Wovon spreche ich, wenn ich mich auf die Inszenierung des "Jahrhundertrings" beziehe...??? Was lobt man da eigentlich mit so einem Begriff? Tut mir leid, aber da bin ich gerade wirklich so hilflos, dass ich nicht mehr weiß, ob ich überhaupt eine sinnvolle Fragestellung zustandegebracht habe. Wenn nicht: Bitte stillschweigend übergehen...:D

    Ich könnte es so ausdrücken: Ich denke, der Kunstschaffende sollte dem Publikum nicht ubedingt "nach dem Munde reden". Zumindest sollte seine erste Prämisse nicht notwendig sein, dass er entsprechend dem Publikumsgeschmack Kunst schafft. Er kann dies natürlich trotzdem tun, aber ich fände es falsch, dies von ihm zu erwarten oder gar zu fordern.

    Vielen Dank, ich verstehe.

    Eine weitere Überlegung dazu: Gab es in den Untiefen dieses Fadens nicht auch eine Stimme, die sinngemäß sagte, RT-Inszenierungen seien kurzlebig, schnell vergessen, bedeutungslos? Die "wahren" Werke hingegen würden sie überdauern und ihre künstlerische Überlegenheit dadurch auch untermauern? Ich denke nämlich, dass der künstlerische Versuch, sich einem (imaginierten) Publikumsgeschmack anzupassen, eher kontraproduktiv dabei sein könnte, Kunst zu erschaffen, die das Potenzial hat, eine nachhaltig lebendige Wirkungsgeschichte auszulösen.


    Künstler müssen sich natürlich weder um das eine noch um das andere scheren. Ich weiß auch gar nicht, welche Erwartungen Theaterschaffende über den "theatralischen Moment" hinaus an eine Inszenierung stellen könnten. Ich habe hier vor ein paar Seiten Karin Beier zitiert. Die macht sich in dem kurzen Text, auf den ich mich bezog, um das konkrete Gelingen des unwiederholbaren "Theaterabends" Gedanken - und um das, was er im Zuschauer auslösen könnte (sie bezieht also die Wirkung auf die Zuschauenden ausdrücklich mit in ihr Theaterverständnis ein!). Worauf sie in diesem Zusammenhang aber gar nicht hinaus will: Ob dem Abend nachträglich noch ein bleibender, wirkungsgeschichtlich relevanter "Wert" zugesprochen werden könnte. Im Gegenteil scheint sie mir der Ansicht, dass Theater die Freiheit habe, sich darum nicht zu scheren.

    Und noch weniger - und dass Gegenteil ist ja durchaus eine mindestens implizit formulierte Idee einiger, was ich tatsächlich viel schlimmer finde - sollte der Künstler den Publikumsgeschmack als Maßstab für das Schaffen eines/seines Kunstwerkes erheben.

    Ich weiß gerade nicht, wie du das "sollte" meinst, lieber Michael. Insofern frage ich mal ganz blöd nach: Warum sollte er den Publikumsgeschmack denn nicht als Maßstab nehmen?

    Es war ja unser beider kurzer Austausch, der deine Frage nach einem möglichen Berufsethos ausgelöst hat. Ich hatte zuvor den Fakt geäußert, dass gestaltende Künstler (die du genannt hattest) sich für die Art ihrer künstlerischen Erzeugnisse vor niemandem rechtfertigen müssen. Und hatte deine anschließende Frage nach dem Ethos als Misstrauensvotum diesen Künstlern gegenüber empfunden, da mir schleierhaft ist, weswegen man ausgerechnet bei ihnen davon ausgehen sollte, dass sie keinerlei Wertvorstellungen ihren Beruf betreffend in sich tragen sollten.

    Eine allgemeine Frage nach möglichen Aspekten eines solchen Berufsethos finde ich persönlich nicht verkehrt. Ich würde mich liebend gerne mit professionellen Theaterschaffenden austauschen bzw. ihnen in erster Linie zuhören, was sie darüber zu sagen haben.

    Und ich sehe das wie du: Wenn sie Auskunft zu so etwas wie einem Berufsethos gäben, dann erwartete auch ich, dass dieses sicherlich in einem dynamischen Verhältnis zu der Art und Weise stünde, wie sie ihre faktisch vorhandene künstlerische Freiheit nutzen.


    Wäre ich ein Theaterschaffender, empfände ich es aber sicherlich als wichtig oder gar entscheidend, wer mich unter welchen Umständen danach fragt. Läge in der Frage zugleich die Unterstellung eingebettet, ich könne angesichts eines von mir zu verantwortenden künstlerischen Werks ja kaum so etwas wie ein Berufsethos haben, wäre das für mich überhaupt keine akzeptable Grundlage für ein Gespräch darüber.

    Anderer Fall: Jemand sagte mir, ein solches Berufsethos müsse ja die und die Grundlagen aufweisen, damit es als ein solches gelten könne. Für mich aber sind diese Grundlagen nicht akzeptabel/relevant. Dann müsste ich registrieren, dass mein Gegenüber mir von vornherein ein unseriöses, falsches, schwachsinniges, ungültiges (etc.) Berufsethos unterstellt. Und das, obwohl er keine Ahnung hat, wie ich es selbst definiere oder zumindest umreiße. Auch in diesem Fall würde ich mich wohl auf keine Diskussion einlassen. Und ich wäre mächtig sauer.

    Na ja, ich finde Steckels Zauberflöte bzgl. RT-Faktor eher "harmlos"

    Ich hatte durch den von mir verwendeten Superlativ versucht deutlich zu machen, dass ich selbst nicht an die Formulierung "härtester RT-Tobak" glaube - aber sowas klappt im Netz natürlich nicht, mea culpa.

    Was mich tatsächlich gestört hat, dass Steckel meint, auf die Zwischentexte verzichten zu können (siehe auch hier).

    Das kann ich aus der Erinnerung heraus nachvollziehen. Meine Frau und ich fanden die Inszenierung seinerzeit kurzweilig und musikalisch gelungen. Ich meine aber auch, dass uns der Sinnzusammenhang und die handelnden Figuren z.T. nicht ganz überzeugten. Meine Tochter kennt "die Oper" :/ aber sehr gut und wird sicherlich Spaß daran haben, die Inszenierung mit ihrer Kenntnis produktiv zu verknüpfen.


    Beruflich beschäftige ich mich gerade mit einem Text der bekannten Theaterregisseurin Karin Beier. Es handelt sich dabei um einen Ausschnitt eines Vortrages, den sie 2010 gehalten hat. Mir gefällt, dass sie die Stärken von Theater darin ausdrücklich im Sinne seiner transitorischen Unmittelbarkeit sieht, die "unabhängig vom Prüfstand der Geschichte und unbelastet vom zukünftigen Urteil" ist. Sie leitet daraus eine umfassende Freiheit der Gestaltungsmöglichkeiten ab, die sich ausdrücklich auch im Bereich des Anarchischen und Unkontrollierbaren austoben und durchaus "an unsere niederen Instinkte" rühren könne. Da fange laut ihr "der Spaß erst richtig an".


    Ich will das hier nicht als etwas Allgemeingültiges hinstellen, im Gegenteil. Aber es macht m.E. die Selbstverständlichkeit deutlich, mit der Theaterschaffende aus dem unerschöpflich Möglichen (und manchmal vielleicht Unmöglichen:)) schöpfen können. Gut so.

    Danke, Christian. Für mich ist es in diesem Fall wirklich so, dass ich mich in erster Linie darauf freue, mit meiner Tochter in die Oper zu gehen. Das wird uns beiden sicher Freude machen, zumal der Aspekt "RT oder nicht RT" für uns praktisch keine Bedeutung hat.


    Und ja: Wenn RT als "Phänomen" negativ konnotiert werden soll, dann zöge ich es der Verständlichkeit halber auch vor, wenn mir jemand dann auch mit einem eindeutig wertenden Begriff aufwartet. Ich selbst bin, wie oben erwähnt, überhaupt kein großer Anhänger des Wortes 'RT', aber wenn ich es verwende, dann möchte ich das Phänomen gerne neutral verstanden wissen.

    Gibt es eigentlich unter den verbleibenden Kombattanten hier solche, die überhaupt in den letzten Jahren eine Operninszenierung besucht haben?

    Ob du mich zu diesem Personenkreis zählst oder nicht: Aber ich gehe morgen mit meiner Tochter in Jette Steckels "Zauberflöte" (Hamburger Staatsoper). Da ich die Inszenierung im Gegensatz zu meiner Tochter zum zweiten Mal sehen werde, rechne ich mit härtestem RT-Tobak (zu meiner Verwendung von "RT" s.u.): Tamino wird zu Beginn eine Herzattacke bekommen, und das weitere Geschehen lässt sich wohl als seine Nahtoderfahrung verstehen. Das Publikum wird zwischendrin mal animiert mitzusingen, Kostüme, Text und Bühnenbild weisen starke Diskrepanzen zum Libretto auf.


    Ich kann Werner Hintzes Kritik am RT-Begriff, denke ich, gut nachvollziehen. Semantisch ist dieses Kompositum wirklich unsinnig. Zudem gibt es keinen zufriedenstellenden Konsens hinsichtlich der Definition. Ich verwende es dennoch, weil es mir im pragmatischen Sinne ein Wort an die Hand gibt, mit dem ich eine grundsätzliche Tendenz benennen kann, die von unbedarften Mitdiskutanten in dieser grundsätzlichen Weise verstanden werden kann. Näheres müsste man dann differenzierter und vor allem mit eindeutigeren Begriffen besprechen. Der Begriff ist eine instabile Krücke. Mir erscheint sie aber bislang noch einigermaßen praktisch.

    Für mich hängen Fragen von großzügig ausgelegter künstlerischer Freiheit und die Frage nach Werktreue bzw. in wieweit sie ignoriert werden darf unmittelbar mit einer ethischen Haltung des gestaltenden Künstlers ( hier konkret gemeint : des Regietheater-Regisseurs) zusammen. Wie weit darf man dieses Privileg der künstlerischen Freiheit für Neubearbeitungen nutzen und wo sind die Grenzen zur Zweckentfremdung, gar zum Missbrauch usw. . Ich verstehe aber, wenn man diese Sicht nicht teilt und darum müssen wir das nicht unbedingt weiter verfolgen.


    Ja. Bertarido hat gestern in den Beiträgen #1003 und #1016 ähnliche Ansätze beschrieben. Ich fände kurze Kennzeichnungen dieser Art gut und dem ursprünglichen Opernkomponisten auch irgendwie gerecht, weil nochmal klargemacht wird, dass nicht unbedingt das gezeigt wird, was er mal aufgeschrieben hat.


    Gruß....:hello:

    Okay. Vorsichtshalber dennoch eine Ergänzung von mir: Ich bezog mich auf die faktisch gültige künstlerische Freiheit, nicht auf eine "großzügig ausgelegte", die als "Privileg" gelten könnte. Wir scheinen da nicht von der gleichen Sache zu reden.

    Dennoch sollte es meiner Meinung nach doch so etwas wie einen Berufsethos, auch bei gestaltenden Künstlern, geben. Vor allem, wenn sie sich Werken bedeutender Persönlichkeiten der europäischen Kunstgeschichte bedienen. Ich meine, jeder von uns, der einem normalen Beruf nachgeht, muss sich doch an bestimmte geschriebene, oft auch ungeschriebene Regeln, halten. Ein Banker hütet immer das Bankgeheimnis gegenüber seinen Kunden, er veruntreut nicht und betreibt keine Insidergeschäfte. Ein Brauer richtet sich nach dem Reinheitsgebot. Ein Lehrer behandelt seine Schutzbefohlenen alle gleich. Ein Kaufmann ist ehrbar. Wissenschaftler sind sorgfältigem Arbeiten verpflichtet und dürfen nicht plagiieren. Juristen verteidigen die Gesetze und beugen sie nicht , Ärzte sind dem hippokratischen Eid verpflichtet. Ein Kunsthändler darf nicht wissentlich gefälschte oder mit unsauberer Provenienz ausgewiesene Gemälde verkaufen. Ein Weinhändler panscht nicht. Ein Bestatter übervorteilt nicht die trauernden Angehörigen usw. usf.. Für wohl jeden Berufsstand gelten bestimmte Regeln, geschrieben oder ungeschrieben..


    Nur für Künstler einer bestimmten Szene sollen keinerlei Verbindlichkeiten oder moralische Prinzipien gelten? Wieso eigentlich nicht? Gerecht wäre das nicht. Sie sind doch nichts Besonderes oder wie? Ich bin der Meinung, wer ein ehrlicher und anständiger Kerl ist ( ich gehe jetzt mal von Männern aus) schmückt sich nicht nicht mit fremden Federn, er hat es nicht nötig. Wenn ein Opernregisseur beipielsweise" Lohengrin - Romantische Oper in 3 Akten von Richard Wagner" inszeniert, dann muss das Werk, auch wenn es großzügig neu interpretiert wird, in seinen wesentlichen Bestandteilen erkennbar bleiben, sonst ist es in meinen Augen ein Etikettenschwindel.


    Gruß...:hello:

    Ich finde ein Berufsethos so per se auch nicht schlecht. ;) Dass du auf dieses im Zusammenhang mit gestaltenden Künstlern kommst, dürfte wohl ein Ausdruck grundsätzlichen Misstrauens sein, oder? Denn mit der von mir angesprochenen Gestaltungsfreiheit hat das sachlogisch für mein Verständnis nichts zu tun.

    Ich jedenfalls kann nicht für Theaterschaffende sprechen, da ich keiner bin. Vermutlich haben viele von ihnen Wertvorstellungen hinsichtlich ihrer Arbeit, denn ich kann mir kaum vorstellen, dass man sie sonst auf hohem Niveau ausführen könnte. Aber Theaterschaffenden einen Extrastrauß moralischer Prinzipien zu binden, leuchtet mir nicht ein (das hast du allerdings auch nicht ausdrücklich gemacht). Ich denke, dass moralische Prinzipien für alle gleich gelten müssten.

    Du nimmst diesen Gedanken nun mit in die Diskussion hinein, ob RT Etikettenschwindel sei. Und da bin ich sehr skeptisch. Ich glaube auch hier ganz pragmatisch, dass man sich schon wirklich sehr grün hinter den Ohren zeigen müsste, um immer wieder auf Aufführungen "hereinzufallen", die in sehr freier Weise auf Setting und Handlung eines Stückes bezogen sind, dessen Titel auf dem Programm erscheint.

    Es wurde ja hier schon so einiges probiert, um so etwas wie einen "aufführungsgerechten" (:)) Programmzettel hinzubekommen. Ich sehe darin aber kein gewichtiges Problem, so gerne auch ich um Klarheit bemüht sein möchte. Aber es sollte m.E. auch nicht zu kompliziert und unpraktisch werden. Die meisten Opernbesucher wissen, dass die Spanne von... bis... gehen kann. Zudem gibt es keine klaren Kriterien für "stark RT", "mäßig RT" und "wenig RT" - und sehr niedrigschwellige Möglichkeiten, sich vorab zu informieren!

    Doch: Durch Entzug von Ansehen und Geld, wie es z.B. bei der Documenta dieses Jahr passiert ist.

    Dass man Kunstschaffende sanktionieren kann, steht außer Frage. Das ändert aber nichts daran, dass sie bei jedem neuen Werk eine (juristisch begrenzte) Gestaltungsfreiheit haben, mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu arbeiten. Und auch die Freiheit, sich vermeintlichen Autoritäten dabei nicht zu beugen.

    (...) könnte man sagen, es gibt keine Verbindlichkeiten und alles was nicht verboten ist, ist grundsätzlich auch erlaubt? Ich versuche gerade, die "Denke" dahinter zu verstehen.

    Meine "Denke": Genau so "könnte man sagen", wie du es gefragt hast.

    Es gibt in diesem Thread kein einziges stichhaltiges Argument dagegen. Was mich nicht wundert, denn Künstlern ist hierzulande ein (gesellschaftspragmatisches) Maximum an Gestaltungsfreiheit gegeben. Mich wundert es aber zunehmend, dass diese faktisch gültige Konstellation immer wieder hinterfragt wird in dem Sinne, ob es denn wirklich so sei. Es ist so. Ein Künstler muss sich vor keinem Kritiker, Publikum, Ästhetiker, Politiker, keiner Institution oder Behörde für die inhaltliche Seite seines Tuns rechtfertigen. Für dieses trägt er Verantwortung (das wurde ja bereits mehrfach erwähnt) - und dass dies kein Leichtes ist, dürfte vielen Nicht-Künstlern dennoch klar sein. Denn er befindet sich ja schaffenderweise in einem komplexen Spannungsfeld (das allerdings individuell unterschiedlich aussieht), welches sowohl von äußeren als auch von inneren Faktoren beeinflusst wird.

    Ich denke weiterhin, dass die Kunstgeschichte bereits mehrfach bewiesen hat, dass Künstler sich grundsätzlich von allen vermeintlichen "Verbindlichkeiten" emanzipieren können. Ich würde sogar sagen: Dies liegt im Wesen der Kunst. Sie lässt sich von außen durch keine theoretischen Vorgaben festlegen. Sie hätte jederzeit die Möglichkeit, diese zu unterlaufen oder zu ignorieren. Und in diesem Sinne hinkt die Ästhetik den Kunstschaffenden auch immer hinterher. Umgekehrt jedenfalls wird kein Schuh draus.

    Natürlich lassen sich "Verbindlichkeiten" fordern. Das wurde hier ja auch mehrfach gemacht. Die Hilflosigkeit dieser Forderungen ist aber unübersehbar, weil sie immer wieder an der Grenze des faktisch Gegebenen scheitert. Es bleiben Forderungen mit Wunschcharakter.

    Ganz besonders im 20. Jahrhundert hat sich herauskristallisiert, dass erstens jedes Werk auch so etwas wie eine "eigene" Sprache spricht, die aus sich selbst heraus verstanden werden muss. (Das war m.E. allerdings prinzipiell mit bedeutender Kunst schon immer so.) Zweitens thematisiert Kunst im 20. Jahrhundert auch deutlichst den Kunstbegriff und ihr Kunst-Sein selbst. Aber auch hierbei wäre sie in keinem einzigen Fall gewzungen, sich der Gedanken eines philosophischen Theoretikers zu bedienen. Diese Aspekte ihrer Autonomie werden ihr nicht zu nehmen sein - außer zeitlich beschränkt mithilfe roher Gewalt.

    Hier im Faden wurde ja mehrfach festgehalten, dass Wand für seine Orchester sicherlich kein "einfacher" Dirigent war. Ich sah eben in der kleinen Doku meinen Schwiegervater, und für den steht Wand aber immer noch ganz oben mit Blick auf die zahlreichen Spitzendirigenten, unter denen er gespielt hat. Er erzählt auch immer noch gerne über die messerscharfen (aber gutmütigen) Ansagen und Kommentare, die in den Proben gefallen sind. Wand hat ihn also gerade auf Grund seiner Akribie, seines starken Willens und des hohen Arbeitsethos (und natürlich der klanglichen Ergebnisse) überzeugt. Ich selbst habe Wand in seinen letzten Jahre glücklicherweise auch noch ein paarmal auf der Bühne gesehen.

    Finde ich schön, dass du "Rock-Jazz" schreibst. Meistens wird das ja umgekehrt verwendet. Aber bei Davis ist es so klar, dass das Wesen der Musik wirklich nur über den Begriff Jazz kategorisiert werden kann - wenn man so etwas nicht grundsätzlich ablehnt.

    Ich hatte in den letzten beiden Monaten viel mit Davis am Hut. "Bitches brew", "In a silent way", "Agharta" - das sind meine großen Lieblinge der elektrischen Phase. Hochinteressant auch die Übergangsphase dahin, z.B. auf dem Album "Filles de Kilimanjaro" eingefangen. Das allerbeste Ensemble aber höre ich weiterhin im "Second great quintet". Die Fünf unternehmen da miteinander die waghalsigsten Höhenflüge in den buntesten Formationen. Höchst faszinierend.

    So wie Mahler aus den provinziellen Wiener Philharmonikern ein Weltklasse Orchester formte, so machte es Günter Wand mit dem NDR Sinfonieorchester auch. Seine Konzerte waren ja damals ziemlich legendär, besonders bei Beethoven und Bruckner.

    Was Günter Wand wohl angesichts des vermurksten Klanges der "Elbphilarmonie" und "seines" Orchesters heute wohl sagen würde?



    Was er zum Orchester sagen würde, kann ich so gar nicht erahnen. Eine ganze Reihe der jetzigen MusikerInnen hat ja noch unter ihm gespielt.

    Eine Vermutung zur Akustik der Elphi hätte ich allerdings - ich kann mir nicht gut vorstellen, dass er diese Art eines aufgespreizten Bühnenklangs einer mehr verschmelzenden Akustik vorgezogen hätte. Eine müßige Spekulation, sicher. Dennoch für mich nicht uninteressant vor dem Hintergrund, wie unterschiedlich sich lebende Musiker/Dirigenten über die Elphi äußern.

    Die Frage nach dem "Ewigkeitswert" ist natürlich zu komplex und ins Philosophische führend, um sie mal eben in einem Posting beantworten zu können. Klar, selbst viele ältere oder auch neuere "Klassiker" werden nicht "ewig" explizit bedeutsam bleiben, wobei sie es für den allergrößten Teil der Menschen vordergründig eh nicht sind und niemals waren.

    Dennoch bin ich von einer Sache völlig überzeugt: Kultur - und damit Literatur - ist nicht zuletzt hinter- und untergründig einflussreich auf unser aller Leben. Literatur kann kollektive Wahrnehmung, Perspektivität und dadurch auch gesellschaftliche Diskurse verändern, ohne dass dies im Einzelnen immer nachzuverfolgen wäre und dies auf ihre Leser beschränkt bliebe. Was wiederum heißt: Du kannst "Das Schloss" und "Der kleine Prinz" niemals mehr ganz aus der Welt schaffen. Stattdessen bildet sich von ihnen ausgehend ein immer komplexeres Labyrinth lebendiger Spuren. Das ist für meine Begriffe schon mal nicht wenig.

    Wir schreiben langsam an der Sache vorbei. Ich habe die Quint/Oktavparallelen, Albertibässe als mögliche Beispiele zitiert (die keinen Absolutheitsanspruch haben) auf die Bemerkung von Leiermann "Mängel" in Beethovens Spätwerk, verbunden mit der Frage, was denn unter musikalischen Mängeln zu verstehen sei. Darauf gibt es, wie zu vermuten, viele Antworten, die alle subjektiv sind.

    Also, nimm bitte zur Kenntnis, dass ich Albertibässe für einen musikalischen Mangel ansehe, und ich respektiere Deine Gegenansicht.

    Kritik an Albertibässen ist übrigens so alt wie sie, zu finden bei CPE Bach (Versuch; Briefe an Claudius, Forkel); G. Türk (Clavierschule); uvam.

    Lieber Bachianer, ich weiß nicht, ob wir uns da richtig verstanden haben. Ich habe dir jedenfalls überhaupt keine Frage zu etwaigen Mängeln in Beethovens Spätwerk gestellt. Ich habe aber darauf hingewiesen, dass derjenige, der darüber ein relevantes Urteil fällen möchte, dies nicht aus einer subjektivistischen Beliebigkeitshaltung heraus tun kann.

    Du hingegen scheinst mir genau darauf pochen zu wollen, ästhetische Urteile seien durch und durch subjektiv, oder?

    Jedenfalls: Das entspricht nicht meiner Erfahrung und damit auch nicht meiner Überzeugung. Fundiert hergeleitete, in ihrer Gewichtung transparent vermittelte Musikkritik kann m.E. eine gewisse Gültigkeit beanspruchen. Darüber müsste man allerdings eine Diskussion führen, die hier wohl fehl am Platze ist.

    Was ich sehr befremdlich finde: Dass man gewisse musikalische Mittel per se als mangelhaft tituliert. Das lehne ich klar ab mit einem Rückverweis auf mein Credo, musikalische Qualität bzw. Defizite seien stets vom konkreten Werk aus zu begründen. Ich möchte dir damit deine tief sitzende Abneigung gegen Albertibässe nicht ausreden. Da es aber Musik von herausragender Qualität gibt, in denen auch Albertibässe eine Rolle spielen, haben sie nach meiner Überzeugung schlicht und ergreifend ihre grundsätzliche künstlerische Berechtigung erwiesen.

    Ich stoße mich auch bei jedem Absatz mehrmals. z.B.:

    Die Conclusio soll sein: "Das ist ein psychologisches Konzept, keine kompositorische Berechnung". Sehe ich auch nicht ein, denn das psychologische Konzept gehört ja zur kompositorischen "Berechnung".


    Und dann die Manipulation - sobald etwas Ideologisches übermittelt werden soll - und im Text oder Film, der eine Handlung erzählt, gibt es das in der Regel - kann man das als Manipulation auffassen, egal welche Art von Text oder Film und mit oder ohne Musik. Selbst wenn das Programm ist, das kritische Denken des Rezipienten anzuregen, geschieht das idR mit Manipulation. In der Oper gibt es auch diverse Möglichkeiten des Text-Musik-Verhältnisses. Und in der Geschichte des Hollywood-Films ändert sich auch die Strategie der Filmmusikgestaltung. Wenn vielleicht der Opernkomponist Puccini und der Filmkomponist Max Steiner exakt die Handlung Moment für Moment akustisch miterzählen und dadurch emotional verstärken wollen, so ist das natürlich ein kompositorisches Konzept, das dann sowohl in der Oper als auch in der (Hollywood-)Filmmusik später durch andere Konzepte ersetzt wurde. Da Steiner und Korngold aus dem Opernzentrum Wien kamen, ist diese Gemeinsamkeit auch nicht besonders überraschend.

    Dem kann ich mich grundsätzlich sehr anschließen. Kunst einen Manipulationsvorwurf zu machen, führt m.E. zu wenig bis nichts. Künstlern vorzuwerfen, sie würden Überlegungen zur (psych.) Wirkung in ihre Arbeit einbeziehen, käme mir reichlich abstrus vor. Im Gegenteil: Umso besser, wenn sie genau wissen, wie das geht!

    Illusionstheater abzuwerten mit dem Hinweis, es würde da mit allen möglichen suggestiv wirkenden Mitteln eine einnehmende, das Gefühl ansprechende, irreführende Scheinwelt etabliert, geht ins Leere. Wie du selbst sagst: Auch der auf scharfsinnige und auf sich von der Fiktion distanzierende Reflexion abzielende Künstler setzt Mittel gezielt ein, um diesen Mechanismus zu bewirken. Gut, dass beides möglich ist - und noch viel mehr jenseits dieser Polarität.

    Lieber Leiermann,


    ich widerspreche Dir zu keiner Sekunde. Nur, die Beurteilung der Relevanz von Musik und Texten ist und bleibt subjektiv. Deswegen lese ich ziemlich fassungslos die hier auftretenden "Beurteilungen" von Musikwerken, deren Interpretationen und "Deutungen". Wenn jemand mit Bach´schen Fugen, Beethovens Spätwerk, Schuberts Liedern, der Zauberflöte, Wagner nichts anfangen kann, so ist das seine/ihre höchst individuelle Einstellung, die vornehmlich nur auf ihn/sie zutrifft.

    Wir wissen doch in den meisten Fällen garnicht, ob der Komponist seine Werke immer gleich interpretiert hat. Ich habe da erhebliche subjektive Zweifel.

    Na klar, 'Beurteilung' im Bereich des Ästhetischen ist ein Begriff, der Subjektivität impliziert. Es gibt jedoch Urteile, die sich durch Überzeugungskraft/Plausibilität auszeichnen. Und diese entstehen durch Nachvollziehbarkeit, also Möglichkeiten der Überprüfung.

    Wer also Beethovens Spätwerk als mit Mängeln behaftet darstellen möchte, sollte das so tun, dass sein Urteil nicht auf tönernen Füßen steht. Und er wird nicht umhin kommen, sich mit vielen Urteilen anderer heller Köpfe auseinanderzusetzen, welche die Relevanz des Spätwerks bereits überzeugend hergeleitet haben.

    Welch treffende Aussagen! Vielleicht könnte man auch einmal behaupten, dass diese "berüchtigten" Spätwerke Produkte eines schwerkranken Menschen waren, der zudem durch seine Taubheit vermutlich auch noch psychisch äusserst belastet war. Wer wagt da noch Deutungsansätze?

    Behaupten kann man natürlich viel. Es ist nur so, dass derlei Spekulationen nichts an den Kompositionen ändern. Und um die sollte es doch gehen. Wer diese nun "deuten" (in Bezug auf Musik eh ein äußerst heikles bis grundsätzlich umstrittenes Unterfangen) und dabei Anspruch auf Gültigkeit anmelden will, muss sich schlicht in einen vielstimmigen, dynamischen Deutungsdiskurs begeben und dort durch Plausibilität überzeugen. Wenn sich in diesem Zusammenhang biographische Aspekte eindeutig aufdrängen - umso besser. Insofern nützt es nichts, hier allgemeine Aussagen zu treffen: Jede Komposition müsste hinsichtlich ihrer Relevanz individuell (und immer wieder neu) bestätigt werden.

    Tja, diese Hollywoodprodukte wurden/werden häufig als "Seifenopern" bezeichnet, gleich ob Filme oder Serien. Dieser treffliche Ausdruck ist jedoch älter als Hollywood. Meine beiden sehr musikalischen Großmütter (beide in den 60ern des 19. Jhdts. geboren) kannten den schon, obwohl sie nie ein Hollywoodprodukt gesehen haben, Kinos gab es im finstersten Niedersachsen damals noch nicht. Sie bezeichneten damit echte Opern, häufig mit grauenvollen Texten ("feuchtes Nass füllt meine Nase") und entsprechend manipulativer Musik.

    Dass die Texte geistlicher Gesangswerke teilweise auch grauenvoll sind war/ist bekannt. Auf "Textqualität" wurde jedoch da nicht geachtet. Sie sollten ein Glaubensziel ansprechen. Für den protestantischen Teil der Kirchenmusik galt: alle Texte mussten vor Druck und Vertonung durch die "geistliche Zensur" um zu kontrollieren, dass sie den Dogmen (hier: lutherische Orthodoxie) entsprachen. Darauf kann man sich auch heute noch einstellen.

    Vielleicht hilft es weiter: Goethe war durch seine Freundschaft mit Zelter sehr "bachisch" beeinflusst, was man vom frühen Schubert nun nicht behaupten kann.

    Auch hier gilt für mich: Mit pauschalen Zuschreibungen kann ich nichts anfangen. Jede Oper muss für sich selbst bestehen. Nur weil es schlechte Texte gibt, heißt das nicht, dass es keine großartigen Opern (resp. hochwertige Kirchenmusik) gäbe.