Was die Faszination der "Zauberflöte" ausmacht, ist natürlich eine Frage, die nicht mal eben so zu beantworten ist. Meine folgenden Überlegungen beinhalten nur Aufhänger, also Aspekte, die im Einzelnen einer deutlich komplexeren Herleitung bedürften, um Anspruch auf Überzeugungskraft zu haben. Das ist mir sehr bewusst, und so würde ich mich deshalb auch gerne verstanden wissen.
Das allererste Wort richtet sich auch bei mir auf die Musik. Ich weiß nicht, ob es ein Werk gibt, das Mozarts Credo, Musik müsse für Kenner als auch Liebhaber attraktiv sein, so eindrucksvoll repräsentiert. Die musikalische "Buntscheckigkeit", also die stilistische Bandbreite, ist schlicht außergewöhnlich bis einzigartig. Nicht nur, dass auch das vordergründig einfache Strophenlied Papagenos in Wirklichkeit von beeindruckender Qualität ist (und ich wüsste nicht, wo man in der "Zauberflöte" echte musikalische Qualitätsabstriche begründen wollte): Jede stilistische Entscheidung Mozarts offenbart im musikdramatischen Zusammenhang einen Sinngehalt, bezieht sich also in stimmiger Weise auf das Geschehen und verleiht den Figuren einen großen Teil ihres wahrnehmbaren Profils, selbst wenn dies dem Zuschauer längst nicht immer bewusst ist. Und insgesamt nimmt das Publikum ja offenbar schon über 200 Jahre lang den Stilmix als in sich geschlossen wahr. Der Kenner findet überdies noch ein fruchtbares Betätigungsfeld darin, dass die "Zauberflöte" durchaus so etwas wie ein Sammelwerk bisheriger Operntraditionen ist, und sich daran nicht nur zeigt, wie umfassend Mozarts Blick auf die musikalischen Entwicklungen seiner Vergangenheit war, sondern mit welch unglaublicher Gestaltungskraft und Kreativität er dieses Wissen in eine künstlerisch originelle, überzeugende und zeitgemäße Form brachte - ohne jeglichen Anflug von Akademismus!
Zu der Musik gehört auch, dass das Libretto natürlich seine Qualitäten hat. Anders ginge es nicht. Ich habe gerade im letzten Jahr einiges gelesen, das mich von der faszinierenden Subtilität des Wort-Ton-Verhältnisses an vielen Stellen völlig überzeugt hat. Dafür müsste man aber in die vertiefende Analyse gehen, und dafür ist hier jetzt nicht der Ort (von meiner Zeit ganz zu schweigen).
Das Profil der Figuren hatte ich eben bereits kurz erwähnt. Sie sind im Wesentlichen allegorisch angelegt. Wenn man dies berücksichtigt, ergibt sich übrigens ein veränderter Blick auf einige "problematische" Verhaltensweisen oder auch Widersprüche. Das Schöne an ihnen ist aber, dass sie keine schematisch-plakative und damit "leblose" Allegorien, sondern sorgfältig auf menschlich verständliche Grunddispositionen hin entwickelt sind, die ganz offenbar als zeitlos empfunden werden.
Die Figurenkonstellation ist nach meinem Verständnis ebenfalls meisterhaft, da sie ein konzentriert erstelltes Spannungsfeld ergibt, das einerseits als Ordnung begriffen werden kann, andererseits aber so viele Bezugsmöglichkeiten eröffnet, dass die Auseinandersetzung damit auch heute noch nicht erledigt ist - wie bei jedem Kunstwerk, das überzeitliche Dauer beanspruchen darf.
Ich sehe es (wie in anderen Beiträgen weiter oben schon angesprochen) ebenfalls so, dass diese ganze Freimaurerei-Thematik inklusive Mysterieneinweihung usw. natürlich NICHT als Attraktivitäts-Plus aus heutiger Sicht (und damals wohl auch nur zu geringem Teil) zu werten ist. Wer von uns verbindet damit schon was Entscheidendes. Allerdings glaube ich, dass die Verschränkung des märchenhaften mit dem freimaurerischen Setting eben auch etwas beinhaltet, das reizvoll ist. Es entsteht dabei eine ebenfalls sehr originelle Mischung, die den Aspekt des Geheimnisvollen und natürlich auch "Exotischen" in sich trägt. Zudem lässt sich das humanistische und aufklärerische Gedankengut, das über die musikdramatische Handlung vermittelt wird, auch heute noch gut an Mann und Frau bringen - das Humanitätsethos kommt dabei ohne moralisierenden Zeigefinger daher, wird in den unterschiedlichen Figuren z.T. sogar "gebrochen" (Papageno) und wirkt damit auch menschlich zugänglich. Hinzu kommt die Liebe, die nicht nur empfindsam besungen, sondern sogar als stiftendes Prinzip einer neuen Ordnung erscheint: Erst das Paar (!) Pamina/Tamino erfüllt am Ende die Idee dieser neuen Ordnung - Sarastro verkörpert sie eben NICHT. Was man als Anknüpfungspunkt für ein Verständnis seiner Rolle nehmen könnte, welches nicht ständig über unlösbare Widersprüche stolpert. Jedenfalls: Nicht zuletzt das Prinzip der Liebe (hier überhaupt nicht erotisierend verstanden) führt am Ende zum Triumph über die alte Ordnung - auch das fühlt sich für ein Opernpublikum wohl nicht so ganz schlecht an. Es erscheint mir sogar eine unabdingbare Voraussetzung für den Erfolg der Oper zu sein, denn die Mysterienhandlung bliebe sonst wahrscheinlich zu abstrakt, womöglich auch idealistisch-moralisierend - und damit wirkungslos. (Dass diese Ebene der Handlung aber durchaus sinnlich-fassbar gestaltet ist, wäre ein weiterer Pluspunkt.) Dennoch ist das mit der Liebe ja nicht nur ein wirkungstechnischer Kunstgriff. Mozart scheint in seinen letzten Lebensjahren erkannt zu haben, dass die Aufklärung nicht der humanistischen Weisheit letzter Schluss war - die empfindsame Liebe (das weist Borchmeyer sehr schön nach) war bei ihm nicht nur in der "Zauberflöte" menschlich unverzichtbares Programm. Es handelt sich hier also um einen Schlussakt der Überzeugung, und das vermittelt sich dem Betrachter ebenfalls. Welchen Einfluss allerdings genau Mozart auf das Libretto nehmen konnte, ist nicht mehr zu klären. Dass er dies tat und eine enge Zusammenarbeit mit Schikaneder erfolgte, ist u.a. durch Letzteren selbst allerdings verbürgt.
Dass Schikaneders Bühnenerfahrung und -talent Mozarts letzter Oper sehr zugute kamen, sieht man z.B. an der gleichermaßen ökonomischen wie publikumswirksamen Nutzung der Bühne: Kunze widerlegt die Annahme einer "zufällig-durcheinandergewürfelten" Organisationsstruktur der Handlung durch den Hinweis auf das regelmäßige Alternieren von tiefer und kurzer Bühne als ordnungsschaffendes, motiviertes Prinzip. Dem entspricht übrigens auch das Alternieren der beiden Prinzipien Handlung/Bewegung und Kontemplation/Verharren, welches natürlich in Korrespondenz mit der musikalischen Komposition gestaltet ist.
Die sog. "Bruchtheorie" scheint ja auf den ersten Blick eine problematische Seite des Werks zu betonen. Ganz davon abgesehen, dass einige bedeutende Autoren sie als widerlegt publizieren, bleibt aber natürlich dennoch das "Problem", dass ein Publikum sich stets aufs Neue mit den vordergründigen Widersprüchen des Geschehens konfrontiert sieht. Allerdings meine ich, dass der Erfolg der "Zauberflöte" unmöglich wäre, wenn diese Widersprüche das Gefühl für den inneren Zusammenhalt sprengen würden. Es ist ja - die Rezeptionsgeschichte zeigt es - definitiv nicht so. Ich selbst folge der Ansicht, dass gerade das Unterlaufen von Vorurteilen und Erwartungen, das Changieren der Perspektive, die Irritation über den Verlauf der Handlung und die Verhaltensweisen der Figuren Teil der Ausnahmestellung des Werks sind. Das mag sich für Skeptiker sehr unglaubwürdig anhören. Aber mittlerweile (und nach vielem Lesen) bin ich davon schlicht überzeugt, dass diese Oper auch in diesem Sinne des Perspektivwechsels "neu" war: Der Prozess des Ablegens von Vorurteilen zugunsten einer neuen Ordnung ist sowohl in der Handlung selbst (in erster Linie bei Tamino) als auch auf der Seite des zunächst "unaufgeklärten" Zuschauers wirksam.
Lütteken gibt am Ende seiner lesenswerten Schrift "Mozart - Leben und Musik im Zeitalter der Aufklärung" eine Überlegung Goethes wieder, die eigentlich auf den "Don Giovanni" bezogen ist. Als ich sie las, musste ich allerdings sofort auch an die "Zauberflöte" denken. Es geht darin um die "Spannung zwischen dem Wahren, dem Wahrscheinlichen, dem Komischen und dem Tragischen in der Ganzheit (...) eines Kunstwerks". Davon lebt auch Mozarts letzte Oper sowie ihre überragende Wirkungsgeschichte.