Wieder mal zeigte es sich, dass man grossartiges Theater auch in der tiefsten Provinz, in diesem Fall in der Schweizer Provinz, erleben kann.
Verdis Giovanna d’Arco kannte ich nur aus einer TV-Übertragung mit Anna Netrebko und daher nahmen mein Mann und ich die Gelegenheit wahr, auf einer Fahrt nach Frankreich in Biel eine Vorstellung der Oper zu besuchen.
Der Regisseur Yves Lenoir siedelte die Handlung nicht im Jahr 1429 an, sondern verlegte sie in eine vollkommen unbestimmte Zeit. Kriege waren und sind nun mal Erlebnisse, deren Grausamkeit sich im Laufe der Jahrhunderte nicht verändert hat. Vordergründig geht es natürlich um die Jungfrau von Orleans und ihren Kampf gegen die Engländer, aber nicht die Kriegsereignisse und die Befreiung Frankreichs stehen im Vordergrund, sondern die drei Hauptpersonen und ihre persönlichen Konflikte.
Giovanna, die pubertierend, eigensinnig bis uneinsichtig, engagiert und militant für eine gute Sache kämpfen will trifft auf den schwachen und nicht besonders männlichen König Charles und verhilft ihm zum Sieg über die Engländer. Sie bemerkt, dass Charles sie zu halten versucht um sie an sich zu binden, gibt ihren Gefühlen aber nicht nach und kehrt nach Hause zurück.
Giovannas Vater hat Probleme mit seiner Ehre, die er verletzt sieht, da er seine Tochter für die Geliebte des Königs hält und daher auf Rache sinnt und Giovanni an die Engländer verrät. Schwierige Väter gibt es viele in Verdis Opern, selten aber ist einer so gespalten wie dieser, der zwischen Glaube, Tochter und Staatsräson schwankt.
Es geht hier nicht um Politik und Rettung des Vaterlands, sondern um familiäre Probleme zwischen einem dominanten Vater und einer von ihrer Sache überzeugten Tochter. Die alles überragende Leistung der Regie liegt darin, dass sie nicht aktualisiert indem sie auf zur Zeit heutige Themen und Personen Bezug nimmt, sondern dem Zuschauer Raum lässt, seinen eigenen Assoziationen zu aktuellen Ereignissen bachzugehen. Ist Giovanna eine vorweggenommene Greta Thunberg? Eine religiöse Überzeugungstäterin? Ist der vom Vater angestachelte Stimmungsumschwung im Volk von der Verehrung als Fast-Heilige zur Hexe, die auf den Scheiterhaufen soll, vergleichbar mit populistischer Hetze im Jahr 2019?
Der Regisseur lässt zum Glück genügend Raum für eigene Interpretation und Gedankenspiele.
Die Stars des Abends sind Astrik Khanamiryan mit einem ganz charakteristisch gefärbten Sopran als Giovanna, die die innere Zerrissenheit dieser Figur stimmlich bestens veranschaulicht und Michele Govi als markiger, aber nicht weniger innerlich zerrissener Vater Giacomo.
Infos und Fotos: https://www.tobs.ch/de/musiktheater/stuecke/stueck/prod/450/