Ein herzliches Hallo in die Runde. Ich war schon eine ganze Weile nicht mehr hier im Forum aktiv, aber nicht zuletzt dieser Thread hat mich bewogen hier wieder einmal vorbei zuschauen. 
Ich möchte etwas zu diesem Thema und zur Grundfrage beitragen - allerdings nicht aus Sicht des Zuhörers sondern des Musikers.
Aber zunächst zum Zuhörer: Das Publikum hört bei diesen Stücken im Konzert motiviert, aber oft etwas ratlos zu. Sie mögen durchaus den Chorklang, die Harmonie oder die Akustik des sakralen Raums welche diese Musik besonders eindrucksvoll zu unterstützen scheint. Aber meist verlieren sie sich im Stück und wachen am Ende wieder auf. Am Ende des Konzerts ist es häufig so dass dem Zuhörer diese Stücke am wenigsten in Erinnerung geblieben sind. "Irgendwie schön" - aber der persönliche Zugang fehlte.
Nun schauen wir auf die andere Seite - das aufführende Ensemble (ich gehe hier stets von a capella Vokalensembles aus). Renaisance-Musik scheint zunächst leicht zu bewältigen zu sein. Tonal scheint sie nicht außerordentlich anspruchsvoll zu sein, bewegt sie sich doch immer im Rahmen der gewählten Tonart. Schwerer (aber nicht zu schwer) ist der nicht selten vertrackte Rhythmus welcher dem gewohnten taktweisen Empfinden entgegensteht. Daher meinen viele Ensembles und Chorleiter dass eine Motette von Josquin des Prez oder Thomas Tallis für einen Laien-Chor "gut machbar" ist. Aber genau das ist ein Trugschluss der zu sehr vielen konzertanten Aufführungen führt in denen polyphone vokale Renaisance-Musik vor allem eines ist - irgendwie langweilig.
Auch aus Sicht des Musikers ist alte Musik zunächst irgendwie sperrig. Man müht sich und gibt sein bestes - aber irgendwie bleibt die Musik trotz perfekt geprobten Tönen usw. ohne Glanz und Feuer.
Das liegt daran das diese Musik völlig anders musiziert werden muss als bspw. Mendelssohn oder Mozart. Die Musizier-Prinzipien unterscheiden sich wesentlich von unserem romantisch geprägten Empfinden wie Musik zu musizieren sei - und genau das ist ein Grundproblem. Wendet man romantische Stilmittel auf Tallis & co an dann passiert genau das was ich oben beschrieb - die Musik klingt langweilig und man schafft es einfach nicht einen Zugang zu ihr zu bekommen - emotional aber auch eben musikalisch.
Hat man das Glück einen versierten Chorleiter vor sich zu haben, kann etwas wundervolles mit dieser Musik passieren. Sie blüht plötzlich auf, wird spannend, geht tief hinein in die Seele - und ist sehr spannend. Es braucht aber nicht nur einen versierten Ensemble-Leiter sondern auch ein erfahrenes Ensemble. Ein Leiter kann sehr viel vom Ensemble fordern, aber die Umsetzung ist viel schwerer als man es sich allgemein vorstellt. Musikalisches Empfinden ist ein Ding was jedem Menschen (der Musik hört und/oder selbst macht) zutiefst zueigen ist; absolut individuell und vom kleinsten Kindesalter gewachsen. Und hier sind wir alle im Grunde von eher romantisch geprägter Musik umgeben. Auch und vor allem Musik der Pop-Musik funktioniert basiert wesentlich auf den romantischen Musizier-Prinzipien, und genau deswegen steckt unsere Gewöhnung daran so sehr tief in den Knochen. Und weil unser Empfinden so gewachsen ist musizieren wir auch dementsprechend. Es braucht daher sehr viel Übung und Praxis um neue musikalische Mittel nicht nur zu lernen sondern vor allem zu verinnerlichen. Erst wenn sich ein tiefes Grundempfinden für diese Musik - die nun 500 Jahre alt ist - eingestellt hat ist ein Sänger fähig die Vorgaben des Ensemble-Leiters wirklich zu verstehen und umzusetzen.
Und plötzlich ist der persönliche Bezug da, nicht nur für den Musiker selbst sondern vor allem für das Publikum. Konzertbesucher kommen nach dem Konzert und bedanken sich, drücken ihre innere Ergriffenheit aus, konnten die Musik genießen. Erlebt man eine solche Aufführung ist das ein beglückender Moment da man plötzlich eine Musik aktiv genießen kann die vorher "nur" irgendwie schön aber nicht eindrücklich war. Als Musiker ist dieses Empfinden sehr viel stärker weil man beim Musizieren die ganze Leidenschaft und Seele in die Aufführung steckt.
Ich hoffe ich konnte die Diskussion hier um neue Aspekte bereichern 
Um meinen persönlichen Bezug zum Thema hier kurz abzureißen: seit meiner Jugend bin ich ein begeisterter und ambitionierter Chorsänger und durfte in mehr als 20 Jahren in vielen Ensembles mitwirken, viele Chorleiter erleben, zahllose Vokalwerke kennenlernen. Seit einigen Jahren singe ich im Vokalensemble "Kammerchor Josquin des Préz", in dem wir (wie es der Ensemble-Name vermuten lässt) sehr viel alte Musik - vor allem aber Werke von Josquin des Préz - aufführen. Glaubte ich zuvor "schon alles gesungen zu haben" so musste (und durfte!) ich dort lernen dass mir eine ganze musikalische Welt bislang völlig verborgen geblieben war. Das hat sich aber nicht nur auf meine "Tätigkeit" als Musiker ausgewirkt sondern auch auf meine Leidenschaft für a capella Chormusik allgemein (und damit als Zuhörer). Seit dieser Zeit ist meine bereits damals schon ansehliche CD-Sammlung von Chormusik deutlich gewachsen, vor allem im Bereich der alten Musik.
Hier eine CD-Aufnahme vom Kammerchor Josquin des Préz (bei der ich selbst mitgewirkt habe).
Liebe Grüße, der Thomas. 