Beiträge von pbrixius

    An Anna Margaretha Textor


    [Straßburg, Februar 1771.]


    Theuerste Grosmama


    der Todt unsers lieben Vaters, schon so lange täglich gefürchtet, hat mich doch unbereitet überrascht.


    Ich habe diesen Verlust mit einem vollen Herzen empfunden; und was ist die Welt um uns herum, wenn wir verlieren was wir lieben.


    Mich, nicht Sie zu trösten, schreib ich Ihnen, Ihnen die Sie ietzo das Haupt unserer Famielie sind, bitte Sie um Ihre Liebe, und versichre Sie meiner zärtlichsten Ergebenheit.


    Sie haben länger in der Welt gelebt als ich, und müßen in Ihrem eignen Herzen mehr Trost finden, als ich kenne. Sie haben mehr Unglück ausgestanden als ich, Sie müßen weit lebhaffter fühlen als ich's sagen kann, daß die traurigste Begebenheit, durch die Hand der Vorsicht die angenehmste Wendung zu unsrer Glückseeligkeit nimmt; daß die Reihe von Glück und Unglück im Leben in einander gekettet ist wie Schlaff und Wachen, keins ohne das andre, und eins um des andern willen, daß alle Freude in der Welt nur geborgt ist,


    Sie haben Kinder und Enckel vor sich sterben sehn, an dem Morgen ihres Lebens Feyerabend machen, und nun begleiten Ihre Tränen einen Gemahl zu der ewigen Sabbaths Ruhe, einen Mann, der seinen Wochenlohn redlig verdient hat. Er hat ihn nun. Und doch hat der liebe Gott indem er vor ihn sorgte, auch für Sie für Uns gesorgt. Er hat uns nicht den muntern freundlichen glücklichen Greiß entrissen der mit der Lebhafftigkeit eines Jünglings die Geschäffte des Alters verrichtete, seinem Volke vorstund, die Freude seiner Familie war. Er hat uns einen Mann genommen dessen Leben wir schon einige Jahre an einem seidenfaden hängen sahen. dessen feueriger Geist die unterdrückende Last eines krancken Körpers mit schweerer Aengstlichkeit fühlen mußte sich frey wünschen mußte, wie sich ein Gefangner aus dem Kercker hinauswünscht.


    Er ist nun frey und unsre Tränen wünschen ihm Glück und unsre Traurigkeit versammelt uns um Sie liebe Mama, uns mit Ihnen zu trösten, lauter Hertzen voll Liebe! Sie haben viel verlohren, aber es bleibt Ihnen viel übrig. Sehen Sie uns, lieben Sie uns und seyn Sie glücklich. Genießen Sie noch lange auch der zeitlichen Belohnung, die Sie so reichlich an unserm krancken Vater verdient haben, der hingegangen ist es an dem Ort der Vergeltung zu rühmen, und der uns als Denckmale seiner Liebe zurückgelassen hat, Denckmale der vergangnen Zeit, zur traurigen aber doch angenehmen Erinnerung. Und so bleibe Ihre Liebe für uns wie sie war, und wo viel Liebe ist, ist viel Glückseeligkeit. Ich bin mit recht warmem Herzen Ihr zärtlicher Enckel


    J. W. Goethe.

    Si on examine bien les divers effets de l'ennui, on trouvera qu'il fait manquer à plus de devoirs que l'intérêt.


    (La Rochefoucauld, 172)


    Wenn man sich die verschiedenen Wirkungen der Langeweile genauer ansieht, so findet man, dass sie es weit mehr an Pflichterfüllung mangeln lässt als der Eigennutz.





    Liebe Grüße Peter

    Zitat

    Original von Liebestraum
    die Produktion ist doch schon in Gange gekommen: es wird doch schon geprobt... Ja, die Premiere war noch nicht, das stimmt...


    Hallo Lt,


    und man ist noch in lebhaftesten Gesprächen vor Ort, wie die Produktion aussehen soll, da ist vieles noch nicht entschieden. Da sollte man nun nicht gerade auf das Tamtam vorher hereinfallen. Zu beurteilen ist die Produktion erst, wenn das Arbeitsergebnis vorgelegt wird - und das ist frühestens bei der Premiere.


    Es grüßt Peter

    Zitat

    Original von Cassiodor
    Cassiodor, weder Staubi noch Regieli, sondern einfach ein Freund gut gemachten Musiktheaters, hat im Internetforum der Lokalpresse einen Beitrag gefunden, den er voll unterstreichen möchte:


    "Die Ver.di-organisierten Chorspießer, die nach der Armbanduhr Kunst exikutieren, sollte man immer tunlichst in die Unterbühne oder hinter den letzten Vorhang vor der Bühnenrückwand platzieren, weil sie sonst ihre anachronistischen und reaktionären Ansichten reflexartig rausbrüllen müssen."


    Da man, lieber Cassiodor, im fernen Berlin sich nicht auskennt, was die (mE bestinformierte) Zeitung der Region ist, sei angefügt, dass man das Zitat beim Kölner Stadtanzeiger findet


    Zitat

    Als alter Kölner fragt sich Cassiodor seit längerem (und dies mit durchaus begrenztem Optimismus), wann das Haus am Offenbachplatz wohl mal wieder eine Produktion herausbringen wird, die positive Schlagzeilen macht.


    Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, aber wenn man hauptstädtische Opernkenner vom Range LTs schon zur Weißglut bringt, bevor auch nur die Produktion in Gang gekommen ist, hat die Kölner Oper doch schon war zu bieten, zumindest im Bereich Grand Guignol.


    Liebe Grüße Peter

    Zitat

    Original von Liebestraum
    Zitat von WDR.de:
    zitat http://www.rundschau-online.de


    Hallo Lt,


    lass Dir mal von einem Profi in Sachen Pressemeldungen sagen, dass Du immer nach dem cui bono fragen musst, wenn Du es unternimmst, solche Nachrichten einzuordnen. Mache Dich erst einmal vertraut mit der Kölner Kulturlandschaft, bevor Du vorschnell wertest. Immerhin kannst Du schon da sehen, dass es um szenische Darstellungen geht, die sich auch aber bei weitem nicht nur auf Sex beziehen. Die Begründung des Personalrats (hier euphemistisch als Sprecherin des Chores bezeichnet) weist auf ChorsängerInnen hin, die aus ihrer Erfahrung aus dem Balkankrieg ihre psychischen Probleme mit Kriegsszenen haben. Ich freue mich, dass Du Dich hier für SängerInnen mit Migrantshintergrund aus dem Balkan einsetzt, die sich offensichtlich zu einer Kampagne wohlgemerkt nicht gegen den Regisseur, sondern gegen die Intendanz missbrauchen lassen.


    Es grüßt Peter

    Zitat

    Original von Bernd Kloeckner
    Ich erlaube mir mal - obschon Neuling hier - , diese Kurzbesprechungen, soweit fertig, nach und nach auch hier einzustellen; es gibt ja offenbar reichlich Opern- und Gesangs-Aficionados im Tamino-Forum. Ich mögt Euch drüber hermachen.


    Lieber Bernd,


    ich darf schon mal verraten (ich kenne ja Deine bisherigen Beiträge aus drmk), dass hier ausgezeichnete und höchst lesenswerte Bsprechungen angekündigt werden. Ich hoffe, hier hin & wieder etwas beitragen zu können.


    Liebe Grüße Peter

    Zitat

    Original von Bernd Kloeckner
    Der Ausstieg von Dalia Schaechter und Samuel Youn läßt sich damit allerdings nicht erklären.


    Lieber Bernd,


    wie schön, dass da noch jemand die Rheinische Fraktion verstärkt. Zu Schaechter und Yuon: Welche Gründe sie auch immer bewegten, es wird nicht das Verhalten bzw. Nichtverhalten der Chorkomparsen gewesen sein, die sie dazu brachten, das Handtuch zu werfen.


    Liebe Grüße Peter

    Liebe Opernfreunde,


    ich bin nur erstaunt, mit wieviel (Halb-)Wissen man sich zufrieden gibt. Wenn man da ein wenig sorgfältig recherchiert, wird man ganz andere Fronten ausmachen, etwa eine Machtprobe zwischen ver.di, Personalrat und Intendanten. Kritisiert werden dabei weniger die Szenen als die nach Ansicht des Personalrates unzureichende psychologische Vorbereitung und Begleitung der Choristen. Argumentiert wird nicht mit Sex wie bei unserem wie immer schlecht informierten aber dafür hinlänglich lauten LT, sondern mit Kriegsszenen, die bei Choristen, die von ihrer Herkunft ein Kriegstrauma mitbringen, entsprechende psychische Belastungen bewirken.


    Könnte vielleicht einmal kleinkariertes Denken einer der tatsächlichen Sachlage entsprechenden Diskussion weichen?


    Ich finde diese Diskussion, wie sie hier geführt wird, einfach peinlich: Auf einen Zeitungsfetzen projiziert man seine eigenen Neurosen. :no:


    Übrigens hat in einem offensichtlich überlesenen Beitrag von Sophia Kirch - sie wohnt in Köln und ist nahe am Geschehen, stört also das naive Stammtischgespräch von Biedermännern und Brandstiftern durch Kenntnis von Ort und Umständen - das tatsächliche Problem der zu erwartenden Aufführung gestanden.


    Blamiert euch nur weiter so


    Liebe Grüße Peter


    (den Beitrag von Michael Schlechtriem fand ich übrigens sehr informativ und möchte ihn nachdrücklich aus meinem Rundumschlag ausnehmen. Auch Edwin bringt Sachwissen und Sachlichkeit ein, die ich bei unseren wilden Moralaposteln vermisse.)

    5. Der Musikfeind


    Wie oft werde ich empfindungs-, herz-, gemütlos gescholten, wenn ich unaufhaltsam aus dem Zimmer renne, sobald das Fortepiano geöffnet wird, oder diese und jene Dame die Guitarre in die Hand nimmt und sich zum Singen räuspert; denn ich weiß schon, daß bei der Musik, die sie gewöhnlich in den Häusern verführen, mir übel und weh wird und ich mir ordentlich physisch den Magen verderbe. – Das ist aber ein rechtes Unglück und bringt mir Verachtung der feinen Welt zuwege. Ich weiß wohl, daß eine solche Stimme, ein solcher Gesang wie der meiner Tante so recht in mein Innerstes dringt, und sich da Gefühle regen, für die ich gar keine Worte habe; es ist mir, als sei das eben die Seligkeit, welche sich über das Irdische hebt und daher auch im Irdischen keinen Ausdruck zu finden vermag; aber eben deshalb ist es mir ganz unmöglich, höre ich eine solche Sängerin, in die laute Bewunderung auszubrechen wie die andern; ich bleibe still und schaue in mein Inneres, weil da noch alle die außen verklungenen Töne widerstrahlen, und da werde ich kalt, empfindungslos, ein Musikfeind gescholten. – Mir schräg über wohnt der Konzertmeister, welcher jeden Donnerstag ein Quartett bei sich hat, wovon ich zur Sommerszeit den leisesten Ton höre, da sie abends, wenn es still auf der Straße geworden, bei geöffneten Fenstern spielen. Da setze ich mich aufs Sofa und höre mit geschlossenen Augen zu und bin ganz voller Wonne – aber nur bei dem ersten; bei dem zweiten Quartett verwirren sich schon die Töne, denn nun ist es, als müßten sie im Innern mit den Melodien des ersteren, die noch darin wohnen, kämpfen; und das dritte kann ich gar nicht mehr aushalten. Da muß ich fortrennen, und oft hat der Konzertmeister mich schon ausgelacht, daß ich mich von der Musik so in die Flucht schlagen ließe. – Sie spielten wohl, wie ich gehört habe, an sechs, acht solche Quartetts, und ich bewundere in der Tat die außerordentliche Geistesstärke, die innere musikalische Kraft, welche dazu gehört, so viel Musik hintereinander aufzufassen und durch das Abspielen alles so, wie im Innersten empfunden und gedacht, ins lebendige Leben ausgehen zu lassen. – Ebenso geht es mir mit den Konzerten, wo oft schon die erste Symphonie solch einen Tumult in mir erregt, daß ich für alles übrige tot bin. Ja, oft hat mich eben der erste Satz so aufgeregt, so gewaltsam erschüttert, daß ich mich hinaussehne, um all die seltsamen Erscheinungen, von denen ich befangen, deutlicher zu schauen, ja mich in ihren wunderbaren Tanz zu verflechten, daß ich, unter ihnen, ihnen gleich bin. Es kommt mir dann vor, als sei die gehörte Musik ich selbst. – Ich frage daher niemals nach dem Meister; das scheint mir ganz gleichgültig. Es ist mir so, als werde auf dem höchsten Punkt nur eine psychische Masse bewegt, und als habe ich in diesem Sinne viel Herrliches komponiert. – Indem ich dieses so für mich niederschreibe, wird mir angst und bange, daß es einmal in meiner angeborenen, unbefangenen Aufrichtigkeit mir über die Lippen fliehen könnte. Wie würde ich ausgelacht werden! Sollten nicht manche wahrhaftige musikalische Bravos an der Gesundheit meines Gemüts zweifeln? – Wenn ich oft nach der ersten Symphonie aus dem Konzertsaal eile, schreien sie mir nach: »Da läuft er fort, der Musikfeind!« und bedauern mich, da jeder Gebildete jetzt mit Recht verlangt, daß man nächst der Kunst, sich anständig zu verbeugen, und ebenso auch über das, was man nicht weiß, zu reden, auch die Musik liebe und treibe. Daß ich nun eben von diesem Treiben so oft getrieben werde hinaus in die Einsamkeit, wo die ewig waltende Macht in dem Rauschen der Eichenblätter über meinem Haupte, in dem Plätschern der Quelle wunderbare Töne anregt, die sich geheimnisvoll verschlingen mit den Lauten, die in meinem Innern ruhen und nun in herrlicher Musik hervorstrahlen – ja, das ist eben mein Unglück. – Die entsetzliche peinliche Schwerfälligkeit im Auffassen der Musik schadet mir auch recht in der Oper. – Manchmal freilich ist es mir, als würde nur dann und wann ein schickliches musikalisches Geräusch gemacht, und man verjage damit sehr zweckmäßig die Langeweile oder noch ärgere Ungetüme, so wie vor den Karawanen Zimbeln und Pauken toll und wild durcheinander geschlagen werden, um die wilden Tiere abzuhalten; aber wenn es oft so ist, als könnten die Personen nicht anders reden als in den gewaltigen Akzenten der Musik, als ginge das Reich des Wunderbaren auf wie ein flammender Stern – dann habe ich Mühe und Not, mich festzuhalten in dem Orkan, der mich erfaßt und in das Unendliche zu schleudern droht. – Aber in solch eine Oper gehe ich immer und immer wieder, und klarer und leuchtender wird es im Innern, und alle Gestalten treten heraus aus dem düstern Nebel und schreiten auf mich zu, und nun erkenne ich sie, wie sie so freundlich mir befreundet sind und mit mir dahinwallen im herrlichen Leben. – Ich glaube Glucks »Iphigenia« gewiß fünfzigmal gehört zu haben. Darüber lachen aber mit Recht die echten Musiker und sagen: »Beim erstenmal hatten wir alles weg, und beim dritten satt.« – Ein böser Dämon verfolgt mich aber und zwingt mich, unwillkürlich komisch zu sein und Komisches zu verbreiten rücksichtlich meiner Musikfeindschaft. So stehe ich neulich im Schauspielhause, wohin ich aus Gefälligkeit für einen fremden Freund gegangen, und bin ganz vertieft in Gedanken, als sie gerade (es wurde eine Oper gegeben) so einen nichtssagenden musikalischen Lärm machen. Da stößt mich der Nachbar an, sprechend: »Das ist eine ganz vorzügliche Stelle!« Ich dachte und konnte in dem Augenblick nichts anderes denken, als daß er von der Stelle im Parterre spräche, wo wir uns gerade befanden, und antwortete ganz treuherzig: »Ja, eine gute Stelle, aber ein bißchen Zug weht doch!« – Da lachte er sehr, und als Anekdote von dem Musikfeind wurde es verbreitet in der ganzen Stadt, und überall neckte man mich mit meiner Zugluft in der Oper, und ich hatte doch recht. –

    Sollte man es wohl glauben, daß es dessenungeachtet einen echten, wahren Musiker gibt, der noch jetzt rücksichtlich meines musikalischen Sinnes der Meinung meiner Tante ist? – Freilich wird niemand viel darauf geben, wenn ich gerade heraussage, daß dies kein anderer ist als der Kapellmeister Johannes Kreisler, der seiner Phantasterei wegen überall verschrieen genug ist, aber ich bilde mir nicht wenig darauf ein, daß er es nicht verschmäht, mir recht nach meinem innern Gefühl, so wie es mich erfreut und erhebt, vorzusingen und vorzuspielen. – Neulich sagte er, als ich ihm meine musikalische Unbeholfenheit klagte, ich sei mit jenem Lehrling in dem Tempel zu Sais zu vergleichen, der, ungeschickt scheinend im Vergleich der andern Schüler, doch den wunderbaren Stein fand, den die andern mit allem Fleiß vergeblich suchten. Ich verstand ihn nicht, weil ich Novalis' Schriften nicht gelesen, auf die er mich verwies. Ich habe heute in die Leihbibliothek geschickt, werde das Buch aber wohl nicht erhalten, da es herrlich sein soll und also stark gelesen wird. – Doch nein; eben erhalte ich wirklich Novalis' Schriften, zwei Bändchen, und der Bibliothekar läßt mir sagen, mit dergleichen könne er immer aufwarten, da es stets zu Hause sei; nur habe er den Novalis nicht gleich finden können, da er ihn ganz und gar als ein Buch, nach dem niemals gefragt würde, zurückgestellt. – Nun will ich doch gleich sehen, was es mit den Lehrlingen zu Sais für eine Bewandtnis hat.

    Les vertus se perdent dans l'intérêt, comme les fleuves se perdent dans la mer.


    (La Rochefoucauld, 171)


    Die Tugenden verlieren sich im Eigeninteresse, wie die Flüsse sich im Meer verlieren.





    Liebe Grüße Peter


    Lieber Bernhard,


    da schließe ich mich gerne an. Die Aufnahme habe ich mir gleich mal aus dem Regal gekramt.


    Liebe Grüße Peter

    Il est difficile de juger si un procédé net, sincère et honnête est un effet de probité ou d'habileté.


    (La Rochefoucauld, 170)


    Es ist schwer zu beurteilen, ob ein reines, ernsthaftes ehrliches Betragen die Folge von Rechtschaffenheit oder von Gewitztheit ist.





    Liebe Grüße Peter

    Zitat

    Original von Mengelberg
    ganz kraß die Bewertungs-Leistung vieler anderer angekreidet wird. Wenn man die Bewerungen so gräßlich subjektiv findet, dann kann man das ja durch eine Alternativ-Bewertung im jeweiligen Thread tun. Das wäre dann eine interessante Gegenposition. Und was diese "Ist"-"Kann"-Sache angeht: Wenn ich mir die Bücher vom Kesting schnappen würde und sagen würde, "Na, der beurteilt hier bloß, was die können, nicht aber was sie tun", dan unterstelle ich, daß ich es nun einmal besser weiß und besser höre. Herr Kesting wäre wahrscheinlich empört - zu recht. Wenn man dann aber obendrein keine Alternativ-Bewertung einstellt, sondern nur die Subjektivität anderer bemäkelt, dann finde ich das nicht besonders interessant.


    Lieber Mengelberg,


    ich habe nichts gegen "gräßlich subjektive" Bewertungen, wenn es darum gehen soll, sein eigenes Ego hinreichend ins Scheinwerferlicht zu stellen. Ansonsten bin ich für subjektive Wertungen, die auf die eine oder andere Weise kommunikabel sind, also für die anderen nachvollziehbar. Das heißt bei weitem nicht, dass sie diesselbe Meinung haben sollten, im Gegenteil. Sie dürfen subjektiv, aber nicht willkürlich sein. Dafür habe ich doch nun einige konkrete Beispiele gebracht.


    Was den Kesting angeht, scheint es hier ein Missverständnis zu geben. Offensichtlich habe ich meine Meinung nicht so formuliert, dass Du sie nachvollziehen konntest: Kesting beurteilt die Leistungen der Sänger von Aufnahme zu Aufnahme z.T. sehr verschieden - und darum ging es Severina (und mir). Wenn die Callas als Norma eine Klasse für sich ist, ist sie es als Carmen bei aller Sangeskunst nicht ... und das dürfte auch bei Kesting stehen, nehme ich mal an.


    Wenn ich etwas "bemäkele", dann ist es nicht Subjektivität, sondern Unehrlichkeit. Zu der Leistung von Herrn Rus dürfte es keine zwei Meinungen geben. Die Rezensionen, die ich kenne, sind sich einig. Wir können auch gerne mal bei mir einen Blindversuch machen :D


    Das Beste, was ich annehmen kann, ist, dass man diese Aufnahme nicht abgehört hat, wofür auch die Verwechselung der Personen spricht.


    Letzten Endes werden solche Fehlbeurteilungen nicht dem Forum schaden, denke ich. Wer einmal auf eine schlechte Aufnahme dank einer Empfehlung hier hereingefallen ist, wird den Rezensenten (denn das ist er ja auch in kleiner Form) nicht mehr Ernst nehmen.


    Was ich möchte, ist ein wenig Selbstkontrolle und Ehrlichkeit. Selbstkontrolle insofern, dass eine Wertung nachvollziehbar und systematisch sein muss, also sich zumindest zu den eigenen Wertungen folgerichtig verhält (nicht dass eine als absolute Erfüllung der Musikträume gepriesene Aufnahme mit 4,5 und eine als gut empfundene mit 5 da steht, eine nachvollziehbare Reihenfolge bei der Wertung sollte erkennbar sein). Ehrlichkeit: Dass nicht Aufnahmen bewertet werden, die man nicht aufmerksam gehört hat.


    Nicht mehr, aber nicht weniger.


    Liebe Grüße Peter

    Zitat

    Original von Mengelberg
    Du unterstellst, daß fast alle Bewertungen, die nicht von Dir kommen, unannehmbar subjektiv seien. Du unterstellst damit gleichzeitig, daß Deine Wertungen objektiver wären (Du sprachst von der "Ist-Leistung", die Du beurteilen kannst).


    Lieber Mengelberg,


    das kann ich beides nicht aus dem Beitrag Severinas entnehmen. Ich habe auch keinen Überblick über die vielen TMOO-Threads, dass ich mir anmaßen würde, eine globale Äußerung zu machen. Aber beim "Freischütz" kenne ich mich aus. Da steht gleich am Anfang eine 5,0-Bewertung der Carlos Kleiber-Einspielung - in Worten "fünf Komma null". Ich schätze diese Aufnahme sehr, im Moment diskutiere ich sie ausführlicher in einem anderen Forum. Bei Kleiber selbst, Orchester und Chor wird man diese Note vertreten können, sobald sie aber auch für alle Beteiligten übernommen wird, wie bei dieser Bewertung geschehen, wird man schon unterstellen können, dass da eine sehr subjektive Meinung repräsentiert wird. Selbst Gräwe (im rororo-Opernführer) lässt Schwächen der Sänger durchblicken, auch wenn für ihn die Aufnahme maßstäblich ist. Etwas von diesem Objektivismus hätte der Bewertung gut getan.


    Heute habe ich mir sehr intensiv die Sawallisch-Einspielung angehört. Und da kommen wir zu dem Punkt, den Severina meinte: Dort singt die von mir sehr geschätzte Margaret Price die Agathe. Dass Price eine Sängerin ist, die auch im deutschen Repertoire vorzügliche Aufnahmen vorlegte (ich habe hier ja schon mal ausführlicher über ihre Interpretation der Mendelssohn-Lieder berichtet), steht außer Zweifel. Dass sie in der Sawallisch-Aufnahme aber weit unter ihren Möglichkeiten singt, kann auch jeder hören. Ob es nun an der Lautstärke des Orchesters lag, das sie zu übertönen versuchte oder woran auch immer: Bei so deutlichen und starken Stimmverfärbungen kann man doch keine Note überhalb der 3,5 vergeben. James King erlaubt sich eine Menge von Eigenwilligkeiten gegenüber der Partitur, die mit dem Rollenbild des Max unverträglich sind. Soll ich nun, weil er anderes gut gesungen hat, diese Note von Besserem auf die Leistung hier im "Freischütz" übertragen? Es geht doch eben nicht darum, was er singen könnte, sondern darum, was er hier konkret singt - und das meint Severina mit Ist-Leistung. Wenn ich nun King mit 4,5 bewerte, habe ich etwa für Schock, der eine exemplarische Interpretation des Max vorgelegt hat, keine Note mehr. Wenn ich in der Ackermann-Aufnahme den falschen Kaspar-Interpreten nenne, der tatsächliche war nicht Bierbach, sondern Rus - und der sang den Kaspar erbärmlich, keine Artikulation, keine Tiefe, sprachliche Schwierigkeiten - und dort den Kaspar mit fünf bewerte - dann muss ich vermuten, dass man die Aufnahme nicht (mehr) kennt. Aber das muss doch das mindeste sein, dass man sich nicht auf sein Gedächtnis oder auf den Ruf des Interpreten verlässt, sondern das Ist im Rahmen seines eigenen Geschmackes so bewertet, dass es einem anderen bei der Orientierung hilft und nicht irre führt - mit dem falschen Interpreten und der falschen Leistung.


    Dass jemand die Janowitz der Grümmer vorzieht und das auch per Punkte deutlich macht, damit habe ich kein Problem, auch wenn ich es anders sehe: Beide singen auf einem sehr hohen Niveau (Keilberth die eine, Carlos Kleiber die andere). Dass man aber jemanden wie James King, der deutlich an der Rolle vorbei singt, auf die Ebene der Grümmer und der Janowitz zieht, lässt bei mir doch starke Zweifel zurück. Aber dann einen Rus gar noch über eine Janowitz oder Grümmer zu stellen - da hört bei mir jegliches Verständnis auf. Während ich bei Böhme, der in einer anderen Welt als Bassist lebt als Rus, eine Entwicklung (punktemäßig) nachvollzog von den frühen Aufnahmen, die mehr von seinem Material lebten als von seiner Musikalität, bis zu den späteren, in dem er sein mächtiges Organ intelligent einzusetzen verstand - da hätte ich nach der 5 für Rus eigentlich im 10er-Bereich arbeiten müssen.


    Wenn jemand Schreier in der Carlos Kleiber-Aufnahme "spitzenmäßig" findet, damit kann ich gut leben, denn er singt gut, wenn er auch nicht meine Kriterien erfüllt, die ein Max braucht. Diesen Spielraum muss es bei TMOO geben.


    Also Subjektivität des eigenen Geschmackes und eine von Vergleichen mit den besten Darstellern in der jeweiligen Rolle geprägte Objektivierung - beides zusammen macht eine Wertung glaubhaft.


    Liebe Grüße Peter

    3CD (mit Oberon), Ponto, 1973/2006, Livemitschnitt



    Wolfgang Sawallisch, Orchestra Sinfonica e Coro di Roma della RAI: 3,5 (Leidlich gutes Dirigat von Sawallisch, leider ein fürchterlich singender Chor)


    Agathe - Margaret Price: 4 (Schöne Phrasen, aber immer wieder Probleme mit der Artikulation "Lüübö pflögt möt Kummer stöts Hond in Hand zu göhn" - das geht für eine Agathe nicht ...)


    Ännchen - Helen Donath: 4,5 (Eine der beiden überzeugenden Leistungen)


    Max - James King: 3 (Schlimmer noch als bei Böhm. Schlampig im Ausdruck, freier Umgang mit Webers Noten)


    Kaspar - Karl Ridderbusch: 4,5 (Die zweite gute Partie)


    Rest: 2 (Nicht nur hier wird es happig: Wohl kaum einer der Nebenrollen versteht, was er da singt, z.T. sehr schlechtes Deutsch, da denken sich King und Price, sie brauchen die Oper auch nicht auf Deutsch zu singen.)


    WERTUNG: 21,5/6 = 3,6


    Nur für Verehrer der einen oder anderen Stimme zu empfehlen, als "Freischütz" (immerhin auch eine Choroper) eher eine Parodie.


    TQ: 2,5


    Liebe Grüße Peter

    Pendant que la paresse et la timidité nous retiennent dans notre devoir, notre vertu en a souvent tout l'honneur.


    (La Rochefoucauld, 169)


    Wenn uns Trägheit und Ängstlichkeit bei unserer Pflicht halten, wird oft der Tugend die Ehre dafür gegeben.





    Liebe Grüße Peter

    Zitat

    Original von Lilith
    Hallo, diese habe ich auch: Weber, Der Freischütz, DG 1973 mit Carlos Kleiber...warum bekommt Max (Peter Schreier) von Euch kaum die Bestnote 5? Kann mir jemand beschreiben, was da fehlt? Ich kann das gar nicht begreifen, ich find' ihn so toll!


    Liebe Lilith,


    höre Dir einfach mal ein paar andere Mäxe an. Abgesehen davon ist 4,5 doch eine Spitzennote, eine 4 wäre es auch noch. Muss es immer eine 5 sein, auch wenn es Leute gibt, die diese Rolle besser singen? Oder geht es nur um einen Liebling, den man immer vorne sehen will, gleich was und wie er singt?


    Ich finde Peter Schreier auch toll, etwa als Schubert-Interpret. Darf ich dann seinen Max nicht mehr als das bewerten, was er nun ist?


    Liebe Grüße Peter

    Weber, Der Freischütz, DG 1973



    Carlos Kleiber, Dresdner Staatskapelle - 5


    Agathe - Gundula Janowitz - 4,5
    Ännchen - Edith Mathis - 4
    Max - Peter Schreier - 4,5
    Kaspar - Theo Adam - 4


    Restensemble - 5


    Ges. 27 / 6 = 4,5


    TQ: 4,5


    Ein fantastisches Dirigat, ein fulminanter Chor, bei der für mich die Sänger nicht ganz die Höhe dessen erreichen, was man z.T. in anderen Aufnahmen erleben kann. Die Janowitz ist hier deutlich besser als bei der Böphm-Aufnahme, kann aber die Intensität von Grümmer nicht erreichen (selbst wenn Kleiber ihr durch eine deutliche Verlangsamung des Tempos zu helfen versuch). Edith Mathis wird durch ihre (von einer Schauspielerin gesprochenen) Sprechstimme vorgeführt - so hätte sie singen sollen ... Schreier ist ein guter Max, aber auch hier ist Schock das Quäntchen besser. Theo Adam erreicht nicht die Präzision und die Schwärze von Böhme in seinen besten Tagen.


    Wer aber immer sich für den "Freischütz" interessiert, erhält hier eine der drei bis vier Aufnahmen, die man haben sollte.


    Liebe Grüße Peter