Ich gestatte mir mal, zu widersprechen. Zunächst finde ich nicht, daß Vinay ein großartiger Otello war. Dafür war seine Interpretation zu oberflächlich und laut, seine Stimme zu schwer und zu unklar. Klar, bei seinen frühen Aufnahmen ist man irgendwie von der Gewalt des Organs beeindruckt - aber mehr auch nicht. Was den späten Vinay angeht, halte ich es mit Jens Malte Fischer: Er war weder ein Tenor noch ein Bariton sondern einfach ein Sänger ohne Stimme. Ein Baß war Vinay schon gar nicht. Ich habe ihn als Großinquisitor im Don Carlo: Vinay ist so ziemlich der einzige "Baß", den ich kenne, der absolut keine Tiefe hat.
Die Urgewalt, die Vinay in den ersten Otello-Einspielungen an den Tag legt, ist für mich das einzige, was Domingo in dieser Rolle fehlt. Ansonsten halte ich ihn gegenüber Vinay in allen Belangen für überlegen: Stimmschönheit, Interpretation, Intelligenz, Ausdruckstiefe -Technik. Domingo sang den Otello bis ans Ende seiner langen Karriere. Für Vinay war nach ein paar Jahren Schluß - er hatte am Anfang viel Kraft und kaum Technik und am Ende weder das eine noch das andere.
Etwas noch zu den von Herbert nominierten Interpreten:
Mario del Monaco ist ein ähnlicher Fall wie Vinay, obwohl er ein viel besserer Sänger war. Verschleiß gab es bei Del Monaco nicht. Aber auch er hat sich durch die Rolle gebrüllt. Seine ersten Aufnahmen von 1950/51 sind auf Grund der permanenten Brüllerei eigentlich ungenießbar, wären sie nicht, ähnlich wie bei Vinay, wegen ebendieser eigentlich unmenschlichen Kraftmeierei so faszinierend. Del Monaco lag als Tenor außerdem viel zu tief - Verdi wollte für diese Rolle überhaupt keinen brüllenden "Baritenor", schon Tamagno war für ihn bekanntlich zu laut. Die Feinheiten der Rolle gehen bei Del Monaco allesamt verloren. Del Monaco ist der Stentor-Otello par excellence - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ich ziehe Domingo vor. Obwohl ihm die Kraft fehlt, wird er der Rolle ungleich viel mehr gerecht.
Bei Vickers und McCracken habe ich ein Problem mit dem unidiomatischen Ausdruck und vor allem mit den für mein Ohr sehr unattraktiven Timbres. Beide haben für meinen Geschmack häßliche Stimmen. Das Votum geht auch hier an Domingo.
Cossuttas Stimme war für Otello ein paar Nummern zu klein. Er brilliert in einigen leichteren Puccini-Partien, aber Otello ist schon ein anderes Kaliber (wie Verdi generell). Seine Stimme ist zu dünn für die Rolle. Auch hier bevorzuge ich Domingo.
Beim Rest der Auswahl komme ich zu demselben Resultat: Guichandut (Kraft statt Schönheit, Technik und Ausdruck), Ralf (interessant aber arg unidiomatisch), Atlantow und Usunov (vor allem laut) und die Deutschen fallen allesamt hinter Domingo ab.
Was die anderen angeht, die nie den Otello auf der Bühne gesungen haben:
Corelli - Gott bewahre! Es gibt einen Live-Mitschnitt seines "Niun mi tema". Das ist laut und oberflächlich, von einem furchtbaren Lispeln durchzogen... ich glaube, daß es eine gute Entscheidung von Corelli war, diese Partie nicht vollständig zu singen.
Björling - ich bezweifle, daß sein lyrischer Tenor das mitgemacht hätte.
Caruso - wäre sicher interessant gewesen, aber ich vermute, daß er mit dieser Partie arge Schwierigkeiten gehabt hätte.
Tucker - wäre wahrscheinlich aufgrund seines doch teilweise geschmacklosen und unidiomatischen Ausdrucks keine Konkurrenz für Domingo geworden.
Bergonzi - hat diese Rolle in der Carnegie Hall gesungen, allerdings nur in einer Probe. Die Aufführung wurde dann abgesagt. Es gibt einen Mitschnitt der Probe: Bergonzi kam über das mittlere G kaum hinaus... Außerdem hatte Bergonzi eine kleine Stimme, die in Häusern über 2500 Plätze regelmäßig unterging, und das nicht in Partien wie Otello sondern bereits bei Puccini!
Ich denke, daß Giovanni Martinelli der beste Otello auf Tonträgern war. Interessant sind auch die Ausschnitte, die Giacomo Lauri Volpi und Aureliano Pertile aufgenommen haben. Eine Wucht war auch Francesco Merli. Es existiert ein Mitschnitt des kompletten ersten Aktes einer Aufführung von 1938 aus dem Castello Sforzesco in Mailand mit Merli - das ist eine Stimme von einer derart ungeheuren Kraft, daß sie Del Monaco und Vinay locker in den Schatten stellt. Dabei verfügt Merli allerdings über ein schönes Pianissimo, brüllt nicht und interpretiert mit viel Sensibilität.
Schade, daß es von Merli, Pertile und Lauri Volpi keine Gesamtaufnahmen gibt. Merli würde bei mir sonst unangefochten an Nr.1 stehen.
Für mich sieht die Otello-Rangliste so aus:
Martinelli
Merli, Lauri Volpi, Pertile (In Ausschnitten)
Domingo
...
...
Vinay.

M.