Perfektion an sich mag vielleicht langweilig sein, aber das Ringen um Perfektion zu verfolgen, ist ein Erlebnis. Außerdem strebt jeder Künstler nach Perfektion - man darf sie also nicht dafür verdammen, dass sie bisweilen erreicht wird. Man sollte aber bei jedem Künstler untersuchen, in welchem Gebiet er nach Perfektion strebt. Wenn ich z. B. für Rhythmen sehr sensibel bin, aber eher tolerant in Fragen der Intonation, dann werde ich einen Musiker, der vor allem nach Perfektion in der Intonation strebt, womöglich gar nicht richtig würdigen können.
Noch ein Gedanke: Natürlich ist (technische) Perfektion nichts gegen ein Erlebnis (wenn nicht die Pefektion so außergewöhnlich ist, dass sie ihrerseits zum Erlebnis wird). Denn auf der Ebene des Erlebnisses können sich (zum Glück) sogar die Unterschiede zwischen blutigen Laien und allervirtuosesten Profimusikern aufheben: Ein Laienchor der mit tiefster Inbrunst singt, kann mich zum richtigen Zeitpunkt viel tiefer bewegen als die besten Profiensembles. Doch ein - wie ich finde - sehr kluger Musiker hat mal gesagt: Es ist keine Kunst, perfekt zu sein - die Kunst ist, JEDES MAL perfekt zu sein. Aus diesem Grunde gibt es zwei extreme Arten, mit diesem Anspruch umzugehen: Manche Künstler stürzen sich nur auf die technische Seite und geraten dadurch in die Gefahr, die Kommunikation mit dem Publikum aus dem Auge bzw. Ohr zu verlieren. Andere treten nur auf, wenn sie sich in der Lage fühlen, eine wesentliche Kommunikation mit dem Publikum eingehen zu können - und laufen Gefahr, zu notorischen Konzertabsagern wie Martha Argerich oder Arturo Benedetti-Michelangeli zu werden.
In jedem Fall stimmt mit der Alternative "Erlebnis versus Perfektion" etwas nicht, weil eine Folge von nicht bloß zufälligen Erlebnissen, wie sie die Kunst anstrebt, immer eine Folge des Strebens nach Perfektion sein wird.