Lieber Jörg, das neue Gedicht empfinde ich wie eine erste Antwort, möchte aber zunächst die Gedanken zu den 67 Gedichten mit einem zweiten Teil zuende führen.
Der Stoff der Gedichte sind ausschließlich Worte und Metaphern und die mit ihnen verbundenen Assoziationen. Schon die zweite Zeile des ersten Gedichts lautet "greife in die Tollkirschnacht". Hier sind die Worte "Tollkirsche" und "Nacht" zu einem Wort verbunden, das keine äußere Realität benennt. Die Tollkirsche kann eine Metapher für Nacht sein, wenn das Dunkle der Nacht auf die Tollkirsche übertragen wird. Mit der Übertragung auf die Tollkirsche wird das Rauschhafte und Verbotene des Dunklen der Nacht deutlich. Werden dann in einem zweiten Schritt das Ursprüngliche (die Nacht) und ihre Metapher (die Tollkirsche) zusammengefügt in ein Wort (Tollkirschnacht) entsteht etwas Neues, das die gesamte Beziehung der Metaphern in sich enthält. Daher zeigen Deine Gedichte keine Träume, denn im Traum träume ich nur von der Nacht oder der Tollkirsche, und das eine kann eine Metapher des anderen sein. Die Gedichte operieren dagegen mit den Elementen, die sich im Übergang der Metapher-Bildung befinden.
Diese Übergangselemente lassen sich rein formal durch Zusammenschieben als Worte bilden. Tollkirschnacht ist weder eine Metapher noch etwas Reales, sondern eine reine Wortbildung. Wenn der Leser solche Wortbilder dennoch versteht, liegt das an seiner Erfahrung mit der Bildung von Metaphern. Diese Erfahrung ermöglicht es dem Leser, selbst mit einem Wort wie "Tollkirschnacht" Vorstellungen zu verbinden. Er kann es, weil er mit seinem Sprachvermögen gewohnt ist, alle Worte in einem Raum von Worten zu sehen (formal: in einem semantischen Netz). Er kann ein Wort wie "Tollkirschnacht" künstlich in dieses Netz einordnen und semantisch mit anderen Worten verbinden. Dieser innere Raum des Sprachvermögens wird im Gedicht nun wiederum direkt angesprochen, wenn "in die Tollkirschnacht" gegriffen wird. Das Räumliche der Tollkirschnacht ist ihr Ort im Raum der Sprache.
Mich interessieren diese Zusammenhänge so stark, da ich über die These nachdenke, ob die Worte in dem Sinne als die Elemente der Dialektik verstanden werden können, wie die Zahlen die Elemente der Mathematik sind. Die Dialektik als die Lehre des Gesprächs untersucht, wie im Gespräch unterschiedliche Bedeutungen und Seiten eines Wortes durchgesprochen und dadurch neue Sichtweisen gewonnen werden können. Ich bin fasziniert, wenn ich in den Gedichten ähnliche Zusammenhänge und Sprünge sehe.
Die Welt der Worte ist mit der Angst verbunden, dass hier alles leer und nichts-sagend wird, wenn es auf die Welt der Worte beschränkt wird. Die Welt der Worte ist für sich eine weiße Fläche ganz ähnlich den reinen mathematischen Strukturen.
Wie in den mathematischen Strukturen gibt es in der Welt der Worte Lebens- und Todesprozesse. Da sehe ich die innere Frage der Gedichte: Fangen die Worte etwas ein, was in den Worten weiter lebt oder stirbt und über das Sterben hinaus etwas Neues entstehen läßt? Mit Verfangen der Worte ist dann gemeint, wenn dies Einfangen misslingt.
"Nachts reift kein Wort" (XII). "ernten wir Mond aus den Worten" (XXI) "Worte / weidet man tief" (XXVII) "Dann schert Einer Worte" (XLVII) Das alles sind Bilder über Worte. Hier kehrt in der Beschreibung der Worte alles das vorsichtig wieder, was sonst aus den Gedichten ausgeschlossen ist: Der Duft von Heu und überreifem Getreide, die dionysischen Lüste der Ernte, das Blut und der Schmerz der Zubereitung von Nahrung und Opfertieren, Werkzeuge wie Erntegeräte, Weidmesser oder Schere. Das alles wird notwendig, um zu beschreiben, wie Worte ein eigenes inneres Leben haben können.
"Wolken fallen in Worte" (XIII). Nicht nur Wachstums- sondern auch Katastrophenprozesse führen zu Worten und sind in ihnen eingeschrieben. Die bunte Bilderwelt etwa von Marc Chagall ist in Gedichte übertragen.
Wird dieser innere Reichtum der Worte verstanden, dann ist der Weg geöffnet, auch das Eigene zu finden, was schon immer in den Worten enthalten war und sich nun mit dem verbindet, was mit den Worten eingefangen wird. Es sind "uralte Worte", die bereits eine eigene Geschichte haben. Es liegen gewissermaßen im Innern der Sprache Worte bereit. Deren Gehalt wurde noch nie voll begreiflich. "in Krügen / verschlossene Worte" (LVIII). Das, was dort verschlossen ist, zeigt sich erst dann, wenn die Worte mit Leben erfüllt werden. Ihr Leben spiegelt nicht nur das wider, was es im wirklichen Leben bereits gibt, die Ernte, das Schlachten oder die Schur, sondern es zeigt sich in der Art, wie sich das Scheren der Worte vom Scheren eines behaarten Körpers unterscheidet, was das Besondere der Worte ist. Nicht alle Worte lassen sich scheren. Es ist die Meisterschaft lyrischer Kunst, die Worte zu treffen, die sich scheren lassen. Und nicht alle Vorgänge sind geeignet, um auf diese Weise die Worte von den Dingen zu unterscheiden. Mit großer Berechtigung werden nur solche gewählt, die mit Tod und Leben zu tun haben und daher schon immer zu den religiösen Ritualen gehörten, der Fall, die Reife, die Ernte, die Reinigung. Weitere Vorgänge sind z.B. alle Arten des Badens, Waschens, Reinigens, das Häuten, Trocken, Ausbrennen, Feuer entzünden und löschen, Verflüchtigen und Destillieren. (In der Welt der Zahlen ist an das Zusammenlegen und Wegnehmen, Wiederholen, Vervielfachen, Aufteilen, Potenzieren, im Kreise führen zu denken.)
Das Eigengewicht der Worte liegt in den Eigennamen. Hier äußert sich zugleich die größte Angst, dass der eigene Name nicht mehr verstanden werden kann, dass ich nicht weiß, wer ich bin, weil ich meinem eigenen Namen fremd gegenüber stehe. Wo läßt sich diese Angst besser ansprechen als in einem Internet-Forum mit seiner Vielfalt von usernames, Trollen und sich selbst und anderen vorgetäuschten virtuellen Identitäten? Sind die Gedichte von "Jörg" geschrieben und wachsen im Garten von "Klingsor"? Wenn der eigene Namen verloren geht, verfangen sich die Worte und finden keinen Halt mehr.
"Ach, Engel, / warum habt ihr / nicht auch meinen Namen / aufgesagt?" (XIII) "bis Dein Name zerascht" (XVIII) "nichts trennte unseren Namen entzwei," (XX) "So zerschneidet man Namen" (XXXIV) "Dein Name verwelkt" (XL) "auch Namen / mischt man mit Spreu" (LVI) "Deinen Namen / schrieb man auf Luft" (LVII, An J.-A., das einzige Gedicht, in dem immerhin in der Widmung die Initialen eines Eigennamen genannt werden) "Gott ohne Namen" (LXI)
Das Namen-Lose führt in eine negative Gottes-Erkenntnis. Nicht nur der eigene Namen geht verloren, sondern hier sieht sich der Mensch eins mit der Namenlosigkeit Gottes und erkennt Gott im Verlust des eigenen Namen.
Das Gefühl des Verlustes des eigenen Namen lässt die Abwesenheit der Engel spüren. Diese Abwesenheit ist das Weiß, das sich in den Wolken, der Milch, dem Schnee äußert. Ein angedeutetes Hölderlin-Zitat soll die Angst vor Verlassenheit nehmen, und hier entsteht Musikalisches: "Im Verneigen sinkt ein Gott dahin ... Und im Hinübertreten / singt / Unsterbliches vorbei" (LX)
Das Ausweiden der Worte liefert dem Menschen die notwendige Nahrung und gehört zum Opfer an den Gott, zum Dank, dass er im Vorbeigehen seinen Segen gibt.
Hier öffnen sich weiterführende Fragen: Was geschieht, wenn Worte ungehört bleiben oder nicht erhört werden? Gibt es eine Ästhetik der Worte und der Lyrik, durch die gute und schlechte Gedichte unterschieden werden können? Sind die Reinigungsverfahren der Worte und / oder bestimmte Worte mit Tabus belegt und können unkontrollierbare Kräfte freisetzen (Zahlen-, Buchstaben-, Silben- und Wortmagie), und führt jede logische und künstlerische Erkenntnis zum Zerfall des Erkannten wie der Erkenntnis (im Sinne der Logik des Zerfalls und der Negativen Dialektik von Adorno)? Haben Worte und Gedichte ihre Zeit, und wird der Zusammenhang der Zeit (und der Gedichte?) durch Zählen, Aufzählen und Erzählen hergestellt?
Viele Grüße,
Walter