Beiträge von Walter.T

    Lieber Helmut, dieses Gespräch hier ist doch ein Wert für sich, da brauchst Du Dir gar keine Gedanken zu machen. Hier bin ich völlig einer Meinung mit 'Zweiterbass'. Wird denn jemand Schulnoten vergeben oder einen Beitrag wie eine missglückte wissenschaftliche Arbeit zerreißen? Es kann nur geschehen, dass jemand alles lächerlich macht, wie es leider bisweilen geschieht, doch davon ist dieser Thread bisher erfrischend frei. Auf der anderen Seite finde ich Deinen eigenen hohen Anspruch an Dich selbst völlig angemessen. Ich verstehe ein Forum wie dies als einen freien Gedankenaustausch, der dann um so erfolgreicher und gewinnbringender ist, wenn er dazu führt, eigene Ansichten infrage zu stellen, zu überdenken und wenn nötig zu ändern. Da ist es erforderlich und erfordert ein gewisses Risiko, auch ungeschützt zu formulieren auf die Gefahr hin, dass einiges schief geht. Aber erwarten wir nicht genau das auch von allen guten Komponisten und Interpreten?


    Leider kann ich mich nur wenig beteiligen. Aber eine Anmerkung zur glatten Fügung. Du hast sehr überzeugend gezeigt, wie Schubert sich in die typisch sprach-eigene Melodie hineinhört und ihre innere, verborgene Musikalität erkennt und in Musik umzusetzen weiß. Er entdeckt damit in der Sprache eine Seite, die beim normalen Sprechen gar nicht bewußt wird, aber dennoch sehr wohl wahrgenommen wird. Georgiades hat bewundert, wie es ihm schließlich sogar gelungen ist, diese aus der Sprache gewonnene Musikalität ganz von der Sprache loszulösen und in seinen Instrumentalwerken eine Musik zu komponieren, deren Eigenart aus der Gedichtvertonung hervorgegangen ist. Aber nur bei Schubert ist auch in der Instrumentalmusik immer der Bezug zur Sprache gegenwärtig, während er später - bereits ab Schumann - zunehmend verloren geht. Schubert schrieb eine Musik, die alle Qualitäten der Sprache behält, wie z.B. Zuspruch oder auch umgekehrt eine traurige Sprache, die mit ihrem Klang um Tröstung bittet.


    (Nachträgliche Ergänzung: Jetzt sehe ich das "Bekenntnis" zur h-Moll Sinfonie. Genau das meine ich.)


    Statt mit Rhetorik die Sprache zu überziehen und sie in eine bestimmte, vorgefaßte Richtung zu drängen und einzusetzen, trifft Schubert umgekehrt die eigene innere Rhetorik der Sprache, die sich nur äußern kann, wenn ihr freier Lauf gelassen wird.


    Das geht nur dank der Klavierbegleiterung. Mit ihr hat Schubert gewissermaßen eine eigene Dimension gefunden, die einerseits komplementär zur Sprache ist, also das zeigt, was er anders als mit seinen Melodien nicht aus dem Sprachfluss gewonnen hat. Sie ist aber dennoch genau auf die Sprache bezogen und gibt ihr die Entfaltungsmöglichkeit, das zu zeigen, was sich ohne die Klavierbegleitung nicht aussprechen ließe.


    Nicht weniger faszinierend ist Hölderlin, der genau den umgekehrten Weg gegangen ist. Mit seinen harten Fügungen haut er einzelne Worte nebeneinander, schreibt sie in seinen Folioheften über- und durcheinander, so dass dort verschiedene hart gefügte Gedichte auf ihre Art einander begleiten, wie es Schubert in seinen Liedern auf ganz andere Weise gelungen ist.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Wolfram,


    dein Beitrag regt an, nach langer Zeit das 2. Streichquartett anzuhören. Ich habe es in einer Aufnahme mit dem LaSalle-Quartett, die dieses Werk 1969 uraufführten. Unmittelbar ansprechend ist der 3. Satz "Come un meccanismo di precisione", der 100% einhält, was der Titel verspricht.


    Ligeti hat eine neue Technik des Zitats und der Collage entwickelt. Da klingen nicht bekannte Melodie-Fetzen oder Bruchstücke von Bildern an, sondern er hält das Füllmaterial fest, das in allen großen Musikwerken zwischen den emotional bewegten Passagen den Fortgang sichert. Bisweilen scheint ein Moment von Beethoven, Schubert, Ravel oder Sibelius zu hören sein, andere Hörer werden sicher anderes entdecken. Daher würde ich den Begriff "Gewebe" weniger als technischen oder formalen Ausdruck verstehen, sondern ganz wörtlich. Ligeti sucht in der Musiktradition nach dem Gewebe, das dort in den großen Kunstwerken eine ähnliche Aufgabe hat wie das Gewebe in einem organischen Körper.


    Soll das auf Begriffe gebracht werden, die zu philosophischen oder genauer musikphilosophischen Fragen führen, kann vom Stoff der Musik oder dem Material der Musik gesprochen werden. Ligeti will jedoch nicht wie Adorno einen solchen Begriff aus der Musik mithilfe abstrakten Denkens herausfinden, sondern er will ihn am Körper der Musik wahrnehmen und vorführen.


    Ligeti hat sich sehr kritisch und abwehrend gegenüber allen Deutungen und Zuordnungen verhalten (siehe die Zitate in dem lesenswerten Artikel in der "Zeit" zu seinem 80. Geburtstag, "Strubbelkopf im Wunderland"). Er wollte nicht über die Musik sprechen, sondern innerhalb der Musik sein Anliegen deutlich machen.


    Das hat ihn zu einer eigenen Art von Emotionalität geführt. Musik wie diese sträubt sich gegen jedes traditionelle Schönheitsempfinden. Wenn er nach dem Füllmaterial in der Musik sucht, will er dasjenige an der Musik treffen, worauf sich Emotionalität verlassen konnte, wenn sie dem harmonischen Fluss der Musik folgte, allerdings ohne zu verstehen und wahrzunehmen, was geschah. Die Emotionalität sah nur die Botschaften der großen Motive und nicht, woraus "gemacht" war, das diese emotional wirken konnten. Ligeti will die Botschaften nicht dadurch kritisieren, dass er ihnen widerspricht, sondern indem er zeigt, woraus sie sind. Wer die Brüchigkeit ihres Materials durchschaut kann auch zu verstehen beginnen, warum alle westliche Kultur nicht die Katastrophen des 20. Jahrhunderts verhindern konnte. Ligeti und seine direkten Familienangehörigen waren ein unmittelbares Opfer. Für ihn gab es keine emotionalere Frage als zu verstehen, wie das möglich war.


    Ligeti war sehr an Naturwissenschaften und Mathematik interessiert. Für mich wirkt seine Methode so, als wolle er die "Beweismethoden" der emotionalen Musik erkennen. So regt seine Musik an, sich über die Emotionalität der Musik bewusst zu werden an einem Werk, dass nur an wenigen Stellen (wie dem Anfang des 3. Satzes) deutlich emotional ist.


    Ein Werk wie dieses regt natürlich auch an, über den historischen Stellenwert dieser Art von Musik nachzudenken. Heute kann wohl kaum mehr nachvollzogen werden, welche Frische und belebende Wirkung von ihr in den 1960ern und 1970ern ausgehen konnte. Nach den großen Wirtschaftskrisen von 2000 und 2009 hat sich eine große Ernüchterung über den Erfolg abstrakten Denkens durchgesetzt. Fragen dieser Art führen weit über das 2. Streichquartett hinaus, lassen sich aber davon inspirieren.


    Viele Grüße,


    Walter

    Liebe Schubert-Freunde,


    oder wie sonst soll ich diese Runde hier ansprechen? Was hier geschrieben wird ist eine wahre Freude. Wenn ich jetzt auf einen anderen Aspekt eingehen will, ist das nicht als Kritik gemeint. Ich könnte auch gar nicht so wie Ihr alles im Einzelnen beschreiben, was in Schuberts Liedern vorgeht, und lerne sehr viel von Euren Beiträgen.


    Beim Hören der beiden Vertonungen des "Frühlingsglauben" fiel mir vor allem die unterschiedliche Art der Klavierbegleitung auf. Schubert gelingt die Schlichtheit der Melodie, die hier übereinstimmend als wichtiges Merkmal des Volkstons verstanden wird, weil er auf einzigartige Art und Weise die Stimme einführt.


    Das Klavier hebt geradezu vorsichtig, tastend an, 'farinelli' schreibt vom "entwaffnenden Auftakt". Schubert komponiert, wie er sich in die jeweilige Stimmung hineinbegibt und nimmt den Hörer mit. Ich kann nur versuchen, es metaphorisch zu beschreiben: Es ist wie ein liebevoller Blick, während andere Komponisten ein möglichst genaues, wahres, detailgetreues Bild zeichnen wollen.


    Die Stimme antwortet nicht auf das Klavier, sondern das Klavierspiel hat ihr eine Stimmung des Zutrauens, der Ermunterung und der Gewissheit verschafft, vollkommen unbekümmert auszusprechen, was ihr auf dem Herzen liegt. Daher gelingen gerade auch Texte besonders gut, die sonst kitschig, albern oder seicht klingen könnten. Ich denke etwa an "die liebe Farbe" im Müllerin-Zyklus.


    Alles, was Helmut geschrieben hat, kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich möchte ergänzen, dass Schubert der Stimme die Fähigkeit verleiht, einen großen, offenen Bogen über das ganze Lied hinweg zu singen.


    Die Klavierbegleitung ist kein Dialog, sondern, wie 'farinelli' geschrieben hat: "Vor allem enthält die Schlichtheit der Gesangslinie bei Schubert eine heimliche Hypothek auf die Komplexität der Begleitung". Schlichtheit der Stimme und Komplexität des Klaviers ergänzen einander, regen sich gegenseitig an, und erzeugen bisweilen Verfremdungen und Brüche, wie sie in dieser Weise nur Schubert - und als einziger nach ihm Bruckner - komponieren konnte. Das ist nicht im geringsten Rückzug in Innerlichkeit oder nach innen gewandter Subjektivität. Hat eingangs das Klavier der Stimme ermöglicht, völlig frei und gelöst zu singen, so geben nun umgekehrt der innere Zusammenhang der Melodie und die Festigkeit und Klarheit der Stimme dem Klavier die Freiheit, einen Ausdruck zu wagen, der über alles hinausgeht, was vor Schubert komponiert worden war.


    Zurecht ist einigemal das Schubert-Buch von Georgiades angesprochen worden. Er schreibt, dass Schubert vor allem Gedichte liebt, die in "glatter Fügung" geschrieben sind. Was damit gemeint ist zeigen Gedichte in "harter Fügung", wie sie wenige Jahre zuvor Hölderlin gedichtet hatte. Hier einige Beispiele, die Georgiades in "Nennen und Erklingen" gegeben hat:


    Vor seiner Hütte ruhig im Schatten sitzt
    der Pflüger, dem Genügsamen raucht sein Herd (Abendphantasie)


    Alter Vater, Du blickst immer, wie ehemals, noch,
    Da du gerne gelebt unter den Sterblichen (Das Ahnenbild)


    Trennen wollten wir uns? Wähnten es gut und klug?
    Da wirs taten, warum schröckte, wie Mord, die Tat? (Der Abschied)


    Wenn er in heiliger Nacht, plötzlich die Sänger ergreift.
    Dorther kommt, und zurück deutet der kommende Gott (Brot und Wein).


    Schubert hätte Verse dieser Art nicht vertont. Aber ich finde nirgends besser formuliert, welche innere Bewegung einen Gesang erfasst, wie es Schubert dann wenige Jahre nach den Dichtungen von Hölderlin gelungen ist.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Helmut,


    deine Unterscheidung von Volkston und volkstümlich interessiert mich sehr. Um das Fettgedruckte nochmals zusammenzufassen: Mit Volkston meinst du die melodische Linie des Volksliedes, frei von allen Fioraturen, Koloraturen und Melismen?


    Auch wenn ich glaube, dich intuitiv zu verstehen, würden mich Beispiele sehr interessieren.


    Diese Frage scheint mir das Zentrum zu berühren, was Schuberts Ausnahmerang in Sachen Lied begründet. Weil es ihm möglich wurde, auf diese Weise den Volkston zu treffen, konnte er die Wahrheit des Lebens aushalten.


    'farinelli' hat zurecht erinnert, dass die Romantik und als einer ihrer Begründer Schubert mit der Entfesselung verschiedener bis dahin geltender Regeln eine Bewegung ausgelöst haben, die im weiteren Verlauf katastrophale Formen annahm. Das weiter zu diskutieren gehört nicht mehr hierher, sondern würde in eine Diskussion der Romantik führen.


    Aber es gehört sehr wohl hierher, wie Schubert am Anfang dieser Entwicklung eine Kunst geschaffen hat, von der noch keineswegs entschieden war, dass sie diesen weiteren Verlauf nehmen musste. Ich bin daher überzeugt, dass gerade heute nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts die Musik von kaum jemandem mehr lernen kann als von Schubert.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Jörg,
    herzlichen Dank für die Gedichte, die mich viel zum Nachdenken angeregt haben, auch wenn ich im letzten Jahr nicht mehr dazu gekommen bin, eigene Beiträge dazu zu schreiben.
    Das war so etwas wie ein kleines Stück gemeinsame Geschichte, die zuende gegangen ist.
    Ich schließe mich den guten Wünschen von Elisabeth an und wünsche viele Erfolg mit dem Buch und freue mich auf Deine neuen Pläne.
    Herzliche Grüße,
    Walter

    Lieber Helmut, lieber 'Farinelli',


    spontan muss ich sagen, dass ich beiden entgegengesetzten Positionen sehr viel abgewinnen kann, auch wenn ich in der Gesamtbewertung von Schubert ganz auf Helmuts "Seite" stehe. Vom "Spinnrad" bin ich nicht weniger begeistert und höre zunächst einmal die Musik ganz unabhängig davon, ob Schubert den Zusammenhang bei Goethe richtig getroffen hat und wie andere Komponisten das gleiche Lied vertont haben.


    Schubert hat nicht einfach Lyrik in Musik verwandelt. Er hat sich mit tiefster innerer Verbundenheit in die Lage von Gretchen versetzt. Er geht vom Gedicht zurück in die Situation, in der sich Gretchen befindet, und nimmt buchstäblich dessen musikalische Gestalt wahr. Das Spinnrad kreiselt, es wird Gretchen zum Zeichen ihrer Leere und Verlassenheit, sie lässt es stocken, Helmut hat das genau getroffen. Schubert entwirft mit musikalischen Mitteln die Situation neu, die Goethe gedichtet hatte.


    Das Gedicht von Goethe hat ihn angesprochen, und daher vermag er mühelos in seiner Komposition den Fluss und die Melodie des Gedichts zu treffen. Und doch hat er einen anderen Zugang auf die gleiche Situation als Goethe. Er hat ein Mitgefühl, das Gretchen viel näher kommt als es Goethe möglich war. Diese Nähe und innere Verbundenheit zu seinen Figuren ist für mich das Besondere an Schuberts Liedern.


    Aber auch 'Farinelli' trifft etwas Richtiges. Sicher ist der Ausdruck "ein wenig absichtsvolle Morbidität" hart und seinerseits ein wenig übertrieben. "Dieses leer in sich kreisende, von dumpfen Pedaltritten getriebene Wirrsal ist der Wahnsinn, der Gretchen zerstört, der zerstückte Sinn, ist eine so tiefe, abgründige Verzweiflung und Ausweglosigkeit, die die Figur hier vor dem Hintergrund ihrer eigenen Tragödie überhöht und zusammenfaßt." Ja, auch das kann ich aus diesem Lied heraushören. Erst recht sind treffend die technischen Beschreibungen, z.B. dass Schubert "bereits die Konventionen des Versmetrums gesprengt" hat.


    Zwar macht Schubert aus Gretchen keine Figur einer "Tragödie". Vielmehr gelingt es ihm, die Alltäglichkeit des Spinnrads und eines auf den ersten Blick sehr biedermeierlichen Bildes für sein Lied einzufangen ohne in die Welt der großen Figuren der Mythologie oder der Tragödie auszuweichen.


    Aber er wagt anders als Goethe selbst in einer solchen Alltagssituation den Blick in das Dunkle, den "Wahnsinn". Er hat die Mittel, ihn auszuhalten und sich nicht von ihm mitreißen zu lassen. Da sehe ich auch den Unterschied, warum Schubert sogar gegenüber Hugo Wolf einen Ausnahmerang hat.


    Mit den genannten Aufnahmen habe ich durchweg Schwierigkeiten, weil ich dieses Lied so wie alle anderen Lieder von Schubert im Grunde nur ganz schlicht wie ein Volkslied gesungen schön finde.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo zusammen,


    die letzten Beiträge polarisieren das Thema Hören auf die beiden Extreme, zwischen denen Aristoteles vermitteln wollte: Die Neurowissenschaft und die Wahrnehmungsphysiologie liefern wertvolle Erkenntnisse. Aristoteles war meines Wissens der erste, der sie in seiner Schrift über die Seele systematisiert hat. Und genau so ist es heute wichtig, sich mit den neueren Erkenntnissen zu beschäftigen. Aber Aristoteles war sich bewusst, dass das nicht ausreicht. Es ist meiner Meinung nach Zeichen einer Fehlentwicklung, wenn die Psychopathologie nach Jaspers philosophische Fragen immer stärker aufgegeben hat und glaubt, ohne sie weiter zu kommen. Jaspers hatte vor solchen Entwicklungen gewarnt, leider erfolglos. Auch die Schriften von Scharfetter lassen sich in dieser Beziehung mit Jaspers nur entfernt vergleichen.


    Im anderen Extrem das Komponieren so zu verstehen, als könne der Mensch gleich Gott etwas aus dem Nichts schaffen, bewertet die Leistungsfähigkeit des Geistes zu hoch. In der Spätantike wurde von der "creatio ex nihilo" nur gesprochen, um die Schöpfungsgeschichte zu verstehen und die Möglichkeit des Menschen darauf beschränkt, dass er an der Grenze der Denkfähigkeit dafür ein Verständnis entwickeln kann. Erst als die Physik für sich die Attribute eroberte, die vorher Gott zugesprochen waren, und sie als die Eigenschaften einer Natur verstand, die sie experimentell nachzuschaffen vermag, konnte der Gedanke entstehen, auch der Mensch sei einer Schöpfung aus dem Nichts fähig. Trotz dieser philosophischen Grundhaltung, die ich nicht teile, und die wahrscheinlich explizit auch nur von einem Teil der Physiker vertreten wird, hat die Physik auf ihre Weise wie die Neurowissenschaft ebenfalls neue Erkenntnisse geliefert, die zu einem besseren Verständnis des Hörens und damit auch der Musik beitragen können. Darum ging es mir in den vorangegangenen Beiträgen (und ich erwarte, dass auch die Neurowissenschaft in ihrem Bemühen, immer komplexere mathematische und Computer-Verfahren zu nutzen, sich Unterstützung bei den neueren Methoden der mathematischen Physik suchen wird).


    Musik als Schöpfung aus dem Nichts kann ich mir nur so vorstellen, dass es dem Komponisten gelingt, einen Punkt völliger Indifferenz zu erreichen, eine innere Stille, einen inneren Abstand zu allem zuvor Gehörtem, in dem die zuvor gehörten Klänge und Geräusche gewissermaßen nur noch als virtueller Nachhall gegenwärtig sind, und daraus etwas Neues zu entwickeln. Alles Neue scheint gegenüber dem Vorhandenen aus dem Nichts zu kommen. Aber diese Bewegung kann nicht von der Grundlage getrennt werden, aus der sie hervorgegangen ist und auf die sie zurückwirkt. Schon Hegel fand für diese Bewegung kein besseres Beispiel als den Grenzübergang im mathematischen Differentialkalkül. Aristoteles versuchte sich diesem Übergangszustand mit dem Begriff des Inmitten (metaxy) zu nähern.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Holger,


    Deine Beiträge regen an, mehr von Hugo Riemann zu lesen. Er verstand in seinen "Grundlinien der Musik-Ästhetik" wie sein Lehrer Lotze den Menschen als ein "Doppelwesen von Seele und Körper" und hat eine Musikästhetik entwickelt, die beiden Seiten gerecht werden will und in der Musik einen Ausgleich sieht. Er will verstehen, was in der Musik auf die Natur zurückgeht ("Urelemente" wie "das Aufjauchzen oder Aufschreien, das freudig erregte Zurufen und das entsetzte Verstummen, das dumpfe, tonlose Verzagen"), und wodurch die Musik den Geist anspricht und nur von ihm erfasst wird. Geradezu programmatisch: "Harmonie ist Offenbarung der durch die Natur gegebenen Beziehungen der Töne zueinander." Mit Wagner sieht er den Herzschlag als das Maß des Taktes (letztlich der Metronom-Zahl) und die Atmung als Maß der Phrase. Diese Richtung ist möglicherweise in seinen späteren Jahren in den Hintergrund getreten.


    Im weiteren stellte er immer deutlicher das geistige Hören heraus, die Fähigkeit, eine Melodie in den unterschiedlichsten räumlichen Zusammenhängen wiederzuerkennen (ich würde von ihrer Unabhängigkeit von rhetorischen Figuren sprechen). Wenn ich jetzt Riemanns "Ideen zu einer 'Lehre von den Tonvorstellungen'" ( Link ) lese, bestätigt das Deine Darstellung.


    Du sprichst vom "melodischen Zusammenhang", "melodischer Sukzession", der "Identität der Melodie unabhängig von ihrer Lage im Tonraum". Riemann schreibt von "einem zusammenhängenden musikalischen Geschehen". Wenn gefragt wird, was eine Melodie von den akustischen Tonhöhen und der Harmonie unterscheidet, oder die vom Geist entwickelte Tonvorstellung von der sinnlichen Tonempfindung, scheint mir das der entscheidende Begriff zu sein.


    Offenbar hat die Melodie einen inneren Zusammenhang, der es dem Geist möglich macht, sie auch in anderen Umgebungen und in verzerrter Gestalt wiederzuerkennen. Der Zusammenhang erzeugt zwischen den Tönen eine besondere Spannung, wodurch die Melodie "zusammengehalten" wird. Das Ohr ist gespannt auf die Töne, die folgen werden. Riemann erwähnt, dass ein Klavierspieler beim Spielen mit den Augen immer schon ein Stück weiter in der Partitur ist als die Hände gerade spielen. Viele Komponisten spielen mit der Erwartung des Hörers und der Freude, die Melodie wiederzuerkennen. Ist es möglich zu beschreiben, durch welche Eigenschaften der innere Zusammenhang einer Melodie entsteht? Woran orientiert sich das Ohr, wenn es Melodien wiedererkennt? Das sollen andere Eigenschaften sein als die Harmonien der Kontrapunktik. Es gibt z.B. Versuche, Melodien dreidimensional auf einem Torus (Reifen) darzustellen. Es wird vermutet, dass Melodien um bestimmte Referenztöne gelegt sind, dass minder konsonante Intervalle wie Terzen und Sexten eine besondere Rolle spielen, während Oktaven und Quinten eine Tendenz haben, den Zusammenhang von Melodien aufzulösen. Daher gibt es auch Versuche, den Tonraum in einem zweidimensionalen Netz darzustellen, aufgebaut von Quinten und Terzen und ihren Vielfachen.


    Ist es möglich, einen melodischen Zusammenhang sogar aus einer Geräuschkulisse herauszuhören, wie sie die Industriekultur des 20. Jahrhunderts bestimmt? Hier halte ich die Pop-Musik tatsächlich für anspruchsvoller als Du es siehst. Sie hat zwar nicht wie Stockhausen versucht, im Tonlabor ungewohnte Klänge aus Geräuschen zu erzeugen (Geräusch technisch verstanden als Töne mit verwirrend vielen Obertönen), sondern den Sound ihrer Umgebung zu verstehen und in Musik zu bringen.


    Und hier sehe ich auch die Leistung der mathematischen Physik, die möglicherweise ein neues Verständnis des Zusammenhangs entwickelt hat, das helfen kann besser zu verstehen, was ein melodischer Zusammenhang ist. Nach dem Begriff Tonos will ich daher den Begriff Zusammenhang (syneche, continuum) bei Aristoteles genauer betrachten und versuchen, einen Bogen zu schlagen bis zum modernen mathematischen Begriff des Zusammenhangs. Das ist nicht zu verwechseln mit den Diskussionen über das Kontinuum und die Kontinuumshypothese, aber durchaus verwandt mit topologischen Fragen. Die Topologie fragt in ähnlicher Weise wie die Musikästhetik, wie weit geometrische Gebilde deformiert werden können und doch ihre Identität bewahren, so wie die Melodie harmonisch, rhythmisch etc verändert werden kann.


    Anders als die Geometrie beschränkt sich meiner Meinung nach die Musik aber nicht auf "Gebilde". (In dieser Richtung hatte Adorno die Musikästhetik von Riemann aufgenommen und weiter "vergeistigt".) Hier bin ich von dem Grundansatz Nietzsches überzeugt, dass Musik ohne aus der Natur entstandene Triebe wie das Apollinische und Dionysische nicht möglich ist. Das erklärt wohl auch unsere unterschiedliche Bewertung des Singens und Musizierens. Ich hatte nicht gemeint, dass eine Melodie "singbar" sein muss (das hatte ich im Grunde vorausgesetzt, wenn auch nicht in der Tonlage wie manche Instrumente, aber von der Tonlage ist die Melodie ja unabhängig), sondern dass sie untrennbar mit dem Erlebnis des Singens und Musizierens verbunden ist bzw. der Fähigkeit des Hörers, dieses Erlebnis nachzuempfinden. Riemann stand diesem Gedanken zumindest nahe, als er schrieb: "An die Stelle der Einzeltöne treten damit Tonfolgen, und es bilden sich die Begriffe der Tonbewegung, das Tönen wird aus einer Kette von isolierten Einzelfakta zu einem zusammenhängenden musikalischen Geschehen und dessen Begreifen zufolge der den Tonqualitäten anhaftenden Ausdruckswerte zu einem seelischen Erleben." Allerdings läßt er offen, was genau mit "seelischem Erleben" gemeint ist.


    Riemann nennt Beethovens Spätwerke als Auslöser seiner Gedanken. Trotz seiner Taubheit hat Beethoven auch in der letzten Zeit seine musikalischen Ideen am Klavier erarbeitet, wie Schindler berichtet hat. So kommen wir möglicherweise über Riemann auf Beethovens op. 111 zurück und ihre unterschiedlichen Interpretationen.


    Nachtrag: Bisher ging es nur um den inneren Zusammenhang einer Melodie. Seit Einführung der Mehrstimmigkeit und Kontrapunktik erhält die Melodie jedoch auch eine Bedeutung, um den inneren Zusammenhang größerer Werke herzustellen, wenn sie variiert, mit anderen Melodien konfrontiert, in ihre Bestandteile zerlegt und wieder neu zusammengefügt wird. Seit Beethoven gibt es dafür zahllose Beispiele. Rameau war ja nicht nur Theoretiker, sondern hat auch als Komponist großartige Beispiele geschaffen, wie Harmonien und Melodien ineinander übergehen können. Denke auch an den langsamen Satz des Klavierkonzerts in G von Beethoven. Liszt war ein Meister, aufgelöste Akkorde in Melodien übergehen zu lassen, und auch bereits frühe Werke wie der "Fandango" von Soler zeigen diese Möglichkeiten. Und doch bewahrt die Melodie selbst in solchem Umfeld, das immer stärker von Harmonien, Akkorden und reinen Tonleitern geprägt ist, ihre überzeugende Kraft. Auch dort stellt sich die gleiche Frage, ob es möglich ist zu verstehen, was den Zusammenhang ausmacht und Dissoziation verhindert oder sogar im Sinne der Musiktherapie zu heilen vermag.


    Nachtrag 2: Ich sehe jetzt Deine Antwort zu Stockhausen. Musik als "Schöpfung aus dem Nichts" ist sicher die radikalste Position, das Gleichgewicht von Natur und Geist in der Musik aufzuheben. Wie bist Du auf diese These gekommen?


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Holger,


    das sind sehr spannende Fragen, die zum weiteren Nachdenken anregen. Geräusche: Ich kann den Hinweis auf die Schwierigkeit für den Komponisten sehr gut nachvollziehen. Verblüffend ist, dass es so um 1970 der Popmusik weit besser gelungen ist, Geräusche in ihre Musik zu integrieren (siehe die Konzeptalben der Beatles oder die Musik des Stockhausen-Schülers Holger Czukay, der bei Can spielte). Getragen von einer experimentierfreudigen Zeit und der Aufbruchstimmung einer neuen Generation konnten sie viel unbekümmerter alle Traditionen und Techniken zusammenbringen.


    Bei Rameau liegt glaube ich ein Mißverständnis vor. Ich wollte nur sagen, daß die Quantentheorie formal mit der Theorie von Rameau übereinstimmt, damit aber keine Partei für Rameau und gegen Rousseau ergreifen. Dass Helmholtz so deutlich für die Melodie eingetreten ist, war mir neu und ist interessant. Auch Nietzsche vertrat 1884 - bei aller grundsätzlichen Kritik an Rousseau - in seinem Briefwechsel mit Claus Fuchs, einem Riemann-Schüler, diese Meinung. Von Hugo Riemann kenne ich nur die "Grundlinien der Musik-Ästhetik" von 1903 [1887], aber sein Versuch, beide Richtungen zusammenzuführen, überzeugt mich am meisten.


    Bleibt die Frage nach dem Raum. Hier muß meiner Meinung nach unterschieden werden zwischen dem physikalischen Raum und der Räumlichkeit, wie sie sich im Bewußtsein beim Hören von Musik entwickelt.


    Kann der "Tonraum" überhaupt als Raum bezeichnet werden? Das ist eine Metapher. Die Theorien des 20. Jahrhunderts haben durchaus größere Klarheit gebracht. Sie unterscheiden zwischen dem Trägerraum (womit die vierdimensionale Raumzeit gemeint ist), und angeheftet an jeden Raumzeit-Punkt eine Faser, die innere Symmetrien aufweist. In der Physik beschreibt jede Faser einen Quantenzustand, in der Musik ist dies der "Tonraum", der beschreibt, wie eine räumliche Klangquelle in einem Zeitmoment klingen kann. Der Tonraum kann mehrere Dimensionen haben, etwa die Einschränkung auf bestimmte Grundtöne durch die Pentatonik, das System aller mitklingenden Obertöne (Klangfarbe), Tonstärke, Tondynamik (crescendo, decrescendo). Hier lohnt es bestimmt, die Ideen von Hugo Riemann fortzuführen. Wenn sich die Symmetrien von einem Bündel zum nächsten stetig verändern, gibt es einen inneren Zusammenhang im Faserbündel. Die Begriffe der mathematischen Physik sind sehr sprechend. Wenn es überhaupt möglich ist, einen verallgemeinerten, auf die Physik übertragbaren Begriff der Melodie zu entwickeln, dann in dieser abstrakten Weise. Ich bin überzeugt, dass so etwas im Ohr abläuft. Beim Hören werden die zeitlich aneinander liegenden Harmonien verglichen.


    Ganz verstehe ich Dein Argument der Transpositionen nicht. Wenn eine Melodie mal nach oben und mal nach unten transponiert wird, dabei möglicherweise auch die Lautstärke, Dynamik, Instrumentierung (Klangfarbe) verändert werden, ist das eine der typischen Methoden der Komposition und verändert durchaus den Charakter der Melodie, baut innere Spannung auf (siehe z.B. den großartigen langsamen Satz in Ravels Klavierkonzert in G).


    Allerdings hast Du recht, dass solche rhetorischen Figuren zur Idee des Melodien-Reichtums in Widerspruch stehen. Ravel hat zu zeigen versucht, wie weit es möglich ist, ohne Melodie nur mit Rhetorik zu komponieren.


    Aber es dürfte schwer fallen nachzuweisen, dass die zeitlich in einer Melodie einander folgenden Töne in anderen Zahlen- oder Symmetrieverhältnissen zueinander stehen, als wenn sie im Zeitmoment in der Mehrstimmigkeit zusammenklingen, und daraus eine zeitliche Unumkehrbarkeit der Melodie gegenüber der Räumlichkeit der Polyphonie nachzuweisen. (Oder habe ich hier Deinen Gedanken missverstanden?) Alle mir bekannten Versuche, typische innere Verhältnisse bei Melodien zu entdecken, gehen auf Riemann zurück, der bis ins Einzelne Takte, Phrasen, Agogik, Rubato usw. unterschied. - Einen anderen Weg ging zur gleichen Zeit Hermann Schenker, der in der klassischen Musik nach Urmelodien suchte, den kleinsten Einheiten, aus denen Melodien aufgebaut sind, während alles andere nur Rhetorik und "motivische Arbeit" ist.


    Was die Melodie von der Harmonie unterscheidet, sind nicht andere Zahlenverhältnisse, sondern dass die Melodie immer Ausdruck des Singens ist bzw. beim Rezipienten des Hörens. Das Singen und das Hören sind existenziell (im Sinne von Heidegger). Ich werde nie das gleiche Lied zweimal genau gleich singen, und noch nicht einmal die gleiche Schallplattenaufnahme oder CD zweimal gleich hören. Das Singen und das Hören gehören immer zu einer einmaligen Lebenssituation. Davon unterscheiden sich die Texte der Partituren, in denen sowohl Melodien wie Kontrakpunktik aufgezeichnet sind. Jeder kennt dies Phänomen aus eigener Erfahrung: bestimmte Musikstücke stehen immer für die Situation, in der sie einmal gehört wurden, erinnern diese Situation bei späterem Hören, und nie läßt sich die überwältigende Wirkung wiederholen, als zum ersten Mal Stücke wie Beethovens Eroica, Schuberts "Winterreise" oder Bruckners 4. Sinfonie gehört wurden (jeder wird seinen eigenen "Kanon" haben).


    Auch wenn das Singen, Musizieren und Hören zum Leben gehören, jedes Werk daher in unterschiedlichen Lebensphasen anders gespielt und gehört wird, ist es meiner Meinung nach dennoch in Nachfolge von Husserl und der Phänomenologie denkbar, allgemeine Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben, wie während des Musizierens und Hörens im inneren Bewußtsein Zeitlichkeit und Räumlichkeit entstehen. Das ist kein Abbild, keine innere Photographie des wirklichen Raums, sondern im Bewußtsein entsteht eine innere Wirklichkeit, die von den zu spielenden und gehörten Klängen aufgebaut wird, die bis in Trance-Zustände führen kann. - Dann ist umgekehrt die Frage, ob solche Strukturen der inneren Räumlichkeit und Zeitlichkeit festgehalten werden können und ihrerseits unbemerkt in die Intuition eingehen, wenn etwa physikalische Theorien gebildet werden. Das könnte zu einem neuen Verständnis einer transzendentalen Ästhetik führen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Holger,


    im Grunde triffst Du meine Frage sehr gut: es geht mir um das Hören und den Geist der Musik, wobei Nietzsche diesen Geist sicher nicht auf solche Weise verstanden hat, wie die Aufklärung vom Geist oder Platon vom Geistigen sprach. Meine Frage bezieht sich daher noch etwas genauer auf den Begriff Tonos. Wenn in der Musik von Tönen gesprochen wird, ist das bereits eine besondere Art von Tönen, so wie das Musikhören ein besonderes Hören ist, und die Frage gestellt werden kann, was denn die Musik vom Geist der Musik unterscheidet.


    Das mag wieder sehr abstrakt, abgewandt oder vielleicht auch "verworren" klingen. Von zwei Seiten her kann es aber konkretisiert werden: Im 20. Jahrhundert hat sich die Musik weit in den Bereich aller Töne, der Geräusche, eines Bewußterwerdens allen Hörens geöffnet, siehe insbesondere das Anliegen von John Cage und der musique concrete, die um 1945 mit dem Aufbau umfangreicher Geräuschdatenbanken begonnen hatte.


    Ich erkläre mir das so, dass erstens mit der immer komplexer werdenden klassischen Musik im 19. Jahrhundert die Grundlagen der klassischen Musik infrage gestellt wurden und ein größerer Horizont gesucht wurde, von wo aus musikalische Strukturen zu entdecken und zu komponieren sind, statt nur ausgehend von Volksmelodien und von musikalischen Einfällen der Komponisten. Diese Frage war bereits vorbereitet, als Beethoven in der 9. Sinfonie und ähnlich Bruckner in seinen Sinfonien aus fast geräuschhaften, unbestimmten Anfängen die Musik geradezu entstehen lassen wollten.


    Und zweitens hat sich mit der Industrialisierung die den Menschen umgebende Klangwelt völlig verändert. Ich verstehe einen großen Teil der Musik des 20. Jahrhunderts so, dass nun unter veränderten Bedingungen nach vergleichbaren Hörerfahrungen gesucht wurde, wie Beethoven sie auf dem Lande erfahren und in der Pastorale komponiert hat.


    Von der anderen Seite her ergeben sich Fragen aus der modernen Physik. Es ist zunächst einfach ein Phänomen (im Sinne der Phänomenologie), dass die Physik genau in dem Moment in einer abstrakten Weise auf die harmonischen Grundlehren der Musik zurückgeht, als diese in der Musikgeschichte in die Krise geraten sind. Das wird noch verblüffender, da sich die Physik so wenig Gedanken darüber macht. Zwar sind das Quark-Modell oder die Farbenlehre der Quantenchromodynamik breit diskutiert, aber mir ist nicht bekannt, wo darüber nachgedacht wird, was es bedeutet, dass die Quantentheorie in ihren Grundlagen der Musik-Theorie von Rameau (und ihrer mathematischen Darstellung seit Fourier) entspricht.


    Hier sehe ich so etwas wie einen blinden Fleck, was sich mir weiter bestätigte, als Frank den Hinweis gab, welche Bedeutung der Begriff Tonus in der Psychiatrie spielt. Die Physik will oder kann nicht sich bewusst werden über den inneren intentionalen Bogen ihres eigenen Denkens, und in welchem Maß dieser innere Zusammenhang ihres Denkens die innere Struktur ihrer Theorien mitbestimmt. Was Du als "Konstruktionsfehler" bezeichnest, möchte ich daher lieber eine noch offene, suchende Orientierung nennen.


    Hierzu gehört auch die Frage nach dem Verhältnis von Musik und Raum. Das Hören ermöglicht ein Orientieren in alle Raumrichtungen (während das Auge nur ein eingeschränktes Blickfeld auf das frontal Gegenüberstehende hat). Ich vermute, dass das Hören durch Erkennen musikalischer Strukturen den chaotischen Gesamteindruck aller Geräusche zu ordnen und dadurch Orientierung herzustellen vermag. Wichtig ist wahrscheinlich die Wahrnehmung von Resonanz-Effekten, das Heraushören eines Sound, um einen Begriff zu nennen, der zwischen Musik und Geräusch steht. Und ich vermute weiter, dass die Physik - ohne sich darüber bewusst zu sein - auf ähnliche Weise die chaotische Fülle von Beobachtungsmaterial, wie sie etwa von den Teilchenbeschleunigern geliefert wird, zu ordnen versucht. Die Physik will in ihrer Theoriebildung nachvollziehen, was dem Hören beim Ordnen der Geräusche spontan gelingt.


    Mit Stockhausen kenne ich mich nicht so gut aus, weil es mir zugegebenermaßen sehr schwer fällt, seine Musik zu hören. Sie spricht mich nicht an. Teilst Du seine Meinung, er habe den Raum wiederentdeckt, und wie ist das zu verstehen? Ich sehe die Verräumlichung der Musik weit früher beginnen, mit der Entwicklung der Notensysteme und der Mehrstimmigkeit, durch deren Polyphonie eine innere Räumlichkeit im Innern des Zeitmoments entsteht.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Frank,


    zur Philosophie-Geschichte kann ich nur wenig Neues sagen. Der Musikethnologe Max Peter Baumann hat einen sehr guten Überblick geschrieben ( Link ) . Der Schlüsseltext für die neuere Philosophie der Musik ist Nietzsches "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik". Dazu gibt es bereits einen Thread. Einiges würde ich heute anders formulieren. - Von Sloterdijk gibt es zwei lesenswerte Texte, "Wo sind wir, wenn wir Musik hören" (1993) und einen Vortrag 2005 zur Eröffnung der Luzerner Festspiele, die beide in seinem Buch "Der ästhetische Imperativ" (2007) erhältlich sind. Seine These: Das Hören setzt bereits im Mutterleib vor der Geburt ein. Das Kind hört bereits den Herzrhythmus und die Stimme der Mutter. Aus dieser Zeit stammt seiner Meinung nach das Grundgefühl des Hörens: Beim Hören bin ich in etwas, schwebe oder schwimme in einer Umgebung voller Töne, Laute und Rhythmen. Das Hören durchzittert den ganzen eigenen Körper. - Die Philosophen in Frankreich haben sich meines Wissens weit mehr mit Literatur als mit Musik beschäftigt.


    Sehr wichtig ist Deine Frage, wie die Kunst des Hörens unterrichtet werden kann. Das sollte nicht auf Musik beschränkt sein, und auch nicht auf das direkte Ziel, die Freude an der klassischen Musik zu vermitteln. Die wird mit dem Hören-Lernen von allein erwachen. - Ich habe zu dieser Frage keine klare Antwort. Jeder gute Lehrer muss über die pädagogische Fähigkeit verfügen, seine Schüler dazu anzuregen, ihm zuzuhören. Das scheitert in dem Maß, wie die Lehrer ihrerseits nicht fähig sind, auf die Schüler zu hören. Bloß Gehorsam zu erwarten, das genügt nicht. Die Kunst des Hörens kann wohl nur durch gutes Beispiel vermittelt werden. Aber ich glaube nicht, dass es dafür ein Patentrezept gibt. Jeder hat seine eigene Fähigkeit zu hören. Der größte Mangel liegt bereits in der Lehrerausbildung, bei der Fragen dieser Art zu wenig Bedeutung beigemessen wird.


    Rhetorik heute beschränkt sich überwiegend darauf zu lernen, sich Gehör zu verschaffen. Das geht auf die Sophisten zurück, nach Nietzches Meinung auch auf Sokrates und Platon. Er wirft ihnen allen vor, sie wollten nur noch mit der Macht des Wortes andere übertrumpfen. Aristoteles hatte das durchaus anders gesehen, als er in seiner "Nikomachischen Ethik" als eine der wichtigsten Eigenschaften des Menschen das "Vermögen 'hinzuhören'" darstellte (1103a). Diesen Hinweis entnehme ich der Aristoteles-Vorlesung von Heidegger von 1924.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Frank,


    in der Geschichte der Philosophie ist die Kunst des Hörens tatsächlich außerordentlich vernachlässigt worden. Das Sehen, Schauen, Betrachten, Anschauung, Vorstellung, auch die innere Vision hatten immer Vorrang. Dies alles wurde gegenüber dem eher passiven Hören als etwas Aktiveres verstanden und bevorzugt. Intentionalität hat vorrangig die Bedeutung bekommen, sich aktiv etwas zuzuwenden und nicht auf etwas zu horchen.


    Das änderte sich erst seit der Romantik und den nachfolgenden Philosophen. Kierkegaard betont geradezu euphorisch, wie wichtig ihm der Hörgenuß des "Don Giovanni" von Mozart ist und er dort in der Musik etwas hören kann, was sich nicht in Worte fassen läßt und sich grundsätzlich dem Geistigen entzieht. Er weiß, dass all sein Reden umsonst ist, wenn er nicht auf Leser trifft, die gleich ihm die Erschütterung des Verliebtseins erfahren haben und ihn daher verstehen können.


    Es folgten Denker wie Bachofen und Nietzsche, die auf die dunkle Seite unterhalb der hellen griechischen Klassik hinwiesen. Da kamen große Emotionen, Bestien, Zerstörung und auflodernde Leidenschaften zum Vorschein, begleitet vom Lärm des dionysischen Taumels. Adorno wollte das wieder zurückdrängen, als er - wie Brahms - einen Musikgenuß favorisierte, der idealerweise dem Lesen der Partitur folgt und gar keine Töne von außen hört (obwohl gerade Werke wie die 1. Sinfonie von Brahms gehört werden müssen, das Dröhnen der ersten Takte muss durch die Haut gehen).


    Auch in der "Allgemeinen Psychopathologie" von Jaspers (Ausgabe 1946, erste Auflage 1913) gibt es nur wenige Hinweise auf das Gehör oder Hörstörungen. Heidegger verstand aber von Anfang an das Neue bei Jaspers und fand bei ihm die Anregung, dem Hören ein anderes Verständnis entgegenzubringen. Von ihm ist daher für eine Kunst des Hörens mehr zu lernen als bei Adorno und Jaspers. Das bestätigt sich auch immer deutlicher durch die Sekundärliteratur. Allerdings hat er seine Lehre sehr schnell durch einen radikalen Schnitt von der Tradition getrennt und auf eine fast mystische Ebene gehoben, zum Beispiel: "Das Seyn ist die Erzitterung des Götterns (des Vorklangs der Göttererscheinung über ihren Gott)." (Beiträge zur Philosophie, S. 239)


    Diesem Gedanken kann ich im Prinzip gut folgen, und doch ist Jaspers in seiner Kritik an Heidegger recht zu geben: "Unbeschadet des Wertes seiner konkreten Ausführungen halte ich den Versuch im Prinzip für einen philosophischen Irrweg. Denn er führt den Mitgehenden statt zum Philosophieren zum Wissen eines Totalentwurfs des Menschseins. Dieses Denkgebilde wird kein Hilfsmittel der geschichtlich wirklichen Existenz des Einzelnen, sondern selber wieder ein Mittel der Verschleierung, das um so verhängnisvoller wird, als mit Sätzen größter Existenznähe gerade die wirkliche Existenz verfehlt und unernst werden kann." (S. 649)


    Seither scheint sich die Philosophie in Deutschland nach Heidegger und Adorno in einer Phase der Passivität zu befinden, und es ist wohl kaum vorauszusagen, was daraus hervorgehen wird. Google gibt die Auskunft, dass dieses Jahr von David Espinet ein Buch über die "Phänomenologie des Hörens" erschienen ist. In der eingeschränkten Vorschau ist zu sehen, dass es sich im wesentlichen um eine Heidegger-Interpretation zu handeln scheint.


    Und dabei sind selbst elementare Fragen noch unklar, wie ein Blick in die Lehrbücher über Gehör-Physiologie bestätigt. Der Gehörsinn hängt eng mit dem Gleichgewichts-Sinn zusammen. Es ist zu vermuten, dass durch das Zusammenwirken von Hören und Gleichgewichts-Empfindung die Orientierung in Raum und Zeit entsteht. Doch keiner weiß, wie das geschieht.


    Beim Hören wird das Gehörte spontan ergänzt zu zusammenhängenden Vorstellungen. Sogar bei einer Mono-Aufnahme von Kammermusik oder sinfonischen Werken oder bei zeitgenössischer Musik, die allen Hörgewohnheiten zuwiderläuft, kann das Ohr die einzelnen Instrumente voneinander unterscheiden, ihren inneren Zusammenhang ergänzen und möglicherweise sogar den Standort der Instrumente erkennen. Das Hören zeigt ein Verständnis für Raum und Zeit, das bis heute nicht erklärt ist. Für die Physik ergibt sich die Aufgabe zu verstehen, wie es das Tönende dem Ohr ermöglicht, solche Differenzierungen vorzunehmen. Philosophie sollte sich nicht damit begnügen, auf das Erlernen des Musikhörens zu verweisen, sondern der Physik bei der Klärung der Grundbegriffe zu helfen, um hier weiter zu kommen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Frank,


    vielen Dank für die Hinweise auf neuere Fachliteratur, an denen ich sehr interessiert bin. Und mit Beethoven und Schumann triffst Du genau den Punkt, wo ich in der Musikgeschichte ein Gegengewicht zur Umwandlung der Musik und Physik und der Hörgewohnheiten in der Neuzeit sehe. Während Musik und Physik in der Theorie immer abstrakter und in der öffentlichen Praxis immer konventioneller werden, konnten Beethoven und Schumann sich nur bedingt anpassen. Beiden wird vorgeworfen, sie könnten nicht richtig instrumentieren, hätten also ein fehlendes Klang-Verständnis. Im Falle von Beethoven 9. Sinfonie wird direkt mit Verweis auf seine Taubheit argumentiert. Es gibt nur wenige Werke, die so stark retuschiert wurden. Beethoven hatte aber ganz bewußt zum Beispiel den Naturhörnern eine neue Rolle im Orchester gegeben und wollte den spätestens seit 1815 heraufziehenden neuen Schönklang nicht mitmachen.


    Aus Erfahrungen mit mir sehr nahe stehenden Menschen weiß ich, wie tief Hörstörungen die Persönlichkeit prägen und auf welches Verständnis vom Umfeld sie angewiesen sind. Stattdessen werden sie häufig in eine Außenseiterposition gedrängt. Es ist auch nicht besser, wenn umgekehrt wie im Falle von Beethoven aus seiner Krankheit und den erschütternden Dokumenten wie dem Heiligenstädter Testament ein Mythos gemacht und Beethoven zum Heroen im Kampf gegen seine Krankheit erklärt wird.


    Schumann hat in der Zeit vor seinem Selbstmordversuch unter starken akustischen Halluzinationen gelitten. In den "Geister-Variationen" hat er sie aufzuschreiben versucht. Sie haben seine psychische Krise zumindest stark beschleunigt. Ich bin mit Dir einer Meinung, dass er nicht wegen der Halluzinationen in die Irrenanstalt eingeliefert wurde, sondern aufgrund der Folgen. Es muss Spekulation bleiben, ob er sich ohne die Hörstörungen psychisch besser hätte behaupten können. Bei der medizinischen Beurteilung bin ich auf das Fachurteil angewiesen, nehme aber wahr, wie weit auseinander sowohl bei Beethoven wie bei Schumann die verschiedenen Meinungen gehen. Während um Beethoven ein Mythos gebildet wurde, gibt es um Schumann geradezu einen Glaubenskampf, der bis heute unerbittlich ausgefochten wird, nachdem die wichtigsten Originaldokumente vernichtet wurden.


    Die physikalischen Grundbegriffe wie Raum und Zeit sind erschüttert von Realitätsverlust bei der Wahrnehmung von Raum und Zeit, worauf ich in weiteren Aristoteles-Kommentaren eingehen möchte. Am Anfang steht, dass die Kunst des Hörens verloren geht (Aufmerksamkeits- und Intentionalitätsverlust, sowie schwindende Bereitschaft, fremde Töne wahrnehmen zu wollen aus Angst vor Verlust der eigenen Integrationsfähigkeit). Mir scheint, dass die Wahrnehmung von Zeit und Raum in starkem Maß über das Hören erfolgt. Beethoven und Schumann sehe ich an einer Grenze, wie insbesondere Werke aus ihrer jeweils mittleren Schaffenszeit wie die "Pastorale" bei Beethoven oder der "Vogel als Prophet" bei Schumann zeigen. Nirgends sonst sehe ich die Kunst des Hörens in solcher Weise ausgeprägt. Das hat meiner Meinung nach mit ihrer besonderen Sensibilität für das Hören zu tun und zeigt den Punkt, bevor sie dann an Werke gingen, die sich völlig dem gewohnten Hörvermögen entzogen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    seit längerem habe ich mich stark aus diesem Forum zurückgezogen, um wieder mehr Zeit für andere Themen zu haben. Dazu gehört die Beschäftigung mit Aristoteles. Jetzt ist ein Teil fertig, der zwei in diesem Forum vor einigen Jahren vorgestellte Aristoteles-Studien fortführt. An den Teilen zu Musik und Medizin hatte sich letztes Jahr Frank beteiligt.


    Auf einer sehr abstrakten Ebene fließen Ideen der Musik in die Mathematik und Physik des 20. Jahrhunderts ein. Hilbert hatte für die mathematische Physik die Idee eines unendlich-dimensionalen Raums entworfen (Hilbert-Raum), dessen Dimensionen dem Grundton und der unendlichen Folge der Obertöne entsprechen. Daraus entwickelte sich die Quantentheorie. Sie beschreibt die Wahrscheinlichkeitsverteilung möglicher Zustände mathematisch auf die gleiche Weise, wie die Klangfarbe aufgebaut ist aus der Verteilung des Grundtons und der mitschwingenden Obertöne.


    Meine Vermutung ist, dass es sich keineswegs nur um eine formale, "rein mathematische" Übereinstimmung zwischen Musik und Physik handelt. Wird der Begriff des Tons zurückverfolgt bis zu seinen Anfängen in der griechischen Gesellschaft, dann zeigen sich überraschende Querbeziehungen zur Medizin, zur Trennung von Musik und Sprache und Herausbildung der Mehrstimmigkeit und nicht-sprachlichen, reinen Instrumentalmusik. Es ergibt sich ein geradezu unübersehbares Geflecht von Fragen, die mehr in ein philosophisches als Musik-Forum passen.


    Wer sich dennoch dafür interessiert, kann hier nachlesen. Kommentare oder Rückfragen beantworte ich gern.


    Viele Grüße,


    Walter

    Die Hinweise zur Rockgeschichte greife ich gern auf und werde sie in die überarbeitete Version auf meiner Homepage ergänzen.


    Gerade zum Stichwort "Progressive Rock" ist der Eintrag in Wikipedia lesenswert. Stärker betonen möchte ich die Bedeutung der aus der Londoner Blues-Szene hervorgegangenen Musiker wie Dick Heckstall-Smith, John McLaughlin, Graham Bond, Jon Hiseman und der von ihnen gegründeten Gruppen wie "Colosseum" oder "Mahavishnu Orchestra", nach wie vor sehr hörenswert. Selten schien die Möglichkeit eines kreativen Austauschs mit der klassischen Musik so greifbar wie damals.


    Viele Grüße,
    Walter

    Nach einer langen Vorbereitungsphase (Lautsprecher, mechanische Klaviere und Walzen, Schallplatten, Rundfunkübertragungen) überschlägt sich die Technikgeschichte der Rockmusik und zeigt einen bisweilen bis zur Farce getriebenen Produktivitäts-Wahn. Ihre einzelnen Phasen lassen sich am besten analog zu den 10-jährigen Generationen der EDV-Industrie ordnen:


    1943 - 1953: Pionierphase. Elektrisch verstärkte Gitarren von Leo Fender (Firmengründung 1946) und Les Paul, der 1941 den ersten Prototypen einer Solid Body Gitarre baute. Musikalisch nutzte als erster Muddy Waters stilprägend die neuen Möglichkeiten. Pierre Schaeffer gründete 1944 als Radioingenieur das RTF Studio in Paris. 1951 folgte die Gründung des Studio für Elektronische Musik beim WDR in Köln durch Herbert Eimert.


    1953 - 1963: Durchbruch von Musikrichtungen, die die neue Technik einzusetzen verstehen (Rock'n Roll, Free Jazz, britischer Blues als unmittelbarer Vorläufer der Beatmusik, gewissermaßen kontrapunktisch die Folk-Musik bis zu ihrer Integration in die Rockmusik) (Chuck Berry, Elvis Presley, Ornette Coleman, Alexis Korner, Bob Dylan)


    1963 - 1973: Synthesizer und elektrische Verzerrung von Gitarrenmusik durch unterschiedliche Effektgeräte zur Tonbearbeitung (Summer of love, Woodstock, Altamont, Gitarrenheroen: Hendrix, Clapton, Jeff Beck, Keith Richards, Stile von den Beatles bis zu MC5, Velvet Underground, Miles Davis, Keith Emerson, Kraftwerk). Musikmanager wie Oldham (spektakulär das von ihm geschaffene aggressive Bild der Stones und die Verdrängung des Blues-Musikers Brian Jones) und Produzenten wie Tom Wilson, Phil Spector, George Martin oder Quincy Jones geben der Musik ein völlig neues Profil: Konzept-Alben, psychedelische Musik, Sounds. Gleichzeitig Annäherung an Jazz und Rock im Minimalismus (Reich, Glass) bis zu einem Punkt, wo der Minimalismus kaum mehr als E-Musik anerkannt wird.


    1973 - 1983 Neue extrem schnelle Grifftechniken auf Gitarre und Bass, erste Digitalisierung (Tagging, Digitales Sampling, Loops) (Eddie Van Halen, Enver Izmailov mit osteuropäischen Akzenten, Funk Bass, sehen- und hörenswert Victor Wooton und Marcus Miller, Gitarristen wie Steve Lynch, Steve Vai, Joe Satriani, Jennifer Batten, aber auch in der Tradition von Pierre Schaeffer sehr erfolgreiche Vermarktungen wie Jean-Michel Jarre), als Gegenbewegung die Besinnung auf die Wurzeln des Rock (Reggae, Punk).


    1983 - 1993: Digitalisierung und Privatfernsehen (CD, Musikvideos, MTV) (Michael Jackson, Madonna, HipHop, experimentelle Früh-Phase der Techno-Musik etwa durch Prodigy), dominierende Rolle der DJs (das Mischpult löst als stilbildendes "Instrument" die E-Gitarre ab, spätestens hier sind alle Brücken zur klassischen Musik abgebrochen)


    1993 - 2003 PC-unterstütztes Komponieren, Software-Sythesizer, Auto-Tune, Musikverteilung über das Netzwerk (Downloads, MP3)


    2003 - 2013 Social Network (YouTube, MySpace, Facebook)


    2013 - ... weiter miniaturisierte und vernetzte Technologie, vermutlich auch völlig neue Raumeffekte


    Offenbar lösen stärker technisch und künstlerisch dominierte Phasen einander ab. Hatte etwa das Jahrzehnt 1953-63 äußerst viele musikalische Ideen gebracht und war ab 1963 geradezu eine Explosion der Stile zu erleben, ist seit 1993 ein gewisse künstlerische Stagnation zu beobachten.


    Ich kann mir auch nur schwer vorstellen, dass die künstlerische Entwicklung innerhalb von Konzernen wie MySpace verbleibt und dort nicht ausbricht. Vermutlich ist auch innerhalb des Social Network das Entstehen von Independent Netzwerken notwendig vergleichbar der Indenpendent-Bewegung der 1980er. Das würde der Open Source Initiative im Bereich der Software-Entwicklung entsprechen. Es könnte durchaus noch bis 2013 zu gravierenden Veränderungen innerhalb des Social Network kommen, was mir als eine Voraussetzung erscheint, damit sich das kreative Potential frei entfalten kann.


    Und dann könnte dank zahlreicher neuer technischer Entwicklungen die kritische Masse erreicht werden für eine neue künstlerische Richtung. Die Miniaturisierung, die Vernetzungsmöglichkeiten und intelligente Materialien sind inzwischen so weit entwickelt, dass es zu einer neuen Welle von Instrumenten mit ganz neuen Möglichkeiten kommen kann (ein möglicher Vorbote ist das Tenori-on), zu ungeahnten Rückkopplungseffekten nicht nur innerhalb der Verstärkung einzelner Instrumente, sondern auch in gegenseitigen Resonanzeffekten, völlig neuen Light-Shows und Raumeffekten etwa mit dem Einsatz selbstleuchtender Folien, die auf Geräusche reagieren (Christo als Vorläufer). Dank der Miniaturisierung wird es sich wahrscheinlich um allgemein verfügbare Instrumente handeln, die jeder erwerben kann, was die Abhängigkeit von großen Studios und "Hardware"-Lieferanten lockert. Es würde dem weltwirtschaftlichen Trend entsprechen, falls schon ab 2013 oder spätestens 2023 neue Innovationen aus China kommen, das bereits mit der Show zur Olympiade 2009 eine ungewöhnliche Vorstellung geboten hat.

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    mit diesem Beitrag möchte ich ein kürzlich aufgeworfenes Thema aufgreifen und noch allgemeiner formulieren: Wie wirken sich technische Änderungen auf die Musikästhetik aus? Das könnte auch eine andere Sichtweise sein, um den vielen Diskussionen über moderne Musik oder E- und U-Musik eine andere Richtung zu geben.


    Hatte der Jazz eine eigene Harmonielehre entwickelt und die Improvisationskunst wiederbelebt, lebt die Rockmusik von ihrer Fähigkeit, die technologischen Möglichkeiten des Computer-Zeitalters auszuschöpfen. Dazu ein kurzer Überblick und eine Prognose über die weitere Entwicklung. (Zu allen Begriffen und Musikern liefert Wikipedia weiterführende Informationen, sehr hilfreich auch die Künstlerdatenbank Akuma und natürlich die Musikbeispiele bei YouTube).



    Tonstudio London Abbey Roads in den 1970ern


    Die klassische Musiktradition hat sich aus diesem Sektor bis auf die Übernahme neuer Tonträger-Technologien und Vermarktungs-Methoden fast völlig zurückgezogen. Überraschenderweise werden ausschließlich in einer sehr kleinen Nische die extrem technisch orientierten Richtungen zur "ernsten" Musik gezählt, die vom klassischen Verständnis von Musikalität am weitesten entfernt sind (so die Komponisten im Umfeld der westdeutschen Rundfunkstudios, elektroakustischen Instituten wie in Graz oder unabhängigen Insitutionen wie dem Pariser IRCAM, 'Kurzstückmeister' hatte weiter Gruppen wie Merzbow, Ikeda, Schmickler, Fennesz genannt). Einen Sondefall stellen die Minimalisten dar.


    Von daher ergibt sich mein Interesse an diesem Thema, auch wenn dies zunächst kaum mehr als eine Materialsichtung ist. Wie ist zu erklären, dass die neuen technischen Möglichkeiten nicht mehr von den überlieferten Unterscheidungskriterien der musikalischen Ästhetik erfasst werden können und pauschal in die "Unterhaltungsmusik" abgeschoben werden? Werden für die Ästhetik neue Kategorien notwendig, um neue Techniken wie Loops oder Samples, Erfindungsgabe für virtuose Spielgriffe (Tagging, Double Thumbing), Kreation immer neuer Genres (Weltmusik, Cross-Over, alle die Metal Varianten von Heavy Metal bis Trash Metal) angemessen beschreiben und Qualitätskriterien entwickeln zu können (wenn Qualität nicht ausschließlich durch Verkaufszahlen und erworbene Grammys gemessen werden soll)? Die Literatur über die Rockmusik hat eine eigene Sprache entwickelt, eine Mischung aus Engineering, Marketing und Computer Science. Wie sind Begriffe wie Format, Schema, Code, Arrangement in die Ästhetik einzuordnen? Handelt es sich nur um Verkaufsförderung, schrille Fan-Literatur, eine unterentwickelte Musik von Amateuren und ihren laienhaften Hilfsbegriffen, oder zeichnet sich eine Umwälzung der Musikästhetik ab?


    Seit dem Beginn der abendländischen Musik in Griechenland hatten feste Tonbeziehungen, Intervalle, Takte und später die Kontrapunktik mehrstimmiger Melodieführung die Elemente der Musikästhetik geliefert. Seit Beginn der Industrialisierung war versucht worden, sie auf mathematische und physikalische Elemente zurückzuführen (Helmholtz) und daraus Tongeneratoren zu erzeugen. Die Ergebnisse der elektroakustischen Musik in den 1950ern sind ernüchternd. Aber sie gaben neben Neuerungen im Instrumentenbau (wie z.B der E-Gitarre) Anregungen für eine künstlerische Entwicklung, die inzwischen weit genug gediehen ist, um sich ihrer eigenen musikästhetischen Elemente bewußt zu werden. Dies gibt Anregung zu mathematischen Fragen: Sind im künstlerischen Spiel der Rückkopplungen, Hall-Effekte und zusammengefügten Musik- und Bildfetzen neue Regeln erkennbar, die eine innere Verwandtschaft zu anderen neuen mathematischen Theorien wie den dynamischen Systemen oder formalen Automaten haben? Ist es sogar denkbar, dass die Mathematik der klassischen Musikästhetik dann als ein Grenzfall zu verstehen ist, so wie die klassische Physik in der modernen Physik aufgehoben ist?


    An welchem Punkt der Technikgeschichte hat sich die klassische Musik verabschiedet? Anfangs beteiligten sich Komponisten wie Erik Satie (Parade), Edgar Varese, Artur Honegger (Pacific 231) oder die Maschinenmusik von Mossolow sehr intensiv an experimentellen Versuchen, doch mit dem Einsatz der Elektronik seit den 1940ern hat sich das geändert. Offenbar verträgt die klassische Tradition nicht die grundlegenden Änderungen im Kompositions-Prozeß: Mit der Einführung elektronischer Techniken löst sich die Rolle des klassischen Komponisten (Autors) auf und verteilt sich auf ein Team mit unterschiedlichen Aufgaben (Produzent, Manager, Tontechniker, Starinterpret, Band). Wer ist der "Komponist" der Konzept-Alben der Beatles: John Lennon, George Martin, die ganze Gruppe? Wer ist der Komponist von Remixes, Cover-Versionen oder eines neuen Sound (wie z.B. der Motown-Sound): der ursprüngliche "Erfinder" der Melodie, der DJ, der neue Interpret, die Studiomusiker, die Produzenten und Tontechniker oder die Musikmanager (z.B. Brian Epstein, Andrew Oldham) mit ihren Ideen und Gespür, was für ein Sound am besten den Massengeschmack trifft bzw. welche noch im gesellschaftlichen Abseits stehende Hörer-Gruppe das Potential hat, die Zukunft des Massengeschmacks zu erobern (so z.B. das Publikum der Beatles und Yardbird in ihren Anfangsjahren)?


    Besonders schwer einzuordnen sind die Performances. Da gibt es Beispiele wie FM Einheit, die noch in erkennbarer Tradition stehen, was aber ist mit den Auswüchsen vor allem im Metal Sektor und ihrer Sexualisierung und Gewalttätigkeit, ganz zu schweigen von den Orgien, die Backstage stattfinden und zum Starkult gehören? Ist das die unvermeidbare Kehrseite einer Musik, die so sehr von neuer Technik und ihrer massenhaften Verbreitung lebt und damit offenbar die Persönlichkeit der Künstler überfordert? Gehört zur neuen Ästhetik der technik-getriebenen Rock- und Experimental-Musik eine bis dahin in der Musik unbekannte Destruktivität, und haben also die jahrtausendelangen Befürchtungen der Musik-Ästhetik recht, gewisse Maße nicht zu überschreiten? Die von Nietzsche aufgeworfenen Fragen des Apollinischen und Dionysischen stellen sich völlig neu.


    Viele Grüße,


    Walter

    Ein sehr geteiltes Echo hatte ich erwartet. Es liegt mir fern, jemanden für Michael Jacksons Musik "gewinnen" zu wollen. Und ich wollte und will bewußt nicht auf seine Biographie eingehen, wovon derzeit alle Medien übervoll sind, sondern mich auf seine künstlerische Wirkung beschränken. Mir ging es wie Thomas: Nach langer Zeit wieder seine Videos anzuschauen hat mich heute fast stärker beeindruckt als zur Zeit ihrer Veröffentlichung. Ich hatte Anfang der 1980er regelmäßig "Spex" gelesen, lag sie doch damals im Berliner "Cafe Mitropa" direkt gegenüber meiner Wohnung aus, in einem Ambiente, das völlig dem Zeitgeist entsprach. Michael Jackson war mir seinerzeit wie eine mit allen finanziellen Mitteln geförderte Antwort des Show-Business auf die neuen Impulse des Punk, Reggae und der von ihnen beeinflussten Rock-Strömungen erschienen. Diedrich Diedrichsen läßt grüßen. Das sehe ich heute ebenso als Vorurteil an, wie es ein Vorurteil ist, wenn 80% der Bevölkerung die klassische Musik für überholt oder langweilig hält.


    Der Hinweis von 's.bummer' zu Quincy Jones ist berechtigt (daraus Abwertungen gegenüber Ravel oder Jackson zu folgern jedoch nicht). Es lohnt, sich mehr mit ihm zu beschäftigen. Er hat nicht nur lange vor Michael Jackson Musiker wie Art Blakey produziert, sondern auch in Paris bei Nadja Boulanger und Olivier Messiaen studiert. In Paris ist offenbar der Austausch zwischen U- und E-Musik weit unverkrampfter als hier (siehe auch Komponisten wie Pierre Henry). Die Beziehung zu Ravel ist also gar nicht so weit hergeholt. Boulanger soll Jones empfohlen haben, seinen musikalischen Wurzeln treu zu bleiben. Es würde mich sehr interessieren, wenn jemand zu ihm im Jazz-Forum einen Beitrag eröffnet. Es stimmt schon, dass wir nicht wieder bis zum Tod eines großen Musikers warten sollten.


    Alfreds Bemerkung zur Größe spricht mich an. Vielleicht würde ich einige Akzente ein wenig anders setzen: Es waren nicht nur die Bühne und das richtige Gespür für den Massengeschmack (worin ich nichts Negatives sehe, die klassische Musik ist gesegnet mit Künstlern, die dies ebenso gut vermochten), wo sich sein Leben abgespielt hat, wie es jetzt in vielen Nachrufen heißt, sondern es war die Musik, die ihn beseelt und ihm Kraft gegeben hat. Warum und wann es dann dennoch zu einem Absturz oder mindestens Stagnation kam, ist für mich offen.


    Er vermochte tiefen Emotionen einen musikalischen Ausdruck zu geben, bei denen sich viele ansonsten unverstanden oder durch eine sozialpädagogische oder psychiatrische Betrachtungsweise nicht ernst genommen fühlten (Paranoia, Verlassenheitsängste in zerfallenden Familienstrukturen, unsicheres oder übertriebenes sexuelles Rollenverhalten). Gerade weil hier sehr sensible Themen berührt sind, sollten sie sehr behutsam angesprochen und nicht voreilig mit Spott oder Überheblichkeit abgetan werden. Michael Jackson hat sich weit vorgewagt, war dadurch verletzbar und vorführbar, hätte anders aber nicht eine solche Resonanz erzielen können. Und ohne Frage hat er nicht nur sein Publikum erreicht, sondern auch viele Künstler gewonnen, an der Realisierung seiner Ideen mitzuarbeiten. Da bin ich ganz einer Meinung mit Thomas. Wie viel er von der ihm gegebenen Kraft der Musik an sein Publikum weitergegeben hat, bis zur eigenen völligen Erschöpfung und Entblößung, das gehört ganz wesentlich zu seiner Größe, und das kann glaube ich jeder Musikliebhaber anerkennen und würdigen, auch wenn er nicht seinen musikalischen Stil teilt.


    Viele Grüße,


    Walter

    Manfreds großer Beitrag baut nicht nur mit dem Titel "Licht und Schatten" eine große Spannung auf: Da ist im Motto mit Carl Fuchs von dem "Zeug" die Rede, dass "einen ... noch in der Imagination unglücklich machen" kann, und dann mit Schnabel von einem Werk, das besser ist, als es jemals gespielt werden kann. Dennoch hofft er bis zum Schluß "auf die ultimative Aufnahme".


    Während die ersten beiden Sätze der Sonate für sich sprechen, entscheidet sich an den beiden letzten, welche Deutung ein Interpret wählt. Manch einer würde sie am liebsten ganz weglassen. Manfred verstand sie so: "Schubert holt uns wohl doch ins Diesseits zurück (oder hält uns auf der Erde zurück)."


    Nach dieser weit ausgreifenden Einleitung werden die Erwartungen an die bestmögliche Einspielung jedoch fast rein technisch gesehen, er wünscht "einen schönen Anschlag, ein sauberes Spiel voll Geist und Empfindung und Finger, die den Tasten nicht wie Stoßvögel zu Leibe rücken". Wie im Fluge ziehen die Kurzcharakteristiken der verschiedenen Aufnahmen dahin, bis schließlich ganz am Ende ein Ruhepunkt gefunden wird: "Zhu (2004) steigt in die Sonate etwas zögerlich ein, überwältigt dann allerdings mit einem geradezu unglaublich schönen Spiel, das eher nicht mehr von dieser Welt ist."


    Sicher besteht die Gefahr, auf die 's.bummer' zurecht hingewiesen hat, dass sich im Verlaufe eines monatelangen Vergleichshörens die inneren Maßstäbe allmählich verändern. Manfred hat nach meinem Eindruck aber von Anfang an intuitiv sehr genau gewußt, was er gesucht hat, hat daran festgehalten und es schließlich bei Zhu gefunden. Damit war das Ende dieses Projekts erreicht. Im Klassik Akzente Forum lehnte er in einem Diskussionsbeitrag einen weiteren Artikel über die nicht von ihm gehörten Aufnahmen als "Strafarbeit" ab.


    Wie steht das im Einklang mit dem Motto von Carl Fuchs, das dem Beitrag vorangestellt ist? Der Brief von Carl Fuchs an Nietzsche ist bei Google Books in großen Teilen online verfügbar (Colli, Montinari (Hg.) "Briefe an Nietzsche Mai 1872 - Dezember 1974", S. 437-442, S. 440 ist ausgelassen). Nietzsche hatte soeben sein erstes Buch "Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" veröffentlicht und ein Exemplar an Fuchs gesandt. Fuchs ist sichtlich aufgewühlt und hat ganze Kapitel geradezu auswendig gelernt, so oft hat er sie gelesen. Das regt ihn an zu Gedanken über die richtige Interpretation als Klavierspieler. Er will den richtigen Ausgleich finden zwischen subjektiver Empfindung und objektiver Darstellung.


    "Ich glaube nun, daß der Fehler, sich subjektiv, mit dem persönlichen, empirisch erlebenden Empfinden den Musikstücken zu überlassen, die Musiker so liederlich, untauglich, zerfahren macht, denn das übt eine geradezu verderberische, diluirende Wirkung auf das 'Gemüth' aus. Von mir weiß ich, daß auf mich die 'Winterreise' von Schubert in dieser Art ganz entschieden untergrabend eingewirkt hat, während der halbjährigen Abwesenheit meiner Frau vom Hause. Auch die Sonaten in A-moll und B-dur. Das Zeug kann Einen auf diesem Wege noch in der Imagination unglücklich machen. Ich weiß noch, wie Bürgl und ich eines Abends beisammen saßen und kamen auf die Winterreise und kamen auf den letzten Satz der B-dur-Sonate mit diesem schrecklich klagenden, immer wiederkehrendem Einsatz wie eines Horn-Tones, und die folgenden leicht schluchzenden oder zuckenden Phasen zu sprechen." (S. 439) Hier folgt bei Google Books leider die Auslassung.


    Von diesem Zitat her beginne ich zu verstehen, warum Manfred gerade bei diesem Stück, das ihm persönlich so nahe ging, die Interpretationen überwiegend technisch beurteilt hat. Es ist auch klar, warum ihm eine Aufnahme wie die von Maria Yudina zwar faszinierte, aber regelrecht gegen den Strich ging, die ich ganz anders bewerten würde. Seine Begeisterung für die Aufnahme durch Zhu Xiao-Mei kann ich jedoch gut nachvollziehen. Geradezu traumwandlerisch nimmt und meistert sie die Ausdruckswelten dieser herrlichen Sonate.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    Ullis kurzem "Nachschlag" zum Tod von Michael Jackson möchte ich ein paar Gedanken folgen lassen.


    Michael Jacksons Tod riß einen jäh aus der Gewohnheit, abends das eine oder andere schöne Stück klassischer Musik zu genießen. Er hatte in den 1980ern einen neuen Ton in die Musik gebracht und zählt neben Frank Zappa und Miles Davis zu den großen Neuerern der Musik aus den USA. Einiges sträubt sich gegen diese späte Einsicht: auf welchem "Niveau" bewegt sich seine Musik? Er zeigte, dass die Musik heute in neuer Weise gespielt werden muss und auch gespielt werden kann, wenn sie eine ähnliche Wirkung erzielen will wie die große klassische Tradition.


    Mit dem Ausdruck seiner Stimme, seinen choreographischen Ideen und Visionen für die Einbettung der Musik in kleine Spielfilmsequenzen konnte er zahlreiche führende Künstler aus dem Showbusiness zur Mitarbeit begeistern (Paul McCartney, Mick Jagger, Martin Scorsese, wahrscheinlich Steven Spielberg, und all die im Hintergrund arbeitenden Ton- und Filmingenieure, deren Geschichte noch geschrieben werden muß). Bei der Produktion der LPs der 1980er wurden die aktuellsten Möglichkeiten der Computerunterstützung eingesetzt. Er kann mit vollem Recht als der Erbe der Ideen verstanden werden, wie sie etwa die "Beatles" in ihren letzten Alben angestrebt hatten.


    Damit sprach er nicht nur eine neue Generation an, sondern wirkte weit in den Bereich der klassischen Musik. Wo denn sonst holen die Regisseure der neuen Operninszenierungen ihre Ideen? In seinen Videos ist alles zu sehen, was dann auch auf die Opernbühne gebracht werden sollte. In der Unterhaltungsindustrie hat er praktisch ein neues Genre geschaffen, inzwischen unzählige Male wiederholt.


    Seine Stücke und ihre Wirkung zeigen, in welche Maß die klassische Musik den Anschluß an die heutige Zeit verloren hat. Aber der Trennungsschmerz gilt für beide Seiten: Unverkennbar fehlt seiner Musik etwas, und er litt darunter, als seine Musik nie wirklich das Vakuum ausfüllen konnte, in das er hineingestoßen ist. Ihm fehlte ein Komponist etwa vom Rang eines Ravel, der ihn unterstützen oder seine Ideen aufgreifen und musikalisch weiterführen konnte.


    Werden seine Videos mit den zahlreichen Nachahmern verglichen, ist seine persönliche Präsenz geradezu umwerfend. Trotz der Anonymität und Künstlichkeit, in die er sich zurückgezogen hatte, löst sein Tod Trauer und Verstörung aus. Ich hoffe sehr, dass es der Musik gelingen wird, seinen künstlerischen Einfällen eine Gestalt zu geben, die ihm verwehrt geblieben ist.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Jörg, das neue Gedicht empfinde ich wie eine erste Antwort, möchte aber zunächst die Gedanken zu den 67 Gedichten mit einem zweiten Teil zuende führen.


    Der Stoff der Gedichte sind ausschließlich Worte und Metaphern und die mit ihnen verbundenen Assoziationen. Schon die zweite Zeile des ersten Gedichts lautet "greife in die Tollkirschnacht". Hier sind die Worte "Tollkirsche" und "Nacht" zu einem Wort verbunden, das keine äußere Realität benennt. Die Tollkirsche kann eine Metapher für Nacht sein, wenn das Dunkle der Nacht auf die Tollkirsche übertragen wird. Mit der Übertragung auf die Tollkirsche wird das Rauschhafte und Verbotene des Dunklen der Nacht deutlich. Werden dann in einem zweiten Schritt das Ursprüngliche (die Nacht) und ihre Metapher (die Tollkirsche) zusammengefügt in ein Wort (Tollkirschnacht) entsteht etwas Neues, das die gesamte Beziehung der Metaphern in sich enthält. Daher zeigen Deine Gedichte keine Träume, denn im Traum träume ich nur von der Nacht oder der Tollkirsche, und das eine kann eine Metapher des anderen sein. Die Gedichte operieren dagegen mit den Elementen, die sich im Übergang der Metapher-Bildung befinden.


    Diese Übergangselemente lassen sich rein formal durch Zusammenschieben als Worte bilden. Tollkirschnacht ist weder eine Metapher noch etwas Reales, sondern eine reine Wortbildung. Wenn der Leser solche Wortbilder dennoch versteht, liegt das an seiner Erfahrung mit der Bildung von Metaphern. Diese Erfahrung ermöglicht es dem Leser, selbst mit einem Wort wie "Tollkirschnacht" Vorstellungen zu verbinden. Er kann es, weil er mit seinem Sprachvermögen gewohnt ist, alle Worte in einem Raum von Worten zu sehen (formal: in einem semantischen Netz). Er kann ein Wort wie "Tollkirschnacht" künstlich in dieses Netz einordnen und semantisch mit anderen Worten verbinden. Dieser innere Raum des Sprachvermögens wird im Gedicht nun wiederum direkt angesprochen, wenn "in die Tollkirschnacht" gegriffen wird. Das Räumliche der Tollkirschnacht ist ihr Ort im Raum der Sprache.


    Mich interessieren diese Zusammenhänge so stark, da ich über die These nachdenke, ob die Worte in dem Sinne als die Elemente der Dialektik verstanden werden können, wie die Zahlen die Elemente der Mathematik sind. Die Dialektik als die Lehre des Gesprächs untersucht, wie im Gespräch unterschiedliche Bedeutungen und Seiten eines Wortes durchgesprochen und dadurch neue Sichtweisen gewonnen werden können. Ich bin fasziniert, wenn ich in den Gedichten ähnliche Zusammenhänge und Sprünge sehe.


    Die Welt der Worte ist mit der Angst verbunden, dass hier alles leer und nichts-sagend wird, wenn es auf die Welt der Worte beschränkt wird. Die Welt der Worte ist für sich eine weiße Fläche ganz ähnlich den reinen mathematischen Strukturen.


    Wie in den mathematischen Strukturen gibt es in der Welt der Worte Lebens- und Todesprozesse. Da sehe ich die innere Frage der Gedichte: Fangen die Worte etwas ein, was in den Worten weiter lebt oder stirbt und über das Sterben hinaus etwas Neues entstehen läßt? Mit Verfangen der Worte ist dann gemeint, wenn dies Einfangen misslingt.


    "Nachts reift kein Wort" (XII). "ernten wir Mond aus den Worten" (XXI) "Worte / weidet man tief" (XXVII) "Dann schert Einer Worte" (XLVII) Das alles sind Bilder über Worte. Hier kehrt in der Beschreibung der Worte alles das vorsichtig wieder, was sonst aus den Gedichten ausgeschlossen ist: Der Duft von Heu und überreifem Getreide, die dionysischen Lüste der Ernte, das Blut und der Schmerz der Zubereitung von Nahrung und Opfertieren, Werkzeuge wie Erntegeräte, Weidmesser oder Schere. Das alles wird notwendig, um zu beschreiben, wie Worte ein eigenes inneres Leben haben können.


    "Wolken fallen in Worte" (XIII). Nicht nur Wachstums- sondern auch Katastrophenprozesse führen zu Worten und sind in ihnen eingeschrieben. Die bunte Bilderwelt etwa von Marc Chagall ist in Gedichte übertragen.


    Wird dieser innere Reichtum der Worte verstanden, dann ist der Weg geöffnet, auch das Eigene zu finden, was schon immer in den Worten enthalten war und sich nun mit dem verbindet, was mit den Worten eingefangen wird. Es sind "uralte Worte", die bereits eine eigene Geschichte haben. Es liegen gewissermaßen im Innern der Sprache Worte bereit. Deren Gehalt wurde noch nie voll begreiflich. "in Krügen / verschlossene Worte" (LVIII). Das, was dort verschlossen ist, zeigt sich erst dann, wenn die Worte mit Leben erfüllt werden. Ihr Leben spiegelt nicht nur das wider, was es im wirklichen Leben bereits gibt, die Ernte, das Schlachten oder die Schur, sondern es zeigt sich in der Art, wie sich das Scheren der Worte vom Scheren eines behaarten Körpers unterscheidet, was das Besondere der Worte ist. Nicht alle Worte lassen sich scheren. Es ist die Meisterschaft lyrischer Kunst, die Worte zu treffen, die sich scheren lassen. Und nicht alle Vorgänge sind geeignet, um auf diese Weise die Worte von den Dingen zu unterscheiden. Mit großer Berechtigung werden nur solche gewählt, die mit Tod und Leben zu tun haben und daher schon immer zu den religiösen Ritualen gehörten, der Fall, die Reife, die Ernte, die Reinigung. Weitere Vorgänge sind z.B. alle Arten des Badens, Waschens, Reinigens, das Häuten, Trocken, Ausbrennen, Feuer entzünden und löschen, Verflüchtigen und Destillieren. (In der Welt der Zahlen ist an das Zusammenlegen und Wegnehmen, Wiederholen, Vervielfachen, Aufteilen, Potenzieren, im Kreise führen zu denken.)


    Das Eigengewicht der Worte liegt in den Eigennamen. Hier äußert sich zugleich die größte Angst, dass der eigene Name nicht mehr verstanden werden kann, dass ich nicht weiß, wer ich bin, weil ich meinem eigenen Namen fremd gegenüber stehe. Wo läßt sich diese Angst besser ansprechen als in einem Internet-Forum mit seiner Vielfalt von usernames, Trollen und sich selbst und anderen vorgetäuschten virtuellen Identitäten? Sind die Gedichte von "Jörg" geschrieben und wachsen im Garten von "Klingsor"? Wenn der eigene Namen verloren geht, verfangen sich die Worte und finden keinen Halt mehr.


    "Ach, Engel, / warum habt ihr / nicht auch meinen Namen / aufgesagt?" (XIII) "bis Dein Name zerascht" (XVIII) "nichts trennte unseren Namen entzwei," (XX) "So zerschneidet man Namen" (XXXIV) "Dein Name verwelkt" (XL) "auch Namen / mischt man mit Spreu" (LVI) "Deinen Namen / schrieb man auf Luft" (LVII, An J.-A., das einzige Gedicht, in dem immerhin in der Widmung die Initialen eines Eigennamen genannt werden) "Gott ohne Namen" (LXI)


    Das Namen-Lose führt in eine negative Gottes-Erkenntnis. Nicht nur der eigene Namen geht verloren, sondern hier sieht sich der Mensch eins mit der Namenlosigkeit Gottes und erkennt Gott im Verlust des eigenen Namen.


    Das Gefühl des Verlustes des eigenen Namen lässt die Abwesenheit der Engel spüren. Diese Abwesenheit ist das Weiß, das sich in den Wolken, der Milch, dem Schnee äußert. Ein angedeutetes Hölderlin-Zitat soll die Angst vor Verlassenheit nehmen, und hier entsteht Musikalisches: "Im Verneigen sinkt ein Gott dahin ... Und im Hinübertreten / singt / Unsterbliches vorbei" (LX)


    Das Ausweiden der Worte liefert dem Menschen die notwendige Nahrung und gehört zum Opfer an den Gott, zum Dank, dass er im Vorbeigehen seinen Segen gibt.


    Hier öffnen sich weiterführende Fragen: Was geschieht, wenn Worte ungehört bleiben oder nicht erhört werden? Gibt es eine Ästhetik der Worte und der Lyrik, durch die gute und schlechte Gedichte unterschieden werden können? Sind die Reinigungsverfahren der Worte und / oder bestimmte Worte mit Tabus belegt und können unkontrollierbare Kräfte freisetzen (Zahlen-, Buchstaben-, Silben- und Wortmagie), und führt jede logische und künstlerische Erkenntnis zum Zerfall des Erkannten wie der Erkenntnis (im Sinne der Logik des Zerfalls und der Negativen Dialektik von Adorno)? Haben Worte und Gedichte ihre Zeit, und wird der Zusammenhang der Zeit (und der Gedichte?) durch Zählen, Aufzählen und Erzählen hergestellt?


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Jörg, 67 Gedichte, da wird es langsam Zeit für eine Rückschau. Lange habe ich damit gezögert. Die Krise des Forums Ende April, wodurch gerade auch dieser Thread "Eigenes" hart getroffen wurde, hat meine Bedenken noch einmal verstärkt, gab aber zugleich den letzten Impuls.


    Werden die Gedichte im Zusammenhang gelesen, entsteht eine gewisse Sterilität (und Du weißt, dass das von mir nicht als Kritik gemeint ist). Die Wortwahl ist sehr eingeschränkt, und vor allem wählst Du einen starren Ausschnitt, eine Schnittlinie, an der sich mehrere unterschiedliche Ebenen gegenseitig durchschneiden. "Zerschneiden" und "falten" sind Prozesse, die in den Gedichten oft genannt werden und zugleich Deine eigene Vorgehensweise beschreiben. Mathematisch würde von der Schnittlinie gesprochen werden, entlang derer mehrere Blätter miteinander verheftet sind.


    Ganze Bereiche sind ausgeschaltet, abgedrängt in einen nur durch Schweigen negativ und indirekt vergegenwärtigten Schattenbereich. Kein Wort kommt so häufig vor wie das Wort "Wort" oder "Worte". Mit dem Wort verbunden sind die Sprachwerkzeuge, Mund, Zunge, Rachen, Lippen, die häufig in den Gedichten angesprochen werden. Aber nie wird von "Sprache", fast nie von "sprechen" gesprochen, bisweilen von "besprechen". Fast nie wird von "Gesang" gesprochen, ganz selten von "singen". Eine wichtige Ausnahme ist das Gedicht "Schwanengesang". Es gibt jedoch eine Gruppe von Liedern, "Meerlied", "Hexenlied", "Liebeslied", "Kinderspiel", die mir besonders gefallen. Dort scheint mir Deine Absicht am besten zu gelingen, nicht nur vom Schwingen der Worte zu sprechen, sondern die Zeilen wirklich zum Schwingen zu bringen.


    Noch auffallender ist, dass nie Musik vorkommt. Selten "Ton" und "Töne", noch seltener "Klang", "Klänge" oder "klingen", nie "Musik", "Harmonie", "Melodie", "Fuge", "Rondo" oder sonst eine musikalische Bezeichnung. Auch sonst keine Geräusche. Nichts ist laut oder leise, praktisch nichts wird als "laut" oder "leise" bezeichnet. Keine Musikinstrumente.


    Und nicht ein einziger Eigenname. Das ist so extrem, das nicht ohne Grund das einzige Gedicht, das immerhin einen "Bruder" ansprach, eine heftige Diskussion auslöste. Nie werden "Vater" oder "Mutter" angesprochen. Wenn vom "Kind" gesprochen wird, relativierst Du sofort, dass mit dem Kind auch "gedanken, gefühle, ein (lebens)werk etc. etc." gemeint sein können.


    Der Mensch besteht nur aus "Mund" und "Auge", die sehr oft genannt werden, "Haut" und "Haaren", aber nie die Nase oder die Ohren. Kein Gesichtsausdruck, ganz selten Stirn, Wange oder Schläfe, und wenn mal Herz, Brust oder Arm genannt werden, ist das etwas Besonderes. Es gibt keine Geräusche, keine Gerüche. Der menschliche Körper besteht nur aus zwei Organen. Hin und wieder wird fast wie im Biologie-Buch von "begatten" gesprochen, und was begattet sich da: Verse bzw. Augen.


    Vögel und Fische werden genannt, aber wo sind die Felder, Wälder, Bäume, Sträucher, Büsche und Gräser? Vereinzelt tauchen Rose, Flieder und Mohn auf, oder unbestimmt "Blumen". Auch Bäche, Flüsse, Ströme fehlen vollständig, keine Berge und Hügel. Nichts weist auf alle die Zeugnisse der Technik, mit der wir ständig konfrontiert sind, Häuser, Straßen, Städte, Eisenbahnen, Fernseher oder sonst etwas. Keine Wärme, keine Kälte.


    Die Bilderwelt reduziert sich auf Farben, von denen in der Regel nur die Grundfarben Blau, Rot oder Weiß genannt werden.


    Mit "Weiß" ist aber das Innere Deiner Gedicht erreicht: alles Weiße. Das sind besonders häufig die Wolken und Engel, aber auch Schnee und Milch. Sie haben offenbar eine vor allem symbolisch gemeinte Bedeutung. Deine Gedichte handeln von Sternen, Träumen, Worten.


    Ihnen willst Du eine eigene Körperlichkeit verleihen. "Traumfrucht", "Traumnetz", "Traumteppich", "Traumesfetzen" oder beide Begriffe in eins fassend "Traumengel". Das sind keine geträumten Früchte, Gewebe oder Engel, sondern der Traum selbst gewinnt etwas Realeres, nachdem sonst alle wirklichen realen Landschaften mit ihren Klängen und Gerüchen und den damit verbundenen Gefühlen ausgeschlossen sind.


    So entsteht eine abstrakte Fläche, in der alles miteinander verknüpft, gegeneinander ausgetauscht oder ineinander verwandelt werden kann. Aus Nachtdirnen werden Worthuren, Wolken werden gepflanzt, Reime bluten, "ein Stern wird gekeltert", so reiht sich fast endlos ein Gedicht an das andere. Diese Endlosigkeit scheint mir das Thema der Gedichte zu sein.


    Mit dem Wort "Engel" wird an die "Duineser Elegien" von Rilke erinnert. Aber wie hat sich das Bild der Engel seither geändert! Deine Gedichte beschreiben, wie es unmöglich geworden ist, Engel gestalthaft vor sich zu sehen, voller Gefühle, Trost oder Schreie; wie die Sprache von Rilke, Trakl, George oder Hofmannsthal zwar zitiert werden kann, aber ihren Klang verloren hat. Lebten die Menschen früher in der Zuversicht, dass Engel sie schon vor der Geburt begleiten, ihnen den Eigennamen und Schutz geben, selbst im Fall eines vorzeitigen Todes, dann sind davon heute nur noch überlieferte Worte zurück geblieben. Mit den Worten verbindet sich die Hoffnung, wenigstens aus ihrem Sich-Verfangen auf das Traumnetz zu schließen, in dem sie sich gemeinsam mit den Engeln verstrickt haben.


    Viele Grüße,


    Walter

    Die Bemerkung zu Schumanns Spätwerk muss - erfreulicherweise - korrigiert werden: Nachdem es bereits im Mai 2006 in Bremen ein Symposion zur Rehabilitation des Spätwerks gab, erhalten dieses Jahr Reinhard Kapp und Michael Struck den Schumann-Preis als Würdigung ihrer 1984 erschienenen Bücher, mit denen die Neubewertung der späten Schaffensphase Schumanns eingeleitet wurde.


    Viele Grüße,


    Walter

    Im Schatten der flämischen Städte Antwerpen, Gent und Brugge liegt Lille. Keine Kutschen stehen für Touristen bereit. Auf den Straßen ein endloser Strom von Autos, die überwiegend das lokale Kennzeichen "59" tragen. Kein Gold auf den Dächern und keine Prunkbauten. Kaum ein Haus ist renoviert, überall bröckelt der Putz. Das erinnert sehr an Berlin und manche ostdeutschen Städte vor 1989. Und doch ist das Stadtbild ungewöhnlich geschlossen und gut erhalten. Die mächtige Zitadelle ist umgebaut in einen Park mit großen Kinderspielplätzen und einen liebevoll gestalteten Zoo bei freiem Eintritt; an einem sonnigen Frühlingsmorgen stehen Schulklassen und Kindergärten lachend vor einem großen Käfig, aus dem ein Kookaburra sie unterhält: Eine Stadt ganz nach meinem Geschmack. Sie führt gewissermaßen an den Nullpunkt zurück, an dem Europa 1945 stand. Sie hat sich ihre eigene Küche bewahrt und den eigenen Dialekt, die Straßen sind voller Leben, in den Kneipen die besten Biersorten. "Willkommen bei den Sch’tis." Durch 'Fairys' Berichte dürfte ihre kulturelle Wachheit dem Forum gut bekannt sein.


    Ludwig XIV trennte das frühere Rijsel endgültig von seiner flämischen Nachbarschaft. So gingen die Blüte der Kunst des 19. Jahrhunderts und der Symbolismus ein wenig an Lille vorbei.


    Die Stadt sucht jetzt im neuen Europa ihren eigenen Platz und zeigt sich bestens inspiriert. Das Musée de l'Hospice Comtesse bringt bis zum 12. Juli 2009 die Ausstellung "Hypnos - Images et inconscients en Europe (1900 - 1949)" ( Link ). Hypnos, der griechische Gott des Schlafes, steht für eine dunkle Seite Europas, die sonst meist nur in Bruchstücken zu sehen ist. Hier wurden in Zusammenarbeit mit zahlreichen Museen Bilder, Zeichnungen, Filmausschnitte und Fotos gesammelt, die teilweise bereits in Vergessenheit zu geraten drohten und nur im kollektiven Unterbewußtsein präsent blieben. Das Musée d'art moderne Lille Métropole wirbt für die Ausstellung mit einem Foto von Man Ray:



    Man Ray (1890-1976) "Marquise Casati 1922"


    Dies Foto zeigt auch das Konzept der Ausstellung. Was früher den Menschen in Momenten religiöser Ekstase überkam - Katalog und Bilder erinnern an Orphismus und Dionysos -, dann als Besessenheit verfolgt wurde, erscheint heute in einer Vielfalt von Symptomen, die sich medizinisch beschreiben, aber zu keinem geschlossenen Krankheitsbild zusammenschließen lassen. In bedrängenden Wiederholungen erlebt jeder für sich Gefühle der Angst, Verfremdung, den Bruch mit der gewöhnlichen normierten Wahrnehmung, und fühlt sich dafür verantwortlich und zugleich überfordert. Je größer der Zwang auf eine angepasste Bilderwelt der Präsentation und Selbst-Präsentation wird, desto unvermittelter können das innere und äußere Bild auseinanderfallen.


    Eine verwirrende Fülle der eigenartigsten Bilder und Sichtweisen, der verschiedensten intellektuellen Strömungen und Standortsuchen zu ihrer Klärung stehen nebeneinander und sollen den Besucher anregen, die eigene scheinbare Sicherheit infrage zu stellen.


    Wenn es in der Ausstellung einen durchgehenden Faden gibt, dann ist es die Suche nach einem dritten Zustand zwischen Wachsein und Schlaf, Bewußtsein und Traum. Es werden die verborgenen Orte gesucht, an denen das bewußte Leben etwas mitnimmt und an den Schlaf weiter gibt, und wo umgekehrt aus trance-artigen Gefühlen des Wirklichkeitsverlusts neue Sichtweisen entstehen. Die Künstler versuchen die Bilder festzuhalten, die im Moment des Verschwindens und Wiederauftauchens des Bewußtseins entstehen und im weiteren wie eine Substruktur die Zustände des Schlafes bzw. Wachbewußtseins unterlegen. In ihnen mischen sich persönliche Anteile und überindividuelle Einflüsse. Statt vorschnell nach Erklärungen zu suchen, sollen diese Figuren und Artikulationen getroffen werden. Die Vertreter dieser Richtung wollen sich sowohl unterscheiden von den Bildern der surrealen Traumwelten wie der psychoanalytischen Theorie der "Traumarbeit" durch Freud und dessen Schule (Verschiebung, Verdichtung, Versuchung, Traumlogik). Das ist ein anspruchsvolles Programm, das 1949 liegen bleiben mußte.


    Die Ausstellung verfolgt zugleich ein politisches Ziel. Sie will zur Überwindung der Ost-West-Trennung Europas beitragen und erinnert an die früheren engen Beziehungen zwischen Paris und Prag, an die ungarische Kunst, ganz allgemein an die magischen Überlieferungen des Ostens, ohne die Westeuropa seelenlos zu werden droht. Das alles war nach einer scheinbaren weltweiten Einheit im Sieg gegen den Faschismus durch den Kalten Krieg unterbrochen worden und hatte im Westen wie im Osten Europa daran gehindert, den eigenen Weg weiterzugehen. Die 1900 - 1949 aufgeworfenen Fragen sind offen geblieben.


    Leider sind keine Bezüge zur Musik angesprochen. Die Ausstellung beginnt mit Fotografien des modernen Spiritismus. Als es nicht gelungen war, Erscheinungen wie den Mesmerismus wissenschaftlich zu erklären, sollten die neu auftretenden spirituellen Phänomene wenigstens fotografisch dokumentiert und damit als wissenschaftlich nachweisbare Ereignisse festgehalten werden. Sie breiteten sich seit den ersten Geistererscheinungen der amerikanischen Schwestern Fox 1848 (Klopfgeräusche, Tischerücken) auch in Europa wie ein Lauffeuer aus. Robert Schumann war sehr empfänglich dafür, was ihm als "Beweis" seines ausbrechenden Wahnsinns angelastet wurde. Bis heute fällt es der Musikwissenschaft schwer, die neue Qualität der Klänge seiner späten Werke anzuerkennen, in denen er versucht hatte, entsprechend seiner veränderten Wahrnehmungsfähigkeit zu komponieren.


    Alexander Scriabin kam während seiner Zeit in Brüssel 1909-10 mit dem belgischen Maler und Theosophen Jean Delville in Kontakt und ließ sich stark von dieser Bewegung beeinflussen. (Über die Universität Leuven und ihre von den Deutschen 1914 zerstörte Bibliothek ließen sich weitere Bezüge bis zu John Dee, dem "Erzmagier" und dessen Beziehungen zum Hof Rudolf II in Prag herstellen.) Weniger bekannt ist der litauische Komponist und Maler Ciurlionis.


    Zurecht ist ein großes Kapitel der Ausstellung dem tschechischen Maler František Kupka gewidmet. Von ihm gibt es Bilder, die direkt hinüberreichen in musikalische Visionen.



    František Kupka (1871-1957) "Amorpha: Fugue in Two Colors"


    Für mein Empfinden hat kein anderer den Klang der Images et inconscients en Europe (1900 - 1949) so gut getroffen wie der französische Organist Jehan Alain, dessen Werke in den 1930ern entstanden.


    Viele Grüße,


    Walter

    Auch Claus Raab sieht in seinem Buch "Beethovens Kunst der Sonate" über die 3 Sonaten op. 109 - 111 Ähnlichkeiten des Walzer-Themas mit dem Arietta-Thema, insbesondere des Schlusses von op. 111 mit der 33. Variation von op. 120, Takt 42. Er schreibt: "Wenn man so will, greift die 33. Variation von op. 120 die Terz-Quart-Struktur der drei Sonaten auf, die Diabellis Thema und auch der Variationszyklus (cum grano salis) nicht hat, und die die Arietta-Melodie vermeidet. ... Der springende Punkt ist der Ton A, da beide, op. 120 und op. 111 2. Satz in C-Dur stehen. ... Das Thema der Arietta vermeidet A und geht dadurch über die vorher bestimmende thematische Terz-Quart-Struktur hinaus in eine von Quart und Quint; Variation 33 von op. 120 bringt A, verändert so die bestimmende Quart-Quint-Struktur von op. 120 und kommt auf die Terz-Quart-Struktur der Sonaten zurück." (S. 105)


    Das soll die These unterstützen, dass mit dem Buchstaben A Antonie von Brentano gemeint ist. Im 2. Satz von op. 111 wird ihre Abwesenheit beschrieben. Die Diabelli-Variationen sind ihr gewidmet.


    Die Diabelli-Variationen waren auch finanziell für Beethoven ergiebig. Er konnte im März 1823 eine lange offen stehende Schuld bei Franz von Brentano, dem Ehemann Antonies, begleichen. Als dies Kapitel durch war, wandte er sich der 9. Sinfonie zu.


    Viele Grüße,


    Walter

    Auch wenn diese Aufnahme bereits 2004 vor den Einspielungen von Uchida und Schiff entstanden ist, möchte ich diese Reihe abschließen mit dem jüngeren, 1977 geborenen Alexei Volodin. Er ist ein Schüler von Elisso Virsaladze (geb. 1942) und stellte bei seinem Debut in München die Sonate op. 111 nicht ans Ende, sondern an den Anfang, um sich dann über Rachmaninov "Moment Musicaux" op. 16 und Prokofjews 7. Sonate der Gegenwart zu nähern. Der Bogen reicht also vom Maestoso bei Beethoven bis zum Precipitato von Prokofjew.



    Bei Prokofjew ist seine eigene Stimme besonders deutlich zu hören. Dort sind das ungewöhnliche Rhythmus-Gefühl, vor allem die oft eine wunderbare Bass-Linie spielende linke Hand, und die glöckchenhaft hellen Töne zu bewundern. Geradezu mitreißend der von Anfang bis Ende durchgehaltene Rock-Rhythmus im Precipitato. Aber auch der langsame Satz bei Prokofjew wird von ihm in einer ganz neuen Art gespielt. Das ist für mich einer der innerlich bewegendsten Sätze der Musik, der hier ganz ungewohnt erklingt.


    Darf dieses Stück so gespielt werden? Die 7. Sonate von Prokofjew hat für die russische Musik eine ähnliche Bedeutung wie Beethovens op. 111 für die deutsche. Sie ist sogar noch stärker politisch gedeutet. Andrei Gavrilov brachte es auf den Punkt: "Um die künstliche, hohle Fröhlichkeit der sowjetischen Jugend zu parodieren, führt Prokofjew im ersten und im dritten Satz ein 'Pionier-Motiv' ein, das die kindlichen Monster charakterisiert, die Verwandte denunzieren, sich als 'Helden' fühlen und die offizielle Propaganda als Wahrheit proklamieren. ... Das Finale der siebten Sonate ist eine Apotheose der Gewalt - der schonungslosen, mechanischen und methodischen Zerstörung allen Lebens."


    Volodin scheint das alles wegzuwischen. Er trifft das Lebensgefühl der damaligen Pioniere, der in den 1920ern und 1930ern nach der Revolution geborenen Generation, die heute in tiefer Verbitterung vor den Trümmern ihrer Gesellschaft und ihrer früheren Ideale stehen, weit besser als andere Interpreten. So entwickelt sich von innen her auf ganz andere Art die Dramatik, gibt aber die Möglichkeit eines späten Verständnisses, ja Versöhnung, ohne dadurch irgendetwas zu beschönigen, statt bei Vorwürfen und Verhärtung stehen zu bleiben. Einen solchen Weg zu suchen, das bedeutet "Weitermachen auch in wüsten Zeiten".


    Unter diesem Titel hat Jost Hermand 1999 einen Artikel im "Archiv für Musikwissenschaft" veröffentlicht, um Beethovens Sonate op. 111 aus der unheilvollen Verstrickung zu lösen, in die sie seit den Beiträgen von Adorno und Th. Mann geraten ist und sieht in ihr gerade umgekehrt den Versuch, in einer nach-revolutionären Zeit Kraft zu geben und vor Resignation zu bewahren. Beethoven hatte eine schwere Krise durchgemacht. Hermand zitiert aus einem Brief an Dr. Kranka in Prag von 1817: "Übrigens macht einen alles um uns nahe her ganz verstummen." Doch ist es Beethoven gelungen, sich daraus wieder zu befreien, trotz aller widriger Umstände wie der weiter fortschreitenden Taubheit, der Konflikte mit dem Neffen und der Isolierung in der Wiener Gesellschaft. Beethoven schrieb am 29.7.1819 an den Erzherzog Rudolph: "Weitergehen ist in der Kunstwelt wie in der ganzen großen Schöpfung Zweck."


    Von hier aus interpretiert Hermand die Sonate op. 111. Der 1. Satz ist für ihn eine Reminiszenz an vergangene revolutionäre Gefühle, der 2. Satz steht im leuchtenden C-Dur und wählt mit der Arietta eine bewußt einfache und volkstümliche Melodie, um die eigenen Gefühle wieder zu sammeln.


    Und das ist für mich nirgends so gut zu hören wie bei Volodin, der an die Beethoven-Sonate mit der gleichen Grundhaltung herangeht wie an Prokofjew. Die vertrackten Tempowechsel des 1. Satzes sind ungewöhnlich souverän genommen. Einzelne Töne sind oft wie hingelegt, und geben ihrer Umgebung Gewicht und Halt.


    Wo andere Interpreten Beethoven im 1. Satz die früheren Kämpfe gegen das Schicksal noch einmal austragen oder mindestens wie ein Echo nachklingen lassen, bricht bei Volodin immer wieder eine lebendig sprudelnde Frische durch, die neu Mut schöpfen läßt. Der 2. Satz folgt daher nicht abrupt und etwas unglaubwürdig, sondern wie selbstverständlich erklingt die Arietta-Melodie, deren Schlichtheit die Kraft gibt, wieder zu innerer Freude und Ausgeglichenheit zurückzufinden, ohne die vorangegangene Verzweiflung einfach zu verdrängen.


    Viele Grüße,


    Walter

    András Schiff (geb. 1953), bei seinen Interviews spüre ich sofort etwas Verwandtes. Er fühlt sich der ungarischen Tradition zugehörig (Leo Weiner, Zeitgenosse von Bartok, war Lehrer von Fritz Reiner, Sandor Vegh und Solti, und er wiederum Schüler von Vegh). Ihm ist wichtig, das Klavier zum Singen zu bringen. Die Musik soll atmen. Ausgehend von Schuberts singender Musik. Horszowski als Vorbild. Gegen die amerikanische Kultur, die alles laut und plakativ zeigen will und keiner leisen Individualität Räum läßt. Gegen den "Realismus" des 20. Jahrhundert, der alles nackt und hässlich zeigen will, ganz anders als etwa Schubert im "Leiermann". Bevorzugt Bach und alles, was sich auf Bach bezieht, spielt daher nicht Liszt, Ravel oder Rachmaninov. Hier kann ich ihm allerdings nicht mehr folgen. Interview



    Höhepunkte seiner Einspielung der letzten 3 Sonaten sind denn auch die beiden Fugen in den Finalsätzen von op. 109 und op. 110 sowie die Fugati im 1. Satz von op. 111. Wie schon bei Gould und Nikolayeva wirken sich die Erfahrungen mit der Musik von Bach sehr positiv aus und geben große Sicherheit.


    Nach den Jahrzehnten, in denen immer größere Klarheit und fast wissenschaftliche Strenge, äußerste technische Präzision und möglichst genauer Gleichklang und Ausgewogenheit verlangt waren, die Tempi immer langsamer und alle Feinheiten immer deutlicher wurden, will er wieder Bewegung hinein bringen und die Töne klingen lassen. An der Musik soll wieder das zu hören und zu spüren sein, was sich nicht aus bloßer Lektüre des Notentextes ergibt.


    Bei jedem Takt und jeder Phrase kann ich nachvollziehen, was er sich dabei gedacht hat. Und doch bleibt immer noch eine große Kontrolle zurück. Es scheint, als hätte er Angst, den Gefühlen freien Lauf zu lassen. Das zeigt sich besonders im 2. Satz von op. 111, aber auch schon in op. 109. Am wenigsten verstehe ich, welch eigenartigen Anschlag er bisweilen in den beiden schnellen mittleren Sätzen von op. 109 und 110 wählt (z.B. op.109/2, 00:06 - 00:16).


    Trotz des 2. Satzes gefällt mir aber op. 110 am besten, und dort besonders der letzte Satz. In keiner anderen Aufnahme ist der schwierige Übergang in die gespiegelte Fuge so gut gelungen. Er vermeidet sowohl ein falsches übertriebenes Gefühl wie auch Oberflächlichkeit oder Gefühllosigkeit. Hier ist am deutlichsten zu erkennen, in welche Richtung er gehen will. Nachdem in den letzten 50 Jahren das frühere romantisierende Spiel als schwülstig, überladen und altbacken abgelehnt worden war, ist nun vorsichtig ein Weg zurück in eine romantische Auffassung zu finden, ohne einfach das zu wiederholen, wie früher gespielt wurde. Das ist äußerst schwierig, und wohl niemand hat heute ein klares Konzept, wie das gelingen kann. Auch Andras Schiff hat noch bei weitem nicht das erreicht, was es einmal sein wird, aber er hat mutig den Weg dorthin eröffnet.


    Ich möchte bei dieser Gelegenheit eine allgemeine Bemerkung anschließen. Dies Forum versteht sich als ein reines Kulturforum. Das kann eine heilsame Oase gegenüber dem sein, was sich gegenwärtig um uns herum an wirtschaftlichen und in der Folge sicher auch gesellschaftlichen Krisen abspielt und abspielen wird. Wie sind wir innerlich darauf vorbereitet? Auf welche Weise wird jeder in der Realität ankommen, wenn die Zeit der Sorglosigkeit und umfassenden Absicherung vorbei ist? Dann ist keine Musik des bloßen Schönklangs und der Notentreue gefragt, sondern eine Musik, die dem authentischen Ausdruck der in Verwirrung und Überforderung geratenden Gefühle Unterstützung zu geben vermag.


    Viele Grüße,
    Walter



    P.S. John, im Ganzen sehe ich die Tendenz zu immer langsameren Tempi sehr skeptisch, möchte daraus aber auch kein Dogma machen. Zu meinen Lieblingsinterpretionen zählen 3 recht langsam gespielte (Arrau, Guller, Nikolayeva). Die Aufnahmen von Ugorski, Pogorelich und Margulis kenne ich nicht.

    Lieber Christian,


    leider habe ich Uchida nie live gehört. Wenn es nicht die begeisterten Konzertberichte von Dir mit Bestätigung durch 'Kurzstückmeister' (und auch in New York Times) geben würde, hätte ich mich nicht näher mit ihr beschäftigt.


    Du hattest geschrieben: "Von höflicher asiatischer Zurückhaltung war bei der Pianistin nichts zu spüren, solange sie am Flügel saß: Die Kontraste von op. 111 spielte sie ganz aus, nie mit kontrollierter Offensive, sondern mit voller Risikobereitschaft. Wuchtige Akkorde neben wunderbar ausgesungenen lyrischen Passagen in der Arietta. Nie unterkühlt und mit einer unglaublichen Farbenpalette." ( Uchida-Thread ).


    Ganz ähnlich der Bericht in der "New York Times" 2005: "Ms. Uchida's Beethoven nearly swept away all memory of the works that came before it. From the opening bars, it was clear that this was going to be an explosive performance that showed Beethoven at his wildest and least idealized - that is, as the complex, intensely pained composer he was when he composed this works, in 1817 and 1818. Using a bright and often brittle sound and enormous power, Ms. Uchida made the first two movements into a musical equivalent of Edvard Munch's "Scream," and there were moments when she seemed likely to wrestle the piano to the floor."


    Davon höre ich auf der CD nichts. Das war mein Ausgangspunkt, intensiver die Uchida-Interviews zu lesen, um zu verstehen, warum es offenbar zwei ganz verschiedene Seiten von ihr gibt. Offenbar passt sie sich auf ihrer CD-Veröffentlichung in ganz anderer Weise einem vorgefundenen Geschmack an, während sie in Konzerten davon freier wird. In den Interviews entwirft sie von sich ein Bild, dass sie kaum wahrnimmt, was um sie herum vorgeht, wogegen fast regelmäßig ihre Teetasse aus Mozarts Geburtsjahr erwähnt wird (so auch in dem "Zeit"-Interview). Das alles gab Anlaß für meinen Beitrag. - Du hattest geschrieben, dass Du Dir diese CD gekauft hast. Mich interessiert daher sehr Deine Meinung, wie diese CD klingt im Vergleich zu ihrem Konzert und den Aufnahmen anderer Interpreten.


    Viele Grüße,
    Walter

    Mitsuko Uchida, geb. 1948 in Japan, kam 1961 nach Wien und ging 1973 nach London. Das Cover-Foto der CD mit den letzten 3 Sonaten von Beethoven wirkt exzentrisch: Hat sie eine Rolle in einem Regietheater, das ein Stück von Sophokles oder Beckett spielt? Da mischt sich ostasiatisches Flair, Erinnerung an den Existenzialismus und ein Hauch zeitgenössischer Luxus. Wie passt das zu Beethoven, der die große Welt längst enttäuscht aufgegeben hatte und in ärmlichen Verhältnissen lebte, als er diese Sonaten schrieb?



    Mit Uchida geht es mir hier erstmals um eine zeitgenössische Interpretin. Wie hat sie die letzten 60 Jahre erlebt und wie fließt das in ihr Spiel ein? Lassen sich eigene Erfahrungen bei ihr wiederfinden? Ihr Vater war hochrangiger Diplomat Japans in Berlin in den 30ern bis Kriegsende. Nirgends wird näher davon berichtet. In welcher Weise hat sie sich damit auseinandergesetzt? Die japanische Kultur ist mir nur wenig bekannt. Der auch von Musik handelnde Roman "Mister Aufziehvogel" von Haruki Murakami zeigt, wie auf einer unterbewußten Ebene in der Nachkriegsgeneration Japans die Erinnerung an Kriegsverbrechen und -traumata weiterlebt. Und wie wirkt Europa auf sie (japanisch, deutsch und englisch bezeichnet sie als ihre drei Muttersprachen), die Ost-West-Teilung, die sie in Wien erlebte, und der Umschlag der Swinging Sixties in London in Entäuschung und Drogenmissbrauch, gefolgt vom Punk-Ausbruch und Aufständen in den Ausländervierteln? Uchida hat sich bei all ihren Einspielungen intensiv mit der Entstehungsgeschichte der von ihr gespielten Werke beschäftigt. Was ist von ihrer, von unserer Zeit in ihren Interpretationen zu hören? Lebt sie in einem Elfenbeinturm klassischer Musik, in dem sie zielgerichtet und äußerst erfolgreich ihre Karriere betrieben hat, inzwischen gemeinsam mit Richard Goode Nachfolger von Rudolf Serkin beim Marlboro-Festival ist und nun in jedem Interview betont, wie glücklich sie mit sich und ihrem Leben ist?


    Die Sonaten op. 109 und 110 bestätigen zunächst diese Bedenken. Lässt das Cover eine Kassandra erwarten, die immer direkt und ungeschminkt die Wahrheit sagt, die keiner hören will, dann verniedlicht sie hier im Gegenteil Beethoven und betont einseitig seine späte Sehnsucht, wieder zu einem Mozartschen Klang zurückzukehren. Es ist sicher psychologisch richtig und nachvollziehbar, dass Beethoven alles infrage stellte, was und wie er bis dahin komponiert hatte und sich bisweilen in schwachen Momenten die vergangene Geborgenheit zurückwünschte, die aus der Musik von Bach oder Mozart zu hören ist. Aber er war sich völlig bewusst und litt tief darunter, dass das vorbei ist. Bei Uchida ist das nicht zu hören. Die tieftraurigen Stellen in op. 110 haben nichts Rauhes. Die Gassenhauer im mittleren Satz klingen harmlos wie auf dem Kirmes. Das mag für das Kätzchen-Lied stimmen, Aber das Lied "Ich bin lüderlich, du bist lüderlich, wir sind lüderliche Leut" war bitter ernst gemeint. Mir scheint, dass sie geradezu Angst hat vor solcher Direktheit.


    Op. 111 setzt das fort. Sie spielt den 1. Satz mit ungewohnt wenig Härte. Damit trifft sie den Ton, wie er zu Beethovens Zeiten geklungen haben wird, bevor die Flügel im 19. Jahrhundert immer mächtiger wurden. Ihr Spiel ist nicht hart, aber an manchen Stellen durchaus energisch. Da sehe ich Ansätze, wie dieser Satz anders als früher üblich gespielt werden kann. Aber es gelingt ihr bei weitem nicht, den Satz mit einer solchen inneren Leidenschaft zu spielen wie zahlreiche andere Pianisten.


    Im 2. Satz betont sie das Einfache, was ebenfalls den Vorgaben von Beethoven entspricht. Aber für eine solche Herangehensweise ist sie viel zu langsam. Während Beethovens Sinfonien inzwischen wieder entsprechend seinen Metronom-Angaben aufgeführt werden, scheint das für seine Klaviersonaten noch nicht zu gelten. Beethoven gibt in den letzten 3 Sonaten das Tempo zwar nicht vor, aber ein wenig sollte sie sich schon an seinen anderen Werken orientieren.


    Dank des langsamen Tempos gelingen ihr jedoch an einigen Stellen Momente der Versenkung, so bereits im Maestoso und auch in der 4. Variation und der berühmten Stelle, die Thomas Mann mit Worten wie "Nun ver-giß der Qual" oder "Bleib - mir hold gesinnt" unterlegt hat. Hier ist zu spüren, dass sie weit mehr zu sagen hat, als sie bisher gezeigt hat. Ich wünsche ihr sehr, dass es ihr gelingen möge, über den Schatten des vorherrschenden Musikgeschmacks zu springen. Das wird sicherlich mit großen Schmerzen verbunden sein, die sie bisher meidet, wird alle Fragen ihres Lebens aufrühren, aber am Ende wie eine Befreiung sein.


    Viele Grüße,


    Walter