Beiträge von Walter.T

    Hallo Engelbert,


    nur relativ selten schaue ich in das Opernforum, aber diese Beiträge können wirklich anregen, mal wieder in die Oper zu gehen! Ich habe sie mit wachsender Begeisterung gelesen.


    Bei einem meiner ganz seltenen Opernbesuche hatte ich 1987 in Mannheim die Hamletmaschine gesehen. Rihm „zelebriert in dem Werk Überdruss und Nihilismus“: Das ist sehr gut getroffen. Der unvorbereitete Zuhörer wurde konfrontiert mit einer Fülle von Effekten, wobei ich mich an die „Strapazierfähigkeit der menschlichen Stimme“ nicht mehr so erinnern kann. Es gab die verschiedensten Schockwirkungen, zum Teil in ohrenbetäubender Lautstärke, die auf die Dauer eine Veränderung des Hörgefühls hervorriefen, das nicht mehr auf einzelne Melodien, Sätze oder Aussagen achtete, sondern sich in einem verwirrenden Rauschen zu orientieren versuchte. Jedenfalls habe ich so die Wirkung und wohl auch die Absicht verstanden, wobei nach fast 20 Jahren die Erinnerung ein wenig trüben kann. Ich habe die Oper seither nicht mehr im Radio oder von CD gehört.


    Hamletmaschine als Thema fand ich interessant: So wie Hamlet bei Shakespeare irgendwann den Versuch aufgibt, sich in der Fülle der Intrigen zurecht zu finden, in der praktisch keine offene Verständigung mehr möglich ist, er niemandem mehr zu trauen vermag und sich seinerseits immer verwirrender verhält (etwa gegenüber Ophelia), so hatte ich als Botschaft einer „Hamletmaschine“ erwartet, dass es nun die vielen maschinell erzeugten Eindrücke und Vorstellungen sind, die nicht mehr auf das innere Maß der menschlichen Sprache passen (ihrer Fähigkeit, Erzählungen herauszuhören und die eigenen Gedanken in Erzählungen zu fassen und zu äußern), und dadurch eine ähnliche Verunsicherung erzeugen. Das Technische und auf seine Art Unmenschliche der Maschine wäre dann an die Stelle des Höfischen getreten („es ist etwas krank im Staate Dänemark“).


    Im Ergebnis entstand aber nicht der Eindruck, wie die Hilflosigkeit gegenüber einer solchen Situation mit entsprechenden Gefühlen des Rückzugs, der Verweigerung oder inneren Leere, gezeigt werden soll, also eher eine Sehnsucht nach Stille, sondern das auf seine Art etwas triumphierend zur Schau gestellte Vermögen des Komponisten, diesen Leerlauf zu „zelebrieren“.


    Das war sicher ein Abend, der zum Nachdenken anregte, mir aber weder den Komponisten noch die Oper näher gebracht hat. Um so mehr freue ich mich auf andere Anregungen, die aus diesem Thread hervorgehen mögen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Jörg,


    beim Thema Magie möchte ich fortfahren. Da gibt es allerdings geradezu unendlich viele Bezugspunkte. Die Zauberflöte ist erwähnt. Die Freimaurer weisen zurück auf die Bauherren der gotischen Dome und den von ihnen verwirklichten Bauten. Deren Maße (und die in ihnen verborgene Magie) floss in die neue Musik ein, die dort entstand. – Paris blieb ein Hort der Okkultisten. Ist wirklich erkundet, was alles in die „Sinfonie fantastique“ eingeht? – In Deutschland wirkte Bach mit seiner Zahlenmythologie. Darauf bauen auf ... und er greift zurück ... Also: das ist ohne Ende!


    Um die Brisanz dieses Themas zu betonen, möchte ich nur die ersten Takte aus dem Scherzo von Bruckners 9. Sinfonie ansprechen. Wenn vom ersten Satz die letzte von Bruckner auskomponierte Coda verklungen ist, setzt eine Musik ein, deren Wirkung – zum ersten Mal gehört - kaum zu beschreiben ist. Sie ist elektrisierend, richtig gespielt von magischer Kraft. Das hat schon Ferdinand Löwe gespürt, der das Werk posthum veröffentlichte und 1903 uraufführte. In diesen Takten nahm er eine charakteristische Änderung vor, die dann bei der neuen Uraufführung der Originalausgabe 1932 korrigiert wurde.


    Inzwischen hatte sich das Klima geändert und die Herausgabe der Originalausgabe wurde als Befreiung der deutschen Musik, des deutschen Geistes Bruckners von jüdischer Verzerrung propagandistisch ausgeschlachtet. Christa Brüstle schreibt in ihrem Buch „Anton Bruckner und die Nachwelt“:


    „Dagegen nimmt sich der im gleichen Aufsatz von Auer wiedergegebene Seitenhieb auf Löwes Bearbeitung 'à la Berlioz' - 'das wirkliche Scherzo Bruckners hat nichts von moussierender Spritzigkeit, es steht mit festen, markigen Knochen auf dem heimatlichen Boden des oberösterreichischen Landes' (nach Alexander Berrsche in der Münchner Zeitung vom 4. April 1932) - vergleichsweise harmlos aus. Und doch, weshalb sollte das 'Original'-Scherzo festere und markigere Knochen haben? Etwa auch, weil es 'gesündere Luft' atmet, oder weil es - wie Auer darlegte - durch die 'Original'-Instrumentierung auf 'das richtige, nicht zu schnelle Maß zurückgeführt' wird, weil beispielweise die 'gehaltenen Akkorde der Holzbläser durch viele Takte von Anfang des Scherzos, die bei Löwe vollständig fehlen ..., dem Satz eine ruhigere Haltung' geben?" (S. 190 mit Zitat aus M. Auer, Anton Bruckners IX. Symponie in der Originalfassung, in: ZfM 99, 1932)


    Die „gehaltenen Akkorde“: Höre ich jetzt diese Takte bewusst auf diese Änderung hin, dann ist wahr: Richtig gespielt sind es gerade diese Akkorde, die diesen Takten ihren unvergleichlichen Ton geben. Dennoch kenne ich keine Aufnahme, wo diese Takte so gespielt werden, wie ich sie mir vorstelle. Am nächsten kommt für mein Empfinden Bruno Walter. Aber auch das trifft noch nicht ganz, wie ich es mir wünschen würde: der Ausgleich zwischen den Stimmen müsste noch feiner sein, es müsste in den ausgehaltenen Takten und im Zusammenspiel eine innere Bewegung, „bewegt, lebhaft“, (wie Bruckner vorgibt), geben, die dem ganzen seinen Zauber verleiht.


    Ferdinand Löwe hat mit sicherem Instinkt gespürt, wie extrem diese Musik ist. Magie ist seit dem 19 Jahrhundert ein völlig verdrängtes Thema. Die Nationalsozialisten haben die Sprengkraft ihrerseits erkannt und für ihre Zwecke einzusetzen versucht. Magie steht konträr zum Wissenschaftsverständnis der Neuzeit. Das den Juden anzulasten, zielt natürlich daneben und versucht etwas radikal zu vereinfachen, was in seiner Ungeklärtheit so bedrohlich ist.


    Viele Grüße.


    Walter

    Lieber Jörg,


    vielen Dank für das Lob, das ich gern zurückgebe. Seit im Mai Deine Themen auftauchten, empfinde ich das als eine echte Belebung. Sie haben manchmal polarisierende Wirkung: So gibt es Parodien und Seitenthemen, aber das gehört dazu, wenn etwas gewagt wird. Hoffentlich lässt Du Dich davon nicht beirren !


    Auf der Suche nach zusätzlichen Informationen zur caccia war ich auf Bhagwatis „Komponieren im 21. Jahrhundert“ gestoßen und dort auf die Beobachtung: „In der abendländischen Musik könnte man z.B. die Spätzeit des ambrosianisch/gregorianischen Chorals mit seinen komplizierten Melismen und Tropierungstechniken nennen, den modalen Kontrapunkt des 16. Jahrhunderts, die spättonale Harmonik des beginnenden 20. Jahrhunderts - und auch unsere an Musikkonzepten so überbordende Zeit. Interessant ist, dass auf eine solche Zeit der nahezu undurchdringlichen Komplexität oft Musik folgt, die auf verschiedene Weise einfacher, klarer, durchschaubarer ist - auf die Choralkomplexität folgt das Organum, auf den Kontrapunkt die Monodie, auf die Spätromantik Webern und Strawinsky. Der Vorgang scheint klar: nach schwerer Kost folgt leichtere."


    Was das für das 21. Jahrhundert bedeutet, vermag er dann allerdings auch nicht vorauszusagen. Aber genau hier sehe ich Deine Themen: Was bleibt haften, wenn jemand ganz unvoreingenommen und ohne Vorkenntnis und Vorurteil in ein Konzert mit zeitgenössischer Musik geht: Die Erfahrung, welche unbekannten Instrumente dort eingesetzt werden, dass es dort mal ein Getümmel, mal aber auch unerträgliche Leere gibt. Versuche ich jetzt Deine bisher aufgeworfenen Themen zu überblicken, liefern sie einen ersten Ansatz für eine solche Phänomenologie. Und ich kann mir vorstellen, dass Bhagwati recht hat, und die Entwicklung dahin gehen wird, was als unmittelbarer Eindruck erfahren und dann bewusst gestaltet wird.


    Unter diesem Gesichtspunkt wird das Thema Jagd im 20. Jahrhundert mörderisch. Es schlägt um in Menschenjagd, Kesseltreiben, Massenmorden. Gerade diesen Klang hat Steinberg in seiner überhitzten Interpretation des Scherzo von Bruckners 4. Sinfonie getroffen. Und er wird direkt fortgeführt in den Kriegssinfonien von Schostakowitsch, auch das ist Jagd.


    Einmal hellhörig geworden möchte ich weiter das Lied „Aoua! Aoua!“ aus den 1926 komponierten „Chansons Madécasses“ von Ravel ergänzen, in dem er die Menschenjagd auf die Einheimischen in Madagaskar beschreibt.


    Will Musik solche Gefühle fassen, droht sie, sich selbst aufzulösen. Siehe hierzu den lesenswerten Internet-Essay „Avantgarde und Trauma“ von Wolfang-Andreas Schultz in „Die Tonkunst online“.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo zusammen,


    den in Threads wie diesen geführten Diskussionen würde ich gern eine andere Richtung geben. Mir gefällt der Ansatz von vielen Beteiligten sehr, diese Fragen auf einen sachlicheren Boden zu bringen, und ich habe aus den jetzt vorliegenden Beiträgen einiges gelernt. Und doch gehen die vielen Argumente ein wenig an dem von Alfred angeschlagenen Ton vorbei. Daher droht auch diese Diskussion ähnlich zu versanden wie z.B. die über neue Opernaufführungen, auf die ich kürzlich – trotz meiner Opern-Abstinenz – gestoßen bin, und sie wird sich immer neu wiederholen in ähnlichen Threads, vielleicht mit anderen Gesprächsteilnehmern.


    Auch mir ist bislang nicht möglich, auf den Punkt zu bringen, woran das krankt. Wie ein Schock wirkte da ein Text über „Komponieren im 21. Jahrhundert“ von Sandeep Bhagwati am Institut für Elektronische Musik und Akustik (IEM) in Graz. Bitte nicht von diesem Namen schrecken lassen. Aber dort stehen die richtigen Provokationen, die zum Nachdenken anregen! Link


    Ein Beispiel: Schon die Zwischenüberschrift „Oper ist Subkultur“ trifft den Nagel auf den Kopf.


    „Warum noch die Oper angreifen, wenn die reichsten Menschen der Welt (wie z.B. Bill Gates) nicht mehr in die Oper gehen, sondern Rockmusik lieben? Warum den Protz der Altreichen anprangern, wenn die tatsächliche Gefahr für den Geist von all den Jazzanthologie-Käufern und Joe Cocker-Hörern in Chefetagen und an Börsenplätzen rund um die Welt ausgeht? Die gemütliche alte Tante Oper ist, so betrachtet, geradezu eine besonders subtile Form des gesellschaftlichen Widerstands gegen die Ex-und-Hopp Mentalität der Medien- und Wertpapierwelt.“


    „In einer Zeit, als die europäische Kultur noch dominant war, gehörte die Oper zu den Institutionen, die man mit der High Society verband. (...)Aber gerade diese Elite hat sich in den letzten Jahrzehnten von Grund auf gewandelt: Sie ist nun eine global fein verteilte, nicht mehr an ein Land und eine Kultur gebundene Schicht, die sich unter- und übereinander medial verständigt - auch in ihrem Verhältnis zur Kultur. Wenn der Besuch der Oper früher vor allem dem Sehen und Gesehenwerden diente, so kann dies in der medialen Gesellschaft viel effektiver bei anderen Gelegenheiten geschehen, die es nicht erfordern, sich drei Stunden auf unbequemen Stühlen mit kreischenden Primadonnen, einem für ein gepflegtes Geschäftsgespräch viel zu lauten Orchester und einer unverständlichen, langen Handlung auseinanderzusetzen.“


    Ich könnte mit wachsender Begeisterung immer weiter zitieren. Wen das interessiert, der lese selbst ...


    Ich will das keineswegs unterschreiben, aber so wünsche ich mir die Fragen gestellt. Eine schnelle Antwort oder Überbieten mit besseren Ideen, darum geht es nicht. Aber ich würde mich über Kommentare freuen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Jörg,


    bei Deiner Art Themen vorzugeben streifst Du ja wirklich alles, was in der Musikgeschichte von Interesse ist. Unter den Stichworten für mein längerfristig angelegtes Vorhaben "Musik und Politik" steht die Jagd an wichtiger Stelle. Da ereignete sich unter dem Titel caccia im 14. Jahrhundert (das in seiner Exzentrizität zutreffend als der „ferne Spiegel“ des 20. Jahrhundert bezeichnet wurde, so Barbara Tuchmann) eine äußerst spannende Entwicklung, von der die Musikgeschichte mächtig durchgerüttelt und aufgelockert wurde. Besonders denke ich an Franscesco Landini, aber auch Oskar von Wolkenstein und Walther von der Vogelweide. (Die vom Lullisten erwähnte französische chasse hat sich hieraus entwickelt.)


    Das Thema Jagd hat hier ganz viele Bezüge: Neue Themen, die in die Musik Einzug hielten. (Natürlich gab es auch damals schon die - uns aus den letzten 100 Jahren wohlvertraute - Kritik, damit sei der Untergang der Musik und ihrer Regeln eingeleitet.) Eine neue Lebendigkeit, die zwar in der vorangegangenen Entwicklung innerhalb der kirchlichen Musik bereits angelegt war, aber doch weit über sie hinausging. Hier wurde zum ersten Mal in der abendländischen Musik eine volle Gleichberechtigung der Stimmen erreicht. In den Anfängen mischte sich in das Vergnügen an der Jagd noch viel Ausgelassenheit der Straße. Das waren noch nicht die dem Adel vorbehaltenen zeremoniellen Jagden, wie sie dann in der Aufklärung zum Beispiel in die Musik von C.P.E. Bach Eingang fanden. Das war eher die reine Lebensfreude, die sich wieder in der Musik Ausdruck zu verschaffen wusste. (Wenn ich hier etwas Falsches schreibe, hoffe ich auf frühzeitige Korrekturen.)


    Und die in der Jagdmusik einander jagenden, miteinander tobenden Stimmen waren die Urform, aus der sich dann über den Kanon die Fuge entwickelte. Fuge bedeutet Flucht. Und Jagd hat die Doppelbedeutung: Jagen und Gejagt-Werden.


    Ich stehe noch ziemlich am Anfang, die ganze Bedeutung der Jagd als Metapher in all ihren musikalischen und politischen Bezügen zu verstehen. Dein Thread kann helfen.


    Nach meinem Lieblingsstück gefragt mache ich natürlich kein Hehl, dass dies das bereits genannte Scherzo aus Bruckners Vierter ist, und hier am liebsten in der Einspielung mit William Steinberg und dem Pittsburgh Sinfony Orchestra, dem gerade dieser Satz ganz außergewöhnlich gelingt.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo,

    zu ABM möchte ich ergänzen:



    Über die Aufnahme des 5. Klavierkonzerts von Beethoven gemeinsam mit Celibidache brauchen sicher keine Worte verloren zu werden. Mitreißend aber auch, wie sich das Brescia und Bergama Chamber Orchester unter Agostino Orizio ins Zeug legt, um mit dem großen Sohn aus ihrer Stadt (ABM wurde 1920 in Brescia geboren) zu musizieren.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, liebe Orgelfreunde,


    als ich diese Musik zum ersten Mal in einem Kirchenkonzert gehört hatte, klang danach alle Musik anders. Sie greift in das tiefste Gefüge der Musik, aber sie wirkt sicher nur, wenn sie auf Gegenliebe trifft. Alain schrieb in der Widmung eines anderen Stückes („Le Jardin suspendu“) an Madame Evain:


    "Ich verlange nicht, daß man den Aufbau eines meiner Werke bewundert. Ich wäre sogar traurig, wenn es nur das gäbe ... Ich frage einfach: Berührt Sie das, gefällt Ihnen das instinktiv, ohne nachzudenken, einfach so, weil Sie es eben so mögen, ohne Grund ... weil Sie etwas von sich selbst darin wiederfinden." (Brief vom 22.12.1934)



    Jehan Alain als Zeichner


    Biographisches und Entstehung


    Der Vater Albert Alain (1880 - 1971) war Organist, Orgelbauer und Komponist und hatte u.a. private Studien bei Vierne. Jehan lebte 1911 - 1940. Die nächste Schwester Marie-Odile (1914 - 1937) starb bei einem Unglück auf einer Bergtour. Marie-Claire wurde 1926 geboren. Jehan heiratete 1935 Madeleine Payan (1912-1975). Sie hatten 3 Kinder Lise (geb. 1936), Agnes (geb. 1938 ) und Denis (geb. 1939).


    Jehan studierte 10 Jahre von 1929 - 1939, unterbrochen vom Militärdienst 1933-34. Dort spielte er Saxophon in einer Militärkapelle. Um seine Familie zu unterhalten verdiente er sich Geld mit Klavierunterricht und Organistentätigkeit an kleineren Kirchen. Nur wenige Monate nach Ende seines Studiums wurde er 1939 für den Kriegsdienst mobilisiert. Anfangs war es noch sehr ruhig und er hatte viel Zeit zum Komponieren. Das änderte sich schlagartig im Mai 1940, und er fiel bereits im Juni 1940, erschossen bei der Dienstfahrt in der Nähe von Saumur auf seinem Militärmotorrad.


    Wie durch ein Wunder haben die Drei Tänze „überlebt.“ Schon 1937 hatte er den zweiten Satz begonnen, als er vom Tod der Schwester erfuhr. Ursprünglich als Sarabande geplant, gab er ihm jetzt den Titel „Danse funèbre pour honorer une mémoire héroique“, in bewusster Abwandlung der berühmten Marche funébre der Musikgeschichte.


    Er arbeitete bis 1940 an den "Trois Danses". Sie waren für Orchester gedacht. Der zweite Satz liegt in einer Kammermusik-Fassung für Quintett, Orgel und Pauken vor, alle Sätze für Orgel. Die Orchesterfassung war möglicherweise in der frühen Phase des Kriegsdienstes abgeschlossen, ist aber in den Kriegswirren verloren gegangen. Alain hatte im April 1940 im Radio ein Orgelkonzert von Noelie Perront gehört, in dem sie Stücke von Bach und ihm spielte. Das hatte ihm so gefallen, dass er ihr vom Kriegsdienst aus die Orgelfassung schickte.


    Zum Werk


    Während seines 10-jährigen Studiums hatte Alain mit großem Interesse alle Diskussionen über eine Erneuerung der französischen Musik miterlebt. Frankreich suchte als „lateinisches“ Land seine Ursprünge sowohl in der antiken griechischen Musik wie in der Gregorianik der großen gotischen Dome und natürlich den Meisterwerken des Barock (die Wahl einer Sarabande ist kein Zufall). War hier ein fester Grund gefunden, dann fühlte es sich fähig, in offenen Kontakt mit den verschiedensten Kulturen der Welt zu kommen, die seinerzeit bekannt wurden. Natürlich ist auch Alains Interesse an der zeitgenössischen Musik in Paris zu erkennen, den Impressionismus und Erik Satie.


    Im Tonmaterial greift er bisweilen auf den Nahen Osten zurück, der ehijjaji-Skala (auch Zigeunertonleiter genannt) und der indischen Maya-Malavagaula-Skala. Ein Musikwissenschaftler (Wilhelm Hafner „Das Orgelwerk von Jehan Alain“) stellt die Stilmittel zusammen: "Rhythmische Subtilität aber auch Bizarrheit, monophone bis komplexe Satzgestaltung, blockartige Phrasenbauweise, Repetition, Obstinatotechnik, Verwendung des Tritonus als konstruktives Intervall, Entfaltung verschiedener, den Messian'schen Modi verwandter Skalen, Isorhythmik und -melodik, Ansätze zu polyrhythmischer und -tonaler Gestaltungsweise und serieller Technik." (S. 343)


    Das mag – so hingeschrieben – überfrachtet und akademisch klingen. Aber von dem Stück geht ein vollkommen eigener Charakter aus. Am besten trifft das wohl der französische Ausdruck obsession (Besessenheit).


    Unterstützt Orgelmusik sonst den Kirchengesang und lässt in der freien Gestaltung den Raum klingen und strahlen, getragen von der jahrhundertelangen Überlieferung des Gottesdienst, so sucht der ebenfalls tief religiöse Alain umgekehrt in seiner Verzweiflung Zuflucht an der geliebten Orgel: Wie wird sie auf seine Gefühle reagieren, was kann sie ihm sagen. Ich kenne kaum eine andere Musik, die konsequenter solch ein Hineinhorchen in den Raum zeigt, statt ihn gestalten zu wollen.


    Die Sarabande sucht in den einleitenden Takten den Klang der Kirche, wiederholt siebenmal in unterschiedlicher Dynamik das Thema, über Ruhepunkte hinweg, wie sie sonst nur von Bruckner bekannt sind, bis aus der Mitte des Raums der Klang unendlicher Trauer aufscheint und einen langsamen Rhythmus zum Schwingen kommen läßt. In unbeschreiblicher Kraft bis zum ausgespielten fff wird die Resonanz des gewaltigen Kirchengebäudes berührt, das bis in die Wurzeln getroffen scheint. Ein würdiges Abbild der früh-mittelalterlichen Maße, nach denen die großen Baumeister die gotischen Dome errichtet haben.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    „Schmollwinkel“, von wegen: die moderne Musik liebt die Provokation! Und das nicht deswegen, weil sie provozieren und ärgern oder gar beleidigen will (das kommt nur bei denen vor, die auf einen Zug aufzuspringen versucht haben, den sie gänzlich missverstanden, leider sind das nicht zu wenige und oft aus wenig ehrenhaften Motiven), sondern weil sie den Zustand, in dem sie die Musik vorfand, selbst als Provokation empfindet. Indem sie nicht so weiter macht, als wäre nichts gewesen, will sie die Musik aufrütteln und auf ihre Art neu beleben.


    Das trifft sicher auf Erik Satie, Jean Cocteau und Pablo Picasso zu, als sie am Ende des 1. Weltkriegs in Paris mit dem russischen Ballett von Diaghilew die „Parade“ schufen.



    Picasso: Entwurf für das Ballett „Parade“


    Frankreich hatte sich seit der demütigenden Niederlage von 1870-71 und den längst nicht verheilten Wunden der Gewaltexzesse nach der Revolution von 1789 in einer tiefen Krise befunden. Mal ließ es sich ganz von italienischer Musik überschwemmen, dann war es von deutscher Musik (insbesondere Wagner) in fast hysterisch zu nennenden Wellen mal tief empört und dann wieder kritiklos begeistert. Im frühen 20. Jahrhundert kamen so entgegengesetzte neue Eindrücke hinzu wie die Industrialisierung und neue Musikrichtungen aus den USA (Jazz, Blues) und andererseits die Konfrontation mit der wilden Musik, sei es aus Russland (Strawinsky, Prokofjew), sei es aus den Kolonien (asiatische Exotik, afrikanische Rhythmen). Kriegsbegeisterung und Krieg hatten alle bürgerlichen Werte restlos infrage gestellt.


    Aber in Paris suchten viele dies bei den Hörnern zu packen, wo sie an anderen Orten in Europa nur noch billigen Aufguss des ewig Gleichen oder Selbstgenügsamkeit sahen.


    „Parade“ klingt als Musikstück bewusst dürftig und ist doch ungeheuer vielschichtig. Es ist eins der ersten Stücke, die in der Weise provozieren, dass sie Schreibmaschine, Tarolle, Revolverschüsse, Sirene ins Orchester aufnehmen. Was will das sagen? Soll das heißen, dass bei der täglichen Konfrontation mit solcherlei Geräuschen ebenso Musik empfunden werden kann, wie in einer idyllischen Szene am Bach? Soll das diejenigen Musiker karikieren, die einerseits anspruchsvolle Musik zelebrieren, andererseits in ihrem Leben nicht genug Errungenschaften der Technik wie schnelle Autos, Jets und moderne Medien benutzen, ohne dabei schizophren zu werden?


    Picasso gestaltete ein kubistisches Bühnenbild. Dort lösen sich Manager in wolkenkratzerförmigen, überlebensgroßen Kostümen aus der Kulisse einer städtischen Szenerie. Satie schrieb die großstädtisch hektische Musik dazu.


    Das Konzept stammt von Cocteau: „Die Szene zeigt die Häuser von Paris. Sonntag. Jahrmarktstheater. Drei Nummern des 'Music Hall' gestalten die Parade. Chinesische Gaukler. Akrobaten. Kleines amerikanisches Mädchen. Drei abscheuliche Manager organisieren die Reklame. Sie verständigen sich in ihrem fürchterlichen Idiom, so daß die Zuschauermenge die burleske Szene für die eigentliche Vorführung im Innern hält; sie bemühen sich, dies den Leuten auf plumpe Weise begreiflich zu machen. Niemand geht hinein. Nach er ersten Nummer der burlesken Szene fallen die erschöpften Manager zu einem wirren Haufen zusammen. Der Chinese, die Akrobaten und das kleine Mädchen kommen aus dem Innern des völlig leeren Theaterraumes. Da sie die ungeheure Anstrengung und den Zusammenbruch der Manager gewahren, versuchen sie nun ihrerseits zu erklären, daß die Vorführung im Innern stattfindet."


    Die Provokation liegt in der grotesken Verzerrung, in der der bürgerliche Musikbetrieb gezeigt werden soll: Abgesunken auf das Niveau einer Music Hall, die Reklame und das Treiben um die Musik übertönen diese selbst, so dass die Show wichtiger ist als die Musik.


    „Niemand geht hinein“. Je geölter der Musikbetrieb läuft, desto ferner wird die Musik. „Der Chinese, die Akrobaten und das kleine Mädchen“ vermögen es auch nicht, Aufmerksamkeit zu gewinnen.


    Musik ist nur noch möglich als Metamusik, die eine Oberfläche zeigen kann. Der Hörer muss sie im Innern zusammensetzen.


    Das ist eine extreme Aussage. Wurde versucht, sie zu wiederholen, wirkt das genauso lächerlich wie das, was persifliert werden sollte.


    Das war natürlich nicht das letzte Wort. Aber es musste einmal gesagt werden und sollte gehört werden, um alles folgende besser zu verstehen.


    Wer sich dieser Musik stellen will, dem kann ich Markevitch empfehlen:



    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Alfred,


    über Barenboim einen Thread zu eröffnen, ging mir auch schon durch den Kopf. In jungen Jahren wurde er mir nicht nur durch die Klavierkonzerte von Beethoven mit Klemperer bekannt, sondern besonders durch seine Einspielung aller Klavierkonzerte von Mozart. Während ich die Beethoven-Aufnahme im Vergleich zu anderen großen Aufnahmen weniger gelungen fand, gefiel mir Mozart sehr gut, ja öffnete mir überhaupt erst die Ohren für viele Seiten, die ich an diesem „Wunderkind“ vorher nicht gesehen hatte oder nicht sehen wollte. Leider scheint diese frühe Aufnahme jetzt von Markt genommen zu sein und ersetzt durch eine andere, weniger zupackende.


    Barenboim verkörperte für mich damals den 68er auf dem Gebiet der klassischen Musik. Heute ist der Begriff „68er“ fast schon zum Schimpfwort geworden – die Konservativen haben die Lektion der kulturellen Hegemonie gut begriffen -, und auf den „68er“ wird alles abgeschoben, wo jemand die Verantwortung für politische und soziale Fehlentwicklung nicht übernehmen will, als hätten die „68er“ 1968 oder den nachfolgenden Jahren die Regierungsverantwortung inne gehabt. Das Thema wird inzwischen so heiß gekocht, dass ich darauf gar nicht weiter eingehen will.


    Die klassische Musik erschien mir damals überwiegend als eine steife Welt voller unecht gewordener Gefühle. Die meisten wandten sich daher ganz von ihr ab. Aber es stimmt, die Musik hat etwas Unzerstörbares, und das ist immer an Personen gebunden. Etwas Frisches kam herein erst durch die Art, wie Leonard Bernstein in seinen Konzerten für die Jugend die Klassik vermittelte, und dann auch durch die für mich völlig neue Art von Musikbegeisterung von Barenboim und mit ihm Zuckerman und Jacqueline du Pre.


    Besser als viele Worte kann das vielleicht ein Foto verdeutlichen. Jack Robinson, 1928 in der Nähe von New Orleans geboren, ist einer der besten Fotografen der Beat-Generation und spürte mit sicherem Instinkt die innere Verwandtschaft. (Auch über Beat zu reden ist heute ja genau so schwierig wie über die 68er, werden doch damit mehr Mythen als Realität verbunden. Es wäre ein eigenes Thema, das gebrochene Verhältnis zur jüngeren Geschichte aufzuarbeiten, nicht zuletzt in der Musik.).



    Daniel Barenboim, Jacqueline du Pré und Pinchas Zuckermann 1969 nach einem Konzert in der Carnegie Hall


    Aber es stimmt schon, irgendwie scheint danach viel von diesem Schwung verloren gegangen zu sein. Im Internet ist die Information zu finden, dass er bei Igor Markevitch dirigieren und bei Nadia Boulanger komponieren lernte, deren Einflüsse vermag ich in seiner Kunst jedoch kaum mehr zu erkennen. Er scheint sich als einer der „Weltstars und Weltbürger“ wohl zu fühlen, für mich schwer zu verstehen.


    Und doch freut es mich, dass es ihm in seiner mutigen Haltung gegenüber Israel erneut gelingt, die tiefe Kraft der Musik einzusetzen, festgefahrene Strukturen und Vorurteile zu überwinden.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Alfred,


    ehrlich gesagt habe ich nie verstanden, wo und wieso die zeitgenössische Musik als eine Flut oder ein Orkan erscheinen mag, den es einzudämmen gilt. So lange ich Konzerte höre, wurde zeitgenössische Musik bestenfalls auf dem undankbaren zweiten Platz vor der Pause gespielt, oder im Radio zu Nachtstunden. In der Schule hatte ich das Glück, dass uns in den späten 60er Jahren ein wenig zeitgenössische Musik unterrichtet wurde. Schon für meine Kinder hört der Musikunterricht ungefähr mit Strawinsky auf. Zeitgenössische Musik scheint mir heute in den Schulen bestenfalls Soul und Blues zu sein. --- Vielleicht ist es in den Musikhochschulen anders, das kann ich nicht so beurteilen. Wenn ich bisweilen nach Darmstadt zu den Konzerten der Ferienwochen oder der Akademie für Tonkunst gehe, gibt es nur relativ wenig Zuhörer, selbst dann, wenn z.B. Erika Haase Ligeti spielt.


    Für mich ist die zeitgenössische Musik eine notwendige Bereicherung, die sich abhebt von dem Einheitston, auf den bisweilen alles vom Barock bis zum Pop geglättet wird. Wenn ich sehe, wie zum Beispiel jetzt Anna Netrebko in der neuen SAP Arena Mannheim in einer Reihe mit Andre Rieu und Simple Red vermarktet wird, ist das einfach nicht meine Welt, und ich mache darum genau so einen Bogen, wie andere zeitgenössische Musik meiden.


    Bisweilen habe ich jedoch das Gefühl, dass selbst das Nischendasein der zeitgenössischen Musik missgönnt wird, weil allein die bloße Existenz einer etwas anderen Musik für einige eine Bedrohung zu sein scheint. Wenn dann umgekehrt einige aus dieser Randexistenz heraus mit Überheblichkeit reagieren, ist das oft eher ein Zeichen von Schwäche denn Stärke.


    Es ist gar keine Frage, dass sich auch im Bereich der zeitgenössischen Musik viel tut, was ich nicht weniger ablehne als hochpolierte Klassik. Um so wichtiger, dort das zu entdecken und vorzustellen, was lohnens- und hörenswert ist. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich gern mehr von dieser Musik ansprechen, Arvo Pärt und "Tango Fusion" waren zwei Ansätze, aber es stimmt, ein großes Echo haben sie nicht ausgelöst.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo zusammen,


    um zu der Ursprungsfrage zurückzukehren: Meiner Meinung nach kann die Bedeutung der Interpretation gar nicht überschätzt werden. Ohne mich dahinter verstecken zu wollen, möchte ich Richard zitieren und gleich hinzufügen, dass ich mit der gleichen Leidenschaft Sofronitsky höre:



    Natürlich gibt es ganz unterschiedliche Geschmäcker, die teils zeitbedingt sind und sicher noch stärker in der eigenen Persönlichkeit wurzeln. Daher geht es meiner Meinung nach auch weniger darum, jemanden für Furtwängler, Toscanini, Karajan oder Sofronitsky zu „bekehren“, sondern in den vielen Diskussionen wie in diesem Forum andere und sich selbst besser verstehen zu lernen. Ich glaube jeder spürt, wie unterschwellig ständig kulturelle und politische Weltanschauungen mitschwingen, das halte ich für ganz natürlich. Andernfalls wäre die Musik weltfremd. Kritisch wird es dann, wenn jemand seine Machtposition einsetzt und missbraucht, andere ihm missliebige Richtungen auszugrenzen.


    Wenn ich meinen – inzwischen erwachsen werdenden – Kindern oder anderen Klassikneulingen Musik empfehle, dann grundsätzlich nur in den mir wichtigsten Aufnahmen. Wenn nicht durch die Interpretation ein solches Verständnis der Musik deutlich wird, wie es exemplarisch Sofronitsky gelingt, dann droht Musik-Wissen auf Wissenshuberei abzusinken, wie leider so vieles, was in der übertriebenen Stofffülle heute in den Schulen gelehrt wird.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo zusammen,


    jetzt etwas ernsthafter. Trompeten im großen Orchester sind etwas Herrliches. Die Empfehlung Varese werde ich aufgreifen.


    Und doch liebe ich die Trompete gerade auch als Charakterinstrument. Was der Jazz, Miles Davis und alle seine Nachfolger erreicht haben, hat dem Klang der Trompete ganz neue Möglichkeiten erschlossen.


    Eine wunderbare Verbindung dieser beiden Welten ist Strawinsky gelungen. Und da ist mein Favorit eindeutig die "Geschichte vom Soldaten" von Strawinsky. Hier kommt es sehr auf die Aufnahme an. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich Maurice André, der mir von der Barockmusik bestens bekannt war, zusammen mit Jean Cocteau und Peter Ustinov als Sprecher und einem kleinen Solistenensemble unter der Leitung von Igor Markevitch hörte:



    Viele Grüße,
    Walter

    Schuberts Geist


    Bei Schumann möchte ich gern fortfahren. Da gibt es nicht nur die Zitate anderer Komponisten, sondern sie sprachen direkt zu Schumann. Dagmar Hoffmann-Axthelm vertritt in dem bei Reclam erschienenen (sehr spannend geschriebenen, trotz mancher Psychologisierereien unbedingt empfehlenswerten) Essay „Robert Schumann ‚Glücklichsein und tiefe Einsamkeit’“ die These, Stimmen wie die von Schubert hätten ihn schließlich so überwältigt, dass er Eigenes und Fremdes nicht mehr unterscheiden konnte und in einen Wahn geriet, der unter den damaligen Umständen der Psychiatrie eine Überweisung in eine Nervenklinik notwendig machte. (Von notwendiger „professioneller Betreuung“ wage ich nicht zu sprechen, wenn die dazu geführt hat, dass der Patient buchstäblich nach kaum mehr als 2 Jahren tot war.)


    Schumann hatte zeitlebens eine besondere Beziehung zu Schubert. Die Nachricht von dessen frühen Tod hatte ihn 1828 in eine der vielen depressiven Krisen gestürzt. 11 Jahre später besuchte er 1839 in Wien dessen Bruder und entdeckte über ihn die unveröffentlichte 9. Sinfonie. Er gab sie Mendelssohn zur Uraufführung. „Seinem Freund Becker berichtet er enthusiastisch von der Probe, in dieser Musik seien ‚alle Ideale meines Lebens’ aufgegangen. Und Clara Wieck lässt er wissen: ‚Ich war ganz glücklich und wünschte nichts, als Du wärest meine Frau und ich könnte auch solche Symphonien schreiben.’“ (Hoffman-Axthelm, S. 162).


    Wenige Tage vor seinem Selbstmordversuch im Februar 1854 glaubte er, Schuberts Geist zu hören, und schrieb das Thema für seiner Geister-Variationen auf. Dies Thema klingt wirklich sehr nach Schubert. Aber ist dem Komponisten entgangen, dass er hier im Grunde sich selbst zitiert hatte, das Thema aus dem langsamen Satz des 1853 entstandenen Violinkonzert?


    Schumann fühlte sich zweifellos von Stimmen bedrängt. Er war in Düsseldorf in die Enge gedrängt worden von einem Musikdirektorium, seiner Frau, zwei jungen Freunden (Brahms und Joachim), die vielleicht nichts anderes wollten, als normal sein, d.h. so, wie es von der Gesellschaft erwartet wurde. Diese wachsende Distanz zu ihm ist ihm offenbar nicht richtig bewusst geworden, aber gespürt hat er es sicher als eine bedrückende Kälte, die ihm auch alle neuen Erfolge wie bei den Konzerten in Holland Ende 1853 und dem gemeinsamen Musizieren mit Clara und den vermeintlichen Freunden zu rauben drohte, bis er keinen anderen Ausweg wusste, als den Ehering in den Rhein zu werfen und sich in die Fluten zu stürzen. (Wer weiß, welche Bedeutung Schumann dem Motiv E – H – E in seinen Werken gegeben hat, wird die symbolische Handlung ermessen.)


    Solche „Verschwörungstheorien“ werden von der heutigen Musikwissenschaft überwiegend abgelehnt. Es ist wohl notwendig, tiefer in die Quellen, den Briefwechsel und die Krankenberichte zu gehen, aber auch dies Material ist ja in wichtigen Teilen vernichtet (die Tagebücher von Clara Schumann, der Krankenbericht aus der entscheidenden ersten Zeit), so dass auch dort keine letzten Erkenntnisse zu erwarten sind und jeder auf die eigene Intuition angewiesen bleibt.


    Schumann suchte immer in der Musik einen Weg, seine Gefühle und inneren Probleme zu gestalten. Es ist bestimmt nicht übertrieben zu sagen, dass Musik ihm öfters das Leben gerettet hat, auch wenn dann die Katastrophe 1854 nicht abgewendet werden konnte.


    Aber was ist hier „Musik“? Für Schumann waren es Stimmen, wo er – und das glaube ich sofort – Schubert hörte. Musik war für ihn ein Feld, wo er mit der Musik anderer unmittelbar verbunden war, so dass sich die Formel „Musik der Musik“ nicht mehr klar voneinander trennen ließ.


    Zwei Epiloge: Die Klavierkonzerte von Brahms und Ravel


    Brahms konnte sich von den Ereignissen 1853 ff nie mehr losreißen. Einerseits hat er dann wiederum das Geister-Thema von Schubert aufgegriffen und eigene Variationen darüber geschrieben, also Musik der Musik der Musik in der dritten Steigerung. Andererseits hat er sogar noch 1893 zwei Jahre vor dem Tod Clara Schumanns und vier Jahre vor dem eigenen Tod in einem Brief an Heuberger geschrieben: „Frau Schumann hat erst vor ein paar Wochen ein Heft Cellostücke von Schumann verbrannt, da sie fürchtete, sie würden nach ihrem Tode herausgegeben werden. Mir hat das sehr imponiert.“ (nach Struck, S. 561f). Es handelte sich um die Romanzen für Violoncell und Pianoforte, dem letzten Stück Schumanns vor den Geister-Variationen, das er im November 1853 geschrieben hat. Er hatte erfolglos noch von Endenich aus versucht, dies Stück zu veröffentlichen. Schon damals hatte Brahms am 14.3.1855 Clara Schumann aufgefordert, ihrem Mann solche Schreiben an Verleger aus der Hand zu nehmen.


    Musik der Musik kann also auch Vernichtung der Musik der Vorgänger und in diesem Fall sogar der Bahnbereiter bedeuten!


    Mit ganz anderen Ohren höre ich heute das 1859 in Hannover mit Joachim uraufgeführte 1. Klavierkonzert von Brahms. Dies war sein erstes großes sinfonisches Werk. Der erste Satz ist vom Frühjahr 1854 bis zum Herbst 1856 entstanden, also genau der Zeit, als Schumann in größter Isolation in Endenich litt, und wurde dann noch einige Male bis 1859 umgearbeitet, nun auch unter der enttäuschenden Erfahrung, dass ihm mit Clara Schumann kein persönliches Glück beschieden sein würde. In der Tonart d-Moll ist Schumanns Violinkonzert fortgeführt.


    Welche Stimme hat dann Ravel bewogen, in seinem Klavierkonzert für die linke Hand in der Einleitung das Klavierkonzert von Brahms mit der „Toteninsel“ von Rachmaninov auf kleinstem Raum zusammen zu packen und jazzmäßig zu verfremden, als Zeichen der Katastrophe, die sich im 19. Jahrhundert zusammengebraut und dann in den 1930er entladen hat?


    Gerade gegenüber einem Komponisten wie Schumann sind solche Zusammenhänge alles andere als übergestülpt. „Clara Schumann gegenüber beschreibt Schumann sein Bestreben, in der Musik das Unterschiedliche, Widersprüchliche, gedanklich nicht oder nur schwer Erfassbare von Welt und Menschen einzufangen: ‚... es affectirt mich Alles, was in der Welt vorgeht, Politik, Literatur, Menschen – über Alles denke ich auf meine Weise nach, was sich dann durch die Musik Luft macht, einen Ausweg suchen will. Deshalb sind auch viele meiner Compositionen so schwer zu verstehen, weil sie sich an entfernte Interessen anknüpfen, oft auch bedeutend, weil mich alles Merkwürdige der Zeit ergreift und ich es dann musikalisch wieder aussprechen muß.’“ (nach Hoffmann-Axthelm, S. 113).


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Flo,


    obwohl mir bekannt war, was Schostakowitsch über Toscanini geschrieben hat, und ich daher Deine Bedenken verstehe, halte ich seine Aufnahme dennoch für sehr gelungen. Er vermag die Brutalität der bolero-artigen Steigerung im 1. Satz auf eine Art zum Klingen zu bringen, wie ich es sonst nicht gehört habe.


    Auch Ravel hat sich ja erst negativ über Toscaninis Bolero geäußert und hätte ihn dann gern als Dirigenten des "Konzerts für die linke Hand" gesehen. Zwischen diesen drei Werke gibt es starke innere Beziehungen, wobei mir inzwischen das "Konzert für die linke Hand" am besten gefällt.


    Vielleicht sollte zusätzlich erwähnt werden, dass es einen merkwürdigen Streit gab, wer diese Sinfonie im Ausland zuerst aufführen darf, bei dem sich dann Toscanini durchsetzte. Das alles zeigt einiges über die Eitelkeiten im Musikbetrieb.


    Es gibt zahlreiche gegenseitige abfällige Bemerkungen von Künstlern, die für mich in meiner eigenen Beurteilung nicht maßgeblich sind.


    Viele Grüße,
    Walter

    Lieber Holger,


    ja, ich habe mich auch schon oft gefragt, warum ich diese Sinfonie viel seltener höre als die anderen. Sie ist weniger dramatisch und konfliktgeladen. Dabei gehört die Melodie des Scherzo zum Schönsten, was ich von Bruckner kenne. Wird diese Sinfonie angesprochen, habe ich sie sofort im Ohr.


    Seit ich sie vor vielen Jahren mit Otto Klemperer und dem New Philharmonia Orchestra kennen gelernt habe, ist das meine Lieblingsaufnahme. Im Radio habe ich im Laufe der Zeit andere Einspielungen gehört, die mir alle nicht so gefallen haben. Die von Dir empfohlenen (Wand, Lopez-Cobos und Davis) waren jedoch nicht dabei.



    Ich wünsche einen schönen Konzertabend in Köln, leider ist es zu weit, um von Bensheim vorbeizukommen,


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Johannes,


    mit der schnell hingeschriebenen Charakterisierung "Originaltempo" wollte ich die Aufnahme beschreiben. Ich weiß, dass es zu dieser Frage einen müßigen Glaubenskrieg gibt. Ich persönlich bevorzuge bei Beethoven im Prinzip die schnellen Aufnahmen, mit den von Dir genannten Dirigenten ... es sei denn, es gelingt zum Beispiel einem Otto Klemperer, auf seine Art die Eroica oder die 9. zu dirigieren. Dann mache ich gern eine Ausnahme.


    "Originaltempo" war auch ein wenig eine Bezeichnung, mit der damals für dieses Konzert geworben wurde. Das ging so weit, dass von einer Art neuen Uraufführung gesprochen wurde, weswegen es angemessen sei, das "ensemble modern" hinzuzuziehen. Lassen wir das. Die Aufnahme ist einfach aus sich heraus gut.


    Larghetto: Das ist gar nicht so einfach. Da Zehetmair eine sehr lange Kadenz spielt, muss im Vergleich zu anderen Aufnahmen gesagt werden, dass diese Kadenz nach 7:40 Minuten beginnt, und dann über eine Minute dauert. Ansonsten wäre dieser Satz wie dann auch der 3. Satz langsamer als etwa die Interpretation von Heifetz und Toscanini (die für den ersten Satz auch nur wenig mehr als 21 Minuten brauchen).


    Ja, ein rasch gespieltes Tripelkonzert wünsche ich mir auch. Das ist eins der Werke, wo ich noch keine Aufnahme gefunden habe, mit der ich wirklich zufrieden bin.


    Viele Grüße,


    Walter

    Leider nicht auf CD erhältlich ist Beethovens Violinkonzert, das er 1987 in Frankfurt mit Ernest Bour und dem ensemble modern einspielte. Der erste Satz wurde im Originaltempo, d.h. in knapp 21 Minuten gespielt. Die einleitenden Pauken bekamen dadurch einen ganz anderen Charakter. Das wurde sehr schön in der Kadenz aufgegriffen, in der Violine und Pauke im Duo zusammen spielten.


    Ich habe die Aufnahme seinerzeit im Radio mitgeschnitten und schätze sie sehr.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo, Freunde der deutschen Romantik,


    die „Gesänge der Frühe“ versprechen beides: Schumann und Hölderlin. Und – sie leiten über zu Bruckner (besonders das 3. und 5. Stück). Auch wenn ich die abschließende Schlussfolgerung nicht mehr teilen kann, sei aus der schönen Schumann-Seite auf der Homepage des Pianisten Franz Vorraber zitiert:


    „Die Gesänge der Frühe haben eine ganz eigene Färbung. Getreu Schumanns Motto, das in jeder Musik ein bißchen Frühling sein sollte, spürt man in seinem letzten veröffentlichtem Werk, das Herannahen des Morgens, die rufende Quint, die Hoffnung auf Licht, eine Harmonik, die eine Schlußwirkung oft ausspart erinnernd an Brucknersche Choräle, eine Verwandtschaft zu Beethovens letzter Sonate op.111 in den Trillerfiguren des letzten Stückes. Sein Lebenswerk ist vollbracht. Diese befreiende Ruhe machen die Gesänge der Frühe zu einem außergewöhnlichen Zeugnis seines Wirkens gegenüber seinem Schicksal. “



    Anfang des 1. Stücks mit dem Kernmotiv Diotima - Hyperion


    Entstehung, Widmung an Bettina von Arnim


    "Diotima, Gesänge der Frühe" ist wie das Violinkonzert bereits 1849-50 im Projektenbuch aufgeführt. Schumann schrieb das Stück vom 15. - 18. Okt. 1853, also unmittelbar unter dem Eindruck des ersten Besuchs von Brahms. Das hat zu ausführlichen Analysen möglicher Einflüsse geführt, so im Nachwort zur Herausgabe des Urtextes (Link )


    Clara Schumann schrieb am 18.10.1853 in ihr Tagebuch: "Robert hat 5 Frühgesänge komponiert, - ganz originelle Stücke wieder, aber schwer aufzufassen, es ist so eine ganz eigne Stimmung darin."


    Ende Oktober 1853 besuchte Bettina von Arnim mit ihrer Tochter Gisela die Schumanns, als Joachim dort war. Joachim war mit Gisela befreundet, und Schumann beglückwünschte ihn bald - missverstehend – zur Verlobung. Umgekehrt wird Bettina deutlich gesehen haben, was dort geschah. Brahms war auch noch in Düsseldorf. Schumann änderte die unbestimmte Widmung an Diotima, womit idealisierend Clara gemeint sein konnte, "an die hohe Dichterin Bettina".


    Bettina von Arnim hatte Jahrzehnte früher Gedichte von Hölderlin vertont und ihn in seinem Turm in Tübingen besucht. Es muss für sie ein Schock gewesen sein, dann wenig später im Mai 1855 Schumann in einem Irrenhaus zu besuchen - und nach ihrem Eindruck gesund vorzufinden.


    Brahms und Joachim wussten nicht, wer mit Diotima gemeint war. Da Joachim kurz darauf eine Hyperion-Sinfonie komponieren wollte, hat Hölderlin offenbar den Roman von Hölderlin als Quelle genannt. Aber auch die Gedichte an Diotima können gemeint sind. Dessen letzte Version beginnt „Du schweigst und duldest, denn sie verstehn dich nicht“, endet aber hoffnungsfroh.


    Die Veröffentlichung war ihm wichtiger als bei anderen Werken. Er hatte bereits am 17. Feb. 1854 die Eingebung des choral-artigen Engels-Themas gehabt, aus dem dann die Geister-Variationen entstanden, als er am 24. Feb. 1854 wenige Tage vor seinem Selbstmordversuch in einem Brief seinem Verleger schrieb: „Ich möchte die Fughetten [op. 126] wegen ihres meist melancholischen Charakters nicht erscheinen lassen und biete Ihnen ein Anderes, vor Kurzem beendigtes Werk: ‚Gesänge der Frühe’. ... Es sind Musikstücke, die die Empfindungen beim Herannahen und Wachsen des Morgens schildern, aber mehr aus Gefühlsausdruck als Malerei."


    Hier nimmt er deutlich auf Beethovens "Pastorale" Bezug, ihrem "Erwachen heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande" (Überschrift des 1. Satzes) und ihrer Kennzeichnung "Mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey".


    An diese Stücke war die Hoffnung auf einen Ausweg aus seiner tiefen persönlichen Krise gebunden. Als Nachweis der Nähe des Wahnsinns wurde später vor allem der melancholische Charakter der Werke von 1853 genannt. Aber gerade davon wollte er sich lösen. Mit der Frühe ist sicher auch die eigene Frühe gemeint, die Jugendzeit, als er zum erstenmal Hölderlin las und voller Ideale war. Ihm kamen immer mehr Zweifel, ob Clara das hielt, was er als Ideal in ihr zu sehen wünschte.


    „O trinke Morgenlüfte“


    „Empfindungen beim Herannahen und Wachsen des Morgens“ trifft eher die Sprache von Hölderlin als der Titel „Gesänge der Frühe“. Dieser bezieht sich vielmehr auf dessen „Nachtgesänge“, die Schumann sicher kannte. Mit den „Nachtgesängen“ hatte Hölderlin eine kleine Auswahl seiner Gedichte veröffentlicht, und Schumann möchte dies – so verstehe ich ihn – fortführen, indem er eine andere Seite in den Gedichten Hölderlins aufgreift, die nicht in den Nachtgesängen enthalten sind.


    „O trinke Morgenlüfte“ ist eine Zeile aus „Germanien“. Hölderlin entwirft eine völlig anderes Bild der Germania, als es dann im 19. Jahrhundert populär wurde. Sie ist „im Wald verstekt und blühendem Mohn voll süßen Schlummers“. Hölderlin wünscht ihr, dass sie die Morgenlüfte trinkend offen wird, das Ungesprochene so zu umschreiben, dass es nicht länger Geheimnis bleibt. – Hier möchte ich nur anregen, diese Gedichte zu lesen.


    Wenige Jahre vorher hatte Hölderlin ein Gedicht „Deutscher Gesang“ entworfen.


    Wenn der Morgen trunken begeisternd heraufgeht
    Und der Vogel sein Lied beginnt,
    und Stralen der Strom wirft, und rascher hinab
    die rauhe Bahn geht über den Fels,
    weil ihn die Sonne gewärmet
    ...
    Dann sitzt im tiefen Schatten,
    wenn über dem Haupt die Ulme säuselt,
    am kühlathmenden Bache der deutsche Dichter
    und singt, wenn er des heiligen nüchternen Wassers
    genug getrunken, fernhin lauschend in die Stille.


    Ich glaube, dass dies sehr gut Schumanns Selbstverständnis beschreibt. - Aus den vorhandenen Aufnahmen habe ich mir die mit Andras Schiff ausgesucht, weil ich mir gut vorstellen konnte, dass ein Pianist mit Bartok-Erfahrung den Klang Schumanns treffen kann. Das war keine Enttäuschung.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo Raphael,


    ich will auf Deine erste Frage zurückkommen. Das ist eine wahrhaft spannende Geschichte, die weiteres Licht auf die Leidensphase von Schumann wie auch die nationalsozialistische Musikpolitik wirft, und mir daher wert für einen längeren Beitrag scheint.


    Langer Weg bis zur Uraufführung 1937


    Schumann plante das Violinkonzert in seinem Projektebuch seit 1849-50. Der entscheidende Anstoß kam allerdings erst mit dem jungen Joseph Joachim (1831 – 1907), der im Mai 1853 in Düsseldorf Beethovens Violinkonzert spielte. Robert und Clara waren begeistert und freundeten sich mit ihm an. Schumann schrieb das Konzert vom 21. Sept. - 3. Okt. 1853, also in den Wochen, als auf Vermittlung durch Joachim am 30. Sept. 1853 erstmals Brahms zu Besuch kam.


    Clara, Brahms und Joachim waren anfangs vom Werk durchaus angetan. Als Clara 1854 – Schumann war bereits in Endenich – die Noten an Joachim schickte, antwortete der ihr am 22. Okt. 1854 überschwänglich: „Wie danke ich Ihnen für das Concert von Schumann, und dass sie sich meiner damit in dem bewegten Leipzig erinnert haben! Gewiß, es kann mir nichts schöner die Zeit Ihres Hierseins zurückrufen und die herrlichen Musik-Stunden mit Ihnen und Brahms, als die überschickten Noten.“ Schon 1853 war eine Uraufführung geplant, die jedoch auf Drängen der Düsseldorfer Musikdirektion ausfiel, die nicht mehr so viel Musik von Schumann auf den Programmen sehen wollte. Eine Wiederholung gab es dann nicht mehr.


    Das Thema des Violinsolo im zweiten Satz kehrt verwandelt wieder als "Geister-Thema" in Es-Dur, welches Schumann unmittelbar vor seinem Selbstmord-Versuch aufschrieb. Brahms hat 1862 in seinem op. 23 Variationen darüber geschrieben.


    Das Original blieb jedoch unveröffentlicht, weil Clara, Brahms und Joachim nach Schumanns Tod radikal ihre Meinung über das Violinkonzert änderten. Michael Struck weist in seinem Buch „Die umstrittenen späten Instrumentalwerke Schumanns“ anhand von Brief-Auszügen minutiös die Veränderung nach. Offiziell hieß es später, sie wollten nicht nachträglich den Ruhm Schumanns durch Herausgabe von Werken beschädigen, die schon die Zeichen seiner Krankheit trügen. Angesichts der Qualitäten dieses Werks liegt es näher, dass es nicht mehr in Claras Bild von Schumann passte und wie sie die Ereignisse der Jahre 1853 – 56 sehen wollte.


    Nach dem Tod von Joseph Joachim verkaufte 1907 dessen Sohn Johannes den Autograph als Teil des Nachlasses an die Preußische Staatsbibliothek Berlin mit der Auflage, es frühestens 100 Jahre nach Schumanns Tod zu veröffentlichen. Der Geiger Adolf Busch (und möglicherweise auch Georg Kreisler) erkundigten sich nach einer Veröffentlichung. 1930 wurde erstmals der Klavierauszug gespielt, der im Städtischen Museum Zwickau vorlag.


    Schließlich konnte es unter etwas mysteriösen Begleitumständen vom Schott-Verlag in Mainz veröffentlicht werden. (Joachims Nichten, die Geigerinnen Jelly d'Aranyi und Adili Fachiri, und der schwedische Gesandte Palmstierna klagten über die Heimsuchung durch den Geist Schumanns, sie sollten das Werk aufspüren und veröffentlichen. Spukten da die Geister von 1854 weiter oder war das als geschickter Werbegag gedacht?).


    Der mit Johannes Joachim befreundete Verleger Hermann Strecker vom Schott-Verlag sandte das Werk aber Yehudi Menuhin und bot ihm die Uraufführung an. Inzwischen spielte Schumann jedoch eine wichtige Rolle für die nationalsozialistische Kulturpolitik. Daher wurde dem Schott-Verlag unter Androhung der Verlagsschließung verboten, das Werk durch Menuhin in den USA uraufführen zu lassen. Stattdessen kam es zur Uraufführung am 26. Nov. 1937 in Berlin. Hindemith hatte auf Wunsch des ihm befreundeten Geigers Kulenkampff den Violinpart verändert, was jedoch öffentlich nicht gesagt werden durfte, da Hindemith den Nazis nicht mehr genehm war.


    Ein Programm im Jahre 1937 in Berlin


    Die Uraufführung durch Georg Kulenkampf und Karl Böhm wurde als Festakt im Rahmen der Jahrestagung der Reichskulturkammer und der NS-Gemeinschaft "Kraft durch Freude" begangen. Das Programm war als "Festfolge" gestaltet:


    Wagner: Vorspiel zum 3. Akt des Lohengrin
    Goethe: Prometheus-Hymne (gesprochen durch den Staatsschauspieler Kayssler)
    Ansprache durch Robert Ley (Leiter der Deutschen Arbeitsfront)
    Ansprache durch Joseph Goebbels
    Uraufführung
    Nationalhymnen


    Am 6. Dez. 1937 folgte durch Menuhin die Aufführung in der New Yorker Carnegie-Hall mit Klavierbegleitung und am 23. Dez. 1937 in St. Louis mit Vladimir Golschmann. Er spielte die unveränderte Fassung des Urtextes. Joachims Nichte Jelly d'Aranyi spielte das Konzert am 16. Feb. 1938 in London mit Adrian Boult.


    Die letzte noch lebende Tochter von Schumann, Eugenie (1852 - 1938 ), hatte erfolglos versucht, im Interesse ihrer Mutter die Veröffentlichung zu verhindern. Auch das ist eine Frage wert, welchen Beitrag die Töchter Marie und Eugenie zur Legendenbildung um ihre Eltern geliefert haben. Sie hatten auf einen eigenen Beruf und eine eigene Familie verzichtet und ihr Leben ganz der Mutter gewidmet.


    In der damals nationalsozialistisch geführten Neuen Zeitschrift für Musik antwortete ihr 1938 in Heft 105 Robert Pessenlehner, Clara habe sich nicht gegen Joachim durchsetzen können, dem "im übrigen die Erkenntnis eines deutschen Werkes durch seine rassische Herkunft sowieso versagt bleiben musste". Pessenlehner sah die Herausgabe des Violinkonzerts in einer Linie mit der Herausgabe der Urtexte von Bruckner, Hugo Wolf und Bach, deren Werke ebenfalls durch eine Musikkritik verfälscht worden war, die kein Verständnis für deutsche Musik hatte. (Er selbst veröffentlichte 1937 ein Buch "Vom Wesen deutscher Musik").


    Yehudi Menuhins Urteil


    Menuhin war von Anfang an begeistert von dem Werk. Er antwortete dem Schott-Verlag: "Wenn Schumann dieses Konzert im Wahnsinn geschrieben hat, so möchte ich ebenfalls wahnsinnig sein."


    An Vladimir Golschmann schrieb er Juli 1937: "This concerto is the historically missing link of the violin literature; it is the bridge between the Beethoven and the Brahms concertos, though leaning more towards Brahms. Indeed, one finds in both the same human warmth, caressing softness, bold manly rythms, the same lovely arabesque harmonies. There is also a great thematic resemblance. One is struck with the fact that Brahms could never have been what he was without Schumann's influence!"


    Auch diese Fürsprache hat dem Werk jedoch keinen festen Platz im Konzertleben verschaffen können, wie Du überzeugend dokumentiert hast.


    Dem Wahnsinn nahe?


    Ich bin mir nicht mehr so sicher, ob Schumann wirklich 1853 dem Wahnsinn nahe war. Tiefe seelische Konflikte hat er immer in seiner Musik dargestellt, und es zeichnete sich eine schwere persönliche und Ehekrise ab. Aber gerade im Sept. – Okt 1853 ging es ihm sehr gut, als Joachim und Brahms in Düsseldorf erschienen und ihm völlig neue Inspirationen gaben. Wenn es Dich interessiert, lies im Klavierforum über Schumanns „Gesänge der Frühe“ weiter. Dies Werk ist nach dem Violinkonzert entstanden.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo Pius,


    von Schuberts 9. mit Toscanini bin ich allerdings etwas enttäuscht. Dagegen gefällt mir die 8. Sinfonie sehr. Toscanini spielt sie in einem unglaublichen Tempo und extremer Intensität. Ich halte seine Auffassung nicht für die einzig mögliche, bin aber begeistert, mit welcher Energie und Konsequenz er sie vorträgt. Die Steigerung im Durchführungsteil des 1. Satzes bekommt dadurch eine Aussage, die ich sonst nicht gehört habe. Ein Werk wie Schuberts 8. Sinfonie ist für mich nur vorstellbar in so entgegengesetzten Einspielungen wie Toscanini und Knappertsbusch, der das andere Extrem zeigt und die ich ebenso schätze.



    Respighi wurde schon genannt. Weitere zurecht berühmte Aufnahmen sind "La Mer" von Debussy und die 7. Sinfonie (Leningrader) von Schostakowitsch.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Pius,


    gute Idee, diesen Thread wieder zu beleben. Mich hatte die verbissene Diskussion, die hier mal geführt wurde, abgeschreckt. Toscanini habe ich kennen gelernt mit einer LP-Box, die u.a. enthielt: Beethovens 1. Klavierkonzert mit Horowitz, Schuberts 8. Sinfonie, Mendelssohns 4. Sinfonie und Dvoraks 9. Sinfonie. Das sind für mich bis heute maßstabsetzende Einspielungen.


    Von Beethoven möchte ich weiter das 3. Klavierkonzert mit Rubinstein empfehlen. Über die Eroica gab es eine legendäre Auseinandersetzung mit Furtwängler, der ein Toscanini-Konzert besucht hatte.


    Mit Opern tue ich mich generell schwer, aber das Requiem von Verdi höre ich trotz aller anderen bekannten Einspielungen am liebsten mit Toscanini. Wie dort nach dem Dies irae die Tuba mirum zu hören sind, ist für mich eins der großartigsten Stücke Musik, die ich kenne.


    Viele Grüße,
    Walter

    Ja, es gibt wohl kein anderes Stück, das so über die Jahrhunderte bis heute aktuell geblieben ist. Von den barocken Aufnahmen höre ich am liebsten:



    Auch wenn mir klar ist, dass das nicht jedermanns Sache sein wird, am besten gefällt mir aber eine jazzige Variante mit dem Tuba-Spieler Michel Godard.



    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo, liebe Bruckner-Freunde,


    gestern Abend hörte ich in Mondsee das Konzert von Peter Jan Marthé und dem European Philharmonic Orchestra mit seiner Version von Bruckners 3. Sinfonie.



    Es war beeindruckend. Dirigent und Orchester zeigten eine Begeisterung für Bruckner, die alle Erwartungen erfüllte. Nur der Paukist wachte leider erst im letzten Satz richtig auf, und im 1. Satz waren die Streicher etwas zurückhaltend. Vielleicht lag das auch an der Schwierigkeit, mit der Akustik in der Stiftskirche von Mondsee zurecht zu kommen. Eine Kirche scheint mir aber für Bruckner wirklich viel geeigneter zu sein als ein Konzertsaal. Das Orchester saß hoch gestaffelt im Altarraum. Einige Violinen und Celli waren links und rechts fast halb versteckt hinter den Säulen, als würden sie von dort gerade hervortreten. Und in der obersten Reihe ging das Blech der Bläser optisch über in den mit viel Gold barock gestalteten Kirchenraum.


    Der 1. Satz wurde recht langsam, aber sehr intensiv gespielt und klang noch sehr vertraut. Alle musikalischen Ideen werden von den Bläsern eingeführt und bestimmt. Die Streicher spielen die ganze Zeit einen durchgehenden „wogenden Untergrund“. Nur in hervorragenden Aufnahmen wie etwa mit Knappertsbusch gelingt es, ihnen den Charakter von züngelnden Flammen zu geben, die mal schwächer, mal stärker auflodern und dem Satz eine eigene Dynamik verleihen. Das war an diesem Abend kaum zu hören, und sie waren eher wie eine Kulisse, vor der sich die Bläser entfalten können.


    Deren Spiel gelang aber vortrefflich. Mal wurde wie auf einer Orgel der Klang stufenweise, oft auch wie in einem Kanon, aufgebaut, dann wieder brachen sie wild herein und ließen die dissonanten Akkorde ungemildert im Kirchenraum stehen, bis mit einem Ausdruck voller Innigkeit die Streicher und Holzbläser die Melodie aufnahmen, so dass das von Bruckner gemeinte Zwiegespräch mit dem Göttlichen sehr gut zu hören war. Das Wechselspiel von Posauen und Trompeten trug das ganze Geschehen und war mit genau den richtigen Verzögerungen gelungen, um die Akustik voll zu entfalten. Nur die Hörner leisteten sich einige Patzer. Die Hereinnahme einer Tuba (entsprechend der Pedal-Führung an der Orgel) erwies sich in dieser Umgebung als gute Idee. In der Behandlung des Orchesters waren die Lehrjahre bei Celibidache deutlich zu spüren, was positiv gemeint ist. Auch der 2. Satz fing wie gewohnt an.


    Aber dann steigerte er sich in ganz ungeahnter Weise. Die volle Wucht des Orchesters bekam fast den Charakter einer unendlichen Variation, und es war eine große Leistung der Bläser, dies durchzuhalten, ohne je angestrengt oder verkrampft zu wirken. Sie zogen erst die Streicher und dann die Pauke mit, die immer besser ins Spiel kamen.


    Deutlich war zu erkennen, wie aus verschiedenen Versionen eine Art Gesamtfassung entstanden war, die alles enthielt, was Bruckner für diesen Satz je entworfen hat. Die Länge wurde dadurch geradezu überdimensional und machte den „himmlischen Längen“ (Schumann über Schuberts 9. Sinfonie) alle Ehre. Die Schnitte waren klar zu erkennen und keineswegs verwischt. So etwas ist sicher nur bei einer Bruckner-Sinfonie möglich. Während Bruckner empfohlen worden war, seine Sinfonien zu kürzen und zu straffen, fand hier das Gegenteil statt. Insofern traf es sicher die ursprünglichen Intentionen.


    Der dritte und vierte Satz hielten sich wieder stark an die bekannten Versionen. Im 3. Satz war die Scherzo-Coda ergänzt, die allerdings noch etwas feuriger hätte gespielt werden können.


    Allerdings glaube ich, dass die Spannkraft und der lange Atem dieser Version nur von Interpreten gehalten werden können, die von solcher Leidenschaft für Bruckner erfüllt sind wie Marthé und sein Orchester. Aber gilt das nicht für alle Sinfonien von Bruckner? Marthé hat offensichtlich sich und seinem Orchester eine Version zusammengestellt, die ihnen wunderbar liegt. Mir hat es sehr gefallen. Ich bin gespannt, was Holger von dem Konzert in St. Florian berichten wird und ob es weitere Eindrücke gibt.


    Abschließend sei erwähnt, dass auch die Natur ihren Segen gab. Nach dem Konzert ging vor einem sternklaren Himmel und dem herrlichen Alpenprofil ein milde lächelnder Vollmond über dem Mondsee auf. Einige Wochen hatte das Orchester hier Quartier bezogen und geübt. Möge das Kraft geben, auf dem eingeschlagenen Weg fortzufahren.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo Lullist,


    vielen Dank für die vielen Anregungen. Ich werde sicher einige Zeit brauchen, um sie zu lesen und zu hören, wobei mich besonders die beiden Bücher zur Architektur interessieren.


    Mathematik: Mein Zugang zu dieser Zeit erfolgte bisher genau komplementär, und um so spannender ist es für mich, das alles aus einer anderen Perspektive zu sehen.


    Ich war genau umgekehrt völlig überrascht, mir vertraute Namen nun in ganz anderen Zusammenhängen wieder zu finden: Da ist der Musiktheoretiker Zarlino (1517 – 1590) der Lehrer von Vincenzo Galilei, dem Vater von Galileo Galilei. Und da entdecke ich Descartes und sein „Musicae compendium“ von 1618, das als die erste Schrift gilt, in der systematisch die Wirkung und Ausdruckskraft der Musik beschrieben wurde.


    Die Musiktheorie von Zarlino hat viele Bezüge zu den Zahlenspekulationen ihrer Zeit und alchemistischen Theorien der vier Elemente. Aber ich weiß darüber kaum mehr als die paar Seiten aus einschlägigen Werken der Musikgeschichte. Und ich würde gern weiter verfolgen, wie sich diese Ansätze entwickelt haben zu den hermetischen Ideen der John Dee, Fludd und Rosenkreuzer (alles zugleich politische Visionäre, die viel Hoffnung auf den Winterkönig gesetzt und dann entsprechend enttäuscht wurden).


    Am anderen Ende der Geschichte der Musiktheorie des Barock stehen dann Rameau und die Aufklärung mit dem Bekenntnis: »Die Musik ist eine Wissenschaft, die gewisser Regeln bedarf; diese Regeln müssen sich auf bestimmte Grundwahrheiten gründen, die wiederum nie anders als mit Hilfe der Mathematik erkannt werden können.« Aber was sage ich das dem Lullisten!


    Zurück zur Zeit des 30-jährigen Krieges: Dort ist für mich in der Geschichte der Mathematik Kepler am wichtigsten. Als er die Planetenbahnen nicht mehr mit Kreisen, sondern Ellipsen beschrieb, war das ein Bruch der Tradition. An die Stelle des leuchtenden Kreismittelpunktes und der von ihm ausgehenden Strahlen (so ja auch Dein Avatar), traten die beiden Brennpunkte der Ellipse. Die Sonne steht in einem Brennpunkt, und der andere Brennpunkt bleibt in geheimnisvolles Dunkel gehüllt. Mich beschäftigt nun immer mehr, inwiefern auch die Musik des Frühbarock vergleichbare Formen geschaffen hat, ein Wechselspiel des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Hörbaren und Verborgenen.


    Da ich, was die Musik des Frühbarock betrifft, noch ein Anfänger bin und kaum mehr als Auszüge aus dem Terpsichore von Prätorius und wenige Stücke von Sweelinck und Schütz kenne, halte ich mich aber mit weiteren Spekulationen zurück und bin gespannt, was Du noch alles zutage fördern wirst.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo Lullist,


    das Frühbarock fasziniert mich sehr. Deine Übersicht hat mir gut gefallen. Daher zwei Fragen:


    Gibt es auch CDs mit Musik aus Prag aus der Zeit vor dem 30-jährigen Krieg, also so um 1580 - 1620? Oder kannst Du Literatur über diese Musik empfehlen?


    Weiter interessieren mich die Einflüsse auf die Kompositionstechniken dieser Zeit, vor allem die Herausbildung der Fuge. Welche Querbeziehungen gibt es zu anderen Bereichen wie Literatur, Architektur und Mathematik? Welche Einflüsse sind aus Arabien und der hermetischen Philosophie nachweisbar?


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo zusammen,


    die vielen Beiträge haben mich sehr gefreut und treffen gut die Gefühle, wie es mir bei diesem Thema gegangen ist, auch dann, wenn sie in der Beurteilung in eine andere Richtung gehen.


    Heinz, hier ist die Liste der Literatur, die ich in den letzten Wochen aufgegriffen habe. Die ersten beiden Beiträge von Schnebel und Härtling hatte ich schon viel früher gelesen und jetzt nochmals vorgenommen. Am meisten beeindruckt hat mich das Buch von Eva Weissweiler, auch und gerade, weil es so deutlich Partei ergreift. Klare Standpunkte gefallen mir, wenn die Bereitschaft zu erkennen ist, die eigene Meinung auch in Frage stellen zu lassen, und diesen Eindruck habe ich bei ihrem Ansatz.


    Verblüffend gut als Einstieg ist übrigens der Artikel in Wikipedia mit weiterführenden Links und Literaturhinweisen.


    Peter Härtling: Schumanns Schatten, 1999



    Eine subjektive Sicht, die jedoch sehr zum Nachdenken und zum Einfühlen in die Person anregt. Gerade als Einstieg sicher gut geeignet. Vieles darf nicht allzu wörtlich genommen werden und zeigt stärker eine Gegenwartsbiographie denn Schumann. Das macht es aber auch wieder so anregend. Der Leser muss halt mitdenken und das rechte Maß an Distanz wahren.


    Dieter Schnebel: Rückungen - Ver-rückungen


    Psychoanalytische Betrachtungen zu Schumanns Leben und Werk
    in: Musik-Konzepte, Sonderband Robert Schumann I, 1981



    Enthält sowohl eine klare Übersicht über das Leben wie zahlreiche Werkanalysen und eine ungewöhnlich ausgearbeitete Zeitübersicht


    Eva Weissweiler: Clara Schumann: Ein Biographie, 1991



    Dort finden sich all die Fragen, die sonst nicht gestellt werden.


    Das provozierte natürlich Vorwürfe, z.B. http://www.die-tonkunst.de/dtk…Neuerscheinungen/ind.html


    Ein Interview mit der Autorin über die Biographie: http://www.vordenker.de/kollegen/evaw.htm


    Barbara Meier: Robert Schumann, rowohlt monographie, 1995



    Habe ich mehr oder weniger nur der Vollständigkeit halber angeschaut. Sehr schön wie immer in dieser Reihe die vielen Fotos.


    Dieter Kühn: Clara Schumann, Klavier – ein Lebensbuch, 1998

    Steht auf meiner Leseliste, habe ich bisher nur durchgeblättert.


    Tolstoi: Tod des Iwan Iljitsch


    In meiner insgesamt eher kritischen Haltung zu den Ärzten wurde ich nochmals bestätigt durch Tolstoi. Das hat nichts mehr direkt mit Schumann zu tun, aber sehr viel mit dem Verhältnis von Krankheit und Politik. (Sehr preiswert zu erhalten bei Reclam.)


    Beim Surfen durch das Internet fand ich diese Seiten mit zum Teil recht konträren Standpunkten:

    http://www.medical-tribune.at/…dsmid=65758&dspaid=499666


    http://www.wissdok.com/medhis/psychpath.html


    http://www.poxhistory.com/work4.htm


    http://zeus.zeit.de/text/2005/07/R_Schumann


    http://www.geocities.com/Athens/Rhodes/9533/facts.html


    http://people.morehead-st.edu/students/bk/bakalb01/


    http://www.pharmazeutische-zeitung.de/pza/2003-23/meran1.htm


    http://bird.musik.uni-osnabrueck.de/hcs/biographie.html


    http://www.diegeschichteberlin…lichkeitenhn/joachim.html


    http://www.geocities.com/Vienna/7710/brahms.html


    Lieber Ulli, die Botschaft mit dem Foto von Schumanns Sterbehaus und der 83-jährigen besten Freundin ist angekommen. Ich bin sicher, dass eine solche Umgebung eine tiefe Wirkung ausübt. Es würde mich interessieren, falls Du in Worte fassen kannst, was davon an Eindrücken zurückgeblieben ist. Eva Weissweiler erwähnt die anderen – fast hätte ich gesagt: Insassen – auch. Clara und Robert kannten Alfred Rethel schon aus Dresden und hatten ihn nach 1851 in Aachen besucht, wo er die Decken des Kaisersaals ausmalte.


    „Seine Holzschnittfuge über die Revolution von 1848 war zu einem regelrechten Volksbuch geworden. Er hatte darin die Revolution als Tod und die Revolutionäre als Verführte dargestellt. Das Bild, wie sich der Tod die Kapuze vom Kopf reißt und den nackten Schädel zeigt, war von schauerlicher Ausdruckskraft, hatte aber den Vater von Rethels Braut, Herrn Professor Grahl, zu der Überzeugung gebracht, er sei nicht ganz richtig im Kopf und gehöre eigentlich in ein Irrenhaus, jedenfalls nicht an die Seite seiner Tochter.“ (S. 277)


    Das Bild hat mich angeregt, im Internet nach weiteren Darstellungen zu suchen, und einen wahren Reigen von Totentänzen eröffnet, vom tiefsten Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Ein ganz anderer Aspekt zum Thema Musik, Krankheit und Politik. Ich greife nur ein Beispiel heraus, wo der Bezug zur Musik besonders deutlich ist:



    Salomon Rusting: Het Schouw-Toneel Des Doods. Amsterdam 1707



    Ihr seht, das Thema lässt mich nicht los,


    Viele Grüße.
    Walter

    Hallo Heinz,


    Du triffst den heikelsten Punkt, der mich auch am meisten geschockt hat bei der Vorbereitung dieses Beitrags. Am auffallendsten ist für mich, dass in dieser Frage im Grunde nichts als gesichert gilt. Ulli, Du hast recht: Dies ist „wahrlich ein gefundenes Fressen für Phantasie, Spekulation und Wahrheit!“ Und die These meines Beitrags ist: Es ist kein Zufall, dass gerade um Robert Schumann solche Vermutungen über Krankheit und Genie ranken. Daher das Thema: „Musik, Krankheit und Politik“.


    Aber mir ging es wie Euch, dass ich überhaupt erst einmal verstehen wollte, was von den üblicherweise bekannten Bruchstücken über die Biographie sicher ist.


    1. Bis heute ist umstritten, ob Schumann überhaupt Syphilis hatte. Es wird vermutet, dass er sich 1831 angesteckt hat, also lange vor seiner Heirat mit Clara. Friedrich Wieck wusste genau um Schumanns Lebenswandel, schließlich lebte dieser in den kritischen Jahren in dessen Haus und war 1834 mit seiner Schülerin Ernestine von Fricken verlobt. Im Grunde ist dem alten Wieck nicht ganz zu verdenken, was er gegen eine Heirat seiner Tochter mit einem Mann hatte, dessen Ausschweifungen er aus nächster Nähe miterleben konnte. Allerdings hätte er sehen müssen, was noch in Schumann steckte und warum sich seine Tochter trotzdem in ihn verliebt hatte. --- Die wichtigste Quelle ist Schumann selbst, der nach einem Bericht des behandelnden Arztes Dr. Richarz in der Nerven-Heilanstalt am 12.9.1855 aufgeschrieben hat, dass er sich an Syphilis angesteckt hat. Aber ist sicher, ob das nicht nur eine Angst war? Ist sicher, dass er das wirklich aufgeschrieben hat: Um diese Zeit wurden Stimmen laut, die an seiner Krankheit zweifelten, z.B. von Bettina von Arnim, die ihn im Mai 1855 besucht hatte. - Ich habe auch eine Spekulation gelesen, die Lähmung des Fingers könne auf eine Arsenik-Behandlung gegen Syphilis 1832 zurückzuführen sein.


    2. Nach seinem Selbstmordversuch ist Schumann eingeliefert wurden, weil er „Melancholie mit Wahn“ hatte. Wären die Nervenheilanstalten nicht etwas voller, wenn jeder mit diesem Krankheitsbild dort sitzen würde? Clara verwies zur Begründung auf die Berichte in ihrem eigenen Tagebuch über seine Halluzinationen. Einen ausführlicher Bericht über die Halluzinationen hat sie jedoch erst Wochen später ergänzt, als er bereits in Bonn-Endenich war. Im übrigen hat sie dies Tagebuch später verbrannt, und außer dem ersten Biographen Berthold Litzmann hat es niemand eingesehen.


    3. Es gibt verschiedene Berichte, die Schumann als völlig gesund bezeichnen. Auch Ullis Eindruck von Schumanns spätem Brief bestätigt das.


    4. Sophia: Clara hat Robert nicht wenig, sondern bis kurz vor seinem Tod nie besucht, nicht einmal zu seinem Geburtstag. Weihnachten 1854 gingen weder sie noch Brahms mit, als Joseph Joachim Schumann nicht allein lassen wollte und ihn besuchte.


    5. Der andere Schock bezieht sich auf die Kinder. Julie, 1845 geboren, starb bereits 1872. Das junge Mädchen war Brahms von Anfang an ans Herz gewachsen. Clara hatte sie dann schon 1854 nach Berlin zu ihrer Mutter gegeben und nicht einmal zu Weihnachten eingeladen. Felix, der der Sohn von Brahms sein könnte, starb 1879. Clara schrieb im Brief mit der Todesnachricht an Brahms: „Felix hatte eben Talent zu Vielem, aber in keiner Sache besondere Begabung“. Ludwig, 1848 geboren, kam wie sein Vater in eine Nervenheilanstalt. Als Clara ihn dort 1873 besuchte, wirkte er so gesund, dass der Anstaltsdirektor ihr anbot, ihn wieder abzuholen. Sie ging darauf nicht ein. Er sollte sie bis zu seinem Tod 1899 nicht mehr sehen.


    Das klingt alles so extrem, dass es kaum zu glauben ist. Auf persönlicher Ebene verbirgt sich eine tiefe Ehekrise dahinter, die aber sicher auch anders hätte gelöst werden können. Scheidungen gab es auch schon im 19. Jahrhundert. Claras Eltern hatten sich scheiden lassen, als sie 4 oder 5 Jahre alt war (danach war sie dann ganz der Erziehung ihres Vaters ausgeliefert).


    All diese biographischen Details haben angeregt zu dem Boom an Schumann-Literatur, der seit einiger Zeit zu beobachten ist. Aber um an den Anfang zurückzukommen: Meine These geht weiter, und die mindestens ebenso großen Fragen bei Schumann schließen sich an das an, was Nietzsche geschrieben hat, wie Schumann von den anderen Komponisten und den von ihm bekämpften Philistern gesehen wurde.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    das erste große Konzert, das ich erlebte, wurde mit Schumanns 2. Sinfonie eröffnet, gespielt von Celibidache und dem Schwedischen Rundfunksinfonieorchester. (Es folgten Ravels „Rhapsodie Espagnole“ und das „Konzert für Orchester“ von Bartok.) So etwas prägt. Seither beschäftigt mich die Eigenart dieser Sinfonie und überhaupt die Musik von Schumann. Abgesehen von wenigen eingängigen Stücken, etwa aus den „Kreisleriana“, geht von ihr nie etwas aus, woran sich gewöhnen ließe. Schumann ist schwierig, und doch von einer besonderen Anziehungswirkung.



    Clara und Robert Schumann 1847, im Jahr der Uraufführung der 2. Sinfonie


    Die Sinfonie steht am Scheitelpunkt eines sehr bewegten Lebens. Sie wirft so viel interessante Fragen auf, dass dafür ein eigener allgemeinerer Thread besser geeignet ist.


    Schumann (1810 – 1856) hatte 1844-45 eine tiefe Depression durchlitten. Sein bester Freund Mendelssohn war nach Berlin zurückgegangen, er hatte die Herausgabe seiner „Neuen Zeitschrift für Musik“ aufgegeben, war nach Dresden umgezogen und sah sich mit der Tatsache konfrontiert, für den Lebensunterhalt auf die Einnahmen von Claras Konzertreisen angewiesen zu sein. Ende 1845 schien eine Wende in Sicht. Auch die Aufbruchstimmung kurz vor der 1848er Revolution mag dazu beigetragen haben. Schumann hatte mit seiner Zeitschrift erfolgreich an der Vormärz-Bewegung teilgenommen und war bei Mendelssohn, Liszt und Chopin anerkannt.


    Doch schon 1847 verdüsterte sich für Schumann wieder alles, nachdem Fanny und Felix Mendelssohn überraschend gestorben waren. Er sollte nicht mehr zu sich selbst finden. 1850 Umzug nach Düsseldorf. Als dort mit der Freundschaft zu Joseph Joachim und Brahms, den Vertretern einer neuen Generation, ein neuer Lebensanfang möglich schien, stürzte ihn dies nur in eine tiefe Ehekrise, und nach einem Selbstmordversuch 1854 starb er 1856 in der Nerven-Heilanstalt Bonn-Endenich.


    "Die Symphonie schrieb ich im Dezember 1845 noch krank; mir ist´s als müßte man ihr dies anhören" "Ich skizzierte sie, als ich physisch noch sehr leidend war, ja ich kann wohl sagen, es war gleichsam der Widerstand des Geistes, der hier sichtbar influiert hat und durch den ich meinen Zustand zu bekämpfen suchte." "Im letzten Satz fing ich an, mich wieder zu fühlen."


    Clara schreibt anlässlich einer Aufführung 1847: „Mich erwärmt und begeistert dies Werk ganz besonders, weil ein kühner Schwung, eine tiefe Leidenschaft darin ist, wie in keinem anderen von Roberts Werken.“


    Sie mit Celibidache zu hören, bringt für mich besser als die anderen Aufnahmen die Gefühle zum Klingen, die Schumann in einem Moment der Hoffnung und des euphorischen Aufbruchs auszudrücken vermochte. Manchmal stört es mich, wenn Celi in die Musik hineinschreit, aber hier passt es wunderbar und wird dann aufgefangen vom himmlischen Gesang der Streicher im langsamen Satz. Da ist zu spüren, von welchen Halluzinationen Schumann heimgesucht wurde. Und ohne jeden Zwang erschließen sich die Gefühle der anderen Sätze, der unsichere erste, die Ruhelosigkeit des zweiten und schließlich der Triumph des letzten, aus dem doch schon herauszuhören ist, wie er in die nächste Depression umschlagen wird.


    Aber Schumann hörte nicht nur Engel, sondern auch Dämonen. Seine Seele war auch von Feuer geschlagen. Und daher ist als Gegenstück Mitropoulos ein Muss. Hier brennt jeder einzelne Takt und über das Ganze breitet sich eine Angst, die die andere Seite von Schumann hören lässt.


    Viele Grüße,
    Walter