Beiträge von Walter.T

    Lange fehlten mir die rechten Worte für die "Insekten-Sonate", die "Triller-Sonate" von Skjrabin, und dann kamen sie wie von selbst bei einem kurzen Urlaub in Frankreich über das Radio. Dominique Jameux brachte am 22. April 2007 bei Radio France Musique einen Beitrag "Rupture : Emission Scriabine / La Fontaine", in dem er einen Großteil der Skrjabin-Einspielungen auf der Horowitz-CD entlang der Fabel "Die Landkutsche und die Fliege" (Le Coche et la mouche) von Jean de La Fontaine interpretierte.



    Salvador Dali (1904- 1989): Le Coche et la mouche (1974)


    Skrjabin hat natürlich eine ganz andere Sicht auf diese Fabel als Dali. Ein Leben lang hat er komponiert, bis ihm die letzten Werke gelangen, die gleichzeitig entstanden sind, unter ihnen hervorzuheben die 10. Sonate und "Vers la flamme", op. 72.


    Da steigt bei sengender Hitze eine Kutsche gezogen von 6 Pferden den Berg hinauf. Zeit, Luft und alle Gefühle scheinen in langsam kreisender Bewegung still zu stehen. Wie läßt sich das besser beschreiben als mit Skrjabins Prélude opus 67 Nr. 1 oder den beiden Préludes opus 59 Nr. 1 und 2?


    In der Kutsche sitzen ein Weib, ein Greis und ein Mönch. Wie so oft auch in Erzählungen von Maupassant bringt die Reise Personen in ein gemeinsames Abenteuer zusammen, die einander sonst kaum begegnet wären. Aber nun muss der Mönch sein Brevier beiseite legen, die Frau zu singen aufhören. Alle müssen aussteigen und helfen, die Kutsche zu schieben. Der Schweiß steht ihnen auf der Stirn.


    Wäre das nicht schon genug, kommt eine Fliege geflogen, summt den Pferden um die Ohren, sitzt mal auf der Deichsel und dann auf der Nase des Kutschers, bringt durch ihre Aufgeregtheit und Geschäftigkeit alles in mürrische Bewegung, und glaubt auch noch, dank dieser Leistung sei ihr gelungen, die Kutsche wieder in Fahrt zu setzen und schließlich auf dem Berg anzukommen.


    Als alles sich erschöpft ausruht, bläht sie sich auf, sonnt sich und erwartet Dank von allen Seiten. Dazu erklingt die Etude opus 8 Nr. 12, die "Sturmvogel-Etüde", nun in völlig konträrer Bedeutung.


    Oder doch nicht? Ist alles revolutionäre Wirken des Menschen nichts anderes als solche Überheblichkeit einer Fliege, im Glauben, der Mensch könne die Schöpfung umwenden? Oder hat Dali recht, dass sich zwar alle über die Fliege ärgern, und sie dennoch mit ihrer unbekümmerten Munterkeit alle ein wenig aus ihrer zähen Trägheit gerissen hat?


    Jameux sieht bei La Fontaine wie bei Skrjabin hinter dem Moralisieren beißenden Spott, einen verzweifelten Anblick der menschlichen Nichtigkeit. Nach dem Verlust des Glaubens bleibt ihnen nur noch die Sucht, sich in religiösem Eifer oder pseudo-religiösen Gefühlen entflammen zu lassen. Sie verbrauchen ihre letzte Kraft der Hoffnung im leeren Flügelschlagen zum gleißenden Licht, beim Trillern der Musik. Es ist ein stechender Rhythmus, der hinter den Versen von La Fontaine und in der Musik von Skrjabin wie eingebrannt ist. - Ich mag jedoch - um all das ein wenig zu relativieren - die freudigere Sicht von Dali nicht missen, und sehe ein wenig davon auch bei Fontaine und Skrjabin umgesetzt.


    Um das Gemeinsame von La Fontaine und Skrjabin zu zeigen, wählt Jameux als Drittes die Bagatelle opus 9 Nr. 1 von Anton Webern, gespielt vom Emerson Quartett.


    Skjrabin ging seinen Weg zuende. Seine Stücke zeigen zugleich den ständigen Aufstieg in die Höhe wie depressives Absinken in das Dunkle. Das ist schließlich vollendet in der 10. Sonate opus 70.


    Referenzaufnahme ist zweifellos Vladimir Horowitz. Eine echte Alternative ist die frühe Einspielung von Igor Shukov.


    Bonne nuit, Walter

    Von Markevitch habe ich im Laufe der Zeit so viel gesammelt wie möglich und wurde nicht ein einziges Mal enttäuscht. Neben den bekannten Aufnahmen, zu denen sicher auch die Mozart-Klavierkonzerte mit Clara Haskil und Berlioz' Sinfonie fantastique zu zählen sind, ist Beethovens 9. und Mahlers 1. zu erwähnen.


    Seine Einspielung von Mahlers 1. ist für mich der von Scherchen ebenbürtig. Der 2. Satz kommt so munter und doch zupackend daher. Die unterschiedlichsten Schlagwerke im 3. Satz sind ausgeleuchtet wie sonst nie. Das bestätigt ganz den einleitenden Text "vom Glühen der Strukturen". Und der letzte Satz wird der Bezeichnung "stürmisch bewegt" in bester Weise gerecht.


    Giselher, vieles aus deiner Präsentation war mir neu. Sehr schön, so viel über einen Dirigenten zu erfahren, der mir wichtiger ist als die meisten anderen.


    Viele Grüße, Walter

    Liebe Mimi,


    das Gemälde von Hans Baldung zeigt wirklich sehr gut das andere Extrem der Spannung, innerhalb derer Schubert sein Lied und die Variationen im Streichquartett geschrieben hat.


    Ich sehe Klimt nicht als Illustration von Schubert, sondern sein Bild soll zeigen, wie sich das Thema „Der Tod und das Mädchen“ weiter verändert hat. Das ist eine völlig andere Sicht als Schubert. Ob dies eine alte Frau ist, wage ich an dem Bild nicht zu erkennen. Es kann auch eine junge Frau sein, die durch Leid und Krankheit vorzeitig gealtert ist. Und der Tod ist nicht mehr direkt zu sehen, sondern vervielfacht und ungreifbar geworden in dem Reigen der Totenköpfe im Hintergrund des Bildes.


    (‚Kurzstückmeister’, ähnlich verstehe ich auch das Schubert-Bild von Klimt. Das war eine bewusste Provokation, die genau den Punkt trifft, wie fremd Schubert in einer Gesellschaft des Scheins und des Luxus geworden ist. Die „Kokotten“ sind die Urenkelinnen der Zuhörerinnen bei den Schubertiaden, und doch haben viele von ihnen, die sich in der Metternich-Restauration bei Kunst und Kerzenschein schön und bequem eingerichtet haben, schon den Geist ihrer Nachfolgerinnen vorweggenommen. Schubert litt sehr darunter.)


    Schuberts „Tod und das Mädchen“ enthält beides, die alte Angst vor dem Tod als Sensenmann und die Ahnung einer neuen Angst vor dem Tod als Auflösung der Persönlichkeit.


    Gestern abend habe ich wieder die Aufnahme mit dem Hagen-Quartett gehört, nicht die CD, sondern eine Aufnahme aus dem Radio von dem Konzert in Schwetzingen. Vielleicht veröffentlicht ja der SWR mal diesen Schatz in seinem Musikarchiv. Das ist einer der seltenen Fälle, wo auch beim wiederholten Anhören nichts von dem besonderen Charakter des Live-Konzerts verloren geht, an das ich mich heute erinnere, als wäre es gestern gewesen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Marburg 1972. Eine Woche avantgardistischer Jazz. Einige gute Musiker, zum Beispiel Joachim Kühn, der aufhorchen ließ. Aber im ganzen gepflegte Langeweile. Die meisten waren gekommen, weil so ein Programm sonst nie in Marburg geboten wurde, und schienen sich damit abzufinden. Zahlreiche Gruppen waren in ein Programm gepackt, und so gegen Mitternacht war die Stadthalle nur noch gut halb gefüllt. Vielen hatten sich ins Foyer zurückgezogen und waren beim dritten oder vierten Bier angekommen. Die meisten Zuhörer wirkten erschöpft und hingen in den Sesselreihen.


    Dann kam Peter Brötzmann


    Ein Ton aus dem Bassaxophon, und alle waren hellwach. Ich hatte vorher kaum Jazz gehört. So etwas hätte ich mir nie vorstellen können. Das war eine Gewalt im Klang, dass es niemanden auf den Sesseln hielt. Die Gruppe hielt dies nicht mehr als eine Stunde durch, aber seither bin ich von dem Möglichkeiten überzeugt, die im Jazz stecken, selbst wenn es immer wieder Flauten gibt, die mehr rückwärts orientiert sind.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    Schuberts Melodie klingt wie ein altes Volkslied, irgendwo auf dem Land entdeckt und aufgegriffen, und ist doch auf den Text eines Aufklärers aus Hamburg geschrieben.


    Matthias Claudius (1740 - 1815) schrieb 1796 das Gedicht nach dem Tod der erst 21-jährigen Tochter, nachdem bereits vorher ein Sohn gestorben war.


    Mädchen. Vorüber! Ach, vorüber
    Geh, wilder Knochenmann!
    Ich bin noch jung! Geh Lieber!
    Und rühre mich nicht an.

    Tod. Gieb deine Hand, du zart und schön Gebild!
    Bin Freund, und komme nicht zu strafen.
    Sei gutes Muths! ich bin nicht wild,
    Sollst sanft in meinen Armen schlafen!


    Welche Intuition hat Schubert dazu geführt, in der Zwiesprache von Tod und Mädchen das innerste Geheimnis der musikalischen Zeit zu entdecken: Jugendlichkeit, Todesverfallenheit, weibliche Anmut, suggestive Selbstberuhigung durch kreisende Figuren? Mit welcher Verzweiflung mussten die ihm nachfolgenden Komponisten einsehen, dass das nicht mehr zu wiederholen war. Oder ist es nicht so, dass die Melodie weiter klingt im langsamen Satz von Bruckners 4. Sinfonie, im gespenstischen 2. Satz in Mahlers 2. Sinfonie? Wie oft haben Hugo Wolf und Gustav Mahler ähnliche Melodien schreiben wollen? Unvergesslich das Konzert mit dem Hagen-Quartett 1987 in Schwetzingen.


    Ist es stattdessen Gustav Klimt gelungen, sowohl Schubert wie die vom Tode in überirdischer Schönheit gezeichneten Mädchen zu malen?



    Gustav Klimt: Beethoven-Fries 1902, Auszug aus dem mittleren Teil


    Hier ist der Sog der Verräumlichung geradezu mit Händen zu greifen. Ausgezehrt verliert die totkranke Frau alle Körperlichkeit und wird maskenhaft. Ihr Alter ist nicht zu bestimmen. Der Tod hat sich gewandelt von einer personalen Gestalt, in der noch bei Matthias Claudius das Mädchen und der Tod miteinander sprechen, über die verführerische Melodie bei Schubert zu einer rhythmisierten, ornamentalen Gestaltung des Hintergrunds. So ist er allgegenwärtig, und doch ist es unmöglich, ihm gegenüber zu treten. Der Tod - und mit ihm das Musikalische - ist räumlich geworden, und es gibt keine Möglichkeit mehr, sich ihm in musikalischer Zeit, mit betörenden oder beschwörenden Melodien zu nähern oder gar ihn zu bannen.


    Was unter solch veränderten Bedingungen der Musik übrig bleibt, das zeigt die "Geschichte des Soldaten" von Strawinsky. Auch er will dem Tod aufspielen, um das geliebte Mädchen zu erobern und dem eigenen Tod zu entgehen. Das misslingt gänzlich. Am Ende triumphiert die leere Motorik des teuflischen Schlagzeugs.


    Adorno verstand die "Geschichte des Soldaten" (und nicht das "Sacre du Printemps") als Strawinskys Hauptwerk. Von hier entwickelt er in seiner "Philosophie der neuen Musik" die These: Nach Beethoven hat die Musik die Fähigkeit zur "dialektischen Auseinandersetzung mit dem musikalischen Zeitverlauf" verloren, "die das Wesen aller großen Musik seit Bach ausmacht". Strawinsky ist ein Beispiel für den seither eingetretenen Verfall: "Musik weiß von keiner Erinnerung und damit von keinem Zeitkontinuum der Dauer. Sie verläuft in Reflexen."


    Seit Debussy zum Impressionismus und Strawinsky zum Kubismus zählten, zeigt das eine "Pseudomorphose der Musik an die Malerei". Die moderne Malerei vermag das Lebensgefühl der neuen Zeit besser zu treffen, und die Musik läuft nur hinterher. Sie entwickelt keine eigenen Ideen mehr, sondern zerfällt in eine unendliche Beliebigkeit von Stilen und wird unhörbar. Sie verliert ihre subjektive integrierende Kraft und wird schließlich schizophren in einem medizinischen Sinn: Adorno spricht von Hebephrenie (ein 1871 von Erich Hecker eingeführter Begriff), worunter er in diesem Zusammenhang versteht, dass bei aller Sucht nach ständig neuen Reizen und Sensationen der eigene Körper doch immer nur als fremd wahrgenommen werden kann.


    So geht es auch den Komponisten. Sie finden keine Antwort auf den Prozess der Verräumlichung, der ihnen die elementaren musikalischen Mittel entzieht. Entweder werden sie zu Ingenieuren der Tonkunst, verstehen mit "visueller Musik" die Verräumlichung ganz wörtlich, oder sie versuchen die Töne der modernen Zeit, die exotischen Klänge, den Jazz und den Punk, pure Großstadtgeräusche und maschinell erzeugte Effekte, in immer unverbindlichere Werke zu montieren.


    Wer will bezweifeln, dass Adorno etwas Wahres trifft: Die Spaltung in polare wenn nicht multiple Figuren bei Schumann und die Wahnbilder bei Berlioz waren erste Anzeichen. Doch sind Adornos Texte ihrerseits Symptom der von ihm beschriebenen Entwicklung: Seit einmal begonnen wurde, mit psychiatrischen Begriffen Kunst- und Musikstile zu beschreiben, ist ein diffamierender Unterton in die Diskussion gekommen, der es liebt, seinen Gegner nicht mehr als Persönlichkeit anzuerkennen, sondern als "Fall" zu verzerren und zu überführen, bis nichts übrig bleibt als karikaturhafte Spottgestalten.


    Wie in der Musik das Endergebnis aussehen kann, zeigt das 1970 komponierte Streichquartett "Black Angels" von George Crumb. Er zitiert Schuberts Melodie und konfrontiert sie brutal mit Stücken hart an der vom Ohr zu ertragenen Schmerzgrenze (zu erhalten über die CD des Kronos Quartett mit dem gleichen Titel). Schubert hatte das vorweggenommen. Das Scherzo seines Streichquartetts kann nicht hart genug gespielt werden, bevor das Finale in seine Zerklüftungen auseinanderbricht. Auch hier hat das Hagen-Quartett Maßstäbe gesetzt.


    Viele Grüße und Adieu,


    Walter

    Hallo 'Violoncellchen',


    das ist eine faszinierende Reihe, die du gestartet hast. Und 'Draugur' hat recht, der "Arme Spielmann" sollte ergänzt werden. Oder möchtest du dich auf Gedichte konzentrieren? Für mich ist diese Erzählung voller Poesie.


    Ein Auszug. Der Erzähler begegnet dem Spielmann auf dem Weg zu einem Volksfest, einem "saturnalischen Fest" am Brigittenkirchtag.


    Endlich--und er zog meine ganze Aufmerksamkeit auf sich--ein alter, leicht siebzigjähriger Mann in einem fadenscheinigen, aber nicht unreinlichen Molltonüberrock mit lächelnder, sich selbst Beifall gebender Miene. Barhäuptig und kahlköpfig stand er da, nach Art dieser Leute, den Hut als Sammelbüchse vor sich auf dem Boden, und so bearbeitete er eine alte vielzersprungene Violine, wobei er den Takt nicht nur durch Aufheben und Niedersetzen des Fußes, sondern zugleich durch übereinstimmende Bewegung des ganzen gebückten Körpers markierte. Aber all diese Bemühung, Einheit in seine Leistung zu bringen, war fruchtlos, denn was er spielte, schien eine unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie. Dabei war er ganz in sein Werk vertieft: die Lippen zuckten, die Augen waren starr auf das vor ihm befindliche Notenblatt gerichtet ja wahrhaftig Notenblatt! Denn indes alle andern, ungleich mehr zu Dank spielenden Musiker sich auf ihr Gedächtnis verließen, hatte der alte Mann mitten in dem Gewühle ein kleines, leicht tragbares Pult vor sich hingestellt mit schmutzigen, zergriffenen Noten, die das in schönster Ordnung enthalten mochten, was er so außer allem Zusammenhange zu hören gab. Gerade das Ungewöhnliche dieser Ausrüstung hatte meine Aufmerksamkeit auf ihn gezogen, so wie es auch die Heiterkeit des vorüberwogenden Haufens erregte, der ihn auslachte und den zum Sammeln hingestellten Hut des alten Mannes leer ließ, indes das übrige Orchester ganze Kupferminen einsackte. Ich war, um das Original ungestört zu betrachten, in einiger Entfernung auf den Seitenabhang des Dammes getreten. Er spielte noch eine Weile fort. Endlich hielt er ein, blickte, wie aus einer langen Abwesenheit zu sich gekommen, nach dem Firmament, das schon die Spuren des nahenden Abends zu zeigen anfing, darauf abwärts in seinen Hut, fand ihn leer, setzte ihn mit ungetrübter Heiterkeit auf, steckte den Geigenbogen zwischen die Saiten; "Sunt certi denique fines", sagte er, ergriff sein Notenpult und arbeitete sich mühsam durch die dem Feste zuströmende Menge in entgegengesetzter Richtung, als einer, der heimkehrt. ( Quelle )


    Die Erzählung führt in die tiefsten Fragen der Musik, mit viel bitterer Ironie.


    Auf dem Klappentext der Reclam-Ausgabe ein Zitat von Franz Kafka, das alle weiteren Kommentare erspart:


    "Der 'arme Spielmann' ist schön, nicht wahr? Ich erinnere mich, ihn einmal meiner jüngsten Schwester vorgelesen zu haben, wie ich niemals etwas vorgelesen habe. Ich war so davon ausgefüllt, daß für keinen Irrtum der Betonung, des Atems, des Klangs, des Mitgefühls, des Verständnisses Platz in mir gewesen wäre, es brach wirklich mit einer unmenschlichen Selbstverständlichkeit aus mir hervor, ich war über jedes Wort glücklich, das ich aussprach."


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo ‚Blackadder’


    die ironische Botschaft ist angekommen. Dennoch: Kaum ein Thema ist so interessant, komplex und zugleich emotionsgeladen wie dieses. Darin ist es dem Thema „Frömmigkeit“ gar nicht so unähnlich, wie ich selbst ja kürzlich erleben musste. Schwer zu sagen, ob ein Diskussionsforum dafür geeignet ist und ein persönliches Gespräch ersetzen kann. Dennoch will ich versuchen, ein paar Gesichtspunkte beizusteuern.


    Sicher: Ironie ist eine Notwendigkeit, wenn es sonst nicht möglich ist, offen seine Meinung zu äußern, so zum Beispiel unter Metternich oder Stalin.


    Ironie ist in der Regel eine notwendige und befreiende Phase während des Erwachsen-Werdens, wenn eigene Selbständigkeit an die Stelle eines nichts hinterfragenden Grundvertrauens an die vorgefundenen Autoritäten tritt. Ironie hat daher viel mit Frechheit und Lässigkeit (Coolness) zu tun und richtet sich gegen Selbstgefälligkeit, Langeweile, innere Leere, Doppelmoral. Ohne solche Ironie würde alles erstarren. In diesem Sinn kann Erwachsen-Werden auch eine gesellschaftliche Entwicklungsstufe sein, siehe die Ironie des Sokrates gegen die Sophisten oder der Aufklärer gegen die kirchlichen Institutionen.


    Heute ist Ironie jedoch zu einem eigenen Lebensgefühl geworden, und wer nicht mitmachen will, erlebt die typischen Reaktionen, die jedem Non-Konformisten entgegenschlagen (wo ironischerweise inzwischen alle sich als Non-Konformisten verstehen). Gibt es zum Beispiel noch Werbung, die nicht in diesem Sinn ironisch ist und damit bestens ihre Produkte verkauft? Und es zeichnet sich ab, wie die nächsten Generationen ihrerseits einen Weg finden müssen, gegenüber der dauerhaft gewordenen Ironie ihrer Lehrer und Eltern selbständig zu werden. Wie es dazu gekommen ist, darauf habe ich keine klare Antwort und will daher hier erst einmal nur diese Frage aufwerfen.


    In der Musik sehe ich die „Sinfonie fantastique“ von Berlioz als den Wendepunkt. Mit wie viel Ironie beschreibt er seine eigenen Liebesenttäuschungen, und vor allem die ironische Grundhaltung gegenüber solchen Rückschlägen. Ihm wurde vom „Zeitgeist“ seiner Zeit nahegelegt, sich mit Phantasie darüber zu erheben und nichts zu schwer zu nehmen. Diese Sinfonie ist für mich das bisher beste Beispiel, das Gelingen und Misslingen der Ironie in einem darzustellen, enthält also auch viel Ironie gegenüber der eigenen Ironie und zeigt die Uferlosigkeit einer ironischen Einstellung. Nach Berlioz klingt viele Musik unfreiwillig ironisch, angefangen bei Wagner, und macht es schwer, Musik zu schreiben, die nicht mehr ironisch ist.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, liebe Freunde der Musik von Schubert,


    gern nehme ich die Idee von 'observator' auf, endlich den einzelnen Klaviersonaten von Schubert das gebührende Recht zukommen zu lassen. Für meine Annäherung an Schubert ist die c-Moll Sonate ein Schlüsselstück geworden. Das Finale hat eine Dynamik, die einen so schnell nicht wieder los läßt.


    Die Sonate ist als Eröffnung der 3 zusammenhängenden späten Sonaten im Jahr nach Beethovens Tod gedacht, Schuberts letztem Lebensjahr, 1828. Er hatte im Jahr zuvor mit der "Winterreise" endgültig seine eigene Aussage gefunden. Die Große C-Dur Sinfonie war erfolgreich abgeschlossen, und er konnte nun frei neue Wege gehen. Wirklich ganz frei? Er war sich der tödlichen Krankheit immer bewusst, die er sich 1822-23 zugezogen hatte. In gründlichen Vorarbeiten wurden alle 3 Sonaten gemeinsam entworfen und stellen ein einheitliches Werk dar. Die c-Moll Sonate übernimmt als eröffnendes Stück am stärksten den Rückblick auf Beethoven.


    Bei den ersten Klängen scheint jedoch Schumann zu hören, der von diesen Sonaten überaus begeistert war und sie "auffallend anders als die anderen" fand. Der langsame Satz zitiert sowohl Beethoven, wie auch in den unerbittlich pochenden Stellen die Verzweiflung der Winterreise zu spüren ist. Das Menuetto ruft fast noch einmal die längst vergangene frühere Unbeschwertheit wach.


    Und nachdem all das gegenwärtigt ist, schließt ein ganz ungewöhnliches Finale. Da ist wieder etwas Beethoven, mal die Sturm- und mal die Waldstein-Sonate, aber ein völlig überraschender Rhythmus, der sich in keine Musikepoche einpassen will. Eine Tarantella, die wie kaum etwas anderes von Schubert auch aus dem 20. Jahrhundert kommen könnte. Die Musik erreicht einen Schwebezustand, entschwindet und kommt von woanders wieder her, taucht auf und geht unter, bleibt stehen und sprudelt über, täuscht Freudigkeit vor und ist doch in Moll gehalten, bringt ein neues festes Thema, wo eine Verarbeitung der etwas leichten ersten beiden Themen erwartet werden könnte. Ist das nun ein Rondo oder eine Sonate? Immer an der Grenze zur Improvisation.


    Das Stück hält sich an keine feste Zeitordnung. Gülke schreibt in seinem Buch über Schubert von der "Diskretion, mit der sie den Zeitlauf durchschimmern läßt und ebensowohl eindeutig konsekutive Momente wie überstarke Prägnanz meidet, welche alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, sich vor den Hintergrund des Zeitlaufs schieben und als einzige Realität erscheinen könnte. ... die eigentümliche Indifferenz der thematischen Gestalten, denen man nicht glaubt, daß sie unbeschwert-verspielt daherkommen, das ziellos Geschäftige, und mittendrin das Sirenenhafte, die 'elbische' Verlockung des H-Dur-Themas. In dieser Musik ist nichts festgeschrieben. ... Glaubwürdig erscheint sie am ehesten, weil sie die eigene Glaubwürdigkeit in Zweifel zieht."


    Mit den Liedbegleitungen war es ihm ganz zwanglos gelungen, im Fluss der Melodie Zeit und Raum vergessen zu lassen. Ihm gelingt mühelos, die Tradition deutscher Liedvertonungen seit Luther zu vollenden. Luther hatte begonnen, den besonderen Rhythmus der deutschen Sprache in seiner Bibelübersetzung und seinen Chorälen zum Tragen zu bringen (Georgiades spricht von der Betonung auf der jeweils bedeutungsschweren Silbe, und den Auftakten und Abtakten im Sprachfluß, z.B. Abtakte bei Váter, Lében und Auftakte bei begréifen, herúnter). Beeinflusst von der völlig frei gewordenen Kompositionstechnik in Italien, hatten erst Schütz und dann Bach verstanden, immer kunstvollere deutsche Textvertonungen zu schreiben. Doch sie blieben noch im traditionellen Geist der Kirche bzw. höfischen Musik. Das änderte sich mit der Klassik. Beethoven gelingt es schließlich völlig, das eigene innere subjektive Erleben und Empfinden zu komponieren und nicht mehr den Lobgesang auf die Welt, wie sie von Gott eingerichtet wurde und in der sich der Mensch bewegt.


    Aber auch Beethoven hielt sich bei aller Freiheit an die klassischen Formen der Sonate und mit wachsender Ehrfurcht der Fuge. Schubert scheint zunächst zum Geist von Bach zurückzukehren, dessen Hineinhorchen in die innere Unendlichkeit der Klänge. Doch ist er nicht mehr vom Glauben gesichert. Neben Mathematik waren seine Leistungen in Religion stets zweifelhaft. Er konnte nie zu einem festen Lebenswandel finden. Aber ganz anders als die jugendbewegten Generationen 100 Jahre später gerät er auch in keine anti-bürgerliche oder anti-gesellschaftliche Attitüde. Hier ist er wieder Schütz und Bach nahe, wenn er sich im Fluss der ihn umgebenden Fülle von Liedern geborgen weiß. Das ist sicher ein Erbe des aus Böhmen nach Wien eingewanderten Vaters.


    Wozu so weit ausholen: Im Finale der c-Moll Sonate stößt beides aufeinander. Die Themen werden nicht streng gegeneinander gestellt und dann thematisch verarbeitet, entwickelt und schließlich in der Reprise wieder kunstvoll zusammengefügt, so eine sichere Zeit-Architektonik schaffend, sondern führen einander fort, strömen aus den Gesetzmäßigkeiten der Sonate hinaus, werden daher plötzlich abrupt unterbrochen und kehren doch wie verjüngt und mit neuer Frische wieder.


    Aber seit dem "Leiermann" ist Schubert auch die innere Dynamik des Liedschaffens abhanden gekommen. Zu lange hat er sich unverstanden gefühlt, konnte in seinem Leben keine Richtung erkennen und ihm keine Richtung geben, und empfindet nun das früher unbeschwert in "himmlische Längen" alle Maße der Zeit überschreitende Singen nur noch als leeren Gleichklang, den niemand mehr hören mag. Der Leiermann steht an der Grenze zum Verstummen, die Klavierbegleitung spinnt keinen durchgehenden Faden mehr.


    Vom Leiermann her ist die Tarantella des Finale zu hören. Und dann ist zu verstehen, wie sich hier erstmals jene leerlaufende Motorik und eine Rastlosigkeit zeigen, die alle Gefühle erkalten lässt, wie es dann zum Grundzug der Musik bei Tschaikowsky, den Scherzi von Bruckner, Scriabin, Ravel, Prokofjew, Schostakowitsch, Strawinsky, dem Jazz wird, der seither die Musikgeschichte antreibt. Wurde versucht, mit technisch immer aufwändigeren, intellektuell anspruchsvolleren Werken seit Brahms dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten, erwies sich das als unmöglich. Der Geist koppelte sich vom Lebensgefühl ab.



    Gustav Klimt: Schubert am Klavier, 1899 (1945 verbrannt). Eine geniale Idee, Schubert in das Ambiente des Fin de Siècle in Wien zu versetzen und so den Kontrast von Schubert und seiner Umgebung so grell wie möglich zu beleuchten


    In diesem Finale ist der Anfang zu spüren, wie die Musik auseinander zu brechen beginnt. Es hat eine fast betäubende Wirkung, wie die Zeit abwechselnd beschleunigt und zum Stehen gebracht wird. Schubert beginnt seine eigene Identität nicht mehr wahren zu können und fühlt entgegengesetzte Gefühlsinhalte einander durchkreuzen. Kein Bild fasziniert ihn am Ende stärker als Heines Gedicht vom "Doppelgänger", der sich selbst als einen Fremden vor dem Haus der verlorenen geliebten Frau stehen sieht und dem alle tiefen Gefühle vor sich selbst zu Theatralik erstarrt sind.


    Als Interpretin kann Elisabeth Leonskaja empfohlen. Ihre Einspielung ist sehr günstig bei jpc zu erhalten.



    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    Schuberts 210. Geburtstag ist ein schöner Anlass, an das Werk zu erinnern, wo ich ihn völlig unbeschwert und erfüllt von Glück sehe, seine 2. Sinfonie in B-Dur. Im Winter 1814-15 entstanden, als Schubert 18 Jahre alt wurde, ist auch sie wie Beethovens 7. Sinfonie eine Musik der Liebe. Er hatte im November 1813 die Uraufführung der 7. Sinfonie gehört, und das war wohl immer sein Lieblingswerk von Beethoven. Wo Beethoven im Adagietto gerade eben die drohende Katastrophe vermeiden kann, komponiert er sie 1825-26 im langsamen Satz der Großen C-Dur Sinfonie aus. Doch davon ist die 2. Sinfonie noch 11 Jahre entfernt.


    Seinen Lebensweg zu finden wurde ihm nicht einfach gemacht. Er kam als das 12. von 14 Kindern zur Welt. Die meisten von ihnen waren sehr früh gestorben, ein älterer Bruder und die jüngste Schwester während seiner ersten Lebensjahre. Mit wie viel Liebe wird sich die Mutter gesorgt haben, dass er - immer der Kleinste von allen - als einer der wenigen überlebt. Der Vater liebt die Musik, Schubert spielt im familiären Streichquartett die Bratsche. Als er 1808 die Aufnahme als Sänger für die Hofkapelle bestanden hatte, sieht der Vater ihn mit großen Erwartungen an das erst neu gegründete Konvikt ziehen. Doch bald kam es zu zermürdenden Auseinandersetzungen. Während der Vater wenigstens für einen Sohn die Karriere durch den Besuch der kaiserlichen Eliteschule zum Greifen nahe sah, wollte der nichts als Zeit und Muße zum Komponieren.


    Das erste Lied entstand 1811 und handelt von Hagar, die verstoßen von Abraham in der Wüste Gott um Hilfe für sich und ihren Sohn bittet. Schubert kann sich mit ihr identifizieren. Sein Vater verbietet ihm von der Schule nachhause zu kommen. In dieser Zeit der Trennung starb im Mai 1812 die Mutter. Danach kommt es vorübergehend zu einer Versöhnung, doch im Herbst 1813 entscheidet sich Schubert gegen den Rat des älteren Freundes und des Vaters, das Konvikt zu verlassen. Die Anforderungen insbesondere in Mathematik werden ihm zu schwer, und er fühlt, dass er unter diesen Bedingungen keine Lieder schreiben kann.



    Franz Schubert, Zeichnung von Kupelwieser 1813


    Daher geht er kurze Zeit auf ein Lehrerseminar und beginnt in der Schule des Vaters als Hilfslehrer. Der Unterricht ist hart, aber er kann durchsetzen, dass ihm täglich einige Zeit zum Komponieren bleibt. In diesem Jahr entsteht die F-Dur Messe. Unter den Sängerinnen fällt ihm die etwas jüngere Therese Grob auf. Als er sie kennenlernt, komponiert er im Oktober 1814 das Lied von Gretchen am Spinnrad. Anfang 1815 schreibt er in einem Brief über seine Gefühle zu Therese. Alle Verdüsterung nach dem Verlust der Mutter, die gestorbenen Geschwister, von denen er höchstens die Gräber kennt, die Enge zuhause und die demütigende Prügel durch den Vater, der Unterricht am Konvikt, dem er nicht folgen kann und mag, das ist wie verflogen, wenn er sie trifft. In diesen Monaten entsteht die 2. Sinfonie.



    Therese Grob (1798 - 1875), heiratete 1820 den Bäcker Johann Bergmann, beide hatten ein Kind, Amalia Bergmann (1824 - 1886), Schuberts Bruder Ignaz heiratete 1836 ihre Tante Wilhelmine


    Für einen Moment ist er in der Musik mit sich selbst völlig im reinen. Wie viel Selbstbewußtsein, das Gefühl erwachender schöpferischer Kraft und Lebenslust. Das wird sich in keiner der späteren Schubertiaden mehr wiederholen, auch wenn er im Mittelpunkt eines Zirkels aufgeschlossener Musikliebhaber stehen wird. Zu Therese konnte er alle noch längst nicht überwundene Trauer vergessen, ohne sich irgend jemandem gegenüber schuldig fühlen zu müssen, und ohne die unsichere Frage, ob die Hörer an ihm und seiner Musik oder nur am gesellschaftlichen Ereignis interessiert sind.


    Zwar weiß er früh, dass es mit Therese nicht so gehen wird, wie es anfangs erschien - er verfügt über kein ausreichendes, geregeltes Einkommen, ihre Eltern würden daher einem Eheantrag nicht zustimmen -, aber er hat seine musikalische Sprache gefunden. In den folgenden 2 Jahren schreibt er unter den schwierigen Bedingungen als Hilfslehrer 250 Lieder, darunter Wanderers Nachtlied Juli 1815, Heideröslein August 1815, Erlkönig Oktober 1815, Der König in Thule Anfang 1816. Wer will urteilen: War das schwerer für ihn, wie die erste Liebe ihn reif gemacht hatte für seine großen Lieder und seine unverwechselbare Ausdruckskraft, und ihn das Komponieren zugleich vom geliebten Mädchen wegführte in eine andere Welt, in der all die innersten Regungen doch hervorkommen konnten; oder für sie, die ihn gerade dadurch wachgerufen hatte, dass sie ganz einfach alles Gute für ihn wollte, und nun spüren mußte, wie er sich immer mehr von ihr entfremdete, je mehr sie ihm geholfen hatte, den eigenen Weg zu finden?


    7 Jahre später schrieb er im Juli 1822 einen Traum auf, der wie eine Lebensbilanz klingt. "Lieder sang ich nun lange lange Jahre. Wollte ich Liebe singen, ward sie mir zum Schmerz. Und wollte ich wieder Schmerz nur singen, ward er mir zur Liebe." Wenige Monate danach entstanden 1822 die beiden Sätze der h-Moll Sinfonie.


    Die 2. Sinfonie steht unmittelbar bevor sich Schubert von Schmerz und Liebe "zerteilt" fühlte, wie er sich selbst im Traum sah. Als einziger hat William Steinberg mit dem WDR Sinfonieorchester Köln genau den Ton getroffen, wie ich diese Sinfonie verstehe. Die Aufnahme ist hin und wieder im Radio zu hören.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Jörg,


    vielen Dank für die beiden Gedichte, die für mich wie ein frühes Geschenk in diesem Jahr an das Forum sind. Besonders das erste Gedicht ist bisweilen verworren und sehr sperrig, also gerade die richtige Nahrung für eine Phantasie, die sonst überschwemmt von der Bilderflut aus den Medien oberflächlich und leer zu werden droht.


    Eine düstere Farbe folgt der anderen, von dunklen Tollkirschen in Winternächten, Totes, Asche, daraus ein Zweig, Schatten, Dürres bis zu Rachen und Ratten. Der Geruch von Verwesung ist fast hautnah. Nur in der Mitte ein Lichtpunkt, das Irisgrün, wenn auch klaffend, also erschreckt, starr und kaum der Empfindung fähig. Das gibt dem Gedicht seine ungeheure Geschlossenheit und doch eine einzige Stelle, wo sich etwas Neues entwickeln könnte.


    „Der abgekappte Rachen“: Das kann eine Vorsichtsmaßnahme, eine Strafe sein, um andere vor einem Rachen zu schützen, der zuvor viel verschlungen und zerstört hat. Das kann auch eine innere Sperre, eine Art versteinerter Kloß im Hals sein, der nach vielen Enttäuschungen nichts weiteres mehr schlucken möchte. Mir gefällt diese Doppeldeutigkeit.


    Sie wird nochmals gesteigert durch „der Ratten / Zungennest“. Das kann ein Nest unterhalb der Zunge im Maul einer Ratte sein, entstanden und zurückgeblieben durch den Müll und die Krankheitserreger, die von einer Ratte gefressen werden. Das kann aber auch im Mund von „Dir“ unterhalb der Zunge ein Nest von etwas wie Ratten sein, entstanden durch den stetig aufgenommenen Kulturmüll und abgelagert aus dem Speichelfluss nach bösen Worten und mit bewusst falschem Zungenschlag verstellter und täuschender Stimmäußerungen. Je intensiver solche Bilder werden, desto ungemütlicher und unwohler werden sie. Also doch zurück in die Bilder von Frühling, Blüte, Entspannung an karibischen Stränden, wie sie zum Beispiel die Werbung für Süßigkeiten aus dem Hause Ferrero Ersatzglück anbietend verspricht?


    Der Rhythmus des Gedichts ist hart gefügt, unverkennbar nach dem Vorbild von Hölderlin und weiter zurückgreifend Sappho oder Pindar. Wenn ich mir eine Vertonung dafür vorstelle, könnte das ein Streichquartett sein, mit langaushaltenden Tönen der Violinen und gelegentlichen Einwürfen des Cellos, auf das so kantig wie möglich dies Gedicht in einer Art Sprechgesang vorgetragen wird.


    "Gott": Du bist konsequent allen Versuchungen aus dem Weg gegangen, auch nur ansatzweise ein Bild von Gott zu zeichnen. (Bei Göttinnen und Göttern wäre das genau umgekehrt. Die können nicht persönlich genug gedichtet werden, dem Leser in seiner verletzten Persönlichkeit Kraft gebend.)


    Auch hier in der Mitte eine hoffnungsvolle Zeile „jetzt die stimmt die Nacht“. Da kommt sogar der Tod in Schwingung und „singt ... Dich süßlich an“. Das ganze Gedicht ist viel weicher gehalten als die „Anrufung“. Gott ist nicht zu sehen, aber seine Wirkung ist auf diese Weise zu spüren und Geborgenheit lässt sich empfangen.


    „Fast wahr / und aufgebracht“: Das verstehe ich so, dass nicht Gott un-wahr ist und unfähig, seine Gefühle zu beherrschen, sondern dass angesichts seiner Wirkung dem Menschen bewusst wird, dass das dem Menschen zugängliche Verständnis von Wahrheit und Ethik relativiert werden muss.


    Viele Grüße,


    Walter

    Nach einem misslungenen ersten Entwurf, den Beitrag in anderen Worten zu wiederholen und dadurch vielleicht klarer zu machen, seien einzelne Punkte angesprochen:


    Meinungen: Weitgehend ist das nicht meine eigene Meinung, sondern der Versuch, das Selbstverständnis der deutschen Musikkultur aus der Zeit von 1900 zu verstehen, reden zu lassen und mit der Situation nach 1945 zu konfrontieren. Mir selbst geht es darum zu verstehen, wie diese Sprachverwirrung entstanden ist, die harte und unversöhnliche Gegenüberstellung des französischen und deutschen Weges, des mathematischen und dialektischen Wesens, des räumlichen und zeitlichen Hörens, der harten Musikgesetze und des Aussingens erfüllter Zeit, oder wie auch sonst dieser Gegensatz formuliert wurde. Diese Gegensätzlichkeit hat sich erhalten und ist auch in diesem Forum zu spüren. Es fehlt eine gemeinsame Grundorientierung.


    Deutsche Komponisten: Natürlich gibt es auch nach Schubert bekannte und jeweils als führend anerkannte deutsche Komponisten, wie ‚Kurzstückmeister’ aufgelistet hat. Und doch bin ich mir sicher, dass seit 1900 die zündenden Ideen von woanders kommen. Siehe Ravel, Strawinsky, Prokofjew, Alain, Messiaen, Reich, Ligeti, Pärt, Dreyblatt. Natürlich haben auch Schönberg, Hindemith, Weill, Stockhausen, Lachenmann oder Rihm wichtige Werke geschrieben. Aber wenn es um Musik geht, die einen so erschüttert wie es früher Beethoven oder Schubert gelungen ist, dann ist in Deutschland eher ein Fehlen zu spüren, eine Unfähigkeit, den Ton der Zeit zu treffen. Hier geht es nicht um Wertung oder persönlichen Geschmack. Die französische Musik befand sich um 1890 in einer ganz ähnlichen Lage, und daraus ist etwas völlig Neues entsprungen. Erst einmal geht es mir darum, diesen Zustand überhaupt anzuerkennen (und da scheint die eigentliche Differenz zu ‚Kurzstückmeister’ zu bestehen). Erst dann lässt sich daraus etwas Neues entwickeln.


    Volksgut, Frömmigkeit: Diese Begriffe lösen zurecht intensive Gefühle aus. Ihre Schwierigkeit besteht darin, dass sie in dem Moment zu zerfallen drohen, wenn versucht wird, rational über sie zu sprechen. Die „altdeutsche Position“, um sie mit dem Etikett ihrer Kritiker zu benennen, vertraut auf die Musikalität, die ursprünglich in der Volksmusik enthalten war, und sieht sie in dem Moment gebrochen und verloren, wo sie analysiert, zerlegt und vermarktet wird. Hier fehlt einfach eine gemeinsame Ebene, um sich überhaupt verständigen zu können. Was von den „Aufklärern“ über Volksgut und Frömmigkeit gesagt wird, erscheint den „Altdeutschen“ als Zeichen der Entfremdung und des Verlustes, oder in den Begriffen der 1920er zu reden, als „Literatentum“ und „Diktat der Öffentlichkeit“. Um aus diesen Clinch herauszukommen, scheint mir am besten, zu Schubert (und vergleichend Hölderlin und E.T.A. Hofmann) zurück zu kommen, denn auf die beziehen sich beide einander befehdenden Positionen, also gibt es dort eine letzte Gemeinsamkeit. Es ist die Frage, wie dies aufgebrochen ist und zu der Lähmung im 20. Jahrhundert geführt hat.


    Wagners Verweichlichung: Hier ließen sich bestimmt viele Zitate beibringen. Mir genügt, was ich in den Biographien von Clara Schumann an Äußerungen von ihr, Brahms, Joachim über die Spätwerke von Robert Schumann, Liszt und Wagner gelesen habe, oder von Hanslick über Bruckner, womit er wohl auch Wagner meinte. Wo die „Altdeutschen“ ihren Kritikern innere Entfremdung, Leere und Kälte vorwerfen, da sehen diese umgekehrt bei den von ihnen Kritisierten letzten Endes einfach Krankheit, weil sie anders nicht verstehen können, wovon sie sich nicht angesprochen fühlen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Dem Sprachgebrauch der entsprechenden Literatur folgend, ist hier mit „deutsch“ der deutsprachige Raum gemeint, also auch Österreich und die Schweiz, aber aus einer von Deutschland ausgehenden Sicht. Das wirft natürlich bereits Fragen auf, um die es jetzt aber nicht gehen soll.


    Der Tod von Joseph Joachim 1907 war ein Einschnitt. Jahrzehntelang hatte er die Hochschule für Musik in Berlin geleitet und mit Clara Schumann und Hans von Bülow die deutsche Musikkultur geprägt. (Siehe auch den früheren Beitrag). Verschlossen gegen alle Neuerungen brachte sie sich immer weiter ins Abseits. Das war keine Sonderentwicklung, sondern typisch für das Selbstverständnis des deutschen Bürgertums in den Jahren vor dem 1. Weltkrieg. Um so größer der Schock, als der Krieg verloren ging und in Deutschland alle Werte infrage gestellt wurden, recht anders, als von den Schopenhauer- und Nietzsche-Begeisterten erwartet worden war.


    Es brauchte einige Jahre, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. 1923 veröffentlichte Richard Benz "Die Stunde der deutschen Musik". Dieses Buch zu lesen ist wie eine Offenbarung: Da wird alles ausgesprochen, was seit der Restauration nach 1848 unterschwellig fortgetragen wurde. So ein Buch war erst in den aufwühlenden Nachkriegsjahren möglich, und es machte entsprechend Furore.


    1925 hielt Paul Bekker die Radiovorträge "Musikgeschichte als Geschichte der musikalischen Formwandlungen", Heinrich Schenker begann mit der Herausgabe von "Das Meisterwerk in der Musik", und Ernst Bloch veröffentlichte "Über das mathematische und dialektische Wesen in der Musik". Damit waren alle Grundpositionen auf dem Tisch, um die es dann im weiteren ging. Allerdings waren sie nach 1945 ebenso schnell wieder vergessen, wie sie 1925 die Öffentlichkeit geprägt hatten.


    Das alles zu verstehen ist noch ein weiter Weg, hier daher nur einige erste Thesen. Schenker sieht bei Rameau und dessen Harmonielehre eine Weichenstellung. Er schreibt: Während "in Deutschland durch zwei Jahrhunderte Musikgenies, die, als gäbe es ringsum keine falschen Kunstlehren, ja überhaupt noch keine, aus den noch ganz verkannten obgleich mitgeborenen Grundgesetzen der Musik ... die Musik zu einer nie geahnten Entfaltung bringen", wurden in Frankreich der Obertonlehre folgend nacheinander die Sept, die Non, ja Undez- und Tredez-Akkorde eingeführt und gab es schließlich kein Musikgefühl mehr, das dem Jazz mit seinen Blue Notes und anderen Exotika aus allen Ländern dieser Welt hätte Einhalt gebieten können. Der Sache nach unterstützt er die damals weit verbreitete Haltung, dass sich Deutschland wieder auf seine eigenen Ursprünge in der Musik der Zeit von Heinrich Schütz zu besinnen hat, so die Orgel- und Singbewegung der 1920er.


    Adorno hat das in den Jahren 1941 - 1949 nochmals radikalisiert. Er greift Blochs Unterscheidung des dialektischen und mathematischen Wesens in der Musik auf und entwickelt daraus in seiner "Philosophie der neuen Musik" den "räumlich-regressiven, ... rhythmisch-räumlichen" Hörertyp einerseits, der dem "Schlag der Trommel ... gehorcht", und den "expressiv-dynamischen" andererseits, der "seinen Ursprung im Singen" hat und "aufs erfüllende Bewältigen der Zeit gerichtet" ist. Da ließen sich neue Erscheinungen wie Jazz, Rock'n Roll usw. bequem einordnen. Doch ist nicht zu übersehen, wie sich in dieser Philosophie ein weiteres Mal alle Vorstellungen der 1920er munter durcheinander mischen mit vielen Anspielungen, welche Musikrichtung denn nun durch den Nationalsozialismus desavouiert sei und welche nicht. Die Musiktheorie droht jede Wert-Orientierung zu verlieren.




    Berlin, Alter Philharmonie, nach der Zerstörung im November 1943


    Damit war nur 50 Jahre nach Joseph Joachim eine eigenartige Lage entstanden. Wie würden die Professoren aus der von ihm gegründeten Hochschule heute urteilen: Die "Stunde der deutschen Musik" scheint endgültig Geschichte, Schuberts Schwanengesang konnte substanziell nichts mehr hinzugefügt werden. Nur Brahms hat auf verlorenem Posten versucht, im alten Stil weiter zu machen. Liszt, Wagner und Bruckner haben dagegen die Musik in Deutschland widerstandslos den enharmonischen Verweichlichungen geöffnet - eine andere Konsequenz der kritisierten Harmonielehre von Rameau. Noch stärker haben Schönberg und seine Schule die Verbindung zum deutschen Volksgut verloren, so sehr sie sich in technischen Details auf Brahms berufen mochten. Nur der Publikumserfolg rechtfertigt die Aufnahme von Wagner und Bruckner ins Repertoire, aber im Grunde geht es nur noch darum, in den Konzertsälen und Musikaufnahmen das Andenken einer vergangenen Tradition zu wahren. --- Ist das übertrieben dargestellt? Diese Situation wird um so unwirklicher, je erfolgreicher diese vergangene Musik im Rahmen der Globalisierung weltweit vermarktet werden kann.



    Viele Grüße,


    Walter

    Auch wenn es leider gerade in den mir wichtigen Themenbereichen in der letzten Zeit hoch herging uind es einige Misstöne gab: Weihnachten und der Jahreswechsel sind die beste Zeit für eine Besinnung und gute Vorsätze.


    Allen Frohe Feiertage und gut gestärkt und voller neuer Ideen zurück im Neuen Jahr,


    Walter

    Hallo Thomas,


    überraschend, dass du die Six Pianos als das Werk nennst, das am besten geeignet ist, um den Minimalismus zu kennzeichnen. Mir ging es ähnlich. Obwohl Drumming bekannter ist, hat Drumming für mich doch bisweilen gewisse Längen, während die Six Pianos gewissermaßen - wenn sich das bei solcher Musik überhaupt sagen läßt - auf den Punkt kommen. Ein wenig enttäuscht war ich über den "kleinen Bruder", die "Music For Pieces Of Wood" auf der CD "African Rhythms" mit Pierre-Laurent Aimard.


    Sehr gern höre ich aber wieder das Stück für Klarinetten-Duo "New York Counterpoint", bisweilen mit echter Gassenhauer-Qualität.


    Auf mich hat der Minimalismus wie eine wiedergewonnene befreite Bewegung gewirkt nach den Jahren der Dominanz des Serialismus und der unterschiedlichsten Experimente mit präparierten Instrumenten. Ligeti ist das beste Beispiel, welche positiven Impulse vom Minimalismus ausgehen konnten, wenn sie nur vorurteilsfrei aufgenommen wurden.


    In anderer Richtung traf sich der Minimalismus in New York mit Strömungen des Jazz und Punk, als dort "Bang on the Can" gegründet wurden.


    Und nochmals anders verstand es Pärt, Ideen des Minimalismus mit den Anfängen der neuzeitlichen Musik zu verbinden. Daher ist für mich der Minimalismus - auch wenn ich jetzt Widerspruch provoziere - die kreativste Richtung der zeitgenössischen Musik. Als Frage bleibt für mich in erster Linie, in welcher Weise der Minimalismus mit der amerikanischen Lebensform zu tun hat, ob er sie positiv zu beeinflussen vermag oder ihr irgendwann nur noch einen falschen Schein geben wird.


    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Wulf,


    ganz im Gegenteil, bitte keine Zurückhaltung, alle Rückfragen und Anregungen freuen mich sehr. Wird moderne Kunst verstanden? Genau so ließe sich fragen: Verstehen alle Hörer Bach, Mozart oder Beethoven, die diese Musik mögen?


    In beiden Fällen würde ich mit „ja“ antworten. Auch ein Hörer, der alle die Ideen nicht kennt oder nachvollziehen kann, die etwa Bach oder Beethoven in ihre Kompositionen haben einfließen lassen, versteht sie. Ich sehe in dieser Musik eine eigene Kraft, den Hörer anzusprechen.


    Und so ist es auch bei Bildern etwa von Van Gogh, Picasso oder Bacon. Beeindruckt von dieser Ausstellung habe ich angefangen, mehr über Bacon zu lesen und erfahre, wie gut er z.B. Proust oder Philosophie kannte. Ich merke schon jetzt, dass von ihm etwas ausgeht, dass anregt, ihn „besser“ zu verstehen.


    Aber ich bin überzeugt, dass von diesen Bildern eine Aussage ausgeht, die jeder versteht, der sich ihrer Wirkung stellt, selbst wenn das zum Teil nur unterbewusst erfolgt und möglicherweise gleich wieder verdrängt wird. Anders gefragt: Können Bilder wie die von Bacon überhaupt missverstanden werden?


    Wirkt Musik an sich intensiver als Kunst: eine sehr spannende Frage, über die ich noch nie nachgedacht habe. Wenn ich nur über mich selbst spreche: Doch, es gibt Bilder, die wie Musik Tränen hervorgerufen haben. Von Bildern kann sogar eine ganz andere Sog-Wirkung ausgehen, sich nicht mehr von ihnen lösen zu können. Sie können in Träumen wiederkehren. Auf der anderen Seite ist es sicher wahr, dass Musik einen stärker gefangen nimmt. In einem anderen Zusammenhang stieß ich mal auf die Frage, warum sich Ödipus die Augen ausgestochen und nicht das Gehör zerschmettert hat.


    ‚Kurzstückmeister’, Du hast recht, jeder sollte sich erst einmal selbst fragen. Mit der Musik seit 1945 kann ich schon etwas anfangen, jedenfalls mit einigen Komponisten und Stücken. Und doch kann ich nicht leugnen, dass mich diese – immerhin zeitgenössische Epoche – nicht so anspricht wie die „Stunde der deutschen Musik“ (Richard Benz) von Bach bis Schubert. Das ist nicht als Kritik an dieser Musik gemeint, sondern erst einmal nur eine Frage, ein Unbehagen. In der Malerei ist es genau umgekehrt. In zeitgenössischen Bildern kann ich das Zeitgefühl meiner Zeit spüren, während Maler aus der Zeit um 1790 fast nur mein historisches Interesse wecken. Eine Erklärung dafür habe ich nicht, und wollte bei Bacon einmal umgekehrt damit beginnen zu verstehen, was in der zeitgenössischen Malerei gelingt.


    Viele Grüße,


    Walter

    Die moderne Malerei scheint es einfacher zu haben als die moderne Musik. Ihre Ausstellungen werden von Massen besucht, die Bilder gehen weg zu Höchstpreisen, und jeder versteht ihre Botschaft, gerade auch da, wo sie über die Grenze des Natürlichen hinausgehen. In Düsseldorf ist noch bis Anfang Januar 2007 Francis Bacon zu sehen. Seine Bilder sind deutlich das Gegenteil von Klassik. Welche Musik würde dazu passen? Und warum wirken die Bilder besser, eindringlicher und treffender als die Musik seit 1945? Also lassen wir erstmal einfach die Bilder wirken. Ich versuche zusammenzufassen, was bei einer Führung in Düsseldorf gesagt wurde.


    Francis Bacon lebte 1909 - 1992. Geboren in Dublin. Schon mit 15 Jahren von den Eltern verstoßen, als seine homosexuellen Neigungen deutlich wurden. Bereits vorher ein schwieriges Kind. Doch die Kunsthistorikerin, die eine sehr interssante Führung unternahm, wies weitere Fragen in diese Richtung zurück und wollte nicht von der Biographie aus das Werk verstanden wissen. Auch die Bildtitel führen eher in die Irre. Bacon arbeitete in einem völlig chaotischen Atelier in London. Boden und Wände übersät mit Zeitungsausschnitten, dort sicher auch einige Fotos, die ihn anregten, etwa von Wrestling- und Box-Wettkämpfen. Seine Freunde standen bisweilen Modell in der Pose antiker Helden.



    Francis Bacon in seinem Atelier


    Bacon wollte Bilder schaffen an der Grenze des Figürlichen und Abstrakten. Er wollte Bilder schaffen, die das zeigen, was normalerweise nicht ausgedrückt werden kann, das "Faktische". Da ist natürlich ein Risiko, ob die Kommunikation gelingt.


    Gehörte mit Lucian Freud und anderen einer eigenen englischen Strömung nach 1945 an. Er gilt als ein Phänomen, kaum einzuordnen in die bekannten Kunstströmungen. Anders als die Surrealisten will er keine Traumwelt oder alternative sinnliche Welten entwerfen.



    Francis Bacon: Study for the human body, 1948


    Am Beginn der Führung ein frühes Gemälde, auf dem ein männlicher Akt von hinten zu sehen ist, der durch eine Art Vorhang in etwas Unbekanntes hinausgeht. Der Körper ist noch klar zu erkennen, jedoch sind das Gesicht nicht zu sehen und auch nicht, wo er hingeht. Der Vorhang könnte auch ein Farbschauer sein und versetzt die Szenerie in etwas Unwirkliches, ein bloßes Produkt der Malerei.


    Gestischer Malstil. Offensichtlich mit großen, kräftigen Bewegungen ausgeführt. Der erste Entwurf wurde sicher sehr schnell hingeworfen, dann jedoch immer wieder überarbeitet. Bestimmte Themen fesselten Bacon für viele Jahre und wurden ständig variiert. Alle Figuren sind vor großflächigen, abstrakten Räumen gezeichnet. Bisweilen ist die nackte Leinwand zu sehen, noch nicht einmal grundiert.


    Dann entstanden in den frühen 1950er Jahren zahlreiche Bilder mit schreienden Gesichtern. Die Gesichter scheinen in ein Grauen zu schauen. Aber möglicherweise kommt das Grauen auch von innen.


    Oft ist die Figur in einer Art Käfig oder Podest oder Glasrahmen eingezeichnet. Der scheint dem Bild eine Zentralperspektive zu geben, die sich jedoch bei näherem Hinsehen als täuschend erweist. So entsteht ein unbestimmter Raum. Der hat etwas Mythisches, ohne jedoch irgendwie an bestimmten Mythen zu erinnern. Bacon hat als Möbeldesigner begonnen und alle seine frühen Bilder vernichtet. So scheint das Design von Stahlrohr-Möbeln anzuklingen. - Ähnlich greift Bacon bisweilen theologische Vorstellungen auf und hat zum Beispiel zahlreiche Tryptichen gemalt, teilweise direkt mit dem Thema Kreuzigung. Aber er war Atheist. Die Kirche gab ihm natürlich keine Aufträge.


    Die Körper verwandeln sich immer stärker in schwer erkennbare Fleischmasssen. Oft ist nicht zu erkennen, ob dort zwei kämpfende oder kopulierende Figuren ineinander liegen, oder nur eine Figur mit merkwürdigen Schatten- und Spiegelbildern.



    Francis Bacon: Papst und Schimpanse, 1962


    Oft wird im Bild nach vorn ein Schatten geworfen, der jedoch zugleich wie ein Ausfluss, eine Auflösung aussieht. Und trotz dieser Desintegration strahlen die Figuren eine ungewöhnliche Kraft, ja geradezu Ballung von berstenden Verdichtungen aus. Die Körperenden verschwimmen in der Umgebung. Die Bewegung und Haltung ist nie klar zu erkennen. Meist handelt es sich um gedrückte Stellungen, wobei unklar ist, wie die Körper da hineingeraten sind.


    Die Tryptichen zeigen keine erkennbaren Erzählungen. Sie sind innerlich zusammengehalten durch abstrakte Raumelemente, übergreifende großformatig gemalte Flächen und Farben. Nur die "Kreuzigung" zeigt eine in sich verschränkte Figur, die in offene Wunden übergeht, und ein NS-Hakenkreuz am Arm trägt. Daneben ein Schreibtisch mit zwei Personen, die ein Verhör zu führen scheinen oder alles beobachten.



    Francis Bacon: Kreuzigung, 1965, Teil eines Tryptichon


    Verblüffende Bilder eines Schimpansen und eines streunenden Hundes. Ein Papst wird vor aufgehängten Fleischhälften dargestellten. Velazquez war immer großes Vorbild. Bacon starb, als er im hohen Altern zu einer Velazquez-Ausstellung nach Spanien gereist war. Beim Schimpansen am deutlichsten das angsteinflößende Zähnefletschen zu sehen, das ständig wieder kehrt, bisweilen sogar in andere Fleischmassen gleichsam eingepflanzt. Auf einem Bild blickt eine isolierte Pupille.


    In der Raumaufteilung ist der Goldene Schnitt bewusst verletzt. Grelle Rosa- Orange- oder Violett-Töne werden großflächig gegeneinander gesetzt. Der Zuschauer fühlt sich unbehaglich. Die Bilder sind immer so gestaltet, dass sie jeder Dekorationswirkung widersprechen.


    Zahlreiche Selbstporträts und noch mehr Porträts seiner festen Partner. Einer hatte Selbstmord begangen. Kaum Auftragswerke, aber schon zu Lebzeiten sehr erfolgreich. Picasso und Lehmbruck als Vorbilder.


    Viele Grüße,


    Walter

    Verblüffend und vielleicht typisch: Es gibt zwar einen Thread „Sex sells“ und einen anderen „Erotik in der Musik“, aber das Thema Liebe kommt nur bei Einzelwerken vor, der Sinfonie fantastique, der Turangalila-Sinfonie und Carmen. Anders als die oft zitierte Zuschreibung durch Wagner als „Apotheose des Tanzes“ ist für mich Beethovens 7. Sinfonie eins der schönsten Beispiele für Liebe in der Musik.


    Es steht ganz in der Nähe von Hölderlins „Hyperion“ und seiner Beschreibung der Athenerin Diotima. Beethoven geht sehr klassisch vor. Alle Rhythmen sind klassischen Versmaßen nachgebildet. Der Ton klingt klassisch, oder so, wie sich das vielleicht vorstellen lässt, wo es keine Überlieferung gibt, wie die griechische Musik geklungen haben mag.


    Niemand wird jemals wissen, was und wie Beethoven in den Jahren ab 1810 bei seinen Besuchen bei Antonie Brentano auf dem Flügel phantasiert hat, um sie in ihrer Trauer zu trösten. Der erste Satz zeichnet ein herrliches Frauenporträt – beginne ich jetzt zu phantasieren – und der zweite Satz schildert die Gefühle einer Frau, die den Verlust ihres Vaters und ihrer Kindheit zu ertragen lernen muss, aus der Sicht des sie liebenden Mannes.


    Das alles nicht in wilden, dionysischen Ausbrüchen, sondern in vollendeter Form. So entsteht ein Ideal an Harmonie. Da kann es sicher geschehen, dass nicht eine wirkliche Frau, sondern nur das klassische Bild einer Frau „geliebt“ wird, zumal ein längst vergangenes Ideal, eine kalte Statue aus Marmor.


    Doch der letzte Satz „beweist“ das Gegenteil. Antonie ist in ihren innersten Gefühlen angesprochen und findet dank Beethovens Spiel zur seelischen Balance zurück. Seine Musik vermag ihren Verlust zu stillen. Sie fühlt sich geliebt und kann die Liebe erwidern. Darauf antwortet wiederum der letzte Satz.


    Hier scheint mir am besten ein berühmter Satz von Musil zu passen: "Es hieße also ungefähr soviel wie schweigen, wo man nichts zu sagen hat; nur das Nötige tun, wo man nichts Besonderes zu bestellen hat; und was das Wichtigste ist, gefühllos bleiben, wo man nicht das unbeschreibliche Gefühl hat, die Arme auszubreiten und von einer Welle der Schöpfung gehoben zu werden!"


    Aus den gleichen Jahren sind auch die ersten Skizzen der Freuden-Melodie der 9. Sinfonie überliefert, die im Grunde stärker zur 7. als zu den anderen Ideen einer 10. Sinfonie passen, mit denen sie später zusammengefügt wurden.


    Leider gibt es keine Aufnahme, die mich ganz überzeugt. Am besten gefällt mir auch bei dieser Sinfonie die Einspielung von Erich Kleiber mit Concertgebouw Orchestra.



    Schöne Adventsgrüße,


    Walter

    Die vorgestern genannten Aufnahmen zeigen alle eine ganz persönliche Deutung dieser Sinfonie. Mit „Referenz“ ist aber die allgemein-gültige, zeitlose, geradezu kosmische Aufnahme gemeint. Die ist aus meiner Sicht 1970 Otto Klemperer mit dem New Philharmonia Orchestra gelungen. Er zeigt zugleich, dass eine Referenz-Lösung keineswegs „seelenlos“ sein muss, ganz im Gegenteil.


    Als ich mir diese Aufnahme heute Vormittag zum Vergleich zu Knappertsbusch angehört habe, war wie immer beeindruckend die ungeheure Kraft, die von ihr ausgeht. Das Orchester ist einfach großartig. Das Blech spielt einen vollen, geradezu makellosen Klang, ohne dabei in irgend einer Weise glatt oder poliert zu wirken.


    Die Besonderheit von Klemperers Aufnahme zeigt sich am Beginn der Coda des 1. Satzes. Wenn in pp die Streicher die Triolen spielen, scheint ein Himmel zu funkeln. Das wird grandios aufgegriffen in dem großen Tutti-Höhepunkt des Adagio. Nachdem in der ganzen Sinfonie das Blech in vollem Glanz erstrahlte, wird es hier zurückgenommen, so dass die Streicher jetzt geradezu ein Lichtermeer erzeugen, das an alttestamentliche Gottesvisionen wie den Merkaba-Wagen des Hesekiel erinnern lassen.


    Leider ist diese Aufnahme zur Zeit nicht auf CD erhältlich. Und sie wirft die von Ben gestellte Frage auf, ob nicht die Suche nach einer Referenz in eine Sackgasse führt. Wird nach der „einzig wahren Interpretation“ gesucht, haben die Nachfolger praktisch keine Chance mehr.


    Ben zitiert Michael Wagner, der schon 1982 bemerkte: »Es scheint [...] derzeit keinen Bruckner-Dirigenten zu geben, der [...] eine neue oder auch nur getreue Sicht der Erkenntnisse aus der Partitur zu liefern imstande wäre. Dies mag mit der fehlenden Zeit unserer Pultstars zusammenhängen, mit der fehlenden Beschäftigung, die derart komplexe Großbauten wie die Brucknerschen Sinfonien brauchen, auch mit dem fehlenden Markt, der sich mit Beiläufigkeit, Wiederholung des längst Gehabten, Zementierung des längst Vertrauten begnügt.«


    Da ist etwas dran, und dem lohnt weiter nachgegangen zu werden. Diese Klemperer-Aufnahme hat dazu geführt, dass ich mir andere Aufnahmen, die ein ähnliches Ziel verfolgen, wie Giulini, Haitink oder Wand, nicht mehr besorgt habe, ohne damit im geringsten ihre Qualitäten infrage stellen zu wollen. Ist einmal eine solche Aufnahme wie die von Klemperer gelungen, geht es auf diesem Weg nicht mehr weiter. Wenn ich diese Sinfonie höre, greife ich in der Regel eher zu früher genannten Aufnahmen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Angeregt von diesem Thread habe ich gestern abend die Knappertsbusch-Aufnahme gehört und zum Vergleich ein paar Stellen bei Furtwängler, Horenstein und Skrowaczewski. Für die Interpretation stellt sich eine Grundsatzfrage: Wird das Werk in einem ganz langen Atem angelegt, so dass der erste Satz eine einzige lange Steigerung zur Coda hin darstellt und dann nochmals weitergeführt wird im Adagio – dafür scheinen mir exemplarisch Knappertsbusch und auch Celibidache und Marthé zu stehen, den ich im Sommer gehört habe – oder wird gleich mit dem ersten Tutti das geradezu Einzigartige und Sprachlos-Machende betont, das dann nur noch durch die Coda des 1. Satzes überboten wird, die so zum Höhepunkt des Werks wird. Dafür steht Furtwängler, und ihm kommt Horenstein recht nahe.


    Welche Deutung „besser“ ist, erübrigt sich zu fragen. Da Bruckner die Coda des Finale nicht hat vollenden können, wird in der Deutung von Furtwängler die Coda des 1. Satzes überhaupt zum Höhepunkt des gesamten Brucknerschen Schaffens. So weit ich ihn verstehe, war dies für ihn damit der Mittelpunkt der Musik schlechthin.


    Neben Furtwängler ist Skrowaczewski der einzige, der den fff-Einbruch in der Coda des 1. Satzes klar herausbringt. Im ganzen folgt er jedoch der Richtung, die zum Adagio hinführt. Diese Richtung zeigt eher die Demut und den tiefen Zweifel der Gottesandacht.


    Thomas, als ich jetzt Deinen Beitrag las, ganz einfach: Danke. Dies Werk bewegt tief. Für mich hat es ein ganz anderes Verständnis der früheren Generationen ermöglicht, wenn ich aus meinem Lebensalter heraus einmal Furtwängler, Walter, Schuricht, Knappertsbusch, Horenstein – und auch den bisher nicht genannten Klemperer – zur Großeltern-Generation zähle, groß geworden im Expressionismus und der Neuen Sachlichkeit, der Zeit, die in Deutschland zum Faschismus führte, und Skrowaczewski als Vertreter der Eltern-Generation sehe, ein Pole, der natürlich dies Werk vollkommen anders sieht.


    Ich bin voller Erwartung, wann und wie es einem der nachfolgenden Dirigenten gelingen wird, eine neue schlüssige Deutung vorzulegen. Das Beispiel Marthé – und Wildner und weitere - zeigt, wie leidenschaftlich und erregend dies Thema ist. Aus für mich noch unklaren Gründen scheint für die heutige Dirigenten-Generation die Frage des Finale und darüber allgemeiner die Frage nach dem Verhältnis von Interpretation und Musikwissenschaft zentral zu sein. Ben steht ja mittendrin, siehe seinen Beitrag „zur Frage der Aufführungspraxis bei Bruckner und die Problematik von Musikforschung und Praxis“.


    Viele Grüße,


    Walter

    Vielen Dank für die Rückmeldungen. Bernd (H.), „eher ahne als verstehe“ trifft etwas, was ich durch das Netz von Andeutungen und inneren Bezügen zum Ausdruck bringen wollte. Zum Beispiel war ich völlig verblüfft, als ich bei Solomon den Hinweis auf die „samotrazischen Lumpenkerle“ las. Da lässt sich nur ahnen, was Beethoven damit verbunden haben mag. Das Thema „Gottheiten von Samothrake“, eine frühe vorklassische Religion in Griechenland, ist an sich schon äußerst interessant. Wichtige Bücher wie das von Reinhold sind bis heute nicht publiziert, ich kenne es nur aus Sekundärliteratur. Dies Beispiel scheint mir typisch für die Verunsicherung in religiösen Fragen, die es seit der Aufklärung gibt und für die Beethoven ein gutes Beispiel ist, den meisten sicher gar nicht bewusst.


    Den Hinweis auf Bachs d-moll Konzert gab das Buch von Andreas Eichhorn über „Beethovens Neunte Symphonie“, das ich überhaupt sehr empfehlen kann. Er hat offenbar ein wenig mehr aus Schumanns Tagebüchern zitiert als Dieter Hildebrandt (dessen Buch ich nicht kannte).


    Und Adorno. Bernd (Z.), ich teile Dein Urteil. Auch mit diesem Beitrag zu Beethovens 9. bin ich mit seiner Philosophie noch keineswegs durch. Der dritten These über die Verräumlichung der Zeit will ich weiter nachgehen. Ich vermisse sehr, dass die Diskussion über die „Philosophie der Neuen Musik“ nicht weitergeführt wurde. Zum einen scheint die „neueste“ Musik der Serialisten immer technischer geworden zu sein, was bereits Adorno kritisiert hat. Zum anderen ist es nie gelungen, den Bogen zu verstehen, der sicher von Strawinsky bis zum Jazz und der Pop-Musik nach 1945 reicht.


    Viele Grüße,


    Walter

    Schön, dass es diesen Thread jetzt gibt. Ich übernehme den Text von anderer Stelle: Auch bei dieser Sinfonie zählt für mich Knappertsbusch zu den maßgeblichen Bruckner-Dirigenten. Besonders der langsame Satz bekommt eine eigene Deutung.



    Furtwängler wurde zurecht oft erwähnt. Zu ergänzen: Obwohl dies eins seiner liebsten Werke war, hat er es nach der legendären Aufnahme 1944 nicht mehr aufgeführt, für mich eine absolut konsequente und nachvollziehbare Haltung.


    Bruno Walter (und hier vor allem den 1. Satz) sowie Horenstein und Schuricht gehören auch zu meinen Lieblingseinspielungen.


    Von den Aufnahmen aus den letzten Jahren höre ich am liebsten Skrowaczewski, sowohl mit dem Minneapolis SO wie dem Saarbrücken RSO, zuerst hatte ich ihn mit dem SWF SO gehört.



    Viele Grüße,


    Walter

    Paul, ich möchte Dich unterstützen. Im Radio habe ich mal Lieder von Haydn gehört und war begeistert. Ich hatte mir darunter etwas ganz anderes vorgestellt. Das ist eine Seite von Haydn - und vielleicht überhaupt der Aufklärung - die ich seitdem nicht mehr missen möchte.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    nicht erschrecken, aber diese Stelle verdient wirklich einige Aufmerksamkeit. Mit diesem Beitrag wollte ich anfangs nichts weiter als einen Thread über "die umwerfendsten Stellen der Musik" beginnen. Als ich jedoch einmal angefangen hatte ein wenig Hintergrundinformationen zu suchen, wurde es immer spannender, die Partitur kam hinzu, bestimmte Stellen Note für Note verglichen in verschiedenen Aufnahmen, und das Thema schien kein Ende zu nehmen. Vielleicht passt das nicht ganz in ein Diskussionsforum, aber wie gerufen kamen von dort ständig neue Anregungen und Motive. Wem die Teile zu Adorno und die "Gras-Engel" zu philosophisch sind, wird vielleicht dennoch am Anfang einiges Wissenswerte über dieses ungewöhnliche Werk finden und in den biographischen Nachträgen stöbern. Die Partitur ist im Internet zugänglich: Link und dort "1st Movement", "Measure 290", siehe auch den Autograph. Bei den Taktzahlen ergänze ich in eckigen Klammern zum besseren Mithören die jeweiligen Zeitpunkte der mir wichtigsten Aufnahmen, das sind in erster Linie Charles Münch 1958 mit dem Boston Symphony Orchestra und dann aber auch die Furtwängler-Aufnahme von 1942.


    Ein wenig möchte ich hiermit auch dieses außergewöhnliche Werk rehabilitieren, das im Ranking der Beethoven-Sinfonien überraschend schlecht abgeschnitten hat. Das mag an einer gewissen Abnutzung liegen, nachdem es bei unzähligen Jubiläen und Feiern, als Hymne für die NATO und Europa abgeleiert und durchgedroschen wurde, Andy Warhol daher Beethoven mit Coca-Cola und Gemüse-Dosen, Marilyn Monroe und Elvis Presley in eine Reihe der Ikonen der Massenkultur stellen konnte.


    Doch sollte das nicht täuschen. Wenn die klassische Musik den Rang dieses Werks nicht mehr anerkennen und überzeugend darzustellen vermag, bricht es an anderer Stelle hervor, so 1971 in Stanley Kubricks "Clockwork Orange", ein Film von bedrückender Aktualität. Anton Bruckner hat sich sein ganzes Leben lang mit dem ersten Satz dieser Sinfonie beschäftigt, siehe seine 0., 3., und 9. Sinfonie.



    Andy Warhol: Beethoven (auf Basis von Joseph Karl Stielers Beethoven-Bild von 1819-20 mit der Partitur der "Missa solemnis"), 1987; Stieler hatte das Bild im Auftrag von Franz und Antonie von Brentano gemalt, sie war vermutlich die "unsterblich Geliebte" des Jahres 1812; 1820 war nach den Krisenjahren von 1812-19 der Beginn der letzten, alle bekannten Maße überschreitenden kreativen Phase Beethovens;


    Um die Besonderheit dieser Stelle zu verstehen, ist von Beethovens neuem Verständnis der Sonate auszugehen. Er unterteilte die Durchführung durch eine klare Zäsur, wodurch das Wechselspiel der beiden Themen eine tragische Wende erhält und die Exposition völlig verändert in der Reprise wiederkehrt. Nirgends sonst ist Beethovens persönliche Stimme in seiner Musik so deutlich zu hören. Er greift gewissermaßen ein zweites Mal in das eigene Werk ein und verändert seinen Ton und das ganze innere Zeitgefühl. (Adorno vergleicht das mit Hölderlins "kalkulablen Gesetz" der Tragödie.) Die beabsichtigte Wirkung ist sicher am deutlichsten beim Trompeten-Signal in der Mitte der dritten Leonore-Ouvertüre. Und auch in der 9. Sinfonie ist im 1. Satz eine Zäsur beim c-Moll-Eintritt der angedeuteten Doppelfuge ab T. 217 [5:48][7:05] zu erkennen, der tiefe Klang der Celli und des Fagotts. Das sonst so erhaben klingende Werk ist auf einmal ganz nahe und geradezu verletzlich.


    Aber in welcher Weise wird nun die Sonatenform nochmals dramatisiert! Anders als in den 8 vorangegangenen Sinfonien fällt die Wiederholung der Exposition weg. Stattdessen entwickelt sich in der Durchführung ein ungeheurer, stets wachsender Sog, bis sie auf ihrem vermeintlichen Höhepunkt übergangslos in die Reprise schlägt. Das erzeugt eine Spannung und Ballung aller Kräfte, aus der die T. 301 - 338 [7:48][9:30] geradezu herausgeschlagen werden.


    Mit einem Mal scheint Beethoven sich bewusst, dass Prometheus nicht nur aus Erdklumpen die Menschen geschaffen und zum Tanzen gebracht hat, wovon sein Ballett "Die Geschöpfe des Prometheus" und die "Eroica" handeln, sondern auch in einem Akt der Anmaßung den Göttern das Feuer stahl und es den Menschen brachte, ihnen zum Fluch und zum Segen.


    Diese Stelle beherrscht den 1. Satz in einem Maß, dass der dunkle, unruhige Anfang überhaupt nicht mehr wiederholt wird. Stattdessen wird am Anfang der Coda in einer Folge immer größere Verwirrung stiftender Auftakte mit "einer der genialsten technischen Leistungen" (Schenker) in T. 433-452 [11:05][13:36] der Hauptgedanke geradezu in seine Einzelteile auseinander gesprengt, um Platz zu schaffen für eine der aufwühlendsten Kadenzen der Musikgeschichte. Ab T. 513 [13:04][16:03] wird zum elementarsten Mittel der Musik gegriffen, eine Tonleiter, die jedoch in ständiger Beschleunigung und Steigerung auf einem Basso ostinato aufgebaut ist. Ist das nun ein Wechselbad aller Gefühle oder ein Akt der Selbstsuggestion, um schließlich die Kraft zu gewinnen, ein letztes Mal das Thema darzustellen, so dass der Satz da endet, wo er angefangen hat? Bruckner hat dies fast wörtlich in seiner 3. Sinfonie zitiert. Mahler preßte es am Ende des 1. Satzes der 2. Sinfonie in die kürzest mögliche Form.


    Retuschen


    Da geht es nicht musikalisch-schön her, und die vermeintlichen Beethovenschen Instrumentierungsschwächen und angeblich falschen Metronom-Angaben gehören für mich wesentlich zur Aussage dieser Stelle. Der erste Satz sollte bei den vorgeschriebenen 88 Viertelschlägen je Minute etwas weniger als 13 Minuten dauern! Charles Münch kommt mit ziemlich genau 14 Minuten immerhin in die Nähe. Das kann allerdings die Dirigenten zur Verzweiflung treiben. Felix Weingartner in seinen "Ratschlägen für Ausführungen der Symphonien Beethovens" von 1906:


    "Läßt man aber diese Stelle so spielen, so hört man eigentlich deutlich nur den Paukenwirbel, vorausgesetzt, dass ein Pauker von so vorzüglicher Qualität zur Verfügung steht, dass er imstande ist, 36 Takte ohne jede Abschwächung mit größter Kraft zu wirbeln. Läßt aber seine Kraft nach, so ist die auf diese Weise wenigstens dynamisch große Wirkung dieser Stelle bereits gefährdet, um so mehr, als dann mehrere andere Spieler instinktiv mit dem Pauker nachlassen, andere wieder, eingedenk der Vorschriften des Komponisten und der Ermahnungen des Dirigenten, die Töne in so unschöner Weise forcieren, so dass die letzten zehn bis fünfzehn Takte in einem schwächlichen Mezzoforte, untermischt mit einigen quicksenden Aufschreien verlaufen."


    Er löste daher das Fortissimo auf, indem er abwechselnd Pauke und Bläser crescendo und decrescendo spielen lässt. Die meisten Dirigenten folgen ihm mehr oder weniger und versuchen, das Spiel der Pauke zu mildern und diese Passage zu strukturieren. Ein Blick in die Partitur zeigt allerdings, wie das schon Beethoven sehr genau durch zahlreiche ff, sf und f Einträge gefordert hatte. Am weitesten ging Gustav Mahler. Er verdoppelt ab T. 314 die Bläser, verstärkt ab T. 315 die Celli und Kontrabässe durch Posaune und Tuba und in T. 319 - 338 die Celli durch ein viertes Hörnerpaar.


    Der Pauker und das Orchester können diese Stelle nur dann richtig herausbringen, wenn es dem Dirigenten gelungen ist, sie schon vom ersten Einsatz an geradezu in Ekstase zu versetzen. Das kann natürlich nicht in einem routinemäßig gespielten Abonnement-Konzert oder am alljährlichen Neujahrsmorgen gelingen.


    Richard Wagner 1846 und 1872


    Am stärksten war sich dessen wohl Richard Wagner bewusst, auch wenn er der erste Urheber der unseligen Retuschen werden sollte. Er hat diese Sinfonie 1846 im vorrevolutionären Rausch in Dresden aufgeführt (unter den Zuhörern befand sich Bakunin, der den "Götterfunken" ganz neu und wörtlich verstand) und nochmals 1872 bei der Einweihung des Festspielhauses von Bayreuth. Beide Konzerte riefen heftige Reaktionen hervor.


    1846 war Carl Gustav Carus geschockt über


    "die Unruhe, das Unbefriedigtsein, die Qual des Künstler. Wer aber diesem heftigen Treiben mit Aufmerksamkeit nachgeht, der wird nicht läugnen können, dass an vielen Stellen ein vollkommener Wahnsinn durchzubrechen scheint, und dass hier vieles ... über die feine Linie des Schönen entschieden hinaus greift".


    Das traf ihn besonders im vierten Satz, um den es hier allerdings nicht gehen soll. In der Folge wurde er dann nach 1850 ähnlich wie David F. Strauß oder Eduard Hanslick zum Vertreter einer selbstzufriedenen, bürgerlichen Kultur mit ihrer Huldigung des Musikalisch-Schönen, die alle aufklärerischen Ideen des Erhabenen und Tragischen abgeworfen hat, wofür Wagner und ihn unterstützend Nietzsche (in der ersten "Unzeitgemäßen Betrachtung") nichts als Hohn und Spott übrig hatten.


    Auch 1872 hat Wagner die Aufführung gründlich vorbereitet. Der Musikkritiker Heinrich Porges hörte den Proben zu und schrieb nach dem Konzert über die Wirkung dieser Stelle:


    "Hier stehen wir bei der Katastrophe unseres Dramas. Der Geist der Vernichtung, der uns am Anfang mit ahnungsvollem Schauern berühret, hat jetzt von unserem ganzen Wesen Besitz ergriffen. Wir fürchten ihn nicht mehr, wir trotzen ihm nicht, sondern fühlen uns mächtig von ihm erfaßt und im Innersten durchglüht. ... Hier durfte man wohl ahnend den Geist Gottes empfinden, der in gewaltigen Wettern sich offenbart. Aber der Inhalt dieser Offenbarung ist Liebe, die einzig unvertilgbar aus allen Wettern der Vernichtung hervorgeht, ja die, wenn wir tiefer dringen, in ihrer ganzen erlösenden Kraft erst durch diese Vernichtung geboren wird."



    Michel Katzaroff (1891 - 1953) : Beethoven, vermutlich 1931 entstanden


    Bruch und Urlinie


    Meistens wird nur gesehen, welche Wirkung diese Stelle auf Wagner, Bruckner und Mahler hatte. Aber genau so spannend ist die Vorgeschichte. Keiner hat das besser verstanden als Mendelssohn. Er hat 1837 in Leipzig den ersten Satz in einem Tempo gespielt, dass dem Publikum - und dort saßen auch Wagner und Schumann - Hören und Sehen verging. Schumann sprach ihn an. Mendelssohn erklärte, für ihn käme dem Schwung des ersten Satzes nur der Schluss des d-Moll Konzerts von Bach gleich. Das ist die Lösung! Zum Beispiel in der Aufnahme mit David und Igor Oistrach unter Leitung von Rudolf Barschai ist zu hören, was Mendelssohn gemeint hat.


    Und von da geht es weiter zurück zu Vivaldis Konzert für 2 Violinen, Streicher und Cembalo d-moll, op. 3 Nr. 11. Dort steht an der entsprechenden Stelle eine Fuge. Ich verstehe Beethoven so, dass er gespürt hat, wie der Übergang von der Durchführung zur Reprise eine geradezu heilige Stelle im musikalischen Satz ist, die nun aber nicht mehr wie bei Vivaldi und Bach in einer gewissermaßen kirchlichen Architektur geschlossen und "überwölbt" werden kann, sondern den Einbruch der Transzendenz zeigt.


    Und so vollendet er wirklich eine Urlinie der klassischen Musik, von der Heinrich Schenker sprach. Der war natürlich von dieser Sinfonie begeistert und entschiedener Gegner aller Retuschen. In seinem 1912 veröffentlichten Buch über diese Sinfonie macht er ganz klar: Wer das tut, kann sich nicht der von Wagner ausgelösten Respektlosigkeit gegenüber den großen Meistern entziehen, wodurch eine ganze Generation - heute muss leider ergänzt werden: eine ganze Tradition - "auf Abwege eines Musikjargons geraten ist", der sich den von Beethoven aufgeworfenen Fragen nicht mehr stellen will und hier lediglich ein Stück Musik sieht, das es zeitgemäß aufzupolieren gilt. Wie er diese Sinfonie verstand, zeigt ein Tagebucheintrag nach einem Konzert von Furtwängler 1920:


    "Eine gewiss vereinzelte Leistung, die aber immer noch nicht das Letzte und Stärkste ausschöpft, der 1. Satz an manchen Stellen zu wenig bewegt, auch die Gedanken infolgedessen nicht immer genügend zusammengeballt, die 'Coda' nicht übersichtlich genug und nur der allerletzte Schluß gerät restlos, was aber die Wirkung des ganzen Satzes nicht retten kann. Das Scherzo zu schnell, aber mit blendender Sicherheit vorgetragen. Auffallend und prachtvolle originelle Dirigierzüge. Das Adagio zu breit und der Tondurst der Geigen mit Mühe zurückgehalten. Zu langsam das D-Dur Sätzchen, die Variationen zu dick bei den Geigen, wie dann F. überhaupt hinter das Geheimnis doch nicht gekommen zu sein scheint, dass ein längeres cresc. nicht durch ein wirkliches Steigern der Kraft von Ton zu Ton, sondern durch Umwandlung in Beschleunigung verbunden mit einem Druck bei der Zielstelle auszuführen ist. Im letzten Satz sind die Vokalpartien glücklich durchgebracht und damit wohl die Hauptschwierigkeit beseitigt worden."


    Glücklich der Dirigent, dem solche Art von Kritik zukommt. Beide blieben bis zum Tod Schenkers im Gedankenaustausch. Furtwängler hat das Buch über diese Sinfonie intensiv studiert und viele seiner Anregungen aufgegriffen und umgesetzt.


    Wiederholungszwang oder teuflisches Spiel - die metaphysische Frage


    Und so hat sich bis heute keine gültige Interpretation dieser Stelle durchgesetzt, sondern im Gegenteil ist fast unvorstellbar, wie unterschiedlich sie gedeutet wird. Was ist ihr Sinn? Beweist ihre Unergründlichkeit - gerade auch im Unterschied zum Chorfinale - die Überlegenheit der Musik über das Wort, wovon sogleich Schopenhauer sprach, und dass der Musik eine Aussage gelang, wofür der Philosophie schlicht die Kategorien fehlen, solange sie in den von Aristoteles geprägten Bahnen bleibt?


    Nietzsche hatte Wagners Begeisterung für dieses Werk geteilt. Als er dann aber nach seiner Abkehr von Wagner alles in Frage stellte, was ihm bis dahin wichtig gewesen war, wurde auch die 9. Sinfonie umgewertet. Schweren Herzens hielt er Beethoven vor, noch einmal das metaphysische Bedürfnis wachzurufen und zu Tränen zu rühren, von dem alle Freigeister sich innerlich bereits befreit gefühlt hatten. ("Menschliches Allzumenschliches", Bd. 1 Aph. 153). Hier dachte er sicherlich an die Passagen im letzten Satz über den himmlischen Vater. Die sind jedoch Beethovens Versuch einer Antwort auf den 1. Satz.


    Stellen wie diese können eine moralisch verheerende Wirkung haben. Nietzsches Warnung vor angeblich metaphysischen oder ewigen Werten und Ideen, mit denen nur eine bestimmte Moral versteckt und verkauft werden soll, ist sehr ernst zu nehmen. Solche Stellen drohen durch ihren scheinbar übermenschlichen Entwurf den Blick auf die wahren Unterschiede zu trüben. Angesichts ihrer Größe scheint demjenigen alles erlaubt, der in ihrem Namen zu handeln meint und über alles hinweggeht, was dem nicht gewachsen erscheint. Schenker selbst ist ein tragisches Beispiel dafür, als seine Kritik an den verflachenden Retuschen umschlug in die selbstzerstörerische Anbiederung - er war ein Jude aus Galizien -, gemeinsam mit den Nationalsozialisten seine Gegner auszurotten. Und wie ist zu verstehen, dass Furtwängler 1942 in Berlin in dem historischen Moment und an dem Ort eine der wenigen gültigen Einspielungen gelang, als von dort die größten Verbrechen ausgingen?


    Ist das gar ein deutsches Verhängnis? Im gleichen Jahr 1942 arbeitete im amerikanischen Exil Adorno an seinem Beethoven-Buch und ein Jahr später Thomas Mann an seinem Faust-Roman. Faust tritt in der Gestalt des Komponisten Leverkühn auf. In ihm treffen sich die Figur von Nietzsche und die Zwölfton- und Reihentechnik Schönbergs. Sein Lehrer doziert mit den Worten Adornos über Beethovens Spätwerke, und was er zu sagen hat, geht unmerklich über in die Verführungskunst des Teufels. Leverkühn läßt sich davon faszinieren, am Ende aber sieht er keinen Ausweg mehr, als die 9. Sinfonie zu widerrufen, nachdem ihm im Leben alles genommen wurde, was ihm lieb war. Wenn das der Preis ist, ein großes Werk schaffen zu können, - und Beethoven war in kritischen Momenten seines Lebens in ähnliche Krisen geraten bis dicht an den Selbstmord -, kann er an die Freude als höchsten Ausdruck der Kunst nicht mehr glauben. Indirekt ist damit gesagt, dass auch diese Sinfonie dämonische Züge trägt. Und niemand hat das besser getroffen als Furtwängler. Adorno war einer seiner Bewunderer.


    Was dem einzelnen Künstler geschah, drohte nun dem ganzen "Volk der Dichter und Denker": Je mehr sich in den Kriegsjahren die letzten Hoffnungen der Exilanten auf eine Selbstbefreiung Deutschlands und eine Neugeburt zu den Klängen der Freuden-Melodie zerschlugen, desto düsterer gestaltete Mann die Vision von Leverkühns letztem Werk, "ein ungeheueres Variationenwerk der Klage - negativ verwandt als solches dem Finale der Neunten Symphonie mit seinen Variationen des Jubels", eine Vertonung der zwölf Silben "denn ich sterbe als ein böser und guter Christ".


    Beethoven stand an einem Wendepunkt. Bei ihm ist erstmals die Musik ganz auf ihre eigenen Gesetze angewiesen, während sie vorher von übergeordneten Bedeutungen getragen war. In der Musik war es ähnlich wie bei mittelalterlichen Bildern und Skulpturen: Früher war die symbolische Bedeutung aller Stilelemente bekannt und jeder, der diese Bilder betrachtete, wusste, was angesprochen war. So genügte es auch in der Musik, eine Melodie, ein Intervall, eine rhetorische Figur anzudeuten, und damit war eine umfassendere Bedeutung genannt. Beethoven war einer der letzten, der noch ganz darin leben konnte. Er kannte noch die alten Bedeutungen der Tonarten, rhetorischen Figuren und der einzelnen Instrumente. In seinen freien Improvisationen konnte er ganze Geschichten erzählen. Das galt auch für seine frühen Klavier-Sonaten und er wunderte sich, wenn das kaum jemand mehr nachvollziehen konnte und von ihm Erklärungen erwartet wurden, was gemeint ist.


    Schon lange vor ihm hatten die Komponisten nach neuen Ausdrucksformen gesucht und diese in der Sonate gefunden. Hier begann eine neue Stimme zu sprechen, ein persönlicher Ausdruck eigener Gefühle, unwiederholbar ihr erster Höhepunkt bei Scarlatti. Das war für die Beteiligten wie die Abschüttelung einer zentnerschweren Last. Das sollte befreien von der Angst und Flucht, die in jeder Fuge waltet, und dem steifen Stil der höfischen Tänze in den Suiten und Ouvertüren, wo die Musiker einer Gesellschaft aufspielen sollten, der sie innerlich längst fremd geworden waren. Wer kann sich der Leichtigkeit und zugleich dem Ernst dieser Musik entziehen, die im 18. Jahrhundert komponiert wurde?


    Vermochte aber diese Musik wirklich eine schlüssige Antwort zu finden? Adorno sucht nach dem verborgenen metaphysischen Glaubensbekenntnis, das an die Stelle von Mythos und Religion getreten war. Das ist für ihn ein neues Verständnis der Zeit. Dafür steht Kants Neubegründung der philosophischen Kategorien durch den Zeitbegriff, und er ist überzeugt, dass Beethoven dank der Musik weit über Kant und Hegel hinauszugehen vermochte.


    (1) Mit der Sonatenform ist eine Zeitstruktur vorgegeben, die der Musik einen Freiraum für subjektive Gestaltung in der Durchführung gibt, und dann mit der Reprise wieder in einen kreisförmigen Ablauf A - B - A schließt. (2) An der kritischen Stelle der Sonatenform, dem Reprisenbeginn, schlägt die Harmonie um in Banalität und zuende gedacht fällt sie wieder zurück in die Gewalt neuer Mythen. Oder es kommt zu einem nur in metaphysischen Begriffen zu fassenden Katastropheneinbruch wie im 1. Satz der 9. Sinfonie, der ein tiefes Verständnis der "Geheimnisse der Schöpfung" und der Zeit zeigen kann. (3) Die musikalische Zeit der Klassik führt schließlich aus sich selbst heraus zu einer Verräumlichung. Die beginnt mit Wagner und führt über Debussy zu Strawinsky. Wagner im Parsifal: "Zum Raum wird hier die Zeit." Mit Wagner gewinnt die Klangfarbe eine ganz neue Bedeutung. Bei Beethoven gibt es dafür bereits Ansätze (Aufwertung der Holzbläser, Hörner und der Pauke).


    Reprisenbeginn


    Was ist am Reprisenbeginn so schlimm? Mit der Reprise wird nach der freien Durchführung die Exposition wiederholt, und darin sieht Adorno einen drohenden Rückfall in den Mythos. Er meint: Die Wiederholung setzt die Identität durch und lässt damit den Anspruch des Ganzen und der Totalität über alle Abweichungen, Besonderheiten und persönlichen Eigenarten und Freiheiten dominieren, denen in der Durchführung einiger Spielraum gegeben worden war. Die Zeit holt mit der Reprise alles wieder ein, setzt die Exposition als das Dauerhafte und unangefochten Siegende durch und läßt keine Öffnung für Werden und Vergehen, Wandlung oder Ausbruch. Sein Ideal ist daher Schönbergs Gegen-Entwurf der entwickelnden Variation, die er als eine immer weiter geführte Durchführung verstand, ohne von einer Reprise und am Ende auftrumpfender Coda wieder zurecht gerückt zu werden.


    Beethoven schien zunächst das Gegenteil zu beweisen. Er wurde mit seinen Klavier-Sonaten und den Kopfsätzen der Sinfonien der große Meister der Sonate. Seine Zeitgenossen verstanden, wie er diese Form auf die Höhe seiner Zeit brachte, der Französischen Revolution und der Philosophie von Hegel. Bei ihm wurde klar, wie die Dreiteiligkeit der Sonate zu Hegels dialektischer Methode passt, und diese sich wiederum auf die christliche Trinität beziehen kann. Für einen Moment schien die Musik ein neues Fundament zu finden. Die Reprise wäre dann die Geburt des Geistes aus den Gesetzen des Vaters (der Exposition) und dem Lebensweg des Sohnes (der Durchführung).


    Das wurde von einer neuen Generation der Musikkritik begeistert aufgenommen und kann wohl als Gründungsakt der modernen Musikwissenschaft gelten (Adolph Bernhard Marx, der ab 1823 in Berlin die dortige "Allgemeine Musikzeitung" herausgab). Doch gerade da, als begonnen wurde, die Sonatenhauptsatzform - schon dieser Name spricht für sich - zu kodifizieren, brach Beethoven aus ihren Grenzen aus.


    Als die Musikkritik von seinen ab 1820 erscheinenden Werken erwartete, endlich die "Lösung" der Sonate geliefert zu bekommen, kamen von ihm immer unverständlichere und auch unspielbarere Werke wie die Hammerklavier-Sonate, die Diabelli-Variationen, das opus 111, die späten Streichquartette. Da blieb nichts anderes übrig als einzuräumen, dass jedes seiner Werke nur noch aus sich selbst erklärt werden kann, wenn ihm nicht gleich Krankheit bis an die Grenze des Wahnsinns attestiert wurde.


    Je mehr sich der subjektive Ausdruck verselbständigte, verlor er seinen Rückhalt in einer allgemein verbindlichen Form. Und so droht aus der immer übermächtigeren Subjektivität entweder leeres Imponier-Gehabe zu werden, wogegen sich Adorno wendet, oder unerwartete innere Dämonen stiegen auf, wie es im 1. Satz der 9. Sinfonie zu hören ist. Das kann die Vernunft in den Wahnsinn treiben (wenn Wahnsinn nicht als Denunziation gemeint ist). Adorno und Mann sehen hier einen Teufelspakt.


    Bekker hat wundervoll beschrieben, wie die ersten Takte mit dem Quintintervall und dem einander folgenden Eintritt der D-Hörner, Klarinette, Oboe, Flöte II, Flöte I, B-Horn - eine Tonleiter der Klangfarben - einer Beschwörungsszene gleichen, aus der eine Kraft erwächst, die schließlich das Subjekt mit Grauen erstarren läßt. Dieser Satz ist ganz anders als etwa der 1. Satz der Eroica oder der 5. Sinfonie kein Ringen mit dem Schicksal, sondern offenbart die inneren Untiefen eines Subjekts, das seinen Halt zu verlieren droht und mit inneren Mächten konfrontiert ist, denen es nichts entgegen zu setzen weiß.


    Oft scheint beim Reprisenbeginn die Musik besonders munter zu laufen und neue Kraft und Eleganz zu gewinnen - vollendet bei Haydn! -, wenn sich im Grunde alles als harmlos erweist und beim Altbewährten bleibt. Hier dagegen scheint nach der ungeheuren inneren Bewegung der Durchführung und ihrem Umschlag in die Reprise die Zeit still zu stehen. Je überwältigender der Ausdruck der Musik, desto kleiner und regloser das Subjekt. Fast ist nur noch ein Brausen zu hören. Weingartner hat das sehr gut beschrieben. Diese 38 Takte scheinen außerhalb der Zeit zu stehen, da das Subjekt die Zeit nur wahrzunehmen vermag, wenn es sich in ihr bewegen kann. Und doch geschieht etwas in diesen Takten.


    Hatten schon Beethovens tragische Zäsuren gezeigt, wie er nicht nur gemäß bestimmter Regeln und Formen zu komponieren weiß, sondern das ganze Regelwerk gleichsam in Schwingung zu versetzen vermochte, so begann nun deren Dynamik eine eigene Kraft zu gewinnen und ihn im Gegenlauf zu überwältigen. Das ist die Besonderheit des Reprisenbeginns in der 9. Sinfonie. Wird diese Sinfonie richtig gespielt, ist zu hören, wie die subjektive Stimme bei der Zäsur in der Durchführung mal zu sprechen vermag und dann wieder ergriffen wird von dem Geschehen um sie herum.


    Gras-Engel (Takt 315 - 322)


    Adorno kommt 1942 in einem Fragment zum unvollendet gebliebenen Beethoven-Buch genau auf diesen entscheidenden Punkt. Zwar meint er Beethoven im Ganzen und nicht speziell diese Stelle. Mir scheint jedoch ausgehend von dieser Stelle möglich, Adornos Gedanken besser zu verstehen. Das schwierige Fragment lautet vollständig:


    "Zur Metaphysik der musikalischen Zeit. Den Schluß der Arbeit beziehen auf die Lehre der jüdischen Mystik von den Grasengeln, die für einen Augenblick geschaffen werden um im heiligen Feuer zu verlöschen. Musik - nach der Lobpreisung Gottes gebildet, auch und gerade wo sie gegen die Welt steht - gleicht diesen Engeln. Ihre Vergänglichkeit, das Ephemere, ist eben die Lobpreisung. Nämlich die immerwährende Vernichtung der Natur. Beethoven aber hat diese Figur zum musikalischen Selbstbewußtsein erhoben. Seine Wahrheit ist eben die Vernichtung alles Einzelnen. Er hat die absolute Vergänglichkeit der Musik auskomponiert. Das Feuer, das seinem - gegen das Weinen gerichteten - Wort zufolge Musik in der Seele des Mannes entzünden soll, der Enthusiasmus, ist das 'Feuer, das Feuer [die Natur] verzehrt' (Scholem)." (Beethovens Wort über das Entzünden des Enthusiasmus wurde ihm allerdings erst nachträglich in einem nicht authentischen Brief von Bettina von Arnim untergeschoben.)


    Auf den ersten Blick widerspricht Adorno sich hier selbst. Wird nun Beethoven und seine Musik für das gelobt, wogegen er sich sonst wendet: "die Vernichtung alles Einzelnen"? Hat die Musik die vernichtende Kraft des Feuers, das alle Natur vernichtet, oder des Grases, der Natur, die im heiligen Feuer verlöscht? Scholem hatte Adorno 1935 die kommentierende Übersetzung der "Geheimnisse der Schöpfung" gesandt, dem zentralen Kapitel des kabbalistischen "Sohar", eine Deutung der biblischen Schöpfungsgeschichte.


    Sonne, Mond und Sterne und mit ihnen das klassische Urbild der Sphären-Musik und damit der musikalischen Harmonie wurden erst am 4. Schöpfungstag erschaffen. Die ewige Gleichförmigkeit der Sternbewegung ist seit der Antike sowohl das Maß der Zeit wie der Musik. Unübertroffen Bachs "Kunst der Fuge". Die Sonatenform hat sich zwar von objektiven Bildern gelöst und will die innere subjektive Bewegung zum Ausdruck bringen, doch auch ihre Zeitstruktur der Wiederholung hat ihren Ursprung in der ewigen Bewegung der Himmelskörper.


    Was an den 3 Tagen "vorher" geschah, steht buchstäblich außerhalb oder vor der Zeit. Dort werden zwar Tage gezählt und es heißt wiederkehrend "da ward aus Abend und Morgen der nächste Tag". Doch sind dies keine Tage, wie wir sie kennen und verstehen, wo es noch keine Sonne, keine Erde und keinen Mond gab, die sich umeinander drehen. Tag ist gemeint im Sinne von: "Tageswesen sind wir, vergänglich wie der Tag. Mit jedem Tag bricht etwas Neues an, und jeder Tag kann den Tod bringen." Und Nacht ist das Nächtliche, Dunkle, Unberechenbare und zugleich Reinigende und die Zeit der Wiedergeburt. Beethoven hat sich sehr mit solchen Fragen beschäftigt. 1816 trug er in sein Tagebuch aus einem Buch über indische Religion ein: "Zeit findet durchaus bey Gott nicht statt."


    In dieser turbulenten, chaotischen Bewegung werden am zweiten Tag kurzlebige Engel geschaffen, teils mit bösen, teils mit guten Zügen. Alles ging ineinander über. Nichts ist für sich überlebensfähig und droht entweder mit dem Übermaß oder der Unvollständigkeit der missgestalteten und einander zugleich suchenden und abstoßenden Kräfte alles andere und sich selbst zu vernichten. Solche Vorstellungen gab es keineswegs nur in der hebräischen und kabbalistischen Tradition. Offenbar kannte Beethoven die Beiträge von Reinhold über die kabirischen Mysterien von Samothrake im "Journal für Freimaurerey", erschienen 1795 in Wien. Schindler fragte ihn einmal, ob er nicht einen Kanon über "Lumpenkerl von Samotrazien" schreiben wolle. Schelling charakterisierte 1815 Axieros, den ersten der Kabiren, einen dieser Lumpenkerle: "Das verzehrende Feuer, das, selbst gewissermaßen nichts, nur ein alles in sich ziehender Hunger nach Wesen ist."


    Am dritten Tag gibt es eine gegenläufige Bewegung. In der dunklen Erde entsteht nicht nur die Hölle, auf ihr toben nicht nur die wilden, alles vernichtenden Urtiere (Drachen). In ihrem Innern sammeln sich die Wasser und lösen eine Gegenbewegung aus. In einer Interpretation von Psalm 104,14 erläutert der "Sohar" in dem Abschnitt, auf den Adorno sich bezieht:



    Joëlle Dautricourt: Tehilim, Psalm 104, Vers 25-27, 1997


    "Die Erde bringe Gras hervor, Kraut, das Samen sät. Nun brachte sie Kräfte hervor, durch jene 'Wasser', die sich an Einem Ort versammelt hatten und in ihr Heimlichstes eingeströmt waren, und in ihrem Schoß entsprangen himmlische Kräfte und heilige Scharen, die die 'Kinder des Glaubens' [die Frommen] zur geheimen Gestaltung bringen, wenn sie ihrem Herren Dienen. Auf dies Geheimnis deutet der Vers 'der Gras für die Behema sprossen läßt' [Behema, eigentlich 'das Tier' ist die vorher 'Erde' genannte Schechina], die auch 'das Tier, das auf Tausend Bergen lagert [nach einem Schriftwort] heißt. Und diese 'Berge' [die die Frommen sind] bringen ihr täglich Gras hervor. Und dies 'Gras' - das sind die Engel, die nur für eine Weile Macht ausüben und am zweiten Tag erschaffen sind, um von jener Behema verzehrt zu werden [der Schechina], die ein Feuer ist, das Feuer verzehrt." (Aus Scholems Übersetzung des "Sohar", S. 70)


    Dies "Gras für die Behema" wird deutlich unterschieden vom "Kraut für die Arbeit des Menschen". Das Gras sprießt immer wieder von allein aus der Erde, wird von den wilden Tieren und dem alles verzehrenden Feuer vernichtet, und wandelt im Moment des Verlöschens deren Wildheit. Das Kraut dagegen ist die Urpflanze, die den Menschen land- und fortwirtschaftliche Arbeit ermöglicht, insofern Grundlage aller Kultur.


    Wenn Adorno die Musik als Gras-Engel versteht, deute ich das so: Sie hat keinen direkten ökonomischen Nutzen wie die Kräuter, niemand wird von Musik satt, und kein Erzeugnis menschlicher Kultur wird durch Musik haltbarer, sicherer oder schöner. Instrumente können Musik erzeugen, aber nichts kann mit Musik angemalt und schöner gestaltet werden oder ist aus Musik gemacht. Musik hat immer etwas Einmaliges und Verlöschendes, sowie der Atem und die Konzentration bei ihrer Komposition, Ausübung oder Wahrnehmung nachlassen. Das definiert ihre tiefste Zeitstruktur und steht in Widerspruch zu allen festen Formen, und sei es die der Sonate, wodurch erfolglos versucht wird, Musik der gleichen Gesetzlichkeit wie den Werken der menschlichen Kultur unterzuordnen. So sehr die Kompositionen (das "opus") Werkcharakter annehmen können, bleibt das Besondere der Musik doch enthalten in dem unvermutet Aufschießenden und wieder Verlöschenden, wie es das Wesen der Gras-Engel ist. Und das vermag vielleicht auch zu erklären, wie ausgerechnet 1942 in Deutschland eine solche Aufnahme wie die von Furtwängler gelingen konnte.


    Für diese Deutung lässt sich in der Partitur der 9. Sinfonie ein Anhalt finden. In der Mitte des Reprisen-Beginns kommt es zu einer zweiten Zäsur, die derjenigen aus der Durchführung korrespondiert. In den Worten von Schenker: "In den Takten 315 - 322 [8:15][10:07] fällt bei den Bässen ein neuer Inhalt auf, der im Werke noch keine Vergangenheit hat, ... den Kontrabässen einen eigenen, neuen Kontrapunkt zu geben." Dadurch ist die Wirkung des Fortissimo nicht gebannt, sondern mehr noch: unmerklich gewandelt. Auf dieser zweiten Zäsur beruht die tiefste Aussage dieses Werks. Sie ereignet sich gewissermaßen außerhalb der Zeit.


    Adorno hat sich keineswegs immer an die eigenen Einsichten gehalten, was es schwer machen kann, sich seinen Texten zu nähern. Oft scheint er sich im Besitz einer Art Geheimwissens gefühlt zu haben, das ihm zu erlauben schien, mit gleichermaßen elitären wie diabolischen Zügen über seine Gegner herzufallen und diese mit der Absicht völliger Vernichtung zu attackieren. Das konnte ihm den Ruf des teuflischen Verführers einbringen, was implizit bereits durch Thomas Manns Roman nahegelegt war und später durch die Kritiker der 68er aufgegriffen und verstärkt wurde, die ihn als einen der übermächtigen Verführer sehen.


    Aber hier gilt es, sich auch von diesem Bann zu befreien und nicht zu versuchen, ihn im Gegenzug zu entlarven und zu überführen, wie er es oft genug mit seinen Widersachern versucht hat. So könnte die Musik von Beethoven helfen, aus der Lähmung und Selbstblockade des deutschen Denkens seit 1945 hinauszuführen.


    Biographische Nachträge


    Ergänzend einige biographische Hinweise. Maynard Solomon ist überzeugt, dass Beethovens Kreativität mit einigen auffallenden Lebensumständen zu tun hat. Lange hat er seine Taufurkunde und damit sein Geburtsdatum angezweifelt. Er hielt sie für das Dokument des bereits nach 6 Tagen verstorbenen 2 Jahre älteren Bruders Ludwig Maria. Dessen früher Tod gibt auch eine psychologische Erklärung für seine häufigen Selbstmord-Gedanken. Immer war ihm dessen nie gehörte Stimme gegenwärtig, aus der Trauer seiner Mutter und den Erwartungen, er solle an dessen Stelle treten. Er glaubte nicht an die Identität seines Vaters, sondern hielt zumindest zeitweise sogar den preußischen König für den wahren Vater. Da der leibliche Vater alkoholsüchtig war, musste er schon früh dessen Rolle als Familienoberhaupt übernehmen.


    Bis 1819 vermochte er sich in Wien als Adligen darzustellen. Anders wäre ihm der Zugang zu seinen Mäzenen kaum gelungen. Die innere Spannung versuchte er zu lösen durch Grobheit und eine gewisse Arroganz, diese würden sich als seine Freunde fühlen, wo er sie doch nur benutzt zum Dienste seines Werkes. Gegenüber seinem Neffen gab er sich nach dem Tod seines Bruders als dessen Vater aus und wollte ihm zugleich die Mutter ersetzen. Andererseits könnte er sich als der Vater des am 8.3.1813 geborenen Karl Josef Brentano fühlen. Der wurde wenige Tage vor Beethovens Brief an die "Unsterbliche Geliebte" gezeugt. ( Mehr ) (Karl Josef war schon in frühen Jahren schwer krank und wahrscheinlich behindert. Antonie Brentano hat sich sehr um ihn gekümmert und sein Leben lang mehrere Betreuer engagiert. Er starb 1850.)


    Bei Beethovens zahlreichen Krankheiten ist bis heute ungeklärt, zu welchen Anteilen sie aus falscher oder verspäteter ärztlicher Behandlung rühren, aus Infektionswellen, einer Bleivergiftung, psycho-somatischen Störungen oder falschem Lebenswandel. Konnte er so grob sein aus Überheblichkeit, Verzweiflung oder weil dies zum Krankheitsbild einer Darmentzündung oder Bindegewebeerkrankung gehört, an denen er litt? Waren der Alkohol, der Gram über den Selbstmordversuch des Neffen, zunehmende Vereinsamung oder Langzeitwirkungen seiner Krankheiten Schuld am Tod?


    Seine Identität war in ein Netz von Lügen und Selbstlügen, Zuschreibungen und falschen Erwartungen versponnen. Als seine Gönner starben und er von den Verlegern abhängig war, scheute er nicht, die "Missa solemnis" mehrfach zu verkaufen, ein klarer Betrugsversuch. Bis heute kann all das Spott und Satire hervorrufen. (Ein Beispiel: Edmond Pollak). Nichts hoffte er sehnlicher als auf eine bessere Gesellschaft, wo einfach alle einander Brüder sind. Manchmal träumte er von der urkommunistischen Idee, die Gesellschaft würde ein "Magazin der Kunst" einrichten, wo alle Künstler ihre Werke abliefern und dafür frei von allen Abhängigkeiten und Demütigungen ihren Lebensunterhalt sichern können. Die Skizzenbücher haben gezeigt, dass schon 1812 die Freuden-Melodie entworfen war. Als er alle Hoffnungen auf ein "normales" bürgerliches Leben aufgeben musste, blieb das seine Utopie und innere Stütze. In einer langen Phase der Umarbeitung unterschiedlichster Ideen wollte er die 9. Sinfonie ganz auf diese Melodie als ihren Höhepunkt komponieren.


    Solomon meint, dass so die 9. Sinfonie das erste Werk wurde, das aus einer einzigen Idee heraus entstand und ein dichtes Netz innerer Bezüge aus Erinnerungen und Voraussichten enthält. Damit sei es Beethoven gelungen, die Art von Phantasie kreativ umzusetzen, die er ein Leben lang zur Deutung und Umdeutung seiner persönlichen Lage hat aufbringen müssen.


    Und doch blieb auch hier Unsicherheit zurück. Die Final-Sätze bereiteten ihm häufig besondere Schwierigkeiten. Das ist zum Beispiel an der Eroica kritisiert worden. Oft lagen mehrere unterschiedliche Versionen vor, die bisweilen ausgetauscht oder ganz ersetzt wurden. So entstand die Reihe der 3 Leonore-Ouvertüren. Das Andante favori WoO 57 wurde aus der Waldstein-Sonate ausgegliedert, das Finale der Violin-Sonate op. 30 Nr. 1 wanderte in die Kreutzer-Sonate op. 47. Bei der Hammerklavier-Sonate war sich Beethoven bis zum Schluss unsicher, ob der letzte Satz mit der Fuge ausgelagert werden sollte. Umgekehrt wurde beim Streichquartett op. 130 empfohlen, die Große Fuge op. 133 zu ergänzen. Czerny berichtete, dass Beethoven auch mit dem Chor-Finale der 9. Sinfonie unzufrieden war. Solomon erscheint das glaubhaft. Doch ließ er jede weitere Arbeit daran liegen und konzentrierte sich auf die späten Streichquartette. "Muß es sein? - Es muß sein!" (Eintrag im Streichquartett op. 135)


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Johannes,


    diese Sinfonie höre ich am liebsten in einer fast schon historischen Aufnahme mit Günter Wand und dem Gürzenich-Orchester Köln, aufgenommen im Feb. 1959. Sie ist Teil einer Doppel-LP mit der 103. Sinfonie und der Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta sowie dem Divertimento von Bartok. Jetzt ist sie auch als CD erhältlich.



    Viele Grüße,


    Walter

    Lieber Christian,


    bevor ich diesen Beitrag eröffnete, habe ich lange gesucht, ob es schon etwas zu dieser Sonate gibt, wo ich einen Beitrag ergänzen kann. Im Grunde wollte ich die Sonate gar nicht vorstellen, sondern beschäftige mich seit einiger Zeit intensiv mit den Beethoven-Fragmenten von Adorno und stieß dann darauf, dass Godowsky gerade dieses Stück eingespielt hat.


    Programm-Musik: Ich glaube, es handelt sich um mehr als nur Satzüberschriften. Der Hinweis auf die „Pastorale“ zeigt, dass Beethoven allerdings unter Programm-Musik wohl etwas anderes verstanden hat als später Liszt und die neudeutsche Schule. Bei ihm geht es um ein sehr genau bestimmbares seelisches Ereignis, das er fast archetypisch gestalten will, und weniger um eine Erzählung. (Erzählungen sollen ihm sehr gut beim Improvisieren gelungen sein). Und ihm ist wichtig, Naturlaute zu zitieren. Bei der Klaviersonate sind das die Hörner (und im Grunde werden Naturtöne angedeutet) und das Pferdegetrappel. Wie siehst Du die Ouvertüren, etwa den „Coriolan“: Auch dort ist ein ganz bestimmtes psychisches Problem angesprochen und auskomponiert.


    Sicher nicht mehr zur Programm-Musik zu zählen ist die „Sturm“-Sonate, zu unbestimmt erscheint der Bezug zu Shakespeare. - Es gab Anfang des 20. Jahrhunderts Versuche, zumindest in den Sinfonien Erzählungen herauszulesen. Bei der "Eroica" gelingt das am besten, wenn das Programm ernst genommen wird, das den "Geschöpfen des Prometheus" zugrunde liegt.


    Zäsur: Ein interessanter Gedanke. Ich finde auch, dass diese Sonate gewissermaßen auf der Wasserscheide steht zwischen Werken wie der Waldstein-Sonate und den Spätwerken. Dann hätte Beethoven wirklich die Krise von 1812 gewissermaßen vorbereitet.


    ‚Kurzstückmeister’: Der Hinweis auf Dussek hat mich neugierig gemacht. Dank Google sind sogar gleich zwei Sonaten zu finden: Eine Sonate mit dem gleichen Titel „Farewell“ op. 44 von 1800, und die bereits genannte „Le Retour a Paris“ op. 70 von 1807. Es wird vermutet, dass Beethoven beide Sonaten kannte, aber nachweisen lässt es sich wohl nicht.


    Der Beitrag ist überhaupt recht ausschlussreich. Hier wird ein weiterer Hinweis auf das letzte Stück aus Mahlers „Lied der Erde“ gegeben: ebenfalls mit dem Titel „Abschied“.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    Beethoven schrieb diese Sonate 1809. Dies ist seine einzige Sonate mit einem klaren Programm:


    1 Satz „Das Lebewohl“ (Les adieux): Adagio - Allegro
    2. Satz „Abwesenheit“ (L’absence): Andante espressivo, In gehender Bewegung, doch mit Ausdruck
    3. Satz „Das Wiedersehn“ (Le retour): Vivacissimamente – Poco Andante, Im lebhaftesten Zeitmaße


    Die Sonate ist seinem Gönner Erzherzog Rudolph gewidmet, der im Mai 1809 mit der kaiserlichen Familie Wien aus Furcht vor den anrückenden Franzosen verlassen hatte.


    Den ersten drei Tönen ist in der Partitur das „Le – be wohl!“ unterlegt. Es lässt den Hörnerklang der abreisenden Gesellschaft hören.




    Vieles ist an dieser Sonate ungewöhnlich. Die Coda des ersten Satzes klingt mit verhaltenem Schmerz aus. Adorno: „Eine der ungeheuerlichsten Stellen bei Beethoven. Der harmonische Zusammenstoß der Hornakkorde; das unbeschreibliche Sichentfernen des Wagens mit der Quart (das Ewige haftet genau an diesem Allervergänglichsten), und dann der allerletzte Schluß, wo die Hoffnung wie in einem Tor verschwindet, eine der größten theologischen Intentionen Beethovens, vergleichbar nur gewissen Augenblicken Bachs.“


    Der 2. Satz führt bereits in die Gedankenwelt der Hammerklavier-Sonate. Und selten ist in der Musik solche Freude zu hören wie im abschließenden „Vivacissimamente“. Hat Beethoven das Kommen von Antonie Brentano geahnt, der „unsterblichen Geliebten“, die er in den folgenden Jahren kennen lernen sollte, und die ihn zur 7. Sinfonie beflügelte?


    Dies ist meines Wissens das einzige Musikstück Beethovens, von dem es eine Einspielung mit Leopold Godowsky gibt, aufgenommen am 31. Mai 1929 in London.


    Das ist wirklich eine besondere Aufnahme. Ich habe sie mit Solomon und Yves Nat verglichen. Der erste Satz ist noch ein wenig langsamer gespielt als bei Solomon. Die forti sind recht verhalten (und dadurch im Blick auf die ganze Sonate deutlich unterschieden von den Fortissimi im letzten Satz). Besonders auffallend, wie er die flüssigen Bewegungen immer wieder abrupt zum Halten bringt, viele kleine Abbrüche, wodurch Lücken entstehen und der Schmerz zu spüren ist, wenn die Musik innehält.


    Im letzten Satz gelingt dann umgekehrt eine unglaubliche Wellenbewegung, wenn auf die Melodie im fortissimo - jede einzelne Note zusätzlich durch sforzato betont -, die Wiederholung folgt, nun aber die einzelnen Noten in Triolen aufgelöst. Godowsky versteht auf einzigartige Weise, den übergreifenden Bogen der Wiedersehens-Freude zu spielen, die alle inneren Banden sprengt und sich gar nicht mehr beruhigen kann vor lauter Ausgelassenheit.




    Viele Grüße,


    Walter

    Soll nicht alles oder eine bestimmte Anzahl von Werken (was immer etwas willkürlich ist) oder das Berühmteste als Hauptwerk bestimmt werden, würde ich von den klar erkennbaren Schaffensperioden Beethovens ausgehen und entweder kritische Übergangswerke oder die jeweils ausgereiftesten Werke nennen. Mein Vorschlag daher:


    Für die Krise 1802 und ihre Überwindung voller Elan und Brillianz: Die Klaviersonate op. 31.2. Dieses Werk weist sowohl weit zurück wie auch weit in die Zukunft, bis zum op. 111. Sie trägt zurecht den Titel "Der Sturm" und ist im Zweifel für mich überhaupt das Hauptwerk.


    Für die Krise 1812: Die 8. Sinfonie op 93. Ein Rückblick auf die bisherigen Sinfonien, mit viel Humor. Und es ist deutlich zu spüren, wie Beethoven sich bewusst wird, Neuland zu betreten, das noch ganz offen ist.


    Für das Ende der langen Krisenperiode 1819: Die Diabelli-Variationen op. 120. Das ist kein Werk des Durchbruchs, wie es dann um 1900 von so vielen Komponisten versucht wurde, sondern ausgehend von einem ganz einfachen Walzer geht Beethoven auf eine lange Wanderung und betritt Gebiet, das vor ihm noch niemand in der Musik erreicht hat.


    Viele Grüße,


    Walter