Beiträge von Walter.T

    Hallo Jürgen,


    ich kenne die Chopin- und die Beethoven-Sonaten mit Yves Nat und kann deine Einleitung nur bestätigen. Zunächst fallen besonders die frühen und die an sich schon zügigen Sonaten (etwa op. 31) auf. Auch bei den großen Sonaten wie die Hammerklavier-Sonate und die op. 111 gibt es viel zu entdecken. Mir persönlich gefällt besonders seine Einspielung der Waldstein-Sonate.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Matthias und ‚Barbirolli’,


    letztlich bin ich natürlich eurer Meinung, dass Zappa und Jean-Luc Ponty kein “Muss” für eine Jazz-Sammlung sind, und ich kann mich Matthias’ Gesamturteil gut anschließen.


    Ein wenig anders ist es bei den „Lounge Lizards“. Was in den 1980ern aus Downtown-Manhattan kam, gehört für mich in jede Jazz-Sammlung. Im Rahmen des Projekts einer kleinen Jazz-Geschichte verdient dies sicher ein eigenes Kapitel zu werden. Dazu zählen auch John Zorn, Fred Frith, Bobby Previte und all die Bands und Musiker, die sie um sich geschart haben. Die „Lounge Lizards“ können ein guter Einstieg sein.


    Aber zurück zu den Vorschlägen. „B“, „wer da so mitspielt“ in „Round Midnight“ macht mich in der Tat neugierig. Das ist ja die große Phase vor den 1980ern. Zurecht wurde dieser Thread mit Miles Davis eröffnet, und von ihm ist zweifellos auch eine Platte ein Muss, als er den Jazzrock begründete. Ich wähle dafür „Bitches Brew“, aufgenommen 1969 bis 1970, wo sie alle versammelt sind: Miles Davis, Wayne Shorter, Joe Zawinul, Chick Corea, John McLaughlin, Dave Holland, John DeJohnette, Billy Cobham, Airto Moreira, um nur die zu nennen, die alle später ihren eigenen Weg gegangen sind.



    Und natürlich ist das Schlagzeug ein absolutes MUSS, und das heißt: Art Blakey. Da ist als ein Einzelstück „Orgy in Rhythm“ zu nennen, als LP, auf der er sein Spiel begleitet von afrikanischen Trommeln frei gestalten kann: The african Beat. Als begeisterter Fan von Schlagzeugmusik lasse ich es damit bewenden, und bin mir natürlich bewusst, welche Schätze in den Aufnahmen mit seiner Band „The Jazz Messengers“ noch enthalten sind.



    Viele Grüße,


    Walter

    Der Name „Aurora“ gefällt mir eigentlich ganz gut. Zeigt das nicht schon das Notenbild:



    Und so geht auch das Spiel. In unerwarteten Sprüngen werden mühelos die Grenzen des Klaviers erreicht. Mit größter Leichtigkeit erobert sich Beethoven das ganze Feld der Musik. Die Welt steht ihm offen. Wie viel Erwartung ist hier noch in dem Pochen und Fordern zu hören. (Die Gefahr ist groß, dass dies alles dann gepresst oder übertrieben herauskommt.)


    Und doch ist das auch eine ernste Musik. Unvergleichlich der Umschlag in der Durchführung des ersten Satzes.


    Schade, dass das „Andante favori“ nicht mehr integriert werden konnte. Hier kommen in der Mitte des aufbrechenden Lebens Erinnerungen an die Kindheit, fast an ein Wiegenlied zurück. Ich habe das Stück von diesem Satz her schätzen gelernt, nicht zuletzt dank der einfühlsamen Interpretation durch Sofronitsky.


    Viele Grüße,


    Walter

    Zusätzlich zu den bisher genannten Interpreten möchte ich zwei weitere ergänzen:


    Yves Nat, 10:27 2:37 16:13 11:26
    John Ogdon, 10:38 2:36 15:05 12:04


    Beide Aufnahmen sind also nicht unbedingt langsam. Wenn jemand sich nicht an die von Beethoven vorgegebenen Tempi hält, kann ich das nur dann verstehen, wenn deutlich wird, dass er nicht anders kann und dennoch eine außergewöhnliche Interpretation vorlegt. Das will ich z.B. gern für den langsamen Satz bei Solomon gelten lassen. Aber ich kann denen nicht folgen, die wie Korstick Beethoven sagen wollen, er habe sich im Tempo geirrt.


    John Ogdon (1937 – 1989), Einspielung 1969


    Mit dem Begriff Referenz-Aufnahme habe ich Schwierigkeiten. Das klingt, als könne es eine objektive Best-Aufnahme geben, an der alle anderen sich messen lassen müssen. Eine hervorragende Aufnahme kann aber nur wirken, wenn sie von „innen“ her gespielt ist. Zu ihrer Größe gehört ihre Einmaligkeit. Und da hat zweifellos jeder seine eigenen persönlichen Favoriten, die sich nicht verallgemeinern lassen.


    Die Aufnahme von Ogdon gehört für mich zu den wenigen Platten auf dem gesamten Gebiet der klassischen Musik, wo ich einfach bei jeder Note sagen muss: So, und nicht ein Deut anders. Das löst auch Angst aus, weil dadurch die eigenen Gefühle ja doch ein wenig objektiviert sind. Aber wie er sich in den langsamen Satz regelrecht hinein tastet, mit Beethoven immer weiter dieser Welt zu entschwinden scheint, sich dann übergangslos im letzten Satz der Fuge nähert, und all die Qual zeigt, die mit solcher Musik verbunden ist, dagegen verblassen für mich dann doch alle anderen Aufnahmen.



    John Ogdon, November 1970


    Yves Nat (1890 – 1956), Einspielung 1955


    Bei Beethoven ist für mich immer auch der Beitrag aus Frankreich sehr wichtig. Nur leider sind mir bei den Klaviersonaten nicht so viele Einspielungen bekannt wie bei den Sinfonien. Aber Yves Nat hat nach seiner Rückkehr nach Frankreich 1953 bis 1955 alle Sonaten eingespielt, manche geradezu begeisternd (dazu bei Gelegenheit an anderer Stelle mehr).


    Trotz mancher interessanter Ideen, den sehr hellen Klang im langsamen Satz, kann mich diese Sonate jedoch nicht so recht überzeugen. Dennoch allemal hörenswert im Vergleich zu den vielen eher dunklen Einspielungen, die es sonst gibt.



    Viele Grüße,


    Walter

    Zappaplatte: Das Album heißt: Jean-Luc Ponty "King Kong" mit dem Untertitel "composed and arranged by Frank Zappa".


    Auf Seite 1 werden die Titel gespielt: "King Kong", "Idiot Bastard Son", "Twenty Small Cigars" und "How Would You Like To Have A Heard Like That". Dort spielen u.a. George Duke, Art Tripp, Ian Underwood, John Guerin, Ernie Watts. Im letzten Stück spielt auch Franz Zappa mit.


    Auf Seite 2 wird neben "America Drinks And Goes Home" ein längeres Stück "Music For Electric Violin And Low Budget Orchestra" gespielt mit Fagott, Oboe, Hörnern, Tuben, Flöte, Cello, Bass, Viola. Dort sind kammermusikalisch verschiedene Zappa-Melodien verarbeitet. Die Leitung hat Ian Underwood.


    Die LP erschien 1970 bei Liberty.


    Viele Grüße,


    Walter

    Eine kurze Antwort: 7, 11 und 13.


    Aber das sind genau die Fragen, die ich mir auch stelle, in einem Gebiet, wo ich mich gerade hineinzudenken beginne. So bringt mich dies ein wenig in Verlegenheit. Also bitte weiter nachfragen oder eingreifen, wenn etwas unklar oder falsch ist.


    Für die Blue Notes gibt es ganz unterschiedliche Erklärungsansätze. Mich interessieren allerdings weniger die Harmonie-Lehren, die in Schulen und für Übungen angeboten werden, um z.B. auf der Gitarre Jazz-Improvation zu lernen. Mir scheint am überzeugendsten der Ansatz, dass die Blue Notes zurückgehen auf die Sprechgesänge, die die afrikanischen Schwarzen nach Amerika mitbrachten. Dort fingen sie dann an, etwa die Klänge der Gitarre zu entdecken und dort ähnliche Töne zu suchen. Sie merkten schnell, dass diese nicht in die Tonskalen der Weißen passten.


    Am klarsten fand ich daher Texte, die entweder vom Naturton- (Oberton-) Singen oder vom Experimentieren mit ungeklärten Klängen ausgingen. Hier kann ich empfehlen: Res Margot und
    Johannes Kotschy . Die Blue Notes kommen vom 7., 11., und 13. Oberton. Für sie gibt es verwirrend viele Namen: 7: Naturseptime, kleine oder erniedrigte Septime. 11: arabische Terz, Alphornfa, erniedrigte oder kleine Terz, übermäßige None, übermäßige Sekunde. Nur für die 13 fand ich lediglich den Ausdruck: 3. Blue Note.


    In der klassischen Musik wurden alle Obertöne ab dem 7. Oberton ausgespart. Während die ersten 6 Obertöne als harmonisch gelten, gelten alle weiteren als Basis für die dissonanten Intervalle. Eine wahre Fundgrube sind die Texte von Rudolf Frisius.


    Ähnlich geht es auch den Intervallen mit der Zahl 7. Insbesondere das Intervall der Naturseptime 4 : 7 müsste gehörphysiologisch harmonisch klingen, ist aber seit den Pythagoreern in der westlichen Musik ausgeschlossen. Ebenso das Intervall 5 : 7. Dazu hieß es kurz und bündig: „Mi contra fa, diabola in musica“. Das ist der Tritonus.


    Für mich als Mathematiker ist faszinierend, hier einmal mehr die Bedeutung der 7 und der ihr folgenden Primzahlen zu sehen. Was uns als schön bzw. harmonisch klingt, kann im Grunde bis heute nicht plausibel erklärt werden. Es wirkt willkürlich. Die Bedeutung ist in der pythagoreischen Zahlenmythologie verborgen und wurde bis ins 20. Jahrhundert nicht infrage gestellt. Seit Platon hat ihre Einhaltung politische Bedeutung und soll auf einer ganz tiefen seelischen Ebene die Anerkennung von Autorität verankern. Während dann die Avantgarde in völlige Beliebigkeit ausbrach, hat der Jazz einen Weg gefunden, auf ganz unverkennbare Art die Tonsysteme zu erweitern.


    Übrigens gab es einen Vorläufer, als im 13. Jahrhundert ausgehend von der englischen Volksmusik die Terz (und damit die Dur-Tonarten) eingeführt wurden. Auch die Terzen galten als besonders sinnlich und aggressiv. Die pythagoreische Musik ließ nur Oktaven (1:2), Quinten (2:3) und Quarten (3:4) zu. (Aber das ist ein Thema für sich, ihre Bedeutung für die Mehrstimmigkeit und schließlich ihr Siegeszug mit den Dreiklängen.)


    Ähnlich scheint mir daher am wahrscheinlichsten, dass die Blue Notes des Jazz aus den Naturtönen entstanden sind. Es wurden dann Stellvertreter gesucht, die einigermaßen in die bekannten Tonsysteme passen. Da das letztlich unbefriedigend blieb, werden diese Noten unsauber (dirty) gespielt, so dass sie sich den Naturtönen stärker annähern lassen.


    Anmerkung: Masetto, du hast natürlich recht, dass diese Noten nur sehr sparsam und sorgfältig eingesetzt werden dürfen, sonst entsteht ein neues Klischee. Mich würden allerdings auch Beispiele interessieren, an die du hier denkst.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo B.,


    leider kenne ich mich bei Filmen nicht genug aus, um hoffe sehr auf weitere Anregungen. Was du über „Round Midnight“ schreibst, klingt interessant, und ich werde versuchen, den Film mal anzuschauen.


    Von einem langen Gespräch gestern abend kann ich nur einige Punkte wiederholen, die sich auf Filmklassiker beziehen. Auch „Casablanca“ mit Bogart von 1942 sollte in diese Kategorie fallen. Das Ambiente im „Cafe americaine“ stimmt, die Musik von Elliot Carpenter ebenso („As Time Goes By“), vor allem aber das von Bogart gespielte Lebensgefühl.



    Nicht dagegen passen die frühen Filme von James Dean. Vielmehr zeigen diese Filme eher den Unterschied zwischen Jazz und Rock’n Roll. Letzterer handelt immer wieder zentral von der ins Leere stoßenden Revolte junger Amerikaner gegen ihre irgendwie ungreifbaren Väter, die sie teils als Autorität wahrnehmen und gleichzeitig deren Autorität vermissen. So kommt es zu extremen Ausbrüchen von Wildheit, die genau so schnell in Überangepasstheit umschlagen können. Das gehört zwar zur gleichen Zeit, ist aber nicht Thema des Jazz.


    Weiter zeigt sich, dass die Schwarzen in den USA offenbar keinen Zugang zum Filmbetrieb hatten. So konnten sie zwar in ihrer Musik einen neuen Stil prägen, doch scheinen komplett Filme zu fehlen, die aus ihrer Sicht das Feeling des Jazz zeigen.


    Abschließend bleibt Roman Polanski zu erwähnen. Dessen noch in Polen gedrehter erster Film „Das Messer im Wasser“ von 1962 mit der Jazzmusik von Komeda kann sicher hier mitgezählt werden. Überhaupt ist das Thema „Jazz aus Polen“ sehr interessant.




    Viele Grüße,


    Walter

    Dies ist ein Thema, das schmerzt, um so wichtiger, es weiter zu verfolgen. Ich glaube, es ist schwieriger sich selbst zu verstehen und zu begründen, wo es heilige Kühe gibt, als aufzuzählen, was einem missfällt.


    Heilige Kühe drohen, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, ich will dennoch versuchen, drei hier oft genannte Beispiele zu nennen:


    Die Kleine Nachtmusik (und ganz ähnlich: Schuberts 2. Sinfonie). Dies Stück zu schlachten käme für mich der Amputation eines Teils der Seele gleich. Seinen Reiz zu beschreiben fallen mir keine besseren Worte ein als Unschuld oder Anmut, und diesen Worten geht es in ihrer Missverständlichkeit ebenso wie diesem Musikstück. Um eine heilige Kuh zu werden, die geschlachtet werden kann, musste dieses Stück erst ausgeschlachtet werden für die unterschiedlichsten Zwecke, und das ist für mich der wirkliche Schmerz, der hier zu spüren ist. Vielleicht ist Musik wie diese nur einmal im Leben zu hören, beim ersten unvoreingenommenen Eindruck in der Kindheit. Der ist dann zu verteidigen gegen alle späteren Anmaßungen.


    Beethovens Pastorale. Ich könnte Beethovens Musik nicht so schätzen, gäbe es nicht diese Sinfonie, gleichzeitig mit der 5. Sinfonie entstanden. Natürlich wusste Beethoven, auf was er sich einlässt, wenn er ein Programm von Justin Heinrich Knecht übernimmt, wenn er die Sprache der Natur nicht nur der Idee nach, sondern auch lautmalerisch nachahmt. Gerade er, der es so gut verstand, Gefühle in ihrer Reinform zu gestalten, war sich zugleich bewusst, dass Musik letztlich doch auf das Empfinden in der Natur angewiesen ist. Ich kann verstehen, wer dieses Stück nicht mag, aber für mich ist es eine heilige Kuh, nun in einem ganz wörtlichen Sinn.


    Rachmaninoff: Zum Glück wird auch klassische Musik nicht nur im Konzertsaal oder zuhause an der Hifi-Anlage gehört, sondern z.B. in Cafe-Häusern. Dort kann es geschehen, dass plötzlich aus der Musik, die angenehm im Hintergrund gespielt wird, ein Stück herausreißt und die Atmosphäre geradezu auf den Kopf stellt. So ist es mir mit Rachmaninoff geschehen und hat das Interesse geweckt. Dann diese Musik auch im Konzertsaal bewusster nachzuerleben kann zweifellos auf andere einen vorsichtig gesagt: merkwürdigen Eindruck machen.


    Bleibt die Ausgangsfrage, wo es heilige Kühe bei Komponisten gibt, die einem sonst eigentlich gefallen. Das ist ein wenig die Frage: Liebt jeder seinen „eigenen“ Beethoven, bis er plötzlich merkt, dass andere den gleichen Komponisten ganz anders verstehen? Das droht das eigene Empfinden und Urteil infrage zu stellen. Bei Beethoven sind das Violinkonzert und die Pastorale Beispiele von Musik, die nicht ganz dem Bild seiner „männlichen Musik“ entsprechen und eher eine weibliche Seite zeigen (Adorno deutete dies sogar religiös mit Blick auf die jüdische Schechina).


    Viele Grüße,


    Walter

    Jazz, das ist nicht nur Musik, sondern auch Großstadt, Existenzialismus, Rotwein, Bars. „Jazzkeller“ trifft das ganz gut. Und dazu gehört auch das Kino.


    Mit JazzFilm meine ich nicht Filme über den Jazz, sondern Filme, die in besonderer Weise das Lebensgefühl des Jazz treffen, möglicherweise sogar Techniken des Jazz für ihr Genre übernehmen. Diese Beispiele sagen sicher mehr als tausend Erläuterungen:


    Louis Malle „Fahrstuhl zum Schafott“ von 1957, unter den Darstellern: Maurice Ronet, Jeanne Moreau und Lino Ventura, und dazu die unvergleichliche Musik des frühen Miles Davis (Cool Jazz).



    Jean-Luc Godard „Außer Atem“ von 1960 mit den Hauptdarstellern Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg, Musik von Martial Solal



    Jim Jarmusch „Coffee and Cigarettes“ von 2003, Musik u.a. von Modern Jazz Quartet, Tom Waits, Iggy Pop und zum Abschluss Mahlers „Ich bin der Welt abhanden gekommen“



    Viele Grüße,


    Walter

    Die Anregungen von ‚Barbirolli’ zum Thema „Stilgeschichte des Jazz“ möchte ich aufgreifen und ein wenig zur Harmonielehre sagen. Alle Details lassen sich ausführlicher bei Wikipedia nachschlagen. Doch ist ein kurzer Überblick vielleicht nützlich.


    Blues-Skala. In dem Moment, als die von der westlichen Musik entwickelte Tonalität in eine innere Krise geriet, erhielt sie zugleich von außen eine unerwartete Anregung durch den Zusammenstoß mit der Kultur der Schwarzen in Amerika. Die Blue Notes sind Naturtöne, die in die Tonleitern eingeschoben werden. Das ergibt eine Stimmung zwischen Dur und Moll: Der 3. und 7. und später der 5. Ton sind verschoben. Gleichzeitiges Anschlagen und Wechseln von großer und kleiner Terz. Der Dreiklang von Tonika - Dominante - Subdominante wird ergänzt oder ersetzt durch die kleine Septime. Später wird es noch schräger durch Nonen und ajoutierte Sexten (eine Sekunde über der Quinte). Anders als bei den temperierten Skalen erlauben die Blue Notes den Spielern eine gewisse Freiheit in der exakten Bestimmung der Tonhöhe.


    „Inside – Outside“: Verlassen und Zurückgehen in die Tonart beim Improvisieren.


    "Walking bass": Aus dem basso continuo oder der Ostinato-Figur entwickelt sich eine größere Eigenständigkeit. Der Bass gibt den Takt, aber ist deutlicher zu hören und antwortet auf die anderen Melodien.


    "Call and response pattern": Big-Band-Praxis. Führt den Wechselgesang weiter. "Riff" ist das stark rhythmisierte Motiv.


    "Off beat": Der marsch-orientierte 2/4 bzw. 4/4 Takt mit Betonung auf den Tretstiefel wird verhöhnt durch die Betonung auf die 2 und die 4, häufig durch den "walking bass". Dieser Effekt kann noch durch die Synkopen-Bildung verstärkt werden.


    "Swing": Die gleichförmigen Achteln werden durch kleine Verschiebungen in einen schwingenden Rhythmus versetzt. Das ergibt die typische Dynamik, die immer relaxed bleibt


    "dirty tones": Kehllaute, Falsett, Schleiftöne, ausgiebige Benutzung von Dämpfern, Glissandi, sforzati, "smear-" und "whip" tones und "attack".



    Romare Bearden (1912 - 1988 ): Bopping at Birdland (Walking Bass) (Jazz Series), 1979


    Besonders Ravel hat sich intensiv mit diesen Ideen beschäftigt, wobei er eigentlich nicht Jazz-Elemente in seine Musik eingebaut hat, sondern umgekehrt mit den Mitteln der klassischen Musik Jazzklänge nachbildete. Im Klavierkonzert G-Dur nähert sich die Bitonalität der Blues-Skala. Im langsamen Satz werden polymetrisch ¾ und 3/8 gegeneinander gestellt. Die orchestrale Begleitung wird dadurch eher eine Gegenstimme. Im Konzert für die linke Hand werden im mittleren Teil kleine und große Terz konfrontiert, der anschließende Marschrhythmus nach dem Vorbild des Swing im 6/8 Takt statt im 2/4 oder 4/4.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Johannes (und Alfred),


    warum macht es solchen Spaß, heilige Kühe zu schlachten und Klassikikonen zu stürzen? Da entläd sich Wut, sich von etwas zu befreien, das einem aufgedrängt oder diktiert werden sollte. Doch besteht die Gefahr, dann das Kind mit dem Bade auzuschütten und scheinbar freiwillig sich über etwas lustig zu machen, das in Wahrheit ganz außerordentlichen Wert hat, der hinter der "heiligen Kuh" verborgen ist.


    Um es polemisch zuzuspitzen: Möglicherweise haben diejenigen, die etwas oder jemanden zur heiligen Kuh erklären, viel mit denen gemein, die dann diese Kuh schlachten wollen. Beides ist ein Spiel, das erst als Ganzes seinen Sinn ergibt.


    Daher verstehe ich Jörgs Einwurf "meint ihr das wirklich ernst" sehr gut.


    Aber nichts gegen diesen Thread! Es war notwendig, sich dieses Bedürfnis einmal einzugestehen und dem Wunsch nach Entladung nachzugeben, doch sollte dann auch bewusst werden, was hier eigentlich abläuft. Oder anders gesagt: Irgendwann droht Katzenjammer oder der Verlust freier Urteilsfähigkeit, wenn einmal ausgesprochene Urteile nur noch schwer zurückgenommen werden können.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Matthias,


    Frank Zappa war an allen interessanten musikalischen Entwicklungen seiner Zeit interessiert. Das war nicht nur die klassische Moderne eines Strawinsky oder Varese, die Zusammenarbeit mit Boulez, sondern auch der Jazz. Sicher hast Du recht, dass dies nur am Rande seiner Musik steht. Aber seine Aufnahmen mit Sugar Cane Harris, Jean-Luc Ponty oder George Duke reichen zumindest weit in den Jazz hinein. Als Beispiel sei vor allem genannt:



    Viele Grüße,


    Walter

    Immer dann, wenn Zweifel über die USA überhand zu nehmen drohen, lohnt sich, die Musik von Dave Brubeck anzuhören, allen voran die zurecht überaus populären Hits "Take Five" und "Blue Rondo". Diese Musik aus den 1950ern konnte eine ganze Generation begeistern, als von den USA neue, belebende Impulse für eine freiere Lebensform erwartet wurden. Höre ich dies Stück heute mal wieder, bin ich immer von neuem beeindruckt, wie frisch es noch klingt. .



    Viele Grüße,


    Walter

    Mit den "Lounge Lizards" in die Nesseln setzen? Von wegen ... Dies ist einer meiner Lieblings-CDs des Jazz:



    Das Konzert der Lounge Lizards in Mannheim 1989 mit diesem Programm wird mir immer in Erinnerung bleiben. Diese Mischung von sanften Saxophon-Klängen und harten Rhythmus-Passagen durch Trompete, Posaune und bestens aufgelegte Gitarre und Bass war für mich ein Beweis, dass der Jazz auch nach Miles Davis nicht tot ist.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo ‚D.U’: ok, verstanden, alles klar. Im etwas unübersichtlichen Werksgelände in Bischofshofen geriet ich anfangs in die Zollabteilung, weil sich dort viele junge Menschen aufhielten, die ich für Besucher hielt. Das war das Orchester, zwischen letzter Probe und dem Auftritt. Zuerst hielt ich sie für eine Schulklasse, die eingeladen war, ausgelassene Stimmung wie auf einem Schulausflug. Überwiegend osteuropäische Sprachen. Wer weiß, wie schlecht es der Masse der Orchestermusiker geht, besonders am Beginn im Kampf um eine feste Anstellung, und auf der anderen Seite die Preise kennt, die alljährlich in Salzburg, Luzern und sonst hingeblättert werden, kann schon ein wenig verzweifeln am Musikgeschäft heute. Um so erfreulicher finde ich, wenn es jemand wie Marthé gelingt, wenigstens einige wenige Male zu zeigen, welches Potential es gibt und normalerweise sinnlos verschleudert wird.


    Und Alfred, durch dein Forum geschieht durchaus etwas, und das gefällt mir sehr: Auch wenn bisweilen die Emotionen hochschlagen, so kann doch hier wenigstens etwas falsch laufen, und kommen Standpunkte zusammen und reiben sich, die sonst weit voneinander getrennt sind. Auch den Beitrag von Ben über Aufführungspraxis bei Bruckner habe ich mit großem Interesse gelesen und werde weiter darüber nachdenken.


    Viele Grüße,


    Walter

    Im Moment bin ich in dieser Stimmung:


    9 - 9 - 9 - 9 - 9 - 9 - 9 - 9 - 9


    Ich bin echt geschockt, wie eine katastrophale Konzertpraxis und Musikverwertung den Geschmack verwirren kann. Allein der erste Satz ... Kann das wirklich alles durch "Song of Joy", Karajans Europa-Hymne, Bernstein in Berlin und unzähliges Andere kaputt gemacht werden?


    Viele Grüße,


    Walter

    Jetzt möchte ich mich doch noch einmal zu Wort melden. Diese Woche habe ich in Düsseldorf ein zweites Mal gehört, wie Blarr die letzte Fuge aus Bachs „Kunst der Fuge“ zu ende geführt hat und muss sagen: Sicher kann ich nicht für die „Bruckner-Gemeinde“ sprechen, aber so etwas Ähnliches wünsche ich mich sehr für Bruckners letztes unabgeschlossen gebliebenes Finale!


    Und irgend etwas läuft hier ganz falsch. Von der 9. Sinfonie mit Marthé habe ich keine Aufnahme. Heute habe ich mir noch einmal die 3. Sinfonie vom letzten Jahr angehört. Es besteht für mich einfach kein Zweifel, dass Marthé mit seinen Konzerten etwas ganz Außergewöhnliches gelungen ist, was sich weit von allem abhebt, was sonst zu hören ist. Seine Eingriffe in das Werk mögen kritisiert werden, seine Version des Finale der Neunten hat mich auch nicht überzeugt, aber viel wichtiger ist mir: Er hat gegenüber dem gängigen Konzertbetrieb ein Zeichen gesetzt, das für mich einfach überzeugend ist. Aber aufmerksam gemacht hat mich auf dies Konzert letztes Jahr Ben mit seiner Ankündigung in diesem Forum, worüber ich heute noch dankbar bin. Um so schwerer ist für mich verständlich, welche Kontroversen es jetzt auf einmal gibt.


    Die 9. Sinfonie wurde nicht zwei Stunden geprobt, sondern eine ganze Woche lang waren in Bischofshofen öffentliche Proben angeboten (und ähnlich letztes Jahr in Mondsee), nachdem sich das Orchester bereits mehrere Wochen lang darauf vorbereitet hatte. Hätte ich Zeit dafür gehabt, wäre ich sehr gern einmal dahin gegangen.


    Für mich haben diese beiden Konzerte gezeigt, wie weit der übliche Konzertbetrieb sich von der Musik entfernt hat, anders kann ich es nicht formulieren. Um ein wenig zu provozieren, aber nach all den Beiträgen in diesem Thread sitzt mir doch ein wenig der Schalk im Nacken: In historischer Betrachtung geht das auf den ersten Stardirigenten Hans von Bülow zurück, und in den letzten Jahrzehnten haben wir das nicht zuletzt Karajan zu „verdanken“. Es ist einfach überfällig, dass mal eine Kehrtwende versucht wird, und dass sich dagegen die satt und fett gewordene Pfründe-Verwertung mit Händen und Füßen wehren wird, war mehr als zu erwarten.


    Viele Grüße,


    Walter

    Welche Sprengkraft in der Spannung über die vagierenden Akkorde zwischen Sechter und Schönberg lag, zeigt auf geradezu erschreckende Art der Wiener Musikwissenschaftler Heinrich Schenker und seine Lehre von Urlinie und Ursatz in der Musik. Um ihn zu verstehen, ist zunächst der fast 20 Jahre jüngere Richard Benz zu nennen, der ihm jedoch die entscheidenden Impulse gab. (Auf diese Zusammenhänge stieß ich durch das überaus empfehlenswerte Buch von Peter Schleuning und Martin Geck über Beethovens Eroica mit dem Titel "Geschrieben auf Bonaparte", Reinbek 1989).


    Richard Benz (1884 - 1966) wuchs in einer behüteten, bürgerlichen Pastorenfamilie in Dresden auf, studierte ab 1902 Germanistik und Kunstgeschichte in Heidelberg, gab ab 1905 Editionen von Legenden und Volksbüchern heraus, und wandte sich erst unter dem Schock des Todes seines Bruders im 1. Weltkrieg in den 1920ern der Musikgeschichte zu. Heidelberg wurde seine Wahlheimat, dort wurde er 1954 Ehrenbürger.


    Und in Heidelberg konnte er ab 1902 die großen Fragen des aufkommenden 20. Jahrhunderts kennen lernen. Das war Rückzugsort von Stefan George geworden, der hier seinen Kreis neu aufbaute, und zugleich hatte sich um den in Heidelberg lehrenden Max Weber ein Gesprächszirkel gebildet, an dem Georg Jellinek, Friedrich Naumann, Emil Lask, Karl Jaspers, Werner Sombart, Georg Simmel, Georg Lukács, Ernst Bloch, Gustav Radbruch, Theodor Heuss teilnahmen. Wer etwa die Biographie von Ernst Bloch und Georg Lukács kennt, beide fast gleichaltrig mit Richard Benz, wird verstehen, welche Anregungen damals von Heidelberg ausgingen.


    Richard Benz schuf in den 1920ern ein eigenwilliges Geschichtsbild, das Geck zusammenfasst:


    "In den 'fabelhaften Urzeiten' der nordisch-germanischen Kunstäußerungen gab es eine 'ursprüngliche einheitliche Dicht-Musik, das heißt: eine Wort-Dichtung von musikalisch erschütternder Macht'. Die Fremdherrschaft von Antike und Christentum hat diese Ur-Einheit des Künstlerischen zerstört. Sie knebelte und knebelt den deutschen Geist bis in die Gegenwart. Einzig in jener herausragenden Musik-Epoche, die vom Mystiker Bach bis zum Tondichter Beethoven reicht, hat der deutsche Geist, gleichsam subversiv, zu sich selbst gefunden. Die Musik danach, etwa die Richard Wagners, ist bereits Entartung. Der kommende Deutsche wird nur dadurch seiner innewerden, daß er aus den Urgründen seiner nordisch-germanischen Vorzeit neu aufsteigt und sich der alten Dicht-Musik besinnt, die in Beethoven eine grandiose Vergeistigung gefunden hat. Die 'Stunde der Musik' hat für Benz deshalb geschlagen, weil die Musik nun endlich aus der Rolle einer verborgenen Wahrheitsverkünderin heraustreten und dem gesamten Geistesleben, ja der ganzen Volksgemeinschaft offen den Weg weisen kann." (Schleuning / Geck, S. 333f)


    Das mag ein wenig verschroben klingen und gerade aus der Feder eines Pastorensohns nur aus der aufgewühlten Zeit nach dem 1. Weltkrieg zu verstehen, und doch macht er sich tiefe Gedanken über eine Frage, die heute nur noch als bloßes Geschmacks-Phänomen erscheint: Warum ist die Musik von Bach bis Beethoven geradezu zeitlos geworden, gilt als Ideal des Musikalisch-Schönen schlechthin und dominiert seither die Konzertsäle und Musikeinspielungen? Weil sie eben am schönsten ist, heißt es auch hier im Tamino-Forum, doch sollte das zur Frage anregen, woher das kommt.


    Und um vielleicht noch mehr abzuschrecken, ist nun Heinrich Schenker zu nennen. Was bei Richard Benz mehr eine Idee blieb, vermochte der Musikwissenschaftler Schenker wesentlich konkreter auszufüllen.


    Heinrich Schenker (1868 - 1935) kam aus einer jüdischen Familie in Galizien, studierte zunächst Jura, lernte dann u.a. Harmonielehre bei Bruckner, gibt jedoch eigene Kompositionsversuche bald auf und wird Musiktheoretiker. Eine Professur erhält er jedoch nicht, sondern schlägt sich mit Klavier- und Musikunterricht durch. Hindemith und Furtwängler zählten zu seinen Bewunderern. Seine Frau wurde nach Theresienstadt verschleppt und kurz vor Kriegsende ermordet.



    Heinrich Schenker mit Jeanette Schenker und Antony van Hoboken um 1930


    In wenigen Worten lässt sich wiederum durch Martin Geck seine Lehre charakterisieren:


    "Schenker geht von der Idee aus, daß sich in 'musikalischen Meisterwerken' von Johann Sebastian Bach bis Johannes Brahms eine Urlinie und ein Ursatz auffinden ließen, die gleichsam deren Essenz bildeten. Daß dergleichen überhaupt möglich ist, zeichne die herausragenden Werke der genannten Epochen vor anderen aus." (Schleuning / Geck, S. 336f)


    Das hat er in dicken Büchern und mit größter Detailgenauigkeit am Notentext nachweisen wollen. Dieser Ansatz wurde nach 1945 in den USA recht populär. Wer mehr daran interessiert ist, findet im Internet zahlreiche Quellen.


    Doch ist es weniger diese Idee, die so aufregend ist, sondern mit welchem Größenwahn und wie politisch aufgeladen sie propagiert wurde. 2 Zitate mögen das verdeutlichen:


    "Diese Lehre verkünde ich aus Wien, Europas Zentrum, wo auch das Paradies der hohen Kunst gelegen war ... Wien wird mit meiner Lehre die Führerschaft in der Musik ein zweites Mal erringen, die nun kein Volk der Erde je mehr wird zerstören können." (zitiert S. 338 )


    "Das geschichtliche Verdienst Hitlers, den Marxismus ausgerottet zu haben, wird die Nachwelt (einschließlich der Franzosen, Engländer und all der Nutznießer der Verbrechen an Deutschland) nicht weniger dankbar feiern, als die Großtaten der größten Deutschen! Wäre nur der Musik der Mann geboren, der die Musikmarxisten ähnlich ausrottet ... Woher aber nun die Quantitäten der Musik-'Braunhemden' nehmen, mit denen es gelingen müßte, die Musikmarxisten hinauszujagen? Die Waffen habe ich bereitgestellt, aber die Musik, die wahre deutsche der größten, findet kein Verständnis bei den Massen, die die Waffen tragen sollten." (Brief am 14. Mai 1933 an Fritz-Eberhard von Cube, zitiert S. 339f).


    Geck kommentiert: "Was seinen Fall bemerkenswert macht, ist nicht nur die gespenstisch anmutende Identifikation des potentiellen Opfers mit dem Täter, sondern auch die In-eins-Setzung der 'reinen' Ideologie und der 'reinen' Lehre vom Ursatz." (S. 340)


    Hier sollen nicht politische Diskussionen wiederholt werden, die längst ausgetragen sind, aber es handelt sich wohl doch um ein warnendes Beispiel, wie leicht gerade die scheinbar reine Lehre der absoluten oder autonomen Musik und ihrer Schönheit umschlagen kann in größte politische Dummheit. (Geck erklärt das soziologisch aus der zwiespältigen Lage der bürgerlichen Intelligenz, die sich seit Beethoven von feudaler Abhängigkeit befreien und zugleich ihre Privilegien nicht aufgeben will und daher in nationalen Ideen eine neue Sinngebung und eine Rollenbestimmung als Volkserzieher sucht.)


    Anders als für Martin Geck ist für mich damit aber die inhaltliche Frage keineswegs gleich mit erledigt, die Benz und Schenker stellten. Mit welchem politischen Extremismus sie vertreten wurde, kann sicher nur soziologisch erklärt werden. Aber das sollte im Gegenzug nicht dazu verführen, auch das Problem selbst nur als Dekadenz-Erscheinung zu verstehen.


    Wenn ein Jude im Wien der 1920er sich auf diese Weise den Nationalsozialisten verpflichtet fühlt, hat das Züge von Todessehnsucht, die jedoch weit tiefer in der Gesellschaft verankert waren. Schenker gelang es nicht einmal im Ansatz, seine Vision von Urlinie und Ursatz in der Musik von Bach bis Beethoven mit der Frage zu verbinden, welche Melancholie sich in dieser gleichen Musik zeigt. Jeder, der sich näher etwa mit Bach, Mozart oder Beethoven beschäftigt, wird darauf ebenso stoßen wie der Hörer, der aufmerksam die Interpretationen etwa von Furtwängler verstehen will.


    Ich bin überzeugt, dass Benz und Schenker sehr wichtige Fragen der Musik angesprochen haben und dass ihr Schicksal nicht nur viel über die neuere Zeitgeschichte, sondern auch über die Musik lehren kann, und will mit diesem Beitrag anregen, gerade nach den erschütternden Erfahrungen ihrer politischen Verstrickung wieder auf diese Fragen selbst zu kommen. Denn es besteht für mich kein Zweifel, dass in der Musik von Bach bis Beethoven etwas Außergewöhnliches geschehen ist, worauf sich bis heute die Musikgeschichte bezieht. Diese Frage gestellt zu haben, ist bleibendes Verdienst von Benz und Schenker. Dass auf solche Art zu fragen unter dem Eindruck der politischen Katastrophen fast verboten wurde, kennzeichnet den Zustand der Musik heute.


    Viele Grüße,


    Walter

    Ja,im Jazz sehe ich auch die wesentliche Leistung der amerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts. In seiner Folge gibt es aber auch neue Entwicklungen. Das sind für mich in erster Linie die Komponisten, die das Projekt "Bang on a Can" gegründet haben: Julia Wolfe, David Lang und Michael Gordon. Ich scheue mich nicht etwas euphorisch zu sagen, dass sie von den mir bekannten neuen Komponisten am besten und für mich persönlich nachvollziehbarsten das Lebensgefühl treffen, wie es jemanden ergangen ist, der die letzten Jahrzehnte mit erlebt hat.


    Wenn ich die Zeit finde, nach Neuerungen in der Musik Ausschau zu halten, dann lese ich vor allem, was in ihrem Umfeld veröffentlicht und angeboten wird.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo Stefan,


    genau so sehe ich es auch. Was Prodigy anfangs spielte, schlug auf den Hörer wie ein Blitz ein. Danach wurde unklar, wie es weiter gehen kann. Für mich steht außer Frage, dass mit diesen Techniken ganz große Kunst gemacht werden kann, und ich hoffte mit diesem Thread vielleicht auf neue Ideen zu stoßen, was sich heute auf diesem Gebiet tut, da ich das selbst nicht mehr so gut mit verfolgen kann.


    Hallo 'kurzstückmeister',


    so weit ich die Tonband-Musik der 50er und 60er Jahre kenne, war ich davon nicht so begeistert, da ihr für mich das Feuer fehlte, wie es dann später etwa bei Prodigy zu hören ist. Mehr haben mich da einige Stücke aus den 70er und 80er angesprochen, bei denen die Cembalistin Chojnacka auf dem Cembalo regelrecht in einen Wettstreit mit der Eintönigkeit von Tonbändern tritt. Aber auch hier weiß ich nicht, wie sich das jetzt weiter entwickelt hat.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, lieber Brucknerfreunde,


    gestern wurde in im Liebherr-Werk Bischofshofen das erste Konzert von Marthé mit seiner Vollendung von Bruckners 9. Sinfonie gegeben. Vom Gesamteindruck her kann ich allen, die dieses Werk lieben, einen Besuch nur empfehlen. Wie schon letztes Jahr bei der 3. Sinfonie zeigt sich einfach, wie wertvoll es ist, wenn jemand mit so viel Leidenschaft für Bruckner sich ausreichend Zeit nehmen kann, das Werk zu studieren und ein engagiertes Orchester dafür zu begeistern. Das hebt sich deutlich von der üblichen Konzert-Praxis ab. Dass dies einem meiner Lieblings-Komponisten zugute kommt, freut mich um so mehr.


    Aber zunächst ein Wort zum „Konzertsaal“: In der Endmontage-Halle von Liebherr werden die letzten Teile an die gigantischen Bulldozer (Radlader) angebracht, Kotflügel und Rückspiegel, bevor sie für den Transport zum Kunden ausgeliefert werden. An diesem Abend waren die Bulldozer an die Ränder der Halle geschoben, aber natürlich immer präsent. Alles roch nach Asphalt und frischer Lackfarbe. In der Höhe ragten riesige Stahlträger, durch große Glasfassaden waren die Berge zu sehen. Der Regen prasselte bei leichtem Gewitter bis vor Konzertbeginn an die Scheiben. Bisweilen ließ ein Windhauch den oberen Teil der Halle vibrieren. Das Orchester spielte auf einem Podium vor Holzwänden. Der Klang war sehr trocken, im Gegensatz zu den Auftritten in Kirchen gibt es überhaupt keinen Hall. In ähnlicher Umgebung sind bisher wohl nur nach 1917 die Werke der russischen Avantgarde aufgeführt worden und in den letzten Jahren Techno-Konzerte.




    Und doch war die Halle mit bestimmt über 1.500 Plätzen praktisch ausverkauft. Ist das als Provokation gegen den Salzburger (und allgemein den bürgerlichen) Kulturbetrieb gedacht, der Bruckner erst zu akzeptieren begann, als der sich für den entstehenden österreichischen Nationalismus zu gebrauchen schien? In Salzburg trat vor wenigen Jahren Pierre Boulez für 150 € und mehr mit dem gleichen Werk auf, hier war es für 15 € zu hören, und bestimmt nicht schlechter. Ist Bruckners Musik fähig, einer solchen Umgebung standzuhalten? Gewinnt sie vielleicht gerade aus dieser Spannung eine gesteigerte Wirkung? Oder ist das nur eine originelle Marketing-Maßnahme? Das junge Orchester fühlte sich hier sichtlich wohl. Und die Musik ließ wirklich zu großen Teilen die Hässlichkeit der Umgebung vergessen. Es klang manchmal unwirklich, wie eine Erinnerung an Verlorenes, und soll hier wohl zeigen, dass die Sehnsucht nach solcher Musik noch lebendig ist und sich selbst an solchem Ort ansprechen lässt.


    Stärken und Schwächen des Konzerts waren im Grunde ähnlich wie vor einem Jahr bei der 3. Sinfonie. Das sehr junge Orchester schien noch besser aufgelegt. Dem ersten Satz fehlte jedoch erneut ein wenig die Intensität, die dann aber mit dem zweiten Satz voll da war. Marthé gelang es auch bei diesem Werk besser als ich es von anderen Aufnahmen kenne, den Puls von Bruckners Musik klingen zu lassen. Die Klangfarben waren bis in die letzten Details ausgeleuchtet und ich kann gar nicht alle Beispiele aufzählen, wo besonders an den leisen Stellen die Holzbläser im Wechselspiel zu hören waren, wo sonst oft nur ein Mischklang zu erkennen ist. Die unterschiedlichen Blechbläser-Gruppen waren sehr gut zu hören, und wieder kamen die tiefen Bass-Klänge besonders gut zur Geltung. Nur der wichtige und schwer zu spielende Einsatz der Streicher am Beginn des Adagio kam leider recht ungenau.


    Der letzte Satz hat mich allerdings ehrlich gesagt nicht überzeugt. Was Marthé bieten wollte, war klar zu erkennen. Manches klang etwas nach Verdi, anderes erinnerte an Mahlers frühe Sinfonien. Sein Ansatz war stark vom Orchesterklang her gedacht und gab dem Orchester Gelegenheit zu brillieren, auch wenn irgendwann die Kräfte etwas nachließen, Bruckner selbst hätte wohl mehr auf Kontrapunktik und Architektonik Wert gelegt. So waren eine Reihe von Szenen zu hören, die jeweils für sich ganz gut klangen, aber als Satz bei weitem nicht mehr die Steigerung und Intensität herzustellen vermochten wie die vorangegangenen Sätze.


    Die intensive Beschäftigung mit der Vollendung hat sicher dazu beigetragen, dass dann auch die ersten drei Sätze besser gelangen. Am besten gefiel es mir, wenn Marthé es bisweilen wagte, von Bruckner ausgehend die Klangfarbe nochmals greller zu gestalten und Effekte zu erzielen, wie sie von der Musik nach 1945 bekannt sind.


    So bleibt für mich für den 4. Satz das Fazit: Am überzeugendsten finde ich das Konzept, wie ich es vor wenigen Monaten in der Fassung von Josephson gehört habe. Er hatte nicht den Ehrgeiz, alles zu Gehör zu bringen, was überliefert ist oder im Geiste Bruckners weiter zu komponieren, sondern das Material so weit zu reduzieren und aufzubereiten, dass für den Hörer gut zu erkennen ist, woran Bruckner gearbeitet hat, - und nicht mehr. Alles andere ist Aufgabe kritischer Werkausgabe und Nachlassverwaltung. Alternativ wäre für mich denkbar, dann ganz deutlich weiter zu gehen, und ausgehend von der langen original überlieferten ersten Passage ein ganz eigenes Stück zu komponieren, das am Ende möglicherweise auf die von Bruckner konzipierte Fuge zurückkommen könnte. Dann würde sich auch die Idee, dies Werk außerhalb gewohnter Konzertsäle zu spielen, noch besser umsetzen lassen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    die Musik des 20. Jahrhunderts vermochte nicht mehr im Stil der Klassik oder Spätromantik fortzufahren. Gingen die einen auf frühe Traditionen zurück, sei es in der russischen Archaik, der ungarischen Volksmusik oder den Anfängen der neuzeitlichen Musik im Paris des 12. Jahrhunderts, experimentierten andere mit völlig neuen Tonsystemen. In den meisten Fällen ging das schief. Aber wie in einer unübersehbaren Vielfalt chemischer oder biologischer Experimente wurde bisweilen etwas entdeckt, das etwas trifft. Das gilt sicher für Messiaen, und auch für den weit unbekannteren Dreyblatt.


    Arnold Dreyblatt wurde 1953 in New York geboren, lernte unter anderem bei dem Minimalisten LaMonte Young, ging in den 1980ern nach Europa und trat auch als Medien-Künstler hervor. Thema seiner Installationen ist die Erinnerung, das Vergessen in der Zeit der digitalen Medien - darauf wir noch zurückzukommen sein.



    Arnold Dreyblatt vor einer seiner Installationen


    1980 gründete er das Orchestra Of Excited Strings, für das er seine Stücke schrieb. (CD-Empfehlung: The adding machine, 2001 bei Cantaloupe erschienen). Er zerlegt die Oktave in 20 statt 8 Töne und erzeugt dadurch ungewohnte Obertöne. Am besten lässt sich das mit etwas veränderten Saiteninstrumenten erreichen. Neben klassischen Instrumenten wie Violine oder Bass werden auch ein Cimbalom eingesetzt, ein 38-saitiges ungarisches Hackbrett, exotische Klaviere aus China, die für Kindermusik gebaut worden waren, elektrische Gitarren mit in den Saiten angebrachten magnetischen driver-sustainers, Bassgitarren mit ungewohnten Stahlsaiten. Dadurch entsteht ein seltsam schwebender, scheppernder Klang.


    Wie so oft bei ungewohnten Tonsystemen droht das alles eintönig zu werden, zumal Dreyblatt aus der Stilrichtung des Minimalismus kommt. Er wirkt dem entgegen, indem er nach dem Vorbild des Jazz und Rock ostinate Rhythmen wählt (ostinato rhythmic patterns).


    Am besten gefällt mir das 1995 entstandene "Escalator", das regelrecht ein Hit der Gruppe Bang on a Can wurde, für die Dreyblatt das Stück in eine mehr oder weniger klassische Rockbesetzung umsetzte, wobei jedoch einem elektrisch verzerrten Cello eine tragende Rolle zukommt.


    Die Anregung gab ein alter, rumpelnder und knarrender Aufzug in einem Altbau in Brüssel. Dessen Bewegung ist umgesetzt in einen Rockrhythmus, der abwechselnd von elektrischer Gitarre, Cello, Schlagzeug, Saxophon und Bass aufgegriffen wird.


    Als ich dies Stück 1996 in Darmstadt live erlebte, ging Dreyblatt als erstes zum Mischpult und trieb die Lautstärke ohrenbetäubend hoch. Die Gruppe wuchs über sich hinaus, obwohl das Stück langsamer gespielt wurde als in einer ein paar Jahre später entstandenen Studio-Version. Es enthielt die Lebendigkeit und den Schweiß überzeugender Rockauftritte, Elemente avantgardistischer Musik und zugleich einen eigenen Humor. Das war das Beste, was ich seit Frank Zappa gehört habe.


    Dies Konzert war Abschluss der Darmstädter Musiktage. Avantgarde-Komponisten, die ich vorher in anderen kaum besuchten Konzerten gesehen hatte, verließen geradezu empört das Konzert. Dreyblatt und Bang on a Can hatten sich wunderbar zwischen alle Stühle einer jeweils auf ihre Art arrivierten und verstaubten Postmoderne, Rock und alt gewordenen Punk gesetzt.


    Was hat das mit dem Thema Erinnerung zu tun? Ist Musik überhaupt in der Lage, solche Themen aufzuwerfen? Die Musik wirkt oft schrammelig, als wären Musiker in einen alten Dachboden voller Gerümpel gekommen, hätten dort verstaubte alte Instrumente entdeckt, sie zu spielen begonnen, bis aus den Tönen eine ganz eigentümliche Stimmung aufsteigt, eine wehmütige Atmosphäre, die mit den schrägen Klängen auch verschüttete Gefühle wieder zum Erklingen bringt.


    Die politischen Brüche und Katastrophen des 20. Jahrhundert haben Traditionen abgebrochen. Die Vorfahren von Dreyblatt waren aus Galizien nach USA ausgewandert. Durch den Nationalsozialismus war ihre frühere Welt vernichtet worden. Woran knüpfen sich Erinnerungen? Können das in digitalen Speichern aufbewahrte Bilder und Filme sein? Ich verstehe Dreyblatt so, dass für ihn Erinnerung an Stücke wie diese alten Instrumente gebunden ist, die ihre eigene Körperlichkeit haben, ihr altes Material, abgeblätterten Lack, und in deren Klängen etwas zu hören ist, das zu entdecken für ihn die Aufgabe des Komponierens ist. Wer kennt nicht die alten Zigeuner-Geigen, jede mit ihrem eigenen Klang und eigener Geschichte, voller Erzählungen, Erfahrungen und Erinnerungen? Heute werden die wertvollsten Stradivaris in Tresoren bewahrt, für Studio-Aufnahmen hervorgeholt und mit der jeweils neuesten Tontechnik aufgezeichnet, bis ihr Klang auf den verschiedensten Vertriebskanälen vermarktet wird.


    Demonstrativ stellt sich Dreyblatt vor einen Computer-Ausdruck. Als es noch keinen Buchdruck gab, war es eine eigene Kunst, Erzählungen und Wissen im Gedächtnis zu memorieren. Alle Eindrücke und Begriffe wurden in einer imaginären Landschaft ("Topik") angeordnet, so dass die Erinnerung Pfaden des eigenen Erlebens folgen konnte. Hier spielten rhetorische Mittel eine wichtige Rolle, wo jedem Ort das treffende Wort, oft auch ein Lied, und mit dem Lied verknüpft bestimmte Erinnerungen zugewiesen wurden. Wer kann sich noch erinnern, wie viel leichter es fiel, lange Gedichte auswendig zu lernen, wenn dabei Rhythmus und Melodie halfen? Musik und Erinnerung sind nicht voneinander zu trennen, und wenn die Erinnerung den digitalen Datengräbern anheim fällt, ist das ein Zeichen, wie heute der Musik ihr Boden entzogen wird und sie sich ihrerseits in bloße Musikkonserven reduziert. Aber das führt zu den Diskussionen über die Unfähigkeit der zeitgenössischen Musik, einen eigenen verbindlichen und anerkannten Stil zu finden, worüber schon oft an anderer Stelle geschrieben wurde.


    Viele Grüße,


    Walter

    Michel Godard, geboren 1960, ist den umgekehrten Weg gegangen. Er studierte klassische Musik (Trompete), begann 1988 im philharmonischen Orchester von Radio France und wandte sich dann dem Jazz zu, wo er Tuba und Serpent (ein Vorläufer der Tuba) spielt.


    Und doch hat er die klassische Musik nicht vergessen, sondern widmet sich einerseits der zeitgenössischen Musik, andererseits der Alten Musik. Er ist nicht nur einer meiner Lieblingsinterpreten des Jazz, sondern auch die CD „Castel del Monte“ zählt zu meinen Favoriten.



    Dort versuchen er und eine kleine Gruppe von 7 weiteren Musikern die außergewöhnliche Stimmung des 1240 – 1250 vom Hohenstauferkaiser Friedrich II Schlosses „Castel del Monte“ einzufangen. Vielen wird dies Schloss in seiner regelmäßigen achteckigen Architektur bekannt sein.


    Ich gebe zu, dass ich diese CD kaum in einem Stück hören kann, aber bei Konzentration auf einzelne Stücke birgt sie ungeahnte Schätze. Da ist nicht nur die eigenwillige Version von „La Folia“, sondern auch das wille „AH! Vita Bella“, ein an Mahler erinnerndes Lied „Una Serenata“ und vieles mehr, dass die Bandbreite vom Free Jazz bis zu einem Stück aus dem 13. Jahrhundert („Voi che amata“) ausschöpft.


    Viele Grüße,
    Walter

    Hallo, liebe Schumann-Freunde,


    zum Schumann-Jahr 2006 erscheinen:


    Akio Mayeda, Klaus W. Niemöller, Bernhard R. Appel: Robert Schumann in Endenich (1854-1856). Krankenakten, Briefzeugnisse und zeitgenössische Berichte. Schott-Verlag, Main 2006. 607 Seiten.


    Der Schott-Verlag schreibt hierzu: „Um Schumanns letzte Lebensjahre, die er in der Nervenheilanstalt in Endenich bei Bonn verbrachte, ranken sich Gerüchte, Legenden und Mutmaßungen. Licht ins Dunkel bringt das ärztliche, tagebuchähnliche Protokoll, das der behandelnde Arzt Dr. Franz Richarz über die beiden letzten Lebensjahre Robert Schumanns geführt hat. In den Familienbesitz des Komponisten Aribert Reimann gelangt, übergab dieser die Krankenakten 1991 als Dauerleihgabe dem Archiv der Akademie der Künste Berlin und entschied sich anlässlich des Schumannjahrs 2006 zur Publikation der hochbedeutenden Dokumente.


    Die Krankenakten werden in dieser Neuerscheinung erstmals ungekürzt veröffentlicht, durch weitere bisher unbekannte Quellendokumente ergänzt und in einem medizinhistorischen Beitrag kommentiert. Die Publikation liefert damit der biographischen, medizinischen, psychologischen und kulturgeschichtlichen Forschung erstmals ein seriöses Quellenfundament.“


    Gerd Nauhaus gibt im Stroemfeld-Verlag Robert Schumanns „Dichtergarten für Musik“ heraus. Das ist eine Zusammenstellung von Texten über Musik, die Schumann in der Literatur gefunden hat. Sie wurde früher als ein Frühzeichen seines geistigen Niedergangs interpretiert und ähnlich gesehen wie lexikalische Zusammenstellungen, die er in Endenich erstellt hat. Jetzt wird nicht nur sein musikalisches Spätwerk neu aufgewertet, sondern auch diese philosophisch anspruchsvolle Arbeit. (Schumann hatte zeitweise vor – wahrscheinlich nicht besonders ernsthaft – über Shakespeares Äußerungen zur Musik zu promovieren.)


    In den „Musik Konzepten“ wird ein Band über Schumanns Spätwerk erscheinen, aufbauend auf einem Kongreß in Bremen im Mai 2006.


    Hier wenigstens eine, allerdings bereits früher erschienene Musikempfehlung zu Robert Schumann: Aribert Reimann hat 1994 aus seinem Spätwerk die „6 Gesänge op. 107“ transkribiert für Sopran und Streichquartett.


    Viele Grüße,


    Walter


    Hallo, liebe Orgelfreunde,


    nicht nur die unterschiedlichen Bearbeitungen von Bruckners Sinfonien verdienen eigene Threads, sondern auch Bachs Kunst der Fuge. (Aber der "Mutter"-Thread im Kammermusik-Forum sei nicht übersehen: Link ) Bisher liegen etwa 20 Vollendungen des Contrapunctus XIV, einer Fuge über 3 Themen vor, davon eine durch Helmut Walcha 1967. Bach hat 239 Takte komponiert, womit diese Fuge schon bis zum Abbruch in Länge und Ausmaß alle vorangegangenen weit überschreitet.


    Oskar Gottlieb Blarr charakterisiert die Fuge: "Erstes Thema, sieben langsame Töne (in sich symmetrisch), zweites Thema, Achtelgirlande (41 Anschläge) im Verlaufe kombiniert mit erstem Thema, drittes Thema BACH auf 14 Anschläge erweitert; dort wo die Kombination mit erstem und zweitem Thema beginnt, bricht die Fuge ab. ... Der Abschluss der Fuge sollte als viertes Thema das Thema in der Urgestalt bringen, das nach den Darlegungen von Martin Gustav Nottebohm mit allen anderen Themen kombinierbar ist, sogar in der Spiegelung."


    Zum Verständnis seiner Vollendung möchte ich aus seinen Erläuterungen 3 Punkte herausgreifen.


    Die Kunst der Fuge als "Orgelprobe"


    Vor zwei Jahren wurde die "Europaorgel Felix Mendelssohn" in der Auferstehungskirche Düsseldorf - Oberkassel fertig gestellt. Blarr hat bei den Arbeiten beratend mitgewirkt. Und nun ist eine ungewöhnlich farbenreiche Orgel zu bewundern. Welches Stück bietet sich besser an für eine Orgelprobe als die Kunst der Fuge?



    Europa-Orgel Felix Mendelssohn in der Auferstehungskirche Düsseldorf - Oberkassel


    Bach war ein Liebhaber von Orgelproben. Blarr schreibt: "Der Begriff 'Orgelprobe' ist in der Bachzeit geläufig; er stammt von Andreas Werckmeister, der 1698 in Quedlinburg eine Schrift gleichen Namens veröffentlichte. J.S. Bach galt in seiner Zeit als hervorragender Orgelkenner und wurde gern zu Orgelproben eingeladen. Sein Sohn C.Ph.E.Bach schreibt aus Berlin am Ende des Jahres 1774 an den Biographen J.N. Forkel nach Göttingen:


    'Noch nie hat jemand so scharf u. doch dabey aufrichtig Orgelproben übernommen. Den ganzen Orgelbau verstand er im höchsten Grade. Hatte ein Orgelbauer rechtschaffen gearbeitet, und Schaden bey seinem Bau, so bewegte er die Patronen zum Nachschuss. Das Registrieren bey den Orgeln wuste niemand so gut, wie er. Oft erschracken die Organisten, wenn er auf ihren Orgeln spielen wollte, u. nach seiner Art die Register anzog, indem sie glauben es könnte unmöglich so, wie er wollte, gut klingen, hörten hernach aber einen Effect, worüber sie erstaunten. Diese Wissenschaften sind mit ihm abgestorben. Das erste, was er bey einer Orgelprobe that, war dieses: Er sagte zum Spaß, vor allen Dingen muß ich wissen, ob die Orgel eine gute Lunge hat, um dieses zu erforschen, zog er alles Klingende an, u. spielte so vollstimmig, als möglich. Hier wurden die Orgelbauer oft für Schrecken ganz blaß.'"


    Das reizt einen modernen Orgelkomponisten wie Blarr natürlich ganz besonders. Zudem ist dies Stück keineswegs im "alten Stil" geschrieben, auch wenn der Name "Die Kunst der Fuge" manchen abschrecken mag, die hier etwas Langweiliges, Trockenes, Wissenschaftliches befürchten mögen. Blarr erzählte, wie er selbst kurz eingenickt war, als er dies Werk zum ersten Mal bei einem Konzert in Lüneburg hörte, und aufwachend das Gefühl hatte, er habe gar nichts verpasst, immer noch war alles wie zuvor, ständig d-Moll. Doch war dies wohl eher ein Wegdämmern. Bach will ganz bewusst eine Musik schreiben, die an die Grenzen des Hörbaren geht, an die Grenze zur Musica coelestis vel divina.


    Als Schumann 1837 zum Selbststudium das komplette Werk abschrieb, trug er am 21.3.1837 zum Contrapunctus XI in sein Tagebuch ein: "Fertig geschrieben am Ostermorgen 37. Zerreißt einem die Ohren." Bach geht an die Grenzen der chromatischen Musik. Bisweilen sind geradezu Zwölfton-Folgen zu erkennen, und Blarr hatte zeitweise die Idee, bei der Vollendung aus dem Motiv BACH eine Zwölfton-Folge zu entwickeln und einzuarbeiten.


    So gestaltet Blarr die Kunst der Fuge in voller Farbenpracht und über alle Register. Manche Fugen kommen bewusst schrill heraus, die unterschiedlichen Möglichkeiten der Orgel werden deutlich gegeneinander abgesetzt. Blarr stellt die vier Canons an das Ende vor den Contrapunctus XIV. Er interpretiert sie als kreisende Fugen und gibt jeder von ihr das Funkeln der Sterne. Das sind im ersten Canon die Kawalflöte, Rohrflöte und das Nachthorn, im zweiten Bombarde 16', Trompete 8' und Trompete 4', in der dritten wird ein besonderer Effekt mit einem Europhon erzielt und in der vierten volle Klangpracht erzeugt mit einer orchestralen Instrumentierung mit Bordun, Gedackt, Nazard, Terz, Klarinette, 3 Flöten, Sesquialtera und schließlich als Höhepunkt das Carillon im Hauptwerk. Blarr beschriebt diesen vierten Canon: "Neuntönige chromatische Leitern gegen springende Intervalle, Synkopenbildung."


    Im dritten Canon erlaubt Bach ein einziges Mal eine freie Kadenz kurz vorm Schluss, d.h. eine freie Improvisation. Blarr nutzt das für einen kurzen modernen Einschlag, indem er für einen Moment die Nachtigal schlagen lässt, nachdem bereits im Contrapunctus IV in den Zwischenspielen der Kuckucksruf ertönt war. Dadurch bekam dieser Canon eine ganz persönliche Note. In diesem Canon, genannt der "Phlegmatiker", hat sich Bach möglicherweise selbst charakterisiert. Aufgrund der überraschenden Wirkung dieser Kadenz strahlten die Gesichter vieler Hörer auf, einige lachten sogar spontan auf. Mir schien sie tiefen Schmerz auszudrücken und eine tiefe Verbundenheit Blarrs zu Bach. Im Gespräch nach dem Konzert sagte er auf die Frage, was ihn vor 3 Jahren dazu gebracht hatte, sich so intensiv mit diesem Werk zu beschäftigen, dass es eine tiefe persönliche Antwort gibt, und die Erfahrung des Älter-Werdens.


    Nachdem dieser Weg gegangen war, ergab sich die Klangfarbe für die Vollendung des letzten Contrapunct. Hier wurden alle Register gezogen, und es ging immer tiefer hinab bis zum Subkontrabass 32' und der Contraposaune 32' im Pedal. Der Effekt war überwältigend und überzeugend! Der tiefe Klang ging durch die Haut auf den ganzen Körper, Blarr selbst verglich dies mit den tiefen Bass-Klängen, die bisweilen in Discos mit Techno-Musik dröhnen. Bach liebte tiefe Klänge und setzte sich für Register dieser Art ein. Sie wurden in Düsseldorf nach Leipziger Vorbild nachgebaut. (Und ungefähr so würde ich mir auch die Vollendung von Bruckners 9. Sinfonie wünschen.) Schon der dritte Teil dieses Contrapunct war bis ins große Pleno gegangen, und nun wurde im Zusammenspiel der vier Themen eine weitere Steigerung erreicht. Durch diesen Kunstgriff ist es Blarr gelungen, die Vollendung organisch zu ergänzen, so dass die Bruchstelle kaum mehr zu hören war.


    Tönende Kreisbahnen


    Die Kunst der Fuge war geplant als Bachs letzter Pflichtbeitrag für die "Korrespondierende Societät der Musikalischen Wissenschaften", für die er bereits 1748 zu seinem Eintritt die Canonischen Veränderungen über "Vom Himmel hoch" und 1749 das "musikalische Opfer" geschrieben hatte. Weitere Beiträge wären nach Erreichen des Alters von 65 Jahren nicht mehr verlangt worden.


    Lorenz Mizler war Schüler von Bach und hatte 1738 die Societät in Leipzig gegründet. 1739 trat Telemann bei, 1745 Händel und 1747 Bach als 14. Mitglied. (Die Zahl 14 war Bach sehr wichtig, galt sie doch nach dem Zahlen-Alphabet der Societät als der Zahlenwert seines Namens. Wird auf JSBACH ergänzt, ergibt sich der Zahlenwert 41.)


    Wie in Freimaurerlogen hatten alle Mitglieder Clubnamen. Mizler selbst nannte sich Pythagoras. Die Namen von Händel und Bach sind nicht bekannt. Mizlers Name deutet schon an, wie sehr Pythagoras und die daran orientierte Weltharmonie von Kepler Gegenstand der Societät waren.


    Hans-Eberhard Deutler versteht daher in seinem 2000 bei Schlott veröffentlichten Buch über die Kunst diese als pythagoreisches Werk. Besondere Bedeutung haben die Canons. Schon seit dem 15. Jahrhundert werden sie als Abbild der umlaufenden Gestirne betrachtet. Kepler nimmt in seinem Werk ausdrücklich darauf Bezug. Die Noten der Kanons wurden früher sogar in Kreisgestalt aufgeschrieben (ungewöhnliche Notenbilder sind also nicht erst eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts).


    Das führt mich zu einer Ergänzung über die Bedeutung der Zahl. Blarr sieht Bach vor allem als Praktiker, der sich für solche Fragen zweifellos interessiert hat, aber wohl nicht in der Intensität, wie bisweilen heute in seinen Werke nach Zahlenspielereien und zahlenmystischen Zusammenhängen gesucht wird.


    Dennoch kann ich mir gut vorstellen, dass Bach intuitiv das Zahlenverständnis von Platon erfasst hat, das dieser in seiner Naturphilosophie des "Timaios" entwickelt. Platon verehrte Pythogaras sehr. Im "Timaios" entwirft er eine Schöpfungsgeschichte, wie ein Demiurg aus den 4 Elementen (verstanden als die platonischen Körper) die Welt geschaffen hat. Die Welt im Ganzen soll für die Sterblichen ein Bild (eikon) des Ewigen sein. "So sann er (der Demiurg) darauf, ein bewegliches Bild der Ewigkeit zu gestalten, und machte, während er zugleich den Himmel ordnete, dasjenige, dem wir den Namen Zeit beigelegt haben, zu einem in Zahlen fortschreitenden unvergänglichen Bilde der im Einen verharrenden Ewigkeit." (Platon "Timaios" 37c-d) Die Himmelsbewegungen sind nach den Zahlen ihrer Umlaufzeiten geordnet. Die Zahlen selbst sind unbeweglich, und so können die Bewegungen durch ihre Bewegungszahlen denjenigen, die dies verstehen, ein Bild des Ewigen geben.


    Und so halte ich für durchaus möglich, dass auch Bach in seiner Musik Zahlen gestalten wollte, mit denen die unhörbare Musica divina ihr Bild findet. Den Hinweis gab schon Platon, als er Sokrates berichten lässt, wie ihm in der Nacht vor seinem Tod im Traum die Aufforderung erreichte: "Mache Musik". Sokrates verwirklichte das im letzten Gespräch vor seinem Tod, als er einen "Schwanengesang" anstimmte, ein philosophisches Gespräch, das Platon im "Phaidon" gestaltet hat. Ähnliche Motive mögen Bach bewogen haben.


    Sicher ist, dass die 4 Canons den 4 Temperamenten Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker und Melancholiker gewidmet sind und damit auf die Quaternität mit ihren vielen Ausprägungen anspielen (4 Elemente, 4 Himmelsrichtungen usw.).


    Das Thema der letzten Fuge besteht aus 7 Tönen. Ich vermute, dass hier mit der Siebenzahl auf die 7 großen Himmelskörper, 7 Wochentage etc. angespielt ist. Blarr zog eine Parallele zum Thema aus 5 Tönen in der Ricercare des Musikalischen Opfer. So wie dort aus den 5 Tönen ein Durchgang durch 5 Tonarten konstruiert ist, will er diesen Contrapunkt aus den 7 Tönen entwickeln.


    Bleibt als letztes Element die Frage, wie viele Takte fehlen. Blarr ergänzte auf eine Gesamtlänge von 365 Takten und nimmt damit wiederum eine der wichtigsten Zahlen der Astronomie. Andere Vollendungen hatten wesentlich weniger Takte ergänzt. Blarr ist es jedoch wichtig, nachdem bereits die ersten Themen sehr breit mit Zwischenspielen eingeleitet wurden, in diesem Stil konsequent fortzufahren.


    Die Gefahr bei allen Vollendungen besteht darin, dass zu schematisch versucht wird, das bereits von Bach entwickelte Material fast wie vom Computer durchzurechnen und so die fehlenden Teile gewissermaßen auszurechnen. So sehr Bach sich an Rechnungen gehalten hat, ließ seine Musik doch immer auch viel Raum für freie und phantasievolle Gestaltung. Die Vollendung der Fuge kann daher nur das Werk eines Komponisten sein, der versucht, Bach zu verstehen und in seinem Sinn weiter zu komponieren.


    Die letzte Fuge


    Es ist überliefert, dass Bach den zwei Spiegelfugen XII und XIII eine weitere Spiegelfuge folgen lassen wollte. Ist dies die XIV Fuge? Ihre Themen können gespiegelt werden. Dazu gibt es verschiedene Versuche, und auch Blarr hat das durchgespielt und als Option versucht, dann aber fallen gelassen. Die Spiegelung klingt noch düsterer als die Fuge selbst. Sollte das der Abschluss dieses Werkes sein?


    Da hält Blarr für wahrscheinlicher, dass Bach eine weitere Fuge als Spiegelfuge geplant hat, die der wirkliche Abschluss des Werkes geworden wäre. Aus diesem Grund schließt er sich der Tradition an, die bis auf C.Ph.E. Bach zurückgeht, das Werk mit dem Choral "Wenn wir in hoechsten Noethen" abzuschließen, wo der Text "Vor deinen Thron tret' ich hiermit" gemeint ist. Der Choral vertritt die fehlende Fuge, für die keine einzige Note von Bach überliefert ist.


    Dieser Abschluss ist Blarr auch daher wichtig, um Spekulationen entgegenzutreten, Bach könne am Ende seines Lebens den Glauben verloren haben. Das wurde z.B. in der DDR vertreten. Danach galten die spät entstandenen Bauern- und Kaffee-Kantate als Hinweis, dass Bach sich von der geistlichen zur weltlichen Musik gewendet hat. Die Kunst der Fuge gilt dann als Vorläufer der Aufklärung, wo sie auf keinen Text direkt Bezug nimmt und gewissermaßen absolute Musik schreibt. Die Mizlersche Societät bekannte sich zur damals sehr umstrittenen, aufklärerischen Philosophie Chr. Wolffs, und Bach hatte nachweislich ein klassisches Werk über den Atheismus, das vom Hamburger Pfarrer Johann Müller 1672 veröffentlichte "Atheismus devictus" in seiner Bibliothek. Sein Lieblingssohn Friedemann hat diese Interessen weit stärker fortgeführt als Carl Philipp Emanuel, von dem das Wort stammt: "Der seelige war, wie ich u. alle eigentlichen musici, kein Liebhaber, von trockenem mathematischem Zeuge."


    Gegen die Atheismus-These spricht, dass Bach am Lebensende an der h-Moll Messe und Chorälen gearbeitet hat. Oft wurde auch die Frage gestellt, ob es Vorbilder für das Thema in der Urgestalt der Fuge I gibt, das sich dann durch das ganze Werke zieht. Bisher ist es nicht gelungen, in der reichen Orgelliteratur etwas zu finden. Es scheint aber wahrscheinlich, dass es sich um einen lutherischen Choral "An Gott wir alle glauben" handelt.


    In verschiedenen Gemeinden gibt es die Tradition, dies Werk jeweils am Totensonntag aufzuführen. Nun wurde es jedoch im Mai gespielt, und das scheint mir trotz der sich durchziehenden d-Moll-Tonart dem Werk besser gerecht zu werden.


    Am Ende des Konzerts verneigten sich Blarr und Esther Kim, mit der er seine für 4 Hände gesetzte Version gespielt hatte, vor dem Publikum und vor der neuen Orgel. Im anschließenden Gespräch räumte er seine Aufgeregtheit ein, wie das Werk aufgenommen werden würde, ob es als Anmaßung gegen das Genie von Bach klingen könne. Aber Musik wird nicht für die Hörer geschrieben, für ein möglichst großes Publikum, sondern die Hörer dürfen teilnehmen. Das war keineswegs überheblich gemeint, sondern bescheiden gegenüber den eigenen Fähigkeiten und in Verehrung an die Musik und für Bach. Dennoch würde ich mir sehr wünschen, wenn diese Version noch oft gespielt werden könnte und weit mehr Hörer daran teilnehmen dürfen.


    Viele Grüße,


    Walter

    Hallo, liebe Musikfreunde,


    über die „Kinderszenen“ finden sich in allen Klavierführern zahlreiche Einführungen. Die „Träumerei“ ist wahrscheinlich das am stärksten verbreitete und am meisten gespielte Stück von Schumann, in unzähligen Fassungen und Klavierstunden.


    Aber hier ein paar nackte Zahlen:


    1. Von fremden Ländern und Menschen, halbe Note = 108
    2. 2. Curiose Geschichte, halbe Note = 112
    3. Hasche-Mann, halbe Note = 138
    4. Bittendes Kind, viertel Note = 138
    5. Glückes genug, viertel Note = 132
    6. Wichtige Begebenheit, halbe Note = 138
    7. Träumerei, halbe Note = 100
    8. Am Camin, halbe Note = 138
    9. Ritter vom Steckenpferd, punktierte ganze Note = 80
    10. Fast zu ernst, halbe Note = 69
    11. Furchtenmachen, halbe Note = 96
    12. Kind im Einschlummern, viertel Note = 92
    13. Der Dichter spricht, halbe Note = 112


    Wer mit einem Metronom ein paar Takte etwa aus dem 1. Stück oder gar der Träumerei anschlägt, wird überrascht sein. Das widerspricht allen gängigen Aufnahmen. Wie ist das möglich? Das ist ein Thema für die Musikwissenschaft, und Michael Struck hat bei einem Gesprächskonzert am 13. Mai 2006 in Bremen unter dem Titel „Der unbekannte (?!) Schumann“ ausführlich Stellung bezogen. Er bot es dar wie einen Kriminalfall.



    Kohlezeichnung von Eduard Bendemann nach einer Daguerrotypie, Dresden 1850. Dies war später Clara Schumanns Lieblingsbild von Robert. Dennoch hat es zum Bild beigetragen, Schumann sei etwas weltfremd.


    Hier geht es nicht um die künstlerische Freiheit, dass jeder Interpret sein eigenes Tempo findet und in welchem Ausmaß er sich an die Vorgaben halten sollte. Sondern hier spielen alle Schumann falsch! Also muss mehr dahinter stecken.


    Da gab es die These, Schumanns Metronom sei falsch gewesen. Aber welches Metronom geht mal zu schnell, mal zu langsam (ein Smiley bitte: :D). Das hatte zuerst Clara Schumann vertreten, dann jedoch, wie jetzt entdeckt wurde, an einer etwas versteckten Stelle widerrufen.


    Oder sind diese Metronomzahlen gegen die ursprüngliche Absicht von Schumann in die Kinderszenen geraten? Waren ihm möglicherweise die Metronomangaben recht gleichgültig? Eine genaue Analyse aller handschriftlichen Texte und insbesondere seiner Angaben für Neuherausgaben, widerlegen das.


    Also führt nichts an der Erkenntnis vorbei, dass diese überaus populären Stücke ein Weg waren und sind, über Schumann ein falsches Bild zu vermitteln. Drei Beispiele:


    „Von fremden Ländern und Menschen“ ist eben keine seichte Sicht, im Stil eines „Wenn auf Capri die rote Sonne im Meer versinkt“ oder „Griechischer Wein“, sondern von der Fremde und Fremden in allen Bedeutungen des Wortes.


    Das Kind ist nicht schon träge, wenn es im Bett liegt, und döst dann langsam weg, sondern unruhig voller Erinnerungen an den vergangenen Tag, bis die geduldige Mutter es in den Schlaf singt.


    Und die „Träumerei“: Ich übertreibe jetzt einmal richtig: Das ist kein Augenverschließen vor der Realität, kein sentimentales Dahinsinken, in unechten Gefühlen Verschmelzen bis zum Selbstmitleid, kein Frühzeichen einer später dann voll einsetzenden Verblödung, zugezogen durch sexuelle Ausschweifung, sondern eine Zwischenwelt zwischen Realität und Phantasie, Tag und Nacht, mit gesammelter innerer Aufmerksamkeit und voller kreativer Kraft, aus der dann die „Phantasiestücke“ entstehen, wie Schumann eine von ihm neue geschaffene Gattung an Klaviermusik nannte.


    Hier geht es um nicht weniger als das Selbstverständnis um die deutsche Seele. Es lässt sich nicht vermeiden, dass hier Fragen der Musik tief in den Bereich von Religion, ja Weltanschauung reichen. Schumanns Schicksal berührt tief. Was hat so umfassend zu diesem schiefen Bild beigetragen? Das lässt sich nicht trennen von der Fehleinschätzung seiner Spätwerke, die jetzt endlich korrigiert wird, und der Grausamkeit, mit der er in den letzten Lebensjahren im Irrenhaus bei Bonn allein gelassen wurde.


    Aber einfach die Schuldigen und diejenigen zu suchen, die deren Tun bis heute decken, ist auch zu wenig, da muss ich eigene frühere Texte korrigieren. Der Schmerz geht so tief, da auch mitschuldig ist, wer nicht beteiligt ist. Dies ist in Deutschland zu sagen führt ganz in politisches Gebiet (also zweites Smiley: :stumm: ).


    Das Konzert in Bremen war ein gelungener Beitrag der Wiedergutmachtung. Alle Hörer waren sich einig, hier möge einmal ein Musikwissenschaftler sein Spiel auf CD veröffentlichen, den Interpreten zur Anregung.


    Viele Grüße,


    Walter

    Wie kann Bruckner katholisch sein?! Schon oft ist zurecht bemerkt worden, dass ein Komponist, dessen große Werke Sinfonien sind, ohne Chor, mit der katholischen Tradition gebrochen hat. Und dann noch mit Stilelementen von Wagner, aus Werken wie „Tristan und Isolde“ ..., die Bruckners Lehrer Sechta als „das Bild der großen Welt, worin das Familienleben untergeht und wo Täuschungen häufig vorkommen, und auch das Unwichtige in einem gewissen Glanze erscheint“ charakterisierte.


    Der ganze Maß der Abwendung zeigte sich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit die Schattenseiten der modernen Gesellschaft unübersehbar geworden sind, wird dafür pauschal die Französische Revolution verantwortlich gemacht. Und wer war deren Vertreter in der Musik, wenn nicht Beethoven? Und wer hat sich stärker mit Beethovens 9. Sinfonie, dem höchsten Ausdruck einer Alternative zum traditionellen Glauben, beschäftigt, als Bruckner, siehe seine d-Moll Sinfonien?


    Und doch besteht an Bruckners katholischer Grundhaltung kein Zweifel. Seine Größe ist, alle Zweifel am Katholizismus aufzunehmen, und doch im Katholischen etwas Verborgenes zu entdecken, was trotz aller Fehlentwicklungen nicht ganz ausgelöscht war. Für mich stehen seine Werke auf einer Ebene wie etwa die Romane von Dostojewski und ihrer Auseinandersetzung sowohl mit der Moderne wie den Irrtümern der christlichen Kirche.


    Viele Grüße,


    Walter