Hallo, liebe Orgelfreunde,
nicht nur die unterschiedlichen Bearbeitungen von Bruckners Sinfonien verdienen eigene Threads, sondern auch Bachs Kunst der Fuge. (Aber der "Mutter"-Thread im Kammermusik-Forum sei nicht übersehen: Link ) Bisher liegen etwa 20 Vollendungen des Contrapunctus XIV, einer Fuge über 3 Themen vor, davon eine durch Helmut Walcha 1967. Bach hat 239 Takte komponiert, womit diese Fuge schon bis zum Abbruch in Länge und Ausmaß alle vorangegangenen weit überschreitet.
Oskar Gottlieb Blarr charakterisiert die Fuge: "Erstes Thema, sieben langsame Töne (in sich symmetrisch), zweites Thema, Achtelgirlande (41 Anschläge) im Verlaufe kombiniert mit erstem Thema, drittes Thema BACH auf 14 Anschläge erweitert; dort wo die Kombination mit erstem und zweitem Thema beginnt, bricht die Fuge ab. ... Der Abschluss der Fuge sollte als viertes Thema das Thema in der Urgestalt bringen, das nach den Darlegungen von Martin Gustav Nottebohm mit allen anderen Themen kombinierbar ist, sogar in der Spiegelung."
Zum Verständnis seiner Vollendung möchte ich aus seinen Erläuterungen 3 Punkte herausgreifen.
Die Kunst der Fuge als "Orgelprobe"
Vor zwei Jahren wurde die "Europaorgel Felix Mendelssohn" in der Auferstehungskirche Düsseldorf - Oberkassel fertig gestellt. Blarr hat bei den Arbeiten beratend mitgewirkt. Und nun ist eine ungewöhnlich farbenreiche Orgel zu bewundern. Welches Stück bietet sich besser an für eine Orgelprobe als die Kunst der Fuge?
Europa-Orgel Felix Mendelssohn in der Auferstehungskirche Düsseldorf - Oberkassel
Bach war ein Liebhaber von Orgelproben. Blarr schreibt: "Der Begriff 'Orgelprobe' ist in der Bachzeit geläufig; er stammt von Andreas Werckmeister, der 1698 in Quedlinburg eine Schrift gleichen Namens veröffentlichte. J.S. Bach galt in seiner Zeit als hervorragender Orgelkenner und wurde gern zu Orgelproben eingeladen. Sein Sohn C.Ph.E.Bach schreibt aus Berlin am Ende des Jahres 1774 an den Biographen J.N. Forkel nach Göttingen:
'Noch nie hat jemand so scharf u. doch dabey aufrichtig Orgelproben übernommen. Den ganzen Orgelbau verstand er im höchsten Grade. Hatte ein Orgelbauer rechtschaffen gearbeitet, und Schaden bey seinem Bau, so bewegte er die Patronen zum Nachschuss. Das Registrieren bey den Orgeln wuste niemand so gut, wie er. Oft erschracken die Organisten, wenn er auf ihren Orgeln spielen wollte, u. nach seiner Art die Register anzog, indem sie glauben es könnte unmöglich so, wie er wollte, gut klingen, hörten hernach aber einen Effect, worüber sie erstaunten. Diese Wissenschaften sind mit ihm abgestorben. Das erste, was er bey einer Orgelprobe that, war dieses: Er sagte zum Spaß, vor allen Dingen muß ich wissen, ob die Orgel eine gute Lunge hat, um dieses zu erforschen, zog er alles Klingende an, u. spielte so vollstimmig, als möglich. Hier wurden die Orgelbauer oft für Schrecken ganz blaß.'"
Das reizt einen modernen Orgelkomponisten wie Blarr natürlich ganz besonders. Zudem ist dies Stück keineswegs im "alten Stil" geschrieben, auch wenn der Name "Die Kunst der Fuge" manchen abschrecken mag, die hier etwas Langweiliges, Trockenes, Wissenschaftliches befürchten mögen. Blarr erzählte, wie er selbst kurz eingenickt war, als er dies Werk zum ersten Mal bei einem Konzert in Lüneburg hörte, und aufwachend das Gefühl hatte, er habe gar nichts verpasst, immer noch war alles wie zuvor, ständig d-Moll. Doch war dies wohl eher ein Wegdämmern. Bach will ganz bewusst eine Musik schreiben, die an die Grenzen des Hörbaren geht, an die Grenze zur Musica coelestis vel divina.
Als Schumann 1837 zum Selbststudium das komplette Werk abschrieb, trug er am 21.3.1837 zum Contrapunctus XI in sein Tagebuch ein: "Fertig geschrieben am Ostermorgen 37. Zerreißt einem die Ohren." Bach geht an die Grenzen der chromatischen Musik. Bisweilen sind geradezu Zwölfton-Folgen zu erkennen, und Blarr hatte zeitweise die Idee, bei der Vollendung aus dem Motiv BACH eine Zwölfton-Folge zu entwickeln und einzuarbeiten.
So gestaltet Blarr die Kunst der Fuge in voller Farbenpracht und über alle Register. Manche Fugen kommen bewusst schrill heraus, die unterschiedlichen Möglichkeiten der Orgel werden deutlich gegeneinander abgesetzt. Blarr stellt die vier Canons an das Ende vor den Contrapunctus XIV. Er interpretiert sie als kreisende Fugen und gibt jeder von ihr das Funkeln der Sterne. Das sind im ersten Canon die Kawalflöte, Rohrflöte und das Nachthorn, im zweiten Bombarde 16', Trompete 8' und Trompete 4', in der dritten wird ein besonderer Effekt mit einem Europhon erzielt und in der vierten volle Klangpracht erzeugt mit einer orchestralen Instrumentierung mit Bordun, Gedackt, Nazard, Terz, Klarinette, 3 Flöten, Sesquialtera und schließlich als Höhepunkt das Carillon im Hauptwerk. Blarr beschriebt diesen vierten Canon: "Neuntönige chromatische Leitern gegen springende Intervalle, Synkopenbildung."
Im dritten Canon erlaubt Bach ein einziges Mal eine freie Kadenz kurz vorm Schluss, d.h. eine freie Improvisation. Blarr nutzt das für einen kurzen modernen Einschlag, indem er für einen Moment die Nachtigal schlagen lässt, nachdem bereits im Contrapunctus IV in den Zwischenspielen der Kuckucksruf ertönt war. Dadurch bekam dieser Canon eine ganz persönliche Note. In diesem Canon, genannt der "Phlegmatiker", hat sich Bach möglicherweise selbst charakterisiert. Aufgrund der überraschenden Wirkung dieser Kadenz strahlten die Gesichter vieler Hörer auf, einige lachten sogar spontan auf. Mir schien sie tiefen Schmerz auszudrücken und eine tiefe Verbundenheit Blarrs zu Bach. Im Gespräch nach dem Konzert sagte er auf die Frage, was ihn vor 3 Jahren dazu gebracht hatte, sich so intensiv mit diesem Werk zu beschäftigen, dass es eine tiefe persönliche Antwort gibt, und die Erfahrung des Älter-Werdens.
Nachdem dieser Weg gegangen war, ergab sich die Klangfarbe für die Vollendung des letzten Contrapunct. Hier wurden alle Register gezogen, und es ging immer tiefer hinab bis zum Subkontrabass 32' und der Contraposaune 32' im Pedal. Der Effekt war überwältigend und überzeugend! Der tiefe Klang ging durch die Haut auf den ganzen Körper, Blarr selbst verglich dies mit den tiefen Bass-Klängen, die bisweilen in Discos mit Techno-Musik dröhnen. Bach liebte tiefe Klänge und setzte sich für Register dieser Art ein. Sie wurden in Düsseldorf nach Leipziger Vorbild nachgebaut. (Und ungefähr so würde ich mir auch die Vollendung von Bruckners 9. Sinfonie wünschen.) Schon der dritte Teil dieses Contrapunct war bis ins große Pleno gegangen, und nun wurde im Zusammenspiel der vier Themen eine weitere Steigerung erreicht. Durch diesen Kunstgriff ist es Blarr gelungen, die Vollendung organisch zu ergänzen, so dass die Bruchstelle kaum mehr zu hören war.
Tönende Kreisbahnen
Die Kunst der Fuge war geplant als Bachs letzter Pflichtbeitrag für die "Korrespondierende Societät der Musikalischen Wissenschaften", für die er bereits 1748 zu seinem Eintritt die Canonischen Veränderungen über "Vom Himmel hoch" und 1749 das "musikalische Opfer" geschrieben hatte. Weitere Beiträge wären nach Erreichen des Alters von 65 Jahren nicht mehr verlangt worden.
Lorenz Mizler war Schüler von Bach und hatte 1738 die Societät in Leipzig gegründet. 1739 trat Telemann bei, 1745 Händel und 1747 Bach als 14. Mitglied. (Die Zahl 14 war Bach sehr wichtig, galt sie doch nach dem Zahlen-Alphabet der Societät als der Zahlenwert seines Namens. Wird auf JSBACH ergänzt, ergibt sich der Zahlenwert 41.)
Wie in Freimaurerlogen hatten alle Mitglieder Clubnamen. Mizler selbst nannte sich Pythagoras. Die Namen von Händel und Bach sind nicht bekannt. Mizlers Name deutet schon an, wie sehr Pythagoras und die daran orientierte Weltharmonie von Kepler Gegenstand der Societät waren.
Hans-Eberhard Deutler versteht daher in seinem 2000 bei Schlott veröffentlichten Buch über die Kunst diese als pythagoreisches Werk. Besondere Bedeutung haben die Canons. Schon seit dem 15. Jahrhundert werden sie als Abbild der umlaufenden Gestirne betrachtet. Kepler nimmt in seinem Werk ausdrücklich darauf Bezug. Die Noten der Kanons wurden früher sogar in Kreisgestalt aufgeschrieben (ungewöhnliche Notenbilder sind also nicht erst eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts).
Das führt mich zu einer Ergänzung über die Bedeutung der Zahl. Blarr sieht Bach vor allem als Praktiker, der sich für solche Fragen zweifellos interessiert hat, aber wohl nicht in der Intensität, wie bisweilen heute in seinen Werke nach Zahlenspielereien und zahlenmystischen Zusammenhängen gesucht wird.
Dennoch kann ich mir gut vorstellen, dass Bach intuitiv das Zahlenverständnis von Platon erfasst hat, das dieser in seiner Naturphilosophie des "Timaios" entwickelt. Platon verehrte Pythogaras sehr. Im "Timaios" entwirft er eine Schöpfungsgeschichte, wie ein Demiurg aus den 4 Elementen (verstanden als die platonischen Körper) die Welt geschaffen hat. Die Welt im Ganzen soll für die Sterblichen ein Bild (eikon) des Ewigen sein. "So sann er (der Demiurg) darauf, ein bewegliches Bild der Ewigkeit zu gestalten, und machte, während er zugleich den Himmel ordnete, dasjenige, dem wir den Namen Zeit beigelegt haben, zu einem in Zahlen fortschreitenden unvergänglichen Bilde der im Einen verharrenden Ewigkeit." (Platon "Timaios" 37c-d) Die Himmelsbewegungen sind nach den Zahlen ihrer Umlaufzeiten geordnet. Die Zahlen selbst sind unbeweglich, und so können die Bewegungen durch ihre Bewegungszahlen denjenigen, die dies verstehen, ein Bild des Ewigen geben.
Und so halte ich für durchaus möglich, dass auch Bach in seiner Musik Zahlen gestalten wollte, mit denen die unhörbare Musica divina ihr Bild findet. Den Hinweis gab schon Platon, als er Sokrates berichten lässt, wie ihm in der Nacht vor seinem Tod im Traum die Aufforderung erreichte: "Mache Musik". Sokrates verwirklichte das im letzten Gespräch vor seinem Tod, als er einen "Schwanengesang" anstimmte, ein philosophisches Gespräch, das Platon im "Phaidon" gestaltet hat. Ähnliche Motive mögen Bach bewogen haben.
Sicher ist, dass die 4 Canons den 4 Temperamenten Sanguiniker, Choleriker, Phlegmatiker und Melancholiker gewidmet sind und damit auf die Quaternität mit ihren vielen Ausprägungen anspielen (4 Elemente, 4 Himmelsrichtungen usw.).
Das Thema der letzten Fuge besteht aus 7 Tönen. Ich vermute, dass hier mit der Siebenzahl auf die 7 großen Himmelskörper, 7 Wochentage etc. angespielt ist. Blarr zog eine Parallele zum Thema aus 5 Tönen in der Ricercare des Musikalischen Opfer. So wie dort aus den 5 Tönen ein Durchgang durch 5 Tonarten konstruiert ist, will er diesen Contrapunkt aus den 7 Tönen entwickeln.
Bleibt als letztes Element die Frage, wie viele Takte fehlen. Blarr ergänzte auf eine Gesamtlänge von 365 Takten und nimmt damit wiederum eine der wichtigsten Zahlen der Astronomie. Andere Vollendungen hatten wesentlich weniger Takte ergänzt. Blarr ist es jedoch wichtig, nachdem bereits die ersten Themen sehr breit mit Zwischenspielen eingeleitet wurden, in diesem Stil konsequent fortzufahren.
Die Gefahr bei allen Vollendungen besteht darin, dass zu schematisch versucht wird, das bereits von Bach entwickelte Material fast wie vom Computer durchzurechnen und so die fehlenden Teile gewissermaßen auszurechnen. So sehr Bach sich an Rechnungen gehalten hat, ließ seine Musik doch immer auch viel Raum für freie und phantasievolle Gestaltung. Die Vollendung der Fuge kann daher nur das Werk eines Komponisten sein, der versucht, Bach zu verstehen und in seinem Sinn weiter zu komponieren.
Die letzte Fuge
Es ist überliefert, dass Bach den zwei Spiegelfugen XII und XIII eine weitere Spiegelfuge folgen lassen wollte. Ist dies die XIV Fuge? Ihre Themen können gespiegelt werden. Dazu gibt es verschiedene Versuche, und auch Blarr hat das durchgespielt und als Option versucht, dann aber fallen gelassen. Die Spiegelung klingt noch düsterer als die Fuge selbst. Sollte das der Abschluss dieses Werkes sein?
Da hält Blarr für wahrscheinlicher, dass Bach eine weitere Fuge als Spiegelfuge geplant hat, die der wirkliche Abschluss des Werkes geworden wäre. Aus diesem Grund schließt er sich der Tradition an, die bis auf C.Ph.E. Bach zurückgeht, das Werk mit dem Choral "Wenn wir in hoechsten Noethen" abzuschließen, wo der Text "Vor deinen Thron tret' ich hiermit" gemeint ist. Der Choral vertritt die fehlende Fuge, für die keine einzige Note von Bach überliefert ist.
Dieser Abschluss ist Blarr auch daher wichtig, um Spekulationen entgegenzutreten, Bach könne am Ende seines Lebens den Glauben verloren haben. Das wurde z.B. in der DDR vertreten. Danach galten die spät entstandenen Bauern- und Kaffee-Kantate als Hinweis, dass Bach sich von der geistlichen zur weltlichen Musik gewendet hat. Die Kunst der Fuge gilt dann als Vorläufer der Aufklärung, wo sie auf keinen Text direkt Bezug nimmt und gewissermaßen absolute Musik schreibt. Die Mizlersche Societät bekannte sich zur damals sehr umstrittenen, aufklärerischen Philosophie Chr. Wolffs, und Bach hatte nachweislich ein klassisches Werk über den Atheismus, das vom Hamburger Pfarrer Johann Müller 1672 veröffentlichte "Atheismus devictus" in seiner Bibliothek. Sein Lieblingssohn Friedemann hat diese Interessen weit stärker fortgeführt als Carl Philipp Emanuel, von dem das Wort stammt: "Der seelige war, wie ich u. alle eigentlichen musici, kein Liebhaber, von trockenem mathematischem Zeuge."
Gegen die Atheismus-These spricht, dass Bach am Lebensende an der h-Moll Messe und Chorälen gearbeitet hat. Oft wurde auch die Frage gestellt, ob es Vorbilder für das Thema in der Urgestalt der Fuge I gibt, das sich dann durch das ganze Werke zieht. Bisher ist es nicht gelungen, in der reichen Orgelliteratur etwas zu finden. Es scheint aber wahrscheinlich, dass es sich um einen lutherischen Choral "An Gott wir alle glauben" handelt.
In verschiedenen Gemeinden gibt es die Tradition, dies Werk jeweils am Totensonntag aufzuführen. Nun wurde es jedoch im Mai gespielt, und das scheint mir trotz der sich durchziehenden d-Moll-Tonart dem Werk besser gerecht zu werden.
Am Ende des Konzerts verneigten sich Blarr und Esther Kim, mit der er seine für 4 Hände gesetzte Version gespielt hatte, vor dem Publikum und vor der neuen Orgel. Im anschließenden Gespräch räumte er seine Aufgeregtheit ein, wie das Werk aufgenommen werden würde, ob es als Anmaßung gegen das Genie von Bach klingen könne. Aber Musik wird nicht für die Hörer geschrieben, für ein möglichst großes Publikum, sondern die Hörer dürfen teilnehmen. Das war keineswegs überheblich gemeint, sondern bescheiden gegenüber den eigenen Fähigkeiten und in Verehrung an die Musik und für Bach. Dennoch würde ich mir sehr wünschen, wenn diese Version noch oft gespielt werden könnte und weit mehr Hörer daran teilnehmen dürfen.
Viele Grüße,
Walter