„Windräder“ (III)
Ein ungewöhnlich langes, sechs Takte einnehmendes Zwischenspiel folgt nach. Es hat wohl nicht die Funktion eines Nachspiels, dazu hebt es sich in seiner Klanglichkeit zu stark von der Liedmusik auf den Worten des vierten Verses ab. Eine Sprungfigur aus Achtel, dreistimmigem Sechzehntelakkord und Zweiunddreißigstel im Diskant ist in eine Folge von punktierten Achtelakkorden und einem im Wert eines Zweiunddreißigstel eingelagert. In ihrer langsamen Aufwärtsbewegung und der Rückkehr zur Ausgangsebene evoziert diese, eine harmonische Wandlung von F-Dur über gis-Moll, G-Dur, h-Moll, B-Dur und As-Dur durchlaufende Folge von rhythmisierten Sprungfiguren das Bild von sich drehenden Windrädern und fungiert damit als Überleitung zur Melodik der zweiten Strophe. Und in seinen beiden letzten Takten geht der Klaviersatz bezeichnenderweise wieder über zu den Figuren, die der Melodik der Verse zugeordnet sind, die das Wort „Windräder“ beinhalten.
Hier beschreibt die melodische Linie auf den Worten „Windräder gehen“ aber eine andere Bewegung als bei ihnen am Liedanfang. Kein repetitives Verharren auf der tonalen Ebene, vielmehr, und dabei in c-Moll gebettet, ein sich Absenken davon um eine große und eine kleine Sekunde zur tonalen Ebene eines „Es“ in tiefer Lage, und dann ein ausdrucksstarker Sprung von dort über das Intervall einer Sexte zu einer langen Dehnung bei dem Wort „gehen“ auf der tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage, wobei die Harmonik einen Übergang nach Es-Dur vollzieht. Eine relativ lange, fast einen Takt einnehmende Pause folgt nach, in der das Klavier weiter seine ruhigen Sechzehntel-Windräder-Quartolen im Diskant erklingen lässt.
Durch die mittels des Sextsprungs und der Dehnung erfolgende Akzentuierung des Wortes „gehen“ wird dem diesem lyrischen Bild innewohnenden Faktor der Bewegung größere Bedeutung verliehen, als dies am Liedanfang der Fall ist. Marx greift damit die Konjunktion „und“ auf, mit der lyrisch eine Kausalität zum nachfolgenden Bekenntnis des lyrischen Ichs hergestellt wird: „ und meine Seele lauscht / Dem Lied“. Durch im Intervall noch größere Sprung- und Fallbewegungen bringt hier die melodische Linie die Bedeutsamkeit zum Ausdruck, die dieses Lauschen für das lyrische Ich hat: Ein veritabler Oktavsprung mit nachfolgendem Quartfall auf dem Wort „meine“, ein auf der tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage ansetzender gedehnter Sekundfall auf „Seele“ und ein verminderter Quintfall zur tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage bei dem Wort „lauscht“, das in As-Dur-Harmonik gebettet ist. Die Worte „dem Lied“, auf denen sich ein an dieser „B“-Ebene ansetzender melodischer Terzsprung ereignet, bei dem die Harmonik eine Wandlung nach Des-Dur vollzieht, setzt Marx durch eine Achtelpause ab, was den Anschluss mittels Relativpronomen berücksichtigt, der sich syntaktisch im zweiten Vers der zweiten Strophe ereignet und einen eigenständigen Satz konstituiert.
Auf den Worten „Dem Lied, das in der tiefsten Nacht verrauscht“ geht die melodische Linie nach besagtem Terzsprung zu einer fünfmaligen, anfänglich gedehnten Repetition auf der tonalen Ebene eines „Des“ in hoher Lage über, die auch in Des-Dur harmonisiert ist. Auf der zweiten Silbe des Wortes „tiefsten“ beschreibt sie dann einen Fall über eine Quarte, der sich auf der ersten Silbe von „verrauscht“ fortsetzt, um, wie das in diesem Lied häufig der Fall ist, auf der zweiten in einen ausdrucksstarken Sprung über das Intervall einer Sexte zu einer langen Dehnung auf der Ebene eines „Ces“ in hoher Lage zu beschreiben, die in as-Moll gebettet ist.
Dieses Verrauschen eines Liedes in der Nacht, wird vom lyrischen Ich als Erfahrung von Vergänglichkeit und „Tod“ erfahren, - jenem Wort, in das die lyrische Aussage des Gedichts mündet. So hat das wohl auch Marx aufgefasst, wie die Liedmusik in ihrer Melodik und deren Münden in eine im halbtaktigen Nachspiel noch fortklingende Moll-Harmonik bei dem Wort „verrauscht“ vernehmen lässt, - für mich jedenfalls.
„Sehr langsam u. frei im Vortrag“, so lautet die Anweisung für den Vortrag der Melodik auf den Worten des zweitletzten Verses, und das deutet darauf hin, dass ihr für Marx eine herausragende Bedeutung zukommt. Er möchte, dass die Interpreten selbst entscheiden, wie die Liedmusik in ihrer Aussage im Kontext der anderen Melodiezeilen zu gewichten und hervorzuheben ist. Lachen und Drohen zugleich verweist schließlich auf die Untergründigkeit der existenziellen Erfahrung, die das lyrische hier macht.
Schon der lang gehaltene achtstimmige Akkord, der erklingt, noch bevor die Melodik einsetzt, verweist auf diese. Es ist ein schmerzlich dissonanter. Akkorde sind es, die nun als ihre Begleitung fungieren. Die Legato-Sechzehntel-Windradfigur ist erst einmal verklungen. Mit einer dreimaligen Tonrepetition auf der Ebene eines „Es“ in tiefer Lage setzt die melodische Linie auf den Worten „Wie in dem Holz“ ein, um bei „Holz“ mit einem Quintsprung zu einer kleinen Dehnung auf der Ebene eines „B“ in mittlerer Lage überzugehen. Der Akkord, der zu dieser erklingt, ist ebenfalls ein dissonanter.