Dieses Heine-Gedicht wurde auch von Robert Franz vertont. Ich möchte diese Vertonung hier der Vorstellung jener von Hugo Wolf hinzufügen, um über den Vergleich die spezifische Art und Weise erkennbar werden zu lassen, wie Hugo Wolf kompositorisch mit dem lyrischen Text umgeht.
Ihm geht es um das liedmusikalische Erfassen der lyrischen Aussage, wie sie sich in der Abfolge der Verse konstituiert, Robert Franz hingegen um das kompositorische Erschaffen eines musikalischen Äquivalents für affektiven Gehalt der Metaphorik des Gedichts, das zentrale und so beeindruckende Bild von den "Sternen mit den gold´nen Füßchen". Dafür genügt ihm ein einziges melodisches Thema, um das er dann seine Liedmusik zusammen mit einem kleinen zweiten Thema kreisen lassen kann. Heraus kommt dabei ein zweifellos klangschönes Lied, aber eines, das - aus meiner Sicht - die poetische Aussage des Heine-Gedichts verfehlt.
Diesem zentralen melodischen Thema, das Liedmusik der Franz-Vertonung prägt, ja zu beherrschen scheint, wohnt ein zarter, ans Grazile rührender Gestus inne. Von Zentralität kann man sprechen, weil es in diesem Lied fünf Mal erklingt: In den ersten beiden Strophen zweimal, in der dritten einmal. Den Klaviersatz beherrscht es tatsächlich: Dort vernimmt man es zehn Mal, und das Nachspiel besteht aus einem einzigen Nach- und Ausklingen dieser Figur.
Sie weist eine hochgradige Eingängigkeit auf, was ganz offensichtlich in ihrer melodischen Struktur und ihrer Harmonisierung gründet. Sie setzt auf dem Grundton „E“ in hoher Lage ein und endet auf ihm nach dem Fall über eine ganze Oktave. Diese ereignet sich aber in leicht melismatisch geprägter, weil rhythmisierter Weise. Nach einem Quartfall beschreibt die melodische Linie ein triolisches Auf und Ab in Gestakt von Sechzehnteln, geht danach mit einem Sekundsprung in eine kleine Dehnung über und überlässt sich anschließend einem Sextfall, der sie in tiefe Lage führt, aus der sie sich dann mit einer Kombination aus Terzsprung und Sekundfall wieder erhebt. Die Harmonik macht bei diesem Sextfall eine Rückung in die Dominante und kehrt danach wieder zur Tonika E-Dur zurück. Dadurch, dass sich die Rückung im Raum einer Oktave des Grundtons ereignet und harmonisch über die Dominante wieder zur Grundtonart zurückkehrt, weist diese Figur eine starke innere Geschlossenheit auf.
Der spezifische Reiz der Melodik dieses Liedes – und damit der ganzen Liedmusik – darin, dass dieser Figur in den ersten beiden Strophen nach einer Dreiachtelpause, in der das Klavier sie noch einmal erklingen lässt, jedes Mal eine melodische Figur entgegentritt, die gleichsam gegenläufig angelegt ist. Sie tritt zwar in zwei Varianten auf, weist aber die gleiche Grundstruktur auf, nur dass sie in einem zweiten Fall, des Zustandekommens einer Kadenz am Ende der Strophe wegen, in einem kleinen Sekundsprung endet, - so erstmals bei den Worten „der Nacht“. Sie setzt auftaktig mit einem Sechzehntel-Sekundsprung in tiefer Lage ein, steigt in mittlere Lage empor und beschreibt dort einen aufwärts gerichteten Bogen, der in der ersten Variante aus einem Auf und Ab mit einem eingelagerten Sechzehntel-Sprung besteht, also ein wenig komplexer ist, als dies bei der zweiten Variante der Fall ist, wo er nur aus Sekundschritten besteht. In der Harmonisierung unterscheiden sich die beiden melodischen Figuren allerdings. Während sich bei der ersten eine schlichte Rückung in die Subdominante und wieder zurück ereignet, beschreibt die Harmonik bei der zweiten eine Rückung von E-Dur über gis-Moll und Eis-Dur zurück nach g-Moll.
In der dritten Strophe weicht die Liedmusik auf eine fast schon überraschend anmutende Weise von dem Gestus ab, in dem sie sich zwei Strophen lang entfaltete und ihre Hörer damit durchaus einzufangen vermochte. Franz reagiert damit auf den Wechsel der Perspektive im lyrischen Text. Nun lässt die melodische Linie von ihrem Wechselspiel mit den beiden Grundfiguren ab und geht zu einem rhetorischen Gestus über, - dergestalt dass sie sich bei den ersten beiden Versen in drei kleinen, durch Pausen voneinander abgehobenen Melodiezeilen entfaltet, wobei die erste Pause sogar eine recht lange ist, nämlich eineinhalb Takte einnimmt.
Aus den Heine-Worten „Doch was rief dort?“ hat Franz „Doch was rief es?“ gemacht, - was eigentlich keinen Sinn ergibt. Darauf legte er eine doppelte melodische Fallbewegung, die „con anima“ vorzutragen ist und vom Klavier mit einer Figur eingeleitet wird, bei der sich bitonale und dreistimmige Akkorde aus einen arpeggierten Akkord lösen: Auf einen mit einem Vorschlag versehenen melodischen Sechzehntel Fall auf den Worten „doch was“ folgt ein Quartfall von Achteln auf „rief es?“. Und das Ganze in E-Dur-Harmonisierung. In der langen Pause danach erklingt diese Figur noch einmal, wobei die Harmonik über Gis-Dur nach cis-Moll rückt.
Die Worte „in mein Herze“ werden auf einer Kombination von Sekundsprung und Terzfall deklamiert, und nach einer Achtelpause beschreibt die melodische Linie auf den Worten „dringt der Töne Widerhall“ eine leicht rhythmisierte, in oberer Mittellage ansetzende Fallbewegung, in die bei dem Wort „Widerhall“ ein Sechzehntel-Melisma in Gestalt eines Doppelvorschlags eingelagert ist, bevor sich am Ende ein in eine kleine Dehnung mündender Quintsprung ereignet. Nachdem die Worte „War es der Geliebten Stimme“ auf dem melodischen Hauptmotiv deklamiert worden sind, folgt, nach einer erneutet Dreiachtelpause die Deklamation des Schlussverses „Oder war´s die Nachtigall?“. Das geschieht auf einer melodischen Linie, die auftaktig wieder mit dem Sechzehntel-Sekundsprung einsetzt und danach in einen dreischrittigen Sekundfall übergeht, der sich danach mit einem Oktavsprung zur hohen Lage des Grundtons „E“ als dreischrittiger Terzfall fortsetzt. Und auf der letzten Silbe des Wortes „Nachtigall“ geht die melodische Linie dann in eine lange Dehnung auf einem „H“, der Quinte zum Grundton also, über. Die Harmonik beschreibt während des dreifachen Sekundfalls auf den ersten beiden Silben von „Nachtigall“ eine Rückung nach a-Moll, bevor sie am Ende nach E-Dur zurückkehrt.
In dieser Liedmusik auf dem letzten Vers ist klanglich keine Spur von Enttäuschung darüber zu vernehmen, dass das lyrische Ich nicht die Stimme der Geliebten, sondern möglicherweise die einer Nachtigall vernommen zu haben glaubt. Die kurze Rückung nach a-Moll bringt keine klangliche Eintrübung der Liedmusik mit sich, sondern mutet, da sie sich ja bei einem hoch ansetzenden dreischrittigen Terzfall ereignet, eher wie eine Steigerung der klanglichen Lieblichkeit an, die von der Liedmusik hier ausgeht.