Beiträge von Helmut Hofmann

    „Nocturne“ (IV)

    Auf den Worten „Ist mir zu Schmerzen erwacht“ kann die melodische Linie also auf keinen Fall die Bewegungen beschreiben wie im letzten Vers der ersten Strophe. Und das tut sie auch nicht. Zwar setzt sie mit dem gleichen Sekundfall mit nachfolgender Umkehr desselben ein wie dort, aber das ereignet sich auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene und ist nun nicht in Es-Dur, sondern in B-Dur harmonisiert. Der melodische Fall auf „Schmerzen“ ist der gleiche wie der auf „Sinnen“, er ist aber in As-Dur gebettet und wird mit einer forte auszuführenden, fallenden angelegten und sich wiederholenden Folge von Vierundsechzigstel-Quartolen begleitet. Vor allem aber: Dieses Mal fehlt die Pause nach dem Sekundfall. Die melodische Linie auf dem Wort „erwacht“ schließt sich nun unmittelbar an diesen an, und sie besteht, und das ist die vielsagende Neuerung, aus einem Legato-Terzsprung aus deklamatorischen Sechzehntel-Schritten, der in eine sehr lange Dehnung auf der zweiten Silbe von „erwacht“ mündet, die sich auf der Ebene eines „Es“ in hoher Lage ereignet und in die Grundtonart As-Dur gebettet ist.


    Dass das Wort „Schmerzen“ Marx nicht dazu bewogen hat, die Melodik eine, möglichweise gar in Mollharmonik gebettete Fallbewegung beschreiben, sie hingegen auf der Quinte zum Grundton und in der Tonka harmonisiert in einer langen Dehnung enden zu lassen, ist wohl so zu deuten, dass er diese lyrische Aussage als das Geständnis einer Erfahrung gelesen und interpretiert hat, die das lyrische Ich akzeptiert und zu der es sich bekennt.

    Und das bringt nach meiner Auffassung auch das Nachspiel zum Ausdruck. Es ergeht sich mezzoforte in einer wahren Flut von wieder bis in den Oktavdiskant reichenden Folge von fallenden und wieder steigenden Vierundsechzigstel-Quartolen, allesamt in As--Dur gebettet, geht gegen Ende gar im Diskant in einen langen, in Es-Dur harmonisierten und mit der Anweisung „langsam und mit starkem Ausdruck“ versehenen Forte-Triller über, um schließlich in zwei vom Diskant in den Bass fallenden und vom Piano ins Pianissimo sich zurücknehmenden As-Dur-Akkorden zu enden.

    „Nocturne“ (III)

    Im zweiten Verspaar der zweiten Strophe erfährt das Wort „Glück“ aus dem zweiten Vers gleichsam eine Konkretisierung dergestalt, dass sich im lyrischen Ich das Gefühl einstellt, als käme die „lange verlorene Jugend“ zurück. Es bleibt sprachlich dabei zwar immer noch im konjunktivischen Gestus des Als ob, aber der affektive Gehalt dieser Aussage ist nun beträchtlich erhöht.
    Auch das reflektiert Marxens Liedmusik. Die Melodik wird expressiver, und der sie begleitende Klaviersatz komplexer. Wieder steigen aus dem Bass im Forte Sechzehntel in hohe Diskantlage empor, und erstmals münden sie dabei in vielstimmige Akkorde. Bei den Worten „Als töne, die lange verloren,“ steigt die melodische Linie bis zur tonalen Ebene eines „As“ in hoher Lage auf und geht von dort forte und „breiter werdend“ in einen Fall über, der auf der zweiten und der dritten Silbe von „verloren“ zu einem lang gedehnten im Intervall einer Terz wird. Am Anfang erklingt dabei ein vierstimmiger C7-Akkord, dann steigen während der Dehnung Sechzehntel aus dem Bass in den hohen Diskant, und darauf erklingt erneut ein Akkord, dieses Mal ein klangstarker im Mezzoforte aus sechs Stimmen in verminderter C-Harmonik.

    Das lyrische Ich ist bei dieser Imagination der Rückkehr vergangener Jugend ins Entzücken verfallen, und in der Melodik drückt sich das in der Weise aus, dass sie sich nach dem Ausbruch in hohe Expressivität ein wenig zurücknimmt, auf dem Wort „Jugend“ nur noch ein mit der Anweisung „langsamer werdend“ versehender gedehnter Fall über eine verminderte Sekunde liegt, auf dem zweiten „Jugend“ ein nur noch leicht gedehnter über eine Sekunde auf abgesenkter tonaler Ebene und verbunden mit einer harmonischen Rückung von E- nach A-Dur. Auf den Worten „leise zurück“ senkt sich die melodische Linie, „langsamer und frei im Vortrag“ und in H-Dur harmonisiert, zur Ebne eines „Fis“ in tiefer Lage ab und vollzieht, vom Klavier im Diskant nun nur mit einem langsam ins Mezzopiano übergehenden Auf und Ab begleitet, am Ende einen Anstieg zu einer langen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „Cis“ in oberer Mittellage auf der zweiten Silbe von „zurück“. Diese mutet deshalb so dezent, eben als Ausdruck innerer Beglückung an, weil er über eine kleine Sekunde erfolgt und die Harmonik eine Rückung nach E-Dur vollzieht.

    Dem Klavier hat Marx, wie bereits deutlich geworden sein sollte, eine wichtige Rolle und Funktion in der Konstituierung der musikalischen Aussage des Liedes zugewiesen. Das zeigt sich nun wieder darin, dass dem Einsatz der Melodik auf den Worten des dritten Verses ein ungewöhnlich langes, zwölf Takte einnehmendes Zwischenspiel vorausgeht, das nicht nur von seiner Länge, sondern vor allem auch von der Struktur des Klaviersatzes her mehr als ein Zwischenspiel sein will, wie es gemeinhin in der Liedkomposition als Bindeglied zwischen den Strophen eingesetzt wird.
    Man darf es wohl, so denke ich, als musikalische Konkretion des seelischen Prozesses auffassen und verstehen, der sich nach der Als-Ob Erfahrung der zweiten Strophe im lyrischen Ich ereignet, bevor es zur Artikulation der Worte der dritten Strophe übergeht. Denn bei diesen handelt es sich ja um ein Aufgreifen derjenigen der ersten Strophe.

    Von bemerkenswerter Klangschönheit ist dieses Zwischenspiel. Achtelbewegungen münden in einen häufig terzenbetonten Akkord und generieren dabei eine ganz und gar in Dur-Harmonik (E-Dur, H-Dur) gebettete, noch nicht einmal kurz Moll-Harmonisierung tangierende melodische Linie. In den letzten Takten erklingen nur noch in Terzen-Akkorde mündende Terzenbewegungen, wobei die Harmonik eine Rückung zur Dominantseptvariante der Tonart E-Dur vollzieht.
    Deutet man das Zwischenspiel als musikalische Konkretion der Erfahrungen des lyrischen Ichs in der „quellenden Juninacht“, so können es nur ausnahmslos emotional beglückende und beseligende sein, und das Wiedererklingen der Liedmusik der ersten Strophe wäre dann als Bestätigung und Bekräftigung dieses Sachverhalts zu verstehen.

    Es ist ein vollidentisches Wiedererklingen, Melodik, Harmonik und Klaviersatz der ersten Strophe kehren unverändert wieder, - bis auf die Worte des letzten Verses. Hier hat Hartleben eine geradezu rabiat anmutende Perversion der lyrischen Aussage vorgenommen. Der Vers setzt in den Worten „ist mir“ genauso ein wie der letzte Vers der ersten Strophe, und der Leser erwartet, dass sich eine Wiederholung des dortigen Textes ereignet, wie das ja bei den vorangehenden drei Versen der Fall war. Stattdessen wird er mit dem Wort „Schmerzen“ konfrontiert.
    Es ist ein gekonnt inszeniertes kleine Schock-Erlebnis, mit dem Hartleben bewusst machen will, dass die Juninacht-Erfahrungen für das lyrische Ich ambivalente sein müssen. Denn die Worte „Als töne, die lange verloren, / Die Jugend leise zurück“ , das zweite Verspaar, das sich nun als von zentraler Relevanz für die poetische Aussage erweist, und von Marx entsprechend liedmusikalisch gewürdigt wird, beinhaltet ja die dort lyrisch nicht zur Sprache gebrachte Erfahrung von existenzieller Vergänglichkeit.

    „Nocturne“ (II)

    Wenn man glaubt, hier hätte der Klaviersatz den Gipfel seiner Expressivität erreicht, so wird man gleich anschließend eines Besseren belehrt. Auf den Worten „Ist mir in Sinnen erwacht“ nimmt sich die melodische Linie in ihrem deklamatorischen Gestus stark zurück, beschreibt, nun in Es-Dur harmonisiert, nach einem Terzfall in mittlerer Lage nur noch einen, mit einem Quartsprung eingeleiteten und dieses Mal nicht gedehnten Sekundfall in hoher Lage auf dem Wort „Sinnen“, um sich danach einer langen, mit einer Fermate versehenen Pause zu überlassen. Das Wort „erwacht“ wird danach auf einem mit einer Dehnung versehenen „C“ in oberer Mittellage vorgetragen, es erfährt allerdings durch diese ihm vorangehende lange Pause eine ganz eigene Akzentuierung. Was aber bei dieser letzten Melodiezeile der ersten Strophe besonders bemerkenswert ist, das ist der Klaviersatz. Er hat ja mit seinen Zweiunddreißigsteln gerade einen Sturz in tiefe Basslage hinter sich. Von dort nun beschreiben diese einen spektakulären Aufstieg in hohe Oktav-Diskantlage, vollziehen dort einen zweimaligen Fall, um diesen dann beim zweiten Mal mezzoforte in untere Diskantlage fortzusetzen.

    Und nun, in der Pause für die Singstimme, wird aus dem so fulminanten, über ein übergroßes Intervall sich erstreckenden Anstieg und Fall von Zweiunddreißigsteln mit einem Mal ein Auf und Ab von Achteln in tiefer Diskantlage. „Langsamer, a piacere molto rit., quasi cadenza“ lautet hier die ungewöhnlich umfangreiche Vortragsanweisung. Und am Ende dieser „cadenza“ erklingt das Wort „erwacht“ in Gestalt einer mit einem Sekundsprung eingeleiteten und in As-Dur gebetteten Dehnung auf der tonalen Ebene eines „C“ in oberer Mittellage.
    Eindrücklicher kann man wohl dieses Erwachen „einer Wonne“ nicht zum Ausdruck bringen. Marx hat es zu einem durch die in die fermatierte Pause eingelagerte „cadenza“ und die Fortsetzung des Auf und Abs derselben nun in Gestalt von Vierteln im Diskant zu einem musikalischen Prozess werden lassen. Das ist Liedkomposition auf höchstem artifiziellem Niveau.

    Aber mit der Entfaltung von rasant-hochexpressiver Klaviermusik hat es noch kein Ende. Unmittelbar an das ruhig anmutende Auf und Ab von Vierteln während der Dehnung auf „erwacht“ schießt eine Vierundsechzigstel-Kette „sempre legatissimo“ aus tiefer Diskantlage in dessen Oktavregion, und das geschieht nach einem melismatischen, in ein singuläres Viertel mündenden Legato-Fall von Vierundsechzigsteln gleich noch einmal, nun aber aus der hohen Lage in einen Fall übergehend und nicht, wie beim ersten Mal, in einer Wandlung von es-Moll nach As-Dur harmonisiert, sondern in Ges-Dur. Das ist wohl nicht nur als Nachspiel zur Liedmusik der ersten Strophe gedacht, sondern auch als Zwischenspiel und Hinführung zu der der zweiten Strophe. Und deshalb geht diese Vierundsechzigstel-Orgie am Ende in ein überaus ruhig anmutendes Auf und Ab von Achteln im Diskant und von Sechzehnteln im Bass über, wobei die Harmonik eine Wandlung von As-Dur über Es-Dur nach f-Moll vollzieht.

    In der ganzen zweiten Strophe artikuliert sich das lyrische Ich im konjunktivischen Als Ob. Und wie sehr Marx, bei all seiner primären Ausrichtung seiner Liedkomposition auf optimale Klanglichkeit, darauf bedacht ist, dabei auch die lyrische Aussage in ihrer genuinen Sprachlichkeit zu erfassen, das zeigt sich hier.
    Mit der Artikulation im lyrisch-sprachlichen Als Ob geht ja auch ein Sich-Zurücknehmen des lyrischen Ichs aus der extrovertierten Emphase der ersten Strophe in monologische Innerlichkeit einher. Und Marxens Liedmusik reflektiert das, indem sich die Melodik zunächst nun nicht mehr in der weiten Phrasierung von lang gedehnten Legato-Bögen entfaltet, vielmehr in erster Linie in Gestalt von deklamatorisch relativ kurzschrittigen Bewegungen auf mittlerer tonaler Ebene, und nur dort zu Dehnungen übergeht, wo ein lyrisch relevantes Wort der Akzentuierung bedarf. Und der sie begleitende Klaviersatz besteht nun aus dem Bass in den Diskant aufsteigenden quartolischen Sechzehnteln und einem Auf und Ab derselben in hoher Diskantlage. Nur einmal, bei dem lang gedehnten und deshalb herausragenden Quintfall auf dem Wort „Ohren“ versteigt sich das Klavier mit seinen quartolischen Figuren nun aus Zweiunddreißigsteln noch einmal in Oktav-Diskantlage. Die Harmonik vollzieht hier die ausdrucksstarke Rückung vom vorangehenden Gis-Dur nach H7-Dur.

    „Nocturne“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „In fließender Bewegung (nicht schleppend)“ soll die 1911 entstandene Liedmusik vorgetragen werden, der ein von vier bis zu acht Vierteln reichendes Metrum zugrunde liegt. Als Grundtonart ist As-Dur vorgegeben. Ohne Vorspiel setzt die Melodik in dem klanglichen Bett ein, das das Klavier in Gestalt von „sempre poco rubato e legatissimo“ auszuführenden und in As-Dur harmonisierten Zweiunddreißigstel-Figuren entfaltet, die in einem triolischen Auf und Ab aus tiefer Basslage in den hohen Diskant aufsteigen und beim Einsatz der Melodik auf dem Wort „Süß“ in einen arpeggierten As-Dur-Akkord münden. Das aber ist ein Ausnahme-Fall, eben diesem Auftakt der Melodik geschuldet, denn Akkorde sind nicht Bestandteil des Klaviersatzes.

    Sie kommen vereinzelt nur dort zum Einsatz, wo dieser vorübergehend eine neue Gestalt annimmt. Bezeichnenderweise ist das auf dem zweiten Verspaar der zweiten Strophe der Fall, das auch im lyrischen Text, wie einleitend aufgezeigt, eine sprachlich und semantisch herausragende Stellung einnimmt. Ansonsten besteht der die Melodik begleitende Klaviersatz strukturell aus einer Vielzahl von Varianten der Gestalt, in dem er beim ersten Vers auftritt, nur schon innerhalb desselben ergänzt durch nun sogar dominant werdende Vierundsechzigstel-Figuren, die sich vom anfänglichen Piano bei den Worten des dritten Verses ins Forte steigern.

    Die Melodik auf den Worten „Süß duftende Lindenblüte / In quellender Juninacht“ ist in ihrer Struktur repräsentativ für den emphatischen Geist dieses Liedes. Zwei Mal, bei „süß duftende“ und „in quellender“, beschreibt die melodische Linie den gleichen mit einer Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „C“ eingeleiteten triolischen Sekundfall, um sich danach zu einer expressiv gedehnten Fallbewegung aufzuschwingen. Diese identische Bewegung davor mutet wie ein Anlauf dazu an, denn die Fallfigur auf „Lindenblüte“, ein gedehnter Legato-Oktavfall mit nachfolgender Tonrepetition, mutet ihrerseits wie eine Vorstufe der in ihrer Expressivität gesteigerten Figur auf „Juninacht“ an. Nun setzt der Legato-Fall auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene an, erfolgt über eine Quarte, mündet ebenfalls in eine Tonrepetition, soll aber nun nicht mezzopiano sondern mezzoforte vorgetragen werden. Die Harmonisierung besteht durchweg aus einem As-Dur. In beiden Fällen ereignet sich im Klaviersatz ein extrem großer Fall von quartolischen Vierundsechzigstel-Figur aus Oktav-Diskantlage bis in den tiefen Bass.

    Dieses Operieren mit strukturell identischen melodischen Figuren, die bei der Wiederholung eine Steigerung ihrer Expressivität erfahren, ist eine der kompositorischen Verfahrensweisen, mit denen Marx eine hohe Eingängigkeit seiner Liedmusik zustande bringt. Und bei der sich nach einer Achtelpause anschließenden Melodiezeile auf den Worten „Eine Wonne aus meinem Gemüte“, dem dritten Vers also, setzt er dieses Prinzip der kontinuierlichen Steigerung der Expressivität fort. Nun beschreibt die melodische Linie nach einer Tonrepetition einen ausdrucksstarken Oktavsprung zur tonalen Ebene eines „As“ in hoher Lage, um, nun in Des-Dur harmonisiert und in der Dynamik ins Forte gesteigert, auf dem Wort „Wonne“ einen lang gedehnten Terzfall zu beschreiben.

    Diesen Fall-Gestus setzt sie bei „aus meinem“ über eine Sekunde und eine Quarte fort, und auf dem Wort „Gemüte“ folgt dann, eingeleitet mit einer Tonrepetition und verbunden mit einer ausdrucksstarken harmonischen Rückung von Des-Dur nach B-Dur, der nächste wiederum lang gedehnte melodische Fall. Dieses Mal ist es einer nur über eine Sekunde in mittlerer Lage, aber die Dehnung erstreckt sich viel weiter, nämlich über den Wert einer halben Note, und sie erfährt durch den Klaviersatz eine starke Akzentuierung, Denn dieser besteht nun aus einem dreimaligen Anstieg von triolischen Vierundsechzigstel-Figuren aus tiefer Bass- in hohe Oktav-Diskantlage. Er geht im kurzen, eine Viertelpause einnehmenden Zwischenspiel vor dem Einsatz der Melodik auf den Worten des letzten Verses der ersten Strophe in einen Sturz in die Tiefe des Basses über.

    „Nocturne“

    Süß duftende Lindenblüte
    In quellender Juninacht.
    Eine Wonne aus meinem Gemüte
    Ist mir in Sinnen erwacht.

    Als klänge vor meinen Ohren
    Leise das Lied vom Glück,
    Als töne, die lange verloren,
    Die Jugend leise zurück.

    Süß duftende Lindenblüte
    In quellender Juninacht.
    Eine Wonne aus meinem Gemüte
    Ist mir zu Schmerzen erwacht.

    (Otto Erich Hartleben)

    Hinter diesem Pseudonym steht der 1864 geborene und 1905 verstorbene Henrik Ipse, Referendar in Stolberg und Magdeburg, der 1890 den Staatsdienst verließ, um als freier Schriftsteller zu leben, der im Geist des Naturalismus anfänglich gesellschaftskritische, später besinnlich-humoristische Dramen schuf. Als Lyriker publizierte er vorwiegend formstrenge Oden und Sonette, geprägt sind seine Gedichte, wie auch dieses, von erlesener Metaphorik und klangvollem Wortreichtum. Das erste lyrische Bild ist mit seinen, das affektive Potential steigernden Partizip-Präsens-Einlagerungen „duftend“ und „quellend“ typisch für seine lyrische Sprache. Und deren Formstrenge zeigt sich in dem syntaktischen Konstrukt, das er im zweiten Verspaar der zweiten Strophe einsetzt, um die Erfahrung einer scheinbaren Wiederkehr der längst verlorenen Wiederkehr der Jugend zum Ausdruck zu bringen.

    Die „duftende“, „quellende“ und „klingende“ Metaphorik, gepaart mit dem Bild der aus dem „Gemüte“ erwachenden „Wonne“, die sich am Ende zu „Schmerzen“ wandelt, - das alles sind lyrische Fakten, die einen Joseph Marx zur Entfaltung seines auf Klanglichkeit ausgerichteten liedkompositorischen Potentials herausfordern müssen. Und dieser Herausforderung ist er auch gefolgt, sich darin auch wieder in einen Höchstgrad an Expressivität hineinsteigernd. Die gebunden sich entfaltende, weit phrasierte und sich immer wieder langen expressiven Dehnungen überlassende Melodik ist fast durchgehend in einen geradezu fantastisch anmutenden, in einen wahren Rausch sich steigernden klanglichen Raum gebettet, der sich aus über Diskant und Bass sich erstreckenden Auf und Ab von Dreiundsechzigstel - und Vierundsechzigstel-Figuren generiert.

    Wieder einmal, und in diesem Fall auf ganz besonders eindrückliche Weise, vernimmt und erkennt man, dass das liedkompositorische Hauptanliegen von Marx eben nicht die Auslotung des lyrischen Worts in seinen semantischen und affektiven Dimensionen ist, dass es ihm vielmehr um das Erfassen der affektiven Aura geht, die der lyrische Text entfaltet und er dazu vorwiegend, manchmal gar bis zum Übermaß expressive Klanglichkeit generierende kompositorische Mittel einsetzt.


    „Traumgekrönt“ (III)

    Beim letzten Verspaar kommt die poetische Aussage zu ihrem Kern, der in diesem Gedicht ein wesenhaft religiöser ist. Für Marx ist das Anlass, die Liedmusik ihrerseits zum Höhepunkt ihrer Aussage zu führen, und bei ihm geht das häufig einher mit einer Steigerung in dynamisch hohe Expressivität. Nach einer Achtelpause vollzieht die Melodik auf den Worten „Steigt ein kapellenloser Glaube“ einen mit einem dreischrittigen Sekundanstieg eingeleiteten Quartsprung zur tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage, geht von dort bei „kappellenloser“ in einen silbengetreuen Sekundfall über, um nach einem neuerlichen Quartsprung, nun aber zur tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage, dort auf dem Diphthong von „Glaube“ in eine lange Dehnung überzugehen, der auf der Silbe „-be“ in ein ausdrucksstarker Sextfall nachfolgt. „Steigernd“ lautet hier die Vortragsweisung. Die Es-Dur-Harmonik geht bei dieser langen Dehnung auf „Glaube“ in hoher Lage erst in eine Dissonanz über, vollzieht dann aber bei dem Sextfall eine Wandlung nach Des-Dur.


    Die Dissonanz ist keine klanglich schmerzliche, mutet vielmehr weich an und will wohl den affektiven Gehalt des so bedeutungsschweren Wortes „Glaube“ zum Ausdruck bringen. Und darauf ist auch der Klaviersatz ausgerichtet. Entfaltete er sich gerade noch n seinen klanglich lieblichen Achtelfiguren in Oktav-Diskantlage, so tritt er nun in Diskant und Bass in gewichtigen Akkordfolgen auf, und das im Mezzoforte.

    Natürlich, so muss man unvermeidlich sagen, fordert das den letzten Vers dominierende und wiederum bedeutungsschwere Wort „Wunder“ einen Joseph Marx zur Entfaltung seines Expressivität generierenden liedkompositorischen Ausdruckspotentials heraus, obwohl das, man muss es aus meiner Sicht kritisch anmerken, angesichts der lyrischen Aussage-Absicht Rilkes eigentlich unangebracht ist. Bei den Worten „der leise seine“ verharrt die melodische Linie, in einer Rückung von f-Moll nach H-Dur harmonisiert, noch in einer anfänglich gedehnten dreimaligen Tonrepetition auf der Ebene eines „C“ in hoher Lage und senkt sich bei „seine“ davon nur um eine Sekunde ab. Von dieser Ebene des „H“, in das diese Absenkung mündet, vollzieht sie dann aber einen ausdrucksstarken Septsprung zur Ebene eines „As“ in hoher Lage und geht dort bei dem Wort „Wunder“ in eine extrem lange Dehnung über.

    Das Hochexpressive daran ist, dass diese mit einem Crescendo versehene Dehnung nicht einfach in einen Fall auf der letzten Silbe von „Wunder“ mündet. Sie geht vielmehr in einen Legato-Fall über zwei Sekunden und eine Terz über, bevor sie sich dann auf der Silbe „-der“ zu einem Quartsprung zur tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage aufschwingt, auf der am Ende auch die lange Dehnung auf dem Wort „tut“ angesiedelt ist.
    Zur hochgradigen Expressivität trägt auch der Klaviersatz bei. Während dieser melodischen Dehnung erklingt im Oktavdiskant ein rhythmisierter Fall von sage und schreibe acht drei- und vierstimmigen Achtel- und Sechzehntelakkorden, der, versehen mit der Vortragsanweisung „f (beschleunigen)“, von einem anfänglichen As-Dur in einen lang gehaltenen dissonanten Akkord dort mündet, wo der dreischrittige Legato-Fall der Melodik einsetzt. Bei dem steigen im Bass Akkorde in die Höhe, wobei die Harmonik eine Wandlung von Des-Dur nach b-Moll vollzieht. Erst bei der langen Dehnung auf der Ebene des „Es“ in hoher Lage auf dem Wort „tut“, in der die Melodik endet, erklingt im Mezzoforte ein lang gehaltener siebenstimmiger As-Dur-Akkord.

    Es ist in der Tat erstaunlich, welchen Aufwand Marx zuweilen betreibt, um sein wesenhaft auf maximale Klanglichkeit ausgerichtetes liedkompositorisches Grundkonzept in Musik umzusetzen. Und dabei ist dieser hier, an dieser Stelle des lyrischen Textes völlig unangebracht, wie ich finde. Schließlich tut der „kapellenlose Glaube“ bei Rilke „seine Wunder“ ausdrücklich „leise“.

    „Traumgekrönt“ (II)

    Sowohl beim dritten Vers, wie auch beim vierten geht die melodische Linie nach einem Anstieg in eine Fallbewegung über. Lyrisch relevante Worte erfahren dabei eine Akzentuierung, so das Wort „da“ durch eine ungewöhnlich lange Dehnung, die die Bedeutsamkeit des Ereignisses hervorheben soll, ein gedehnter Sekundfall in hoher Lage auf „Stern“, ein ausdrucksstarker gedehnter Quintsprung auf dem Wort „fromme“ und ein wiederum gedehnter Sekundfall auf dem zugehörigen Wort „Hirten“. Marx akzentuiert also, darin der poetischen Aussage-Intention Rilkes folgend, die eine christlich-religiöse Konnotation aufweisen.

    Das Klavier leistet seinerseits einen Beitrag zur Akzentuierung der melodischen Linie, dies aber, auch das ein spezifisches Merkmal von Marx´ Liedmusik, auf höchst unterschiedliche Weise. Während es den bogenförmigen Anstieg und den sich anschließenden Fall der melodischen Linie auf den Worten des dritten Verses in Gestalt von in hohe Diskantlage aufsteigenden und rhythmisierten Achtel- und Sechzehntelakkorden mitvollzieht, lässt es bei dem den ausdrucksstarken Quintsprung auf „fromme“ enthaltenden melodischen Anstieg einen gegenläufigen Fall von Achteln im Diskant erklingen. Der in c-Moll gebettete gedehnte Sekundfall auf „Hirten“ wird hingegen vom Klavier mit einen vierschrittigen Fall von Achteln begleitet. Die Moll-Harmonisierung der Melodik auf „fromme Hirten“ reflektiert den affektiven Gehalt dieser Worte.

    Und diese Erschließung des religiös-affektiven Gehalts der lyrischen Aussage offenbart sich bei den Worten des fünften und letzten Verses der ersten Strophe: „Zu einem neuen Jesuskind“. Die melodische Linie beschreibt hier, nun in das vom vorangehenden D-Dur fernab liegende Ges-Dur gebettet, eine in ihrer Anmutung von Lieblichkeit überaus klangschöne Bewegung. Nach einem Auf und Ab in einem verminderten Terz- und Sekundschritt in hoher Lage geht sie auf „neuen“ in einen Sextfall hinab zur tonalen Ebene eines „Des“ in tiefer Lage über und beschreibt von dort einen verminderten Quartsprung, um auf jeder Silbe des Wortes „Jesukind“ einen gedehnten verminderten Sekundanstieg mit nachfolgendem, in eine lange Dehnung mündenden Fall zurück auf die Ausgangsebene des „Ges“ in mittlerer Lage zu vollziehen. Die Harmonik beschreibt dabei die Kadenzwandlung von der Dominante Des-Dur nach dem hier als Tonika fungierenden Ges-Dur. Das Klavier lässt hier im Diskant einen ebenfalls klanglich lieblich anmutenden Anstieg von zwei- und dreistimmigen Achtelakkorden erklingen, dem bei „Jesukind ein Fall von Oktaven nachfolgt, der bei der Dehnung auf der Silbe „-kind“ in einen sechsstimmigen Ges-Dur-Akkord mündet. Die Musik auf dem letzten Vers hat Marx, eben weil das „Jesukind“ in seinem Zentrum steht, in ihrer Klangschönheit zu einer regelrechten Perle seiner Liedkomposition gemacht.

    Die einen Anstieg aus der tonalen Ebene eines „Des“ in tiefer zu der eines „As“ in mittlerer Lage beschreibende Melodik auf den Worten des ersten Verses der zweiten Strophe ist in des-Moll mit kurzer Zwischenrückung nach ges-Moll vor dem Ende gebettet. Diese Moll-Harmonisierung verwundert ein wenig, wohnt dem lyrischen Bild doch keinerlei negative affektive Konnotation inne. Vielleicht erklärt sich das aus der Harmonisierung der nachfolgenden Melodik auf den Worten „Bestreut, erscheinen Flur und Flut“. Marx ignoriert hier die Syntax aus partizipalem Nebensatz und nach einem Komma folgenden Hauptsatz und lässt die Melodik nach einer kleinen Sekundrückung auf dem Wortteil „-staube“ in Gestalt einer Tonrepetition und einem gedehnten Legato Quartsprung von „bestreut“ zur ersten Silbe von „erscheinen“ einfach fortsetzen. Und dieser Teil der von ihm offensichtlich als in sich geschlossene Zeile konzipierten Melodik ist nun in Dur-Harmonik gebettet, in Gestalt einer Wandlung von D-Dur über G-Dur und E7-Dur nach G-Dur, in das die lange Dehnung auf „Flut“ am Ende gebettet ist.

    Die Moll-Harmonisierung der Melodik des ersten Verses dient Marx also dazu, die des zweiten Verses in ihrer Entfaltung in Legato-Sprung- und Fallbewegungen im großen Ambitus einer Oktave in gleichsam strahlendem Glanz erklingen zu lassen. Darin reflektiert sie das ihr zugrundeliegende lyrischen Bild von „Flur und Flut“, die wie von „Demantenstaub“ „bestreut“ erscheinen. Dass der einleitende Nebensatz im Hauptsatzteil des zweiten Verses zu seiner eigentlichen Aussage findet, unterstreicht Marx nicht nur mittels der Harmonik und der Struktur der melodischen Linie, er tut das auch, indem er diese nun im Diskant von lang gehaltenen dreistimmigen Akkorden begleitet lässt.
    Eine sich ins Detail der Faktur begebende Betrachtung der Liedmusik von Marx lässt also, und deshalb wurde sie hier vorgenommen, den hohen artifiziellen Grad derselben erkennen.

    Bei den Worten „Und in die Herzen, traumgemut“ beschreibt die melodische Linie, nun in B-Dur harmonisiert, eine dreimalige Tonrepetition auf der Ebene eines „F“ in tiefer Lage, auf „Herzen“ liegt ebenfalls eine, nun aber gedehnte, Tonrepetition eine Quarte höher und in Es-Dur gebettet, und Rilkes Wortschöpfung „traumgemut“ hat Marx wohl dazu angeregt, auf sie einen klangschönen dreischrittigen, anfänglich gedehnten, dann in eine lange Dehnung mündenden und in g-Moll gebetteten Sekundfall zu legen. „Nach und nach breiter“ lautet hier die Vortragsanweisung, und das Klavier begleitet mit einem Auf und Ab von Achtelfiguren in Oktavdiskantlage.

    „Traumgekrönt“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, der aber in der ersten Strophe einen Wechsel zu drei Halben und sechs Vierteln vollzieht, As-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, und sie soll „gehend (aber nicht zu langsam) vorgetragen werden. Ein Vorspiel gibt es nicht, die Melodik setzt schon im ersten Takt in dem Klaviersatz ein, der sie auf den Worten der ersten beiden Verse begleitet. Er weist die Anmutung von glockenhafter Helligkeit auf, denn die „sempre legato“ und piano auszuführenden steigend und wieder fallen angelegten und mehrfach in bitonale Akkorde übergehenden Achtelbewegungen ereignen sich in der Oktavlage des Diskants und werden von Achteln in dessen Normallage begleitet. Himmlisch schönen Wohlklang generieren sie und fungieren darin ganz offensichtlich als klangliches Äquivalent für Rilkes Charakterisierung der „Nächte“ mit dem evokativen lyrischen Bild der silbern gewordenen Dinge. Marx verleiht ihm in seiner Melodik und dem zugehörigen Klaviersatz die gebotene Akzentuierung.

    Auf den Worten des ersten Verses, in dem Marx leider das viel aussagekräftigere Adjektiv „wunderweiße“ durch das vergleichsweise leere „wundervolle“ ersetzt hat, beschreibt die melodische Linie eine auf der Ebene eines „Es“ in tiefer Lage ansetzende und am Ende dahin wieder zurückkehrende, über eine ganze Oktave aufsteigende anschließend wieder fallende Bogenbewegung, wobei der Fall dann aber kein so kontinuierlicher wie der Anstieg ist, sondern ein ausdrucksstarker in Gestalt eines Sextfalls auf dem Wort „Nächte“, bei dem der Viervierteltakt in einen von drei Halben übergeht, diesem Sextfall auf diese Weise eine Akzentuierung verleihend. Er liegt auch noch dem nach einer Achtelpause erfolgenden, erneut auf der Ebene des hohen „Es“ ansetzenden Sekundfall zugrunde, der sich, vom Klavier mittels bitonalen und Einzelachteln mitvollzogen, auf den Worten „drin alle Dinge“ ereignet. Er ist, wie auch die vorangehende erste Melodiezeile, die allerdings eine kurze Zwischenrückung zur Dominante aufweist, in As-Dur harmonisiert.

    Dem das lyrische Bild so markant prägenden und deshalb aussagerelevanten Wort „Silber“ sind“ verleiht Marx eben deshalb die angemessene liedmusikalische Hervorhebung. Von der tonalen Ebene eines „As“ in mittlerer Lage, auf dem der Sekundfall auf den vorangehenden Worten endet, beschreibt die melodische Linie einen Terzsprung, der auf „Silber“ in einen gedehnten Sekundfall übergeht, dem eine Tonrepetition auf „sind“ nachfolgt. Die Harmonik vollzieht hier eine Wandlung von der Tonika zur Doppeldominante B-Dur, und der Klaviersatz lässt von seiner bisherigen Entfaltung in Achtelbewegungen ab und geht zur Begleitung mit dreistimmigen, den gedehnten Sekundfall auf „Silber“ mitvollziehenden Achtelakkorden über. Diese sind aber weiterhin in Oktav-Diskantlage angesiedelt, setzen mit einem arpeggierten As-Dur-Akkord ein und sollen ausdrücklich „weich“ angeschlagen werden.

    Die Melodik vom dritten Vers an ist, obgleich sie zwei Mal durch Pausen untergliedert ist, in ihrer Struktur und ihrer Harmonisierung ganz auf die Aussage des letzten Verses ausgerichtet. Und das macht sie, auch weil sie lyrischen Geist atmet und sich in deklamatorisch gebundener Weise entfaltet, so eindrucksvoll. Diese Ausrichtung der die Verse drei und vier beinhaltenden Melodiezeilen auf die nach einer Achtelpause einsetzende dritte auf den Worten des letzten Verses kommt insbesondere durch ihre Harmonisierung zustande. Diese ist, wie üblich bei Marx komplex, aber läuft in beiden Fällen auf ein dominantisches Ende hinaus. So durchläuft die Melodik auf den Worten des dritten Verses eine harmonische Wandlung von Es-Dur über As-Dur nach Des-Dur, um danach bei dem melodischen Quartfall auf „so lind“ in ein im Quintenzirkel weitab angesiedeltes C-Dur überzugehen. Bei der Melodik des vierten Verses ist die harmonische Rückung am Ende ähnlich kühn und ausdrucksstark. Auf ein f-Moll, ein c-Moll, ein G-Dur und ein D-Dur vollzieht die Harmonik bei dem Sekundfall in mittlerer Lage auf „brächte“ einen Übergang nach dem wiederum weitab liegenden Ges-Dur. Das aber ist die Tonart, in der die melodische Linie auf den Worten des Schlussverses der ersten Strophe einsetzt.

    „Traumgekrönt“

    Es gibt so wundervolle (R.: „wunderweiße“) Nächte,
    Drin alle Dinge Silber sind.
    Da schimmert mancher Stern so lind,
    Als ob er fromme Hirten brächte
    Zu einem neuen Jesukind.

    Weit wie mit dichtem Diamantenstaube
    Bestreut, erscheinen Flur und Flut,
    Und in die Herzen, traumgemut,
    Steigt ein kapellenloser Glaube,
    Der leise seine Wunder tut.

    (R. M. Rilke)

    Ein typischer Rilke. Allein schon das Reimschema A-B-B-A-B, also ein Paarreim, der in zwei Kreuzreime eingebettet ist, lässt, zusammen mit der darin in fließenden Jamben elegant sich entfaltenden lyrischen Sprache, den großen Lyriker erkennen. Erst recht aber die mittels treffender, wie sachlich daherkommender, in keiner Weise affektiv aufgeladener Metaphorik erfolgende Evokation von Nacht, die, verschränkt mit der Perspektive subjektiver Erfahrung, auf die Ebene einer Deutung gehoben wird, die sich nicht wie aufgesetzt, sondern ganz und gar ungezwungen zur Dimension religiöser Gläubigkeit öffnet. Das „Als ob“, mit dem das biblische Zitat im letzten Verspaar ersten Strophe eingeleitet wird, und das kunstvolle Kompositum „kapellenloser Glaube“ in dem der zweiten stehen sinnbildlich für die aus hochgradiger artifizieller Könnerschaft hervorgehende poetische Aussage von Rilkes Lyrik.

    Sie stellt darin ein einerseits inspirierende, andererseits aber auch ein mit einer großen Herausforderung auftretendes lyrisches Produkt dar. Joseph Marx hat sich ihr gestellt, kein anderer sonst unter den großen Komponisten, und es ist beeindruckende, mit ihrem lyrischen Melos den Geist der Rilke-Verse voll einfangende und erfassende Liedmusik daraus hervorgegangen. Wäre da nicht der Ausbruch in die arienhafte Emphase am Ende, wie er sie so sehr geliebt zu haben scheint. Sie ist in ihrem Forte, so meine ich jedenfalls, bei den Worten des letzten Verspaares, in dem es ja doch um „leise Wunder“ geht, gänzlich unangebracht.
    Darauf, wie überhaupt auf die spezifische Eigenart seiner Vertonung dieses Rilke-Gedichts, wir nachfolgend noch näher einzugehen sein.


    „Der Ton“ (IV)

    Den Gipfel ihrer Expressivität erreicht die Liedmusik auf den Worten des letzten Verses. Auf dem Wort „langen“ ergeht sich die melodische Linie in einer extrem langen, über zwei Takte sich erstreckenden Dehnung auf der tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage, die am Ende bei der Silbe „-en“ in einen Terzfall mündet. Das Klavier lässt dazu „molto accel. e cresc.“ erst vier sechsstimmige, aus dem Bass in den Diskant aufsteigende und in eine Terz mündende Sechzehntel erklingen. Dann aber geschieht das klanglich Spektakuläre. Mitten in der Dehnung vollzieht die Harmonik eine Wandlung von Des-Dur nach dem weitab liegenden F-Dur, sich ausdrückend in einem fortissimo angeschlagenen siebenstimmigen F-Dur-Akkord, und danach erklingt, bei noch immer andauernder Dehnung, eine steigend angelegte, mit der Vortragsanweisung „breit“ versehene Folge von einen Fall vollziehenden triolischen Sechzehntelfiguren.

    Und auch der Liedschluss besteht, wie könnte es anders sein, dem auf maximale Expressivität angelegten liedkompositorischen Konzept zufolge, aus einer extrem langen Dehnung auf dem Wort „Akkorden“. Nun ist es eine mit einem ebenfalls gedehnten, in As7-Dur harmonisierten Repetition mit Sekundfall auf „brausenden“ eigeleitete, wieder extreme, weil taktübergreifende Dehnung auf der tonalen Ebene eines „Des“ in hoher Lage, die in Des-Dur gebettet ist und auf der Silbe „-den“ in einen ausdruckstarken, weil über das große Intervall einer Oktave erfolgenden Fall hinab zum lang gedehnten Grundton „Des“ in tiefer Lage mündet. Hier begleitet das Klavier aber wieder mit seinen bogenförmigen Legato-Sechzehntelfiguren, aber dies - natürlich - im Fortissimo und eigeleitet jeweils mit vierstimmigen Viertelakkorden in Oktav-Diskantlage.

    Auch wenn die Liedmusik melodisch in einem Fall endet, in einem Decrescendo-Ausklang-Gestus vollzieht sie dieses Enden nicht. Sie behält, und das ist von der lyrischen Aussage her ja auch angebracht, die Fortissimo-Emphase, in die sie sich auf den Worten des letzten Verspaares hineingesteigert hat, voll und ganz bei, sogar einschließlich des zweitaktigen Nachspiels, in dem das Klavier nach einer Folge von vielstimmigen Portato-Akkorden in Ges-Dur, b-Moll und f-Moll einen vom tiefen Bass bis in die Diskant-Oktavlage sich erstreckenden A7-Dur erklingen lässt, aus dem eine Zweiunddreißigstel-Kette wiederum aus Bass- bis in Oktavdiskantlage nach oben schließt, um in einen vierstimmigen Des-Dur-Sforzato-Akkord in Basslage zu münden.

    „Der Ton“ (III)

    Dann aber ereignet sich bei den Worten des vierten Verses der zweiten Strophe der von Marx so gerne in Anschlag gebrachte Ausbruch in extreme, dabei aber gleichwohl wohlklingende liedmusikalische Expressivität. Auf der zweiten Silbe des Wortes „hinaus“ liegt eine mit einem ausdrucksstarken Sextsprung eingeleitete, in Ges-Dur gebettete und geradezu gewaltige, weil die Taktgrenze weit überschreitende und forte vorzutragende Dehnung auf der tonalen Ebene eines „Des“ in hoher Lage, zu der das Klavier nicht nur eines seiner Bogen-Arpeggien beiträgt, sondern anschließend auch noch vier fallend angelegte, aus einem bitonalen Sechzehntel- Akkord und zwei Einzel-Sechzehnteln bestehende Triolen.

    Und auch auf den Worten „ins Wellentreiben“ ereignet sich melodisch Hochexpressives. Ein auftaktig gedehnter Quintsprung, ein ausdrucksstarker erneut gedehnter, mit einer harmonischen Rückung von B-Dur nach F-Dur einhergehender Oktavfall auf dem Wortteil „Welten-“, den das Klavier mit rhythmisierten, „ff marcato“ auszuführenden drei- und vierstimmigen Achtelakkorden in Diskant und Bass begleitet. Auf „treiben“ liegt ein wiederum gedehnter Legato-Quartsprung mit nachfolgender Tonrepetition auf der Ebene eines „B“ in mittlerer Lage, vom Klavier wieder mit einem zweimaligen Bogen-Arpeggio im Forte begleitet.

    Offensichtlich sah sich Marx zu dieser Steigerung der Liedmusik in extreme Expressivität dadurch veranlasst, dass sich in der lyrischen Aussage des letzten Verses der zweiten Strophe eine Ausweitung in die Dimension des Kosmischen ereignet. Die dritte Strophe greift das auf und konkretisiert es. Das viertaktige Zwischenspiel leitet dazu über. Die Legato-Bogenfigur zerfällt gleichsam, nur noch aufsteigende Sechzehntel bleiben davon übrig, und mit einem Mal erklingt ein fortissimo angeschlagener siebenstimmiger Akkord, von dem sich im Bass „etwas langsamer und schwer“ eine steigend angelegte Sechzehntelkette löst, während im Diskant permanent repetierend Portato-Achtel erklingen. Schließlich geht das ganze über in das komplexe Zusammenklingen von hochbewegten eigenständigen Sechzehntel- und Achtelfiguren und Akkorden in Diskant und Bass, und das ist dann auch der Satz, mit dem das Klavier die Melodik auf den Worten der dritten Strophe begleitet. Die einzige Verbindung zum Klaviersatz der ersten Strophe besteht darin, dass die Sechzehntel-Figuren im Diskant partiell wellenartig angelegt sind.
    Aber grundsätzlich kann man diesen Klaviersatz, der sich in seiner hohen strukturellen Komplexität von dem der ersten und einem Teil der zweiten Strophe markant abhebt, in seiner Funktion so verstehen, dass er die Komplexität der seelischen Regungen des lyrischen Ichs reflektiert, wie sie in sich im Davongetragen-Sein in kosmisch-himmlische Sphären einstellen

    Auch die Melodik der dritten Strophe bringt das zum Ausdruck. Sie steigert sich von Vers zu Vers zu immer höheren Graden der Expressivität und erreicht im letzten darin ihren absoluten Höhepunkt. Noch aber setzt sie bei den Worten „Das trägt mich zu fremden Borden“, deren sachlich-konstatierendem semantischen Gehalt entsprechend, in ruhiger, wie die Vortragsanweisung ausdrücklich lautet, Entfaltung in mittlerer Lage ein, in a-Moll-Harmonik gebettet und in einem gedehnten Quintfall bei „Borden“ endend, der mit einer harmonischen Rückung nach B-Dur einhergeht.
    Aber wenn es um das Bild vom „Sternenreigen“ geht, ist es für Marx nichts mehr mit der Zurückhaltung in Sachen Expressivität. Auf dem Wort „Sterne“ liegt ein lang gedehnter melodischer Quartfall, der in d-Moll gebettet ist und vom Klavier in Gestalt von dreistimmigen Akkorden mitvollzogen wird, ein Fall, der legato, forte und ausdrücklich „schwungvoll“ auszuführen ist und durch im Bass aufsteigende Sechzehntel-Ketten kontrastiv akzentuiert wird. Bei den sich anschließenden Worten „im Reigen beisammen stehn“ beschreibt die melodische Linie einen in einer Rückung von A-Dur nach g-Moll und d- Moll harmonisierten Anstieg von der tonalen Ebene eines „E“ in tiefer bis zu der eines „H“ in hoher Lage, der bei dem Wort „stehn“ in einen ausdrucksstarken Fall über eine Quarte zu einer langen Dehnung auf der Ebene eines „A“ in mittlerer Lage übergeht.

    Bei den Worten des zweitletzten Verses bringt die Melodik die tiefe Beglückung des lyrischen Ich dadurch zum Ausdruck, dass sie, in Des-Dur harmonisiert“, nach einem Auf und Ab in hoher Lage auf „Es will mir das Herz“ bei dem Wort „Glück“ einen auf der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage ansetzenden gedehnten Sekundfall beschreibt, den das Klavier im Diskant mit einem vierstimmigen Mezzoforte- C7-Akkord begleitet. Im Bass aber lässt es während der Dehnung eine ausdruckstarke steigend angelegte Sechzehntelkette erklingen, die in den vierstimmigen g-Moll-Akkord mündet, mit dem die kleine Dehnung auf dem Wort „vergehen“ begleitet wird, der im Bass eine steigende und wieder fallende Sechzehntelkette zugeordnet ist.
    Es zeigt sich wieder einmal, zu welch hohem Grad an Komplexität Marx den Klaviersatz steigern kann, da er ihn ja grundsätzlich als für die kompositorische Aussage konstitutiven Faktor einsetzt.

    „Der Ton“ (II)

    Mit den Worten „Ich bin einem mächt´gen Herren gleich,/ Ein König in Mantel und Krone“ geht die Melodik zu einer leicht variierten, stärker deklamatorisch geprägten Entfaltung über. Sie reflektiert darin den Sachverhalt, dass das lyrische Ich, seine Situation beurteilend, zu einem rationalen Vergleich greift. Gleichwohl gibt es auch hier die lyrische Aussage akzentuierende Dehnungen, so einen forte vorzutragenden zweimal gedehnten Sekundfall in hoher Lage auf den Worten „mächtigen Herren“ und einen noch expressiveren, weil extrem gedehnten, auf der Ebene eines „E“ in hoher Lage ansetzenden, fortissimo auszuführenden und in das vom vorangehenden es-Moll sich markant abhebenden A-Dur verminderten Terzfall auf „König“. Dieses Wort, das als lyrisches Bild ja das Lebensgefühl des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt, erfährt auf diese Weise eine sehr starke Akzentuierung. Bei den zu diesem Bild gehörenden Worten „in Mantel und Krone“ beschreibt die melodische Linie nach einer Dreiachtelpause eine ausdrucksstarke, mit einer Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „C“ in hoher Lage eingeleitete, bei „Mantel“ in einen gedehnten verminderten Quartfall übergehende und sich dann bis zur Ebene eines „C“ in tiefer Lage, also über das große Intervall einer Oktave sich absenkende Fallbewegung. Sie ist, und auch das verleiht ihr eine Hervorhebung, in C-Dur harmonisiert.

    Marx arbeitet also hier in der Harmonisierung der Melodik mit Rückungen von im Quintenzirkel weit auseinander liegenden Tonarten, und dies ohne jegliche Modulation. Mit dieser sprunghaft freien Handhabung der Tonalität als liedkompositorisches Ausdrucksmittel schafft er sich Ersatz für die von ihm aus prinzipiellen Gründen abgelehnte Atonalität. Diese widersteht ihm regelrecht, weil sie seinem auf Schönheit ausgerichteten und darin eine gewisse Nähe zum Jugendstil aufweisenden klanglichen Leitbild in Sachen Liedmusik diametral entgegensteht.

    Eine längere, nun drei Takte einnehmende Pause folgt auf die Melodik der ersten Strophe. Das Klavier lässt darin weiterhin seine arpeggienhaften, vom tiefen Bass bis zum mittleren Diskantbereich sich streckenden bogenhaften Legato-Sechzehntelfiguren erklingen. Im letzten Takt aber ereignet sich Bemerkenswertes. Statt ihrer erklingt mit einem Mal „più, più lento“ ein im Intervall sich verengendes Auf und Ab von Sechzehnteln in Diskant und hoher Basslage. In diesem setzt die Melodik auf den Worten des ersten Verses ein, und das ist die Grundstruktur des Klaviersatzes, in dem sie, dies allerdings in zahlreichen Variationen, bis zum Ende des zweiten Verses der zweiten Strophe begleitet wird.

    Es ist ein anderes, sich deutlich von dem der ersten Strophe sich abhebendes Klangbild, das dieser Klaviersatz generiert, ohne darin allerdings die Leitlinie von eingängiger Schönheit zu verlassen. In dieser, in seiner punktuellen Staccatohaftigkeit impressionistischen Geist atmenden Grundstruktur reflektiert der Klaviersatz die sprachliche Gestalt und die Semantik der lyrischen Aussage, die auf einem kontrastiven Gegeneinander zweier lyrischer Bilder basiert: Dem der sich stumm an die Scheiben lehnenden Nacht und dem des durch Herz und Hirn singenden „Goldlauts“. Dieses lyrische Bild wird in deskriptiver lyrischer Sprachlichkeit dargestellt, und die Melodik reflektiert das, indem sie sich ohne immanente Dehnungen entfaltet, gleichwohl aber den affektiven Gehalt des Bildes vom „Goldlaut“ reflektiert. Nach dem anfänglichen, in C-Dur mit zwei Moll-Einschüben (cis- und g-Moll) harmonisierten Auf und Ab in oberer Lage auf den Worten „Lehnt stumm die Nacht an die Scheiben“ beschreibt sie, nun in A-Dur harmonisiert, bei den Worten „Dann singt mir der Goldlaut durch Herz und Hirn“ einen in tiefer Lage ansetzenden wellenartigen Aufstieg, zur tonalen Ebene eines „Cis“ in hoher Lage, der bei „und Hirn“ in einen mit einer Triole eingeleiteten Terzfall mündet. Die Zweier- und Dreier-Sechzehntelfiguren vollziehen dabei in Diskant und Bass ein hochkomplexes Auf und Ab-Zusammenspiel.

    Im dritten Vers erstreckt sich die lyrische Aussage wieder auf die Befindlichkeit des lyrischen Ichs, und so behält die Melodik, nun in D-Dur mit Zwischenwandlung nach h-Moll, harmonisiert, zwar ihren kurzschrittigen deklamatorischen Gestus bei, sie geht dabei aber wieder zu kleinen Dehnungen über, dies in Gestalt einer gedehnten Tonrepetition auf den Worten „schlingt die“ und „Gedanken“. Und auch der Schluss der Melodiezeile weist eine Dehnung auf. Auf dem „zu“ bei den Worten „zu Firn“ liegt wieder ein triolischer Auf und Ab-Achtelsprung, der über einen Sekundfall zur Ebene eines „F“ in tiefer Lage bei „Firn“ übergeht. Bemerkenswert ist aber auch, dass der Klaviersatz in dieser Melodiezeile wieder zu seinen bogenhaften Sechzehntel-Arpeggienfiguren zurückkehrt.

    „Der Ton“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, einer allerdings, der immer wieder einmal zu zwei Halben übergeht, damit die Melodik ihren auf Weite angelegten Atem zu entfalten vermag. Des-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, aber da wäre kein Marx am Werk, wenn diese Vorgabe auch nur den mindesten Anspruch auf Verbindlichkeit für die ganze Spanne der Liedmusik haben dürfte. Schon die Melodik auf den Worten des dritten Verses der ersten Strophe ist in es-Moll gebettet und die des vierten gar in im Quintenzirkel weitab liegendes C-Dur. In der Harmonisierung seiner Melodik erweist sich Marx immer wieder aufs Neue als ein Komponist der Moderne.

    Ein nur kurzes, gerade mal einen Takt einnehmendes Vorspiel geht dem darin auftaktig erfolgenden Einsatz der Melodik voraus. Es hat auch keine besondere, etwa die Liedmusik in ihrer Aussage im Voraus kommentierende Funktion, es lässt nur deren Geist aufklingen, indem es die klangliche Basis präsentiert, auf der die Melodik sich nun entfalten wird: Im Legato triolisch aus dem tiefen Bass in den Diskant aufsteigende Sechzehntel, die dort in eine repetierende Sechzehntel-Terz münden, um danach den gleichen Weg wieder abwärts zum Ausgangspunkt zu vollziehen. Diese Figur bildet, in Gestalt von vielerlei Varianten allerdings, die Substanz des die melodische Linie begleitenden Klaviersatzes bis zum Ende der zweiten Strophe. Schon im zur dritten Strophe überleitenden Zwischenspiel nimmt er aber eine neue Gestalt an, die in der nachfolgenden Besprechung näher zu beschreiben sein wird. Die für dieses Lied klanglich so prägende Grundstruktur des Klaviersatzes aus gleichsam wellenartig im Legato sich entfaltenden Sechzehnteln bleibt allerdings erhalten.

    Bei den Worten „Es singt in tiefem Tone / In mir“ setzt die Melodik in einer Weise ein und entfaltet sich, wie das typisch für dieses Lied ist. Getragen von den rauschenden Arpeggien vollzieht sie eine auftaktige gedehnte Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „As“ in mittlerer Lage und geht anschließend mit einem Quartsprung in eine lang gedehnte Abwärtsbewegung über, mit einem gedehnten Sekundfall auf „tiefem“ und einem noch länger gedehnten Quartfall auf „Tone“, endend mittels eines Quartsprungs in einer langen Dehnung bei „mir“ auf der Ebene eines „As“, ihrer Ausgangsebene. Die Harmonik vollzieht dabei eine Wandlung von Des-Dur über b-Moll und wieder zurück zu Des-Dur. Diese durch ihre Dehnungen weit phrasierte, in sich geschlossene und in eine Dreiachtelpause mündende Melodik bringt auf emphatische Weise die Befindlichkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck: Das Erfüllt-Sein vom Singen eines tiefen Tones in seinem Innern.

    Diesen so eindrücklichen Gestus der Entfaltung behält die Melodik auf den Worten „, so schwer und an Gold so reich“ bei, geht bei ihrem ruhigen Auf und Ab in mittlerer Lage auf „schwer“ und „Gold“ in eine Dehnung über, vollzieht nun am Ende aber nicht wieder einen Aufwärtsschritt, sondern einen hinab zur tonalen Ebene des Grundtons „Des“ in tiefer Lage, um sich dort wieder einer Dehnung hinzugeben. Sie erklingt in gesteigerter Länge, denn das Metrum geht hier, gültig für den ganzen Takt und damit auch für das Nachspiel in der Pause für die melodische Linie, zu zwei Halben über. Diese Melodiezeile ist, anders als die erste, ganz und gar im Tongeschlecht Moll harmonisiert, in b-Moll mit einer Zwischenrückung nach as-Moll bei der Dehnung auf „Gold“. Sie soll ausdrücklich mezzoforte vorgetragen werden und hebt sich damit von dem Mezzopiano ab, das bislang für die Melodik galt. Und damit wird ersichtlich, was das Moll zum Ausdruck bringen will: Nicht Schmerzlichkeit, sondern die Intensität der beglückenden Emotionen des lyrischen Ichs.

    Mit den Worten „Ich bin einem mächt´gen Herren gleich,/ Ein König in Mantel und Krone“ geht die Melodik zu einer leicht variierten, stärker deklamatorisch geprägten Entfaltung über. Sie reflektiert darin den Sachverhalt, dass das lyrische Ich, seine Situation beurteilend, zu einem rationalen Vergleich greift. Gleichwohl gibt es auch hier die lyrische Aussage akzentuierenden Dehnungen, so einen forte vorzutragenden zweimal gedehnten Sekundfall in hoher Lage auf den Worten „mächtigen Herren“ und einen noch expressiveren, weil extrem gedehnten, auf der Ebene eines „E“ in hoher Lage ansetzenden, fortissimo auszuführenden und in das vom vorangehenden es-Moll sich markant abhebenden A-Dur verminderten Terzfall.

    „Der Ton“

    Es singt in tiefem Tone
    In mir, so schwer und an Gold so reich,
    Ich bin einem mächt´gen Herren gleich,
    Ein König in Mantel und Krone.

    Lehnt stumm die Nacht an die Scheiben,
    Dann singt mir der Goldlaut durch Herz und Hirn,
    Verschlingt die Gedanken von Firn zu Firn.
    Hinaus ins Weltentreiben.

    Das trägt mich zu fremden Borden,
    Wo Sterne im Reigen beisammen stehn,
    Es will mir das Herz vor Glück vergehen,
    Zu langen brausenden Akkorden.

    (Knut Hamsun, Deutsch von Heinrich Goebel)

    Musik ist das Thema dieses Gedichts, und darin stellt es natürlich eine Verlockung für einen Liedkomponisten dar. Hamsun bringt die Macht der Musik und damit auch ihr Wesen in eindrücklichen lyrischen Bildern zum Ausdruck. Sie wird als „Goldlaut“ erfahren, der „durch Herz und Hirn“ zu „singen“, also sowohl die Emotionen, als auch die Ratio zu erfassen vermag und, was besonders bedeutsam ist, diese in Gestalt ihrer „Gedanken“ sogar „verschlingen“ kann.

    Und nicht nur das, Musik kann ihren Rezipienten, das lyrische Ich, sogar, und das ist ein eminent romantischer Gedanke, aus seiner existenziellen Individuation befreien, es „zu fremden Borden“ tragen, in kosmische Weiten, in denen sie sich in „brausenden Akkorden“ entfaltet, die das Herz vor Glück vergehen lassen.

    Das ist ein ins Rauschhafte sich steigernder Hymnus auf die Musik, der eine hymnisch-rauschhafte Liedmusik reklamiert, und die ist Marx in der Tat auch gelungen. „Ernst und schwungvoll“ soll sie vorgetragen werden, und es ist nicht nur die in langen Dehnungen und weiter Phrasierung sich entfaltende Melodik, die die Anmutung von schwungvoller Rauschhaftigkeit generiert, es ist vor allem der Klaviersatz, der in seinen Figuren aus Bass und Diskant überspannenden Legato-Sechzehntel-Bögen höchst eindrücklichen Arpeggio-Geist atmet.


    “Bitte” (III)

    Erst nach einer Viertelpause, was natürlich der Melodiezeile auf den Worten des ersten Verses verstärktes Gewicht verleiht, setzt die Melodik auf den Worten des zweiten ein. Bei den Worten „Will nur, daß ich dich nahe weiß“ beschreibt die melodische Linie eine zweimalige, auf der Ebene eines „C“ in hohe Lage ansetzende und sie bis zu der eines „D“ in tiefer führende Fallbewegung, die in einer Rückung von C-Dur nach D-Dur harmonisiert ist. Bezeichnend ist aber, bei welchem Wort der Fall neu einsetzt. Es ist das Wort „nahe“, und auf ihm liegt ein ausdrucksstarker, weil gedehnter, über das relativ große Intervall einer Quinte erfolgender Fall, der auf der Ebene eines „D“ in tiefer Lage endet. Das Wort „weiß“ erklingt dann, ebenfalls mit einer nun noch längeren Dehnung versehen (punktierte halbe Note) auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in unterer Mittellage.
    Dieser Fall-Gestus, der bei den Worten „will nur, daß ich dich“ besonders ausgeprägt ist, weil er mit einem gedehnten Quartfall einsetzt, mutet, auch wegen seiner durchgehenden Dur-Harmonisierung, an, als gebe sich das lyrische Ich sich demonstrativ demütig und bescheiden. Und das entspricht ja auch voll und ganz der Aussage des lyrischen Textes.

    Aber wegen der Konjunktion „und“, mit der der dritte Vers einsetzt, verbleibt das lyrische Ich in seinem Ansprache-Gestus und Marx legt deshalb dieses Mal, anders als am Ende des ersten Verses, keine Pause in die Melodik, sondern lässt die bei den Worten „und daß du manchmal“ einen mit einem Auf und Ab in mittlerer Lage eingeleiteten Sekundfall auf „manchmal“ in mittlerer Lage beschreiben, der aber wieder eine Akzentuierung in Gestalt einer Dehnung aufweist. Die Harmonik vollzieht hier eine Rückung von der Tonika zur Dominante A-Dur. Dann aber gibt es doch noch eine Pause in der Melodik. Und die ist berechtigt. Sie verleiht ihr auf den Worten des letzten Verses eine besondere Gewichtung, und Marx berücksichtigt damit, dass sich mit dem hier sich ereignenden Rückgriff auf das lyrische Bild von der kleinen Hand die poetische Aussage konstituiert.

    Dementsprechend legt er auch die Melodik auf den Schlussversen an. Abweichend von den prosodischen Gegebenheiten versteht der die Worte „Und daß du manchmal“ gleichsam als Auftakt zur lyrisch relevanten Aussage. Deshalb die Viertelpause und das nachfolgende Zusammenziehen der zweiten Hälfte des dritten Verses mit den Worten des vierten zu einer Melodiezeile. Sie weist eine die lyrische Aussage akzentuierende Binnengliederung auf. Nach einem Terzfall auf den Worten „stumm und“ geht die melodische Linie bei „leis´“ in eine in D-Dur gebettete lange Dehnung über, die wie ein kurzes Innehalten in ihrer Entfaltung wirkt. Anschließend beschreibt sie auf den so bedeutsamen Worten „die Hand mir gibst“ einen Terzschritt zu einer langen Dehnung auf der Ebene eines „Fis“ in hoher Lage, die dem Wort „Hand“ eine starke Akzentuierung verleiht. Dies nicht nur deshalb, weil diese Dehnung forte vorzutragen ist, vielmehr auch, weil die Harmonik hier eine Rückung vom vorangehenden D-Dur nach dem weitab liegenden Fis-Dur vollzieht, und das Klavier hier einen entsprechenden siebenstimmigen Forte-Akkord erklingen lässt, dem im Diskant ein Fall von bitonalen und Einzelachteln nachfolgt.

    Bei den Schlussworten „du gibst“ vollzieht die Melodik einen eine ganze Quarte tiefer als die Dehnung auf „Hand“ einsetzenden und deshalb ausdrucksstarken Sekundschritt zu einer Dehnung auf dem Grundton „D“ in hoher Lage, die das Klavier mit einem siebenstimmigen D-Dur-Akkord begleitet, dem wiederum, wie beim Fis-Dur-Akkord ein Fall von Figuren aus mehrstimmigen Achtelakkorden und Einzelachteln nachfolgt. Sie bilden die bilden die klangliche Substanz des viertaktigen Nachspiels, und sie beschreiben darin in ihrer Aufeinanderfolge die so markante melodische Schrittfolge auf den Worten „Hand mir gibst“, um am Ende in einen siebenstimmigen Fortissimo-D-Dur-Akkord zu münden, dem ein mit einem expressiven vierschrittigen Portato-Achtelanstieg eingeleiteter, lang gehaltener und nun achtstimmiger D-Dur-Akkord nachfolgt, der sich aus dem tiefen Bass bis in den hohen Diskant erstreckt.

    Das ist das expressive Ende einer darin dem Wesen der Kompositionen von Marx entsprechenden Liedmusik.

    “Bitte” (II)

    Die Harmonik ist für Marx ein überaus wichtiges musikalisches Ausdrucksmittel, und deshalb greift er, darin über die Tradition der harmonischen Modulation radikal sich hinwegsetzend, zu Rückungen, die in ihrer im Quintenzirkel weitabliegenden Tonalität wie ein Bruch im harmonischen Kontinuum auftreten, - wie hier von der Tonika zu Gis-Dur und Ais-Dur mit dem cis-Moll dazwischen. Besonders darin manifestiert Marx, der sich konsequent weigerte, den Schritt der Wiener Schule in die Atonalität mit zu vollziehen, sich gleichwohl als Komponist der musikalischen Moderne. Und so ist denn die Melodik auf den Worten „ob du mich liebst“ in einer Wandlung von cis-Moll nach fis-Moll harmonisiert, die am Ende der langen Dehnung, die auf dem Wort „liebst“ liegt und sich auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage ereignet, sogar in die Dissonanz mündet. Dies in Gestalt eines achtstimmigen dissonanten Viertelakkords auf Fis-Basis, der am Ende der melodischen Dehnung im Forte aufklingt und in einen quartolischen Achtelfall übergeht, der das viertaktige Zwischenspiel vor dem Einsatz der Melodik auf den Worten der zweiten Strophe einleitet.

    Diese sehr lange, bis in die Hälfte des nachfolgenden Taktes reichende Dehnung auf dem Wort „liebst“, die mit einem Anstieg der melodischen Linie über verminderte Terzen und eine Sekunde eingeleitet und vom Klavier mit einem lang gehaltenen, forte ausgeführten und, wie gesagt, in die Dissonanz mündenden fis-Moll-Akkord begleitet wird, unter dem sich im Bass in Anstieg von Achteln ereignet, setzt das kompositorische Konzept der Akzentuierung der lyrischen Aussage fort und steigert es gleichsam ins Extreme. Es ist Niederschlag der Interpretation des Hesse-Gedichts, die sich in seiner Vertonung durch Marx ereignet.

    Das sich anschließende Zwischenspiel wirkt mit seinen, eine Harmonisierung von E-Dur über A-Dur und Gis-Dur nach Cis-Dur durchlaufenden bogenförmigen Achtelfiguren im Diskant und den die begleitenden Viertel- und Achtelrepetitionen im Bass wie ein Nach- und Ausklang der Emphase, in die sich die Melodik in der Frage des lyrischen Ichs „ob du mich liebst“ hineingesteigert hat. Sie ist, darauf sei noch einmal verwiesen, eine, die dem lyrischen Text nicht immanent ist, also der Art und Weise entsprungen ist, wie Marx diesen rezipiert und interpretiert hat. Vielleicht hält er deshalb dieses relativ lange Zwischenspiel vor der zweiten Strophe für angebracht.

    Bezeichnend für Marx` Rezeption und Interpretation des lyrischen Textes ist die Art und Weise, wie er die Melodik auf den Worten „Ich will ja nicht, daß du mich liebst“ anlegt. Diese fungieren bei Hesse durch das „will ja nicht“ und das nachträgliche „will nur“ als argumentative Richtigstellung des lyrischen Ichs in seiner Haltung dem Du gegenüber, wie sie im zweiten Vers zum Ausdruck kommt. Im Grunde geben sie ja nicht die Wahrheit wieder: Natürlich will das lyrische Ich geliebt werden. Bei Marx klingt das aber durch die Akzentuierungen, die er in der Melodik vornimmt, so, als sei das in der Tat die Haltung des lyrischen Ichs. Vielsagend ist, dass er für den Vortrag derselben ausdrückloch die Anweisung gibt „Piu lento, langsamer“.

    Auf dem Wort „will“ liegt eine mit einem Quartsprung eingeleitete lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage, und bei „nicht“ wiederholt sich das, wieder eine nun mit einem Sekundschritt eingeleitete lange Dehnung auf der um eine Sekunde angehobenen Ebene eines „Cis“. Sie ist allerdings, anders als die auf „will“ nicht in E-Dur, sondern in fis-Moll gebettet, was ihr einen Anflug von Schmerzlichkeit verleiht. Und auf den Worten „daß du mich liebst“ beschreibt die melodische Linie eine mit einem Sekundsprung eingeleitete und auf der Ebene eines „Dis“ in hoher Lage ansetzende verminderte Sekundfall-Bewegung, die auf den Worten „du“ und „liebst“ wieder eine lange Dehnung aufweist. Und das „liebst“ ist dabei erneut im Moll-Harmonik (a-Moll) gebettet.

    “Bitte”. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Nicht zu langsam: sehnsüchtig“ soll die Liedmusik vorgetragen werden, ihr liegt, wie bereits angedeutet, ein sie maßgeblich prägender Dreivierteltakt zugrunde, und als Grundtonart ist D-Dur vorgegeben. Im zweitaktigen Vorspiel erklingt im Diskant zweimal ein bitonaler Akkord, aus dem sich ein Achtel-Sekundanstieg ereignet, der wieder in einen bitonalen Achtelakkord von nun kleinerem Intervall mündet, wobei die Harmonik eine Wandlung von der Tonika D-Dur zur Dominante A-Dir vollzieht. Mit dieser sehr melodischen Figur, der eine Anmutung von tänzerischer Beschwingtheit innewohnt, begleitet das Klavier auch die das Lied einleitende kleine Melodiezeile auf den Worten des ersten Verses. Sie verkörpert, so empfindet man das, den Geist dieses Liedes.

    Auf den Worten „Wenn du die Hand mir gibst“ beschreibt die melodische Linie nach einem auftaktigen Quartsprung einen auf der tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage ansetzenden und anfänglich gedehnten vierschrittigen Sekundfall, der bei „gibst“ in eine längere (halbe Note) Dehnung auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage mündet, bei der die Harmonik eine Wandlung vom bislang vorherrschenden D-Dur zur Subdominante G-Dur vollzieht. Mit dieser Rückung wird deutlich, dass die Melodik noch nicht zu ihrer Aussage gefunden hat, diese kleine Melodiezeile vielmehr nur als Auftakt dazu fungiert. Und darin reflektiert sie ja auch die Syntax des lyrischen Textes, der mit einem konditional-temporalen „Wenn“ eingeleitet ist. In der Melodik auf den Worten des zweiten Verses findet die Melodik dann zu dieser Aussage, und dies im semantischen und affektiven Gehalt des Wortes „Ungesagtes“.

    Marx´ Melodik bringt das auf eindrückliche Weise zum Ausdruck. Auf den Worten „so viel“ beschreibt sie einen in G-Dur gebetteten Terzfall in mittlerer Lage, wobei das „so“ eine starke Dehnung trägt und damit eine Akzentuierung erfährt, die sie im lyrischen Text nicht aufweist. Und das ist bei dem Wort „Ungesagtes“ in noch stärkerem Maß der Fall. Hier beschreibt sie, im Forte auf der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage ansetzend und nun in der Doppel-Subdominante C-Dur harmonisiert, einen anfänglich gedehnten silbengetreuen Fall erst über zwei Terzen, dann über eine Sekunde, um über eine weitere in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage überzugehen, bei der die Harmonik die ausdrucksstarke Rückung zurück zur Tonika D-Dur vollzieht.

    Das Klavier begleitet all das mit lebhaften Legato-Achtelfiguren in Diskant und Bass, die der Bewegung der melodischen Linie folgen. Marx hat sehr wohl erfasst, dass sich in diesem Wort „Ungesagtes“ im Kontext mit den Worten „stumm und leis“ der zweiten Strophe auf der Grundlage der Aussage „Ich will ja nicht, daß du mich liebst“ die zentrale poetische Aussage des Hesse-Gedichts konstituiert. Und deshalb nimmt er im zweiten Teil der Eingangsmelodik melodische Akzentuierungen vor, die über die prosodischen Gegebenheiten des lyrischen Textes hinausgehen, aufgipfelnd im Forte-Fall der melodischen Linie auf dem Wort „Ungesagtes“.

    Erst nach einer Viertelpause setzt die Melodik danach ihre Bewegungen fort. Der lyrische Text beinhaltet hier, also beim zweiten Verspaar der ersten Strophe, ja eine Frage. Sie mutet in ihrer sprachlichen Sachlichkeit eigentlich ganz und gar unlyrisch an. Das will Marx so nicht belassen. Er weiß ja, was Hesse ganz bewusst unausgesprochen lässt, dass sie aus einem liebenden Herzen kommt. Und das bringt die Melodik auf ihr zum Ausdruck. Sie weist in der Art, wie sie sich entfaltet, einen hohen Grad an Emotionalität auf. Nach einem Auf und Ab in mittlerer Lage geht sie bei dem Wort „jemals dann gefragt“ zu einer Repetition auf der Ebene eines „Gis“ in mittlerer Lage über, bei der die Silbe „je-“ und das Wort „dann“ eine Dehnung tragen. Und auf „gefragt“ liegt ein verminderter Sekundfall, der ebenfalls in eine Dehnung auf der Ebene eines „Ais“ mündet.

    Diese drei Dehnungen verleihen nicht nur der Melodik lyrische Klanglichkeit, sie akzentuieren darüber hinaus auch den lyrischen Text und verleihen der Frage Eindringlichkeit. Das geschieht schließlich auch noch durch die Harmonik, denn diese geht nach den vorangehenden Rückungen im Bereich von Subdominante, ihrem Doppel und Tonika D-Dur bei „jemals“ damit in den weitab liegenden Bereich von Gis-Dur und ins Tongeschlecht Moll über, um dort nach cis-Moll zu rücken, wobei allerdings die Dehnung auf der zweiten Silbe von „gefragt“ in Ais-Dur gebettet ist, um dieses Wort mit einer besonderen Akzentuierung zu versehen.

    “Bitte”

    Wenn du die (H.: kleine) Hand mir gibst,
    Die so viel Ungesagtes sagt,
    Hab ich dich jemals dann gefragt,
    Ob du mich liebst?

    Ich will ja nicht, daß du mich liebst,
    Will nur, daß ich dich nahe weiß,
    Und daß du manchmal stumm und leis
    Die Hand mir gibst.

    (Hermann Hesse)

    Eine lyrische Liebeserklärung, die ihren Gehalt aus dem Aussage-Potential einer Geste gewinnt, - dem, was eine kleine Hand und das Reichen derselben durch das geliebte Du zu sagen hat. Für das lyrische Ich hat sie, wie es dem Du gegenüber bekennt, „viel Ungesagtes“ zu sagen. Ob darunter auch das Bekenntnis der Liebe ist, das es explizit vom Du nicht erwartet, bleibt offen. Es genügt ihm die Nähe, die sich im Geben der Hand ereignet.

    Eine Liebeserklärung, die in ihrer Zartheit und Subtilität, die sich auch in der Einfachheit der lyrischen Sprache und der Prosodie ihrer Entfaltung in Gestalt von vierfüßigen Jamben und einem einen ein Paar umarmenden Reim niederschlägt, für das Du durchaus beeindruckend sein dürfte. Immerhin weist diese Einfachheit auch eine kleine Raffinesse in der Anlage der Strophen auf: In der Reduktion der jambischen Vierfüßigkeit der Verse auf eine nur zweifüßige.
    Ist das das prosodische Äquivalent zur lyrischen Reduktion der Liebeserklärung auf eine Geste? Ich denke schon. Der Lyriker Hesse ist in seinen poetisch-handwerklichen Fähigkeiten allzu gerne unterschätzt worden

    Die Vertonung in Gestalt eines Klavierliedes erfolgte 1907. Marx hat später auch eine Orchestrierung vorgenommen, von der sein Biograph Andreas Liess meint, das „wogende Streichermotiv“ darin verrate „Brucknernähe“. Damit kann die hier zu besprechende Fassung natürlich nicht dienen, aber das „Wogen“ ist in ihr auf zarte Weise durchaus auch zu vernehmen. Bedingt ist es durch den Dreivierteltakt, der der Liedmusik zugrunde liegt. Und es klingt schon in dem Motiv auf, mit dem das Vorspiel einsetzt. Zu beeindrucken vermag die Liedmusik durch die Kantabilität ihrer Melodik, die in ihrer strukturellen Anlage den Gehalt der poetischen Aussage in ihrer wesenhaft einfachen lyrischen Sprachlichkeit reflektiert.


    „Windräder“ (IV)


    Auf den Worten „der Herbstwind lacht und droht“ beschreibt die melodische Linie einen eindrücklichen wort- und silbengetreuen, auf der Ebene eines „Es“ in hoher Lage ansetzenden Fall über eine ganze Oktave, der am Ende, bei „droht“ mit einem verminderten Quartschritt aufwärts in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „As“ in mittlerer Lage mündet. Die Harmonik vollzieht hierbei eine Wandlung von einem in nur einem sechsstimmigen Viertelakkord fort aufklingenden As-Dur über ein es-Moll nach fis-Moll. Die dissonante Harmonik wird zwar von Tongeschlecht Moll abgelöst, die Melodik bleibt aber weiterhin in klangliche Chromatik gebettet. Darin schlägt sich die affektive Ambiguität des „Herbstwindes“ nieder, sein Lachen und Drohen zugleich. Aber mit dem eintaktigen akkordischen Nachspiel, das Marx im Fortissimo erklingen lässt, will er vernehmlich werden lassen, dass für ihn diese Ambiguität des Herbstwind-Liedes in den Windrädern das existenziell Bedrohliche in den Erfahrungen des lyrischen Ichs ist.


    Mit den Worten des letzten Verses kehrt die Liedmusik zu ihren Anfängen zurück. Aber diese Rückkehr erfolgt unter der Last der Erfahrungen, die das lyrische Ich inzwischen gemacht hat. Und so erklingen denn wieder ruhig die Legato-Sechzehntel-Quartolen im Diskant, aber sie werden im Bass mit leichte Unruhe einbringenden Auf und Ab-Sechzehntel-Figuren begleitet. Und die Melodik verbleibt, wie eben unter dieser Last stehend und darunter sich nicht mehr erheben könnend, ganz und gar in Repetitionen auf der tonalen Ebene eines „Es“ in tiefer Lage, mit einer kleinen Dehnung auf dem Wort „Windräder“ am Anfang und einer langen auf dem so bedrückenden Wort „Tod“ am Ende. Die Harmonik vollzieht eine Wandlung von einem c-Moll auf der Dehnung bei „Windräder“ über ein Es-Dur nach einem as-Moll, in das die lange Dehnung auf „Tod“ gebettet ist.


    Aber im Weitererklingen des Klaviersatzes während des zweitaktigen Nachspiels, das „decresc. e p rit.“ erfolgt, rückt die Harmonik wieder nach Es-Dur, und im letzten Takt ereignet sich ein eindrückliches Verklingen der Windrad-Figuren in Gestalt eines „zögernd“ auszuführenden Übergangs eines bitonalen in einen fünfstimmigen Akkordes im Piano-Pianissimo.
    Es gibt noch Hoffnung in diesen Windräder-Erfahrungen.

    „Windräder“ (III)

    Ein ungewöhnlich langes, sechs Takte einnehmendes Zwischenspiel folgt nach. Es hat wohl nicht die Funktion eines Nachspiels, dazu hebt es sich in seiner Klanglichkeit zu stark von der Liedmusik auf den Worten des vierten Verses ab. Eine Sprungfigur aus Achtel, dreistimmigem Sechzehntelakkord und Zweiunddreißigstel im Diskant ist in eine Folge von punktierten Achtelakkorden und einem im Wert eines Zweiunddreißigstel eingelagert. In ihrer langsamen Aufwärtsbewegung und der Rückkehr zur Ausgangsebene evoziert diese, eine harmonische Wandlung von F-Dur über gis-Moll, G-Dur, h-Moll, B-Dur und As-Dur durchlaufende Folge von rhythmisierten Sprungfiguren das Bild von sich drehenden Windrädern und fungiert damit als Überleitung zur Melodik der zweiten Strophe. Und in seinen beiden letzten Takten geht der Klaviersatz bezeichnenderweise wieder über zu den Figuren, die der Melodik der Verse zugeordnet sind, die das Wort „Windräder“ beinhalten.

    Hier beschreibt die melodische Linie auf den Worten „Windräder gehen“ aber eine andere Bewegung als bei ihnen am Liedanfang. Kein repetitives Verharren auf der tonalen Ebene, vielmehr, und dabei in c-Moll gebettet, ein sich Absenken davon um eine große und eine kleine Sekunde zur tonalen Ebene eines „Es“ in tiefer Lage, und dann ein ausdrucksstarker Sprung von dort über das Intervall einer Sexte zu einer langen Dehnung bei dem Wort „gehen“ auf der tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage, wobei die Harmonik einen Übergang nach Es-Dur vollzieht. Eine relativ lange, fast einen Takt einnehmende Pause folgt nach, in der das Klavier weiter seine ruhigen Sechzehntel-Windräder-Quartolen im Diskant erklingen lässt.

    Durch die mittels des Sextsprungs und der Dehnung erfolgende Akzentuierung des Wortes „gehen“ wird dem diesem lyrischen Bild innewohnenden Faktor der Bewegung größere Bedeutung verliehen, als dies am Liedanfang der Fall ist. Marx greift damit die Konjunktion „und“ auf, mit der lyrisch eine Kausalität zum nachfolgenden Bekenntnis des lyrischen Ichs hergestellt wird: „ und meine Seele lauscht / Dem Lied“. Durch im Intervall noch größere Sprung- und Fallbewegungen bringt hier die melodische Linie die Bedeutsamkeit zum Ausdruck, die dieses Lauschen für das lyrische Ich hat: Ein veritabler Oktavsprung mit nachfolgendem Quartfall auf dem Wort „meine“, ein auf der tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage ansetzender gedehnter Sekundfall auf „Seele“ und ein verminderter Quintfall zur tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage bei dem Wort „lauscht“, das in As-Dur-Harmonik gebettet ist. Die Worte „dem Lied“, auf denen sich ein an dieser „B“-Ebene ansetzender melodischer Terzsprung ereignet, bei dem die Harmonik eine Wandlung nach Des-Dur vollzieht, setzt Marx durch eine Achtelpause ab, was den Anschluss mittels Relativpronomen berücksichtigt, der sich syntaktisch im zweiten Vers der zweiten Strophe ereignet und einen eigenständigen Satz konstituiert.

    Auf den Worten „Dem Lied, das in der tiefsten Nacht verrauscht“ geht die melodische Linie nach besagtem Terzsprung zu einer fünfmaligen, anfänglich gedehnten Repetition auf der tonalen Ebene eines „Des“ in hoher Lage über, die auch in Des-Dur harmonisiert ist. Auf der zweiten Silbe des Wortes „tiefsten“ beschreibt sie dann einen Fall über eine Quarte, der sich auf der ersten Silbe von „verrauscht“ fortsetzt, um, wie das in diesem Lied häufig der Fall ist, auf der zweiten in einen ausdrucksstarken Sprung über das Intervall einer Sexte zu einer langen Dehnung auf der Ebene eines „Ces“ in hoher Lage zu beschreiben, die in as-Moll gebettet ist.
    Dieses Verrauschen eines Liedes in der Nacht, wird vom lyrischen Ich als Erfahrung von Vergänglichkeit und „Tod“ erfahren, - jenem Wort, in das die lyrische Aussage des Gedichts mündet. So hat das wohl auch Marx aufgefasst, wie die Liedmusik in ihrer Melodik und deren Münden in eine im halbtaktigen Nachspiel noch fortklingende Moll-Harmonik bei dem Wort „verrauscht“ vernehmen lässt, - für mich jedenfalls.

    „Sehr langsam u. frei im Vortrag“, so lautet die Anweisung für den Vortrag der Melodik auf den Worten des zweitletzten Verses, und das deutet darauf hin, dass ihr für Marx eine herausragende Bedeutung zukommt. Er möchte, dass die Interpreten selbst entscheiden, wie die Liedmusik in ihrer Aussage im Kontext der anderen Melodiezeilen zu gewichten und hervorzuheben ist. Lachen und Drohen zugleich verweist schließlich auf die Untergründigkeit der existenziellen Erfahrung, die das lyrische hier macht.
    Schon der lang gehaltene achtstimmige Akkord, der erklingt, noch bevor die Melodik einsetzt, verweist auf diese. Es ist ein schmerzlich dissonanter. Akkorde sind es, die nun als ihre Begleitung fungieren. Die Legato-Sechzehntel-Windradfigur ist erst einmal verklungen. Mit einer dreimaligen Tonrepetition auf der Ebene eines „Es“ in tiefer Lage setzt die melodische Linie auf den Worten „Wie in dem Holz“ ein, um bei „Holz“ mit einem Quintsprung zu einer kleinen Dehnung auf der Ebene eines „B“ in mittlerer Lage überzugehen. Der Akkord, der zu dieser erklingt, ist ebenfalls ein dissonanter.

    „Windräder“ (II)

    Umso eindrücklicher ist dann das, was sich melodisch und harmonisch auf den Worten „ so süß der Wind“ ereignet. Mit einem hochexpressiven Sprung über das große Intervall einer verminderten None schwingt sich die melodische Linie, die bislang im relativ kleinen Ambitus einer Quinte in mittlerer Lage entfaltete, zwischen besagtem „B“ und „Es“ also, zur tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage empor, geht von dort aus einen gedehnten verminderten Sekundfall über, um danach zur Ausgangsebene in Gestalt einer langen Dehnung zurückzukehren.

    Nicht ganz allerdings, und das macht diese aus dem bislang vorherrschenden deklamatorischen Gestus ausbrechende Sprungbewegung so hochexpressiv: Es ist eine Rückkehr über eine übergroße Sekunde, zur Ebene eines „Fis“ also, und überdies eine, die mit einer geradezu abwegigen harmonischen Rückung einhergeht: Vom im B-Bereich des Quintenzirkels angesiedelten Es-Dur nach dem von dort weitab abliegenden und dem Kreuztonbereich zugehörigen H-Dur.
    Hier ereignet also ein starker Bruch in der Harmonisierung der Melodik, und das ist typisch und repräsentativ für das kompositorische Grundkonzept von Marxens Liedmusik. Sie ist auf maximale Expressivität in der Interpretation des lyrischen Textes ausgerichtet. Hier, in diesem Fall, ist es das musikalische Zum-Ausdruck-Bringen der „Süße“, die dem in den Flügeln des Windrades erklingenden Gesang des Windes innewohnt.

    Mit dieser melodischen Dehnung auf „Wind“ nimmt der Klaviersatz eine neue Gestalt an. An die Stelle der „Windräder“ -Figur treten im Diskant eine Bogenbewegung beschreibende Legato-Quartolen, im Bass aber steigend angelegte Zweiunddreißigstel-Triolen. Diese aufsteigenden Triolen bilden mit der Quartolen darüber eine dichtes ,aber in sich punktuell bewegest und deshalb impressionistisch anmutenden klangliches Fundament, über dem sich nun die melodische Linie entfaltet. Das tut sie bei den Worten „Der stille Wind sein Lied von Traum und Tod“, anfänglich in Fis-Dur mit Wandel nach Gis-Dur harmonisiert, in einem ruhigen Sekundanstieg in unterer Mittellage, der bei „Wind“ in einen gedehnten, mit einer harmonischen Rückung nach f-Moll einhergehenden Legato-Quintsprung übergeht. Auf den Worten „sein Lied“ liegt dann ein Sekundfall in tiefer Lage, auf „von Traum“ ein verminderter, auf der Ebene des Sekundfalls auf „Lied“ ansetzender und in cis-Moll gebetteter Terzsprung, Und dann vollzieht die melodische Linie eine Bewegung, die sie, was ihre Harmonisierung betrifft, schon einmal machte, bei den Worten „der Wind“ nämlich. Dieses Mal ist das Intervall des Sprunges, der sich auf den Worten „der Tod“ ereignet, deutlich größer.

    Über eine Quinte steigt die melodische Linie zu einer langen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage auf. Das Wort „Tod“ erfährt auf diese Weise eine markante Akzentuierung, dies auch deshalb, weil die auf ihm liegende melodische Dehnung mezzoforte vorzutragen ist und das Metrum nur in diesem Takt von vier zu zwei Vierteln übergeht, vor allem aber durch die harmonische Rückung, die sich hier ereignet. Das Wort „und“ ist in Dis-Dur-Harmonik gebettet, die lange Dehnung auf „Tod“ aber in ein im Tongeschlecht abweichendes und im Quintenzirkel weitab angesiedeltes h-Moll.
    Das Wort „Tod“ stellt einen überraschenden, nach dem lyrischen Bild vom „süßen Wind“ nicht zu erwartenden Einbruch in die lyrische Aussage der ersten drei Verse dar. Da tut sich eine neue, eine gravierende Ebene des zentralen lyrischen Bildes „Windräder“ auf, und Marxens Liedmusik bringt diesen poetischen Sachverhalt auf eine Weise zum Ausdruck, die den die lyrisch-sprachliche Positionierung am Ende des Verses bewirkenden Effekt bei weitem übersteigt.

    Die die erste Strophe beschließenden Worte „Windräder drehen sich im Abendrot“ erfahren eine höchst eindrückliche musikalische Hervorhebung. Die melodische Linie verharrt, wie sie das bei „Windräder gehn“ am Anfang tat, auch hier im repetitiven Gestus auf nur einer tonalen Ebene. Aber nun geschieht das, weil in silbengetreuer Deklamation ausgeführt, in achtfacher Weise, mit einer kleinen Dehnung auf „Wind-“ wie dort. Aber diese sehr lang anhaltende Repetition ereignet sich nun auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage, und sie wird vom Klavier mit einem lang gehaltenen siebenstimmigen dis-Moll-Akkord begleitet. Bei „Abendrot“ beschreibt die melodische Linie zwar einen verminderten gedehnten Legato-Terzanstieg zu einer Repetition auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage, aber dieser ist ebenfalls in Moll-Harmonik gebettet, fis-Moll nämlich. „Langsam und mit schwerer Betonung“ soll diese Melodiezeile vorgetragen werden, und die Anmutung von klanglicher Tristesse, die ihr innewohnt, ist wohl als Nachklang des Wortes „Tod“ zu aufzufassen und zu verstehen, das ihr gerade so schwergewichtig vorausging.

    „Windräder“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Langsam und leise (nie schleppend)“ soll die Liedmusik vorgetragen werden. Ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, Vorgaben hinsichtlich eines Grundtons gibt es nicht, die Harmonik entfaltet sich in permanenten, in den B- und den Kreuzton-Bereich des Quintenzirkels weit ausgreifenden Rückungen und weicht dabei zwischen den beiden Tongeschlechtern häufig in die Dissonanz aus.

    Es ist der Geist des Impressionismus, in dem sich diese Liedmusik entfaltet, freilich einem, der, weil ihm die für den französischen charakteristische, das Zeit-Kontinuum durchbrechende quirlige Rhythmisierung abgeht, so etwas wie eine deutsche Prägung aufweist. Man vernimmt das schon im eintaktigen Vorspiel. Diese im Diskant mit einem Oktavsprung einsetzenden und danach in einen Fall übergehenden Legato-Sechzehntel-Quartolen atmen impressionistischen Geist, sie entfalten sich aber, in Es-Dur-harmonisiert, auf bemerkenswert ruhige Weise. Da sie immer dort, wo in den Versen das Wort „Windräder“ auftaucht, die Begleitung der Melodik im Diskant bilden, sind sie ganz offensichtlich von Marx in klangmalerischer Weise als musikalische Konkretion des lyrischen Bildes „Windrad“ eingesetzt.

    In der ersten Strophe begleitet das Klavier die Melodik auf den Worten des ersten Verspaares mit dieser quartolischen Figur im Diskant, die dabei allerdings Modulationen durchläuft und, weil sie sich in ihrer Bewegung an der melodischen Linie orientiert, die tonale Ebene wechselt. Bei der Melodik auf den Worten „Windräder gehen“ ist das allerdings nicht der Fall. Marx hat ihnen, darin von der Prosodie des lyrischen Textes abweichend, eine musikalische Exposition zuteilwerden lassen, indem er sie zum Inhalt einer kleinen, von einer Achtelpause gefolgten Melodiezeile machte. Die melodische Linie entfaltet sich darin in einer rhythmisierten silbengetreuen Repetition auf der tonalen Ebene eines „G“ in mittlerer Lage. In diesem Verharren auf der tonalen Ebene bringt die Melodik die unaufhaltsam-kontinuierliche Gleichförmigkeit der Windrad-Bewegung zum Ausdruck.

    Warum aber diese, am Anfang der zweiten Strophe ja sich wiederholende Exposition der Worte „Windräder gehn“?
    Es ist nicht nur die Tatsache, dass es sich bei „Windräder“ um das thematische Schlüsselwort dieses Gedichts handelt, die Marx dazu bewogen hat. Dieser lyrisch-textliche Sachverhalt reicht, so scheint mir, als Erklärung dafür nicht aus. Marx macht dieses Wort zum Zentrum und Quellgrund seiner Liedmusik, indem er diese ganz darauf ausrichtet, dieses lyrische Bild in all seinen semantischen und seinen affektiven Dimensionen auszuloten und damit, und das ist seine eigentliche kompositorische Absicht, das Wesen des Windrades als Metapher für den klanglichen Geist seiner steirischen Heimat musikalisch zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen.

    Die Worte „die Herbstesharfen sind“ stellen, rein syntaktisch, einen die „Windräder“ in ihrem Wesen offenlegenden Relativsatz dar, und Marx´ Melodik greift dies dergestalt auf, dass sie, weiterhin in Es-Dur-Harmonisierung verbleibend, einen Fall hin zur Ebene des Grundtons „Es“ beschreibt, der bei dem Wortteil „Herbstes-“ eine Dehnung im Intervall einer Terz aufweist und in eine Sechzehntelpause mündet. Auf diesem „Es“ setzt aber dann die melodische Linie auf den Worten „In ihren Flügeln singt“ mit einem dreifachen Sekundanstieg ein und geht danach, auf der gleichen Ebene des „B“ in mittlerer Lage einsetzend, in eine Abwärtsbewegung über, in der das auch bei „Herbstesharfen“ geschieht. Und der Sprung der sich bei den Wort „so süß“ ereignet, setzt wieder auf der Grundton-Ebene ein, die sich damit als der Ort erweist, von dem die melodischen Bewegung auf dem ersten Verspaar ausgehen und zu dem sie wieder zurückkehren.

    Diese tonale Ebene fungiert also als Ruhepunkt, und damit setzt sich in der Melodik auf dem ersten Verspaar die Anmutung von ruhiger Statik fort, wie sie mit der vierfachen Tonrepetition auf den Worten „Windräder gehen“ eingeleitet wurde. Windräder drehen sich eben gleichförmig ruhig, und die Liedmusik von Marx reflektiert das mit dieser sich strukturell von einer tonalen Basis aus sich entfaltenden Melodik und einer permanent repetierenden Sechzehntel-Figur im sie begleitenden Klaviersatz.

    „Windräder“

    Windräder gehn, die Herbstesharfen sind,
    In ihren Flügeln singt so süß der Wind,
    Der stille Wind sein Lied von Traum und Tod;
    Windräder drehen sich im Abendrot.

    Windräder gehn und meine Seele lauscht
    Dem Lied, das in der tiefsten Nacht verrauscht.
    Wie in dem Holz der Herbstwind lacht und droht
    Windräder drehen sich durch Nacht und Tod.


    (Oskar Falke)

    Bei dem Verfasser handelt es sich um den 1827 unter dem Namen Georg Peter Falke geborenen und 1883 in Menton (Frankreich) verstorbenen Industriellen, Gutsbesitzer und Abgeordneten des Österreichischen Abgeordnetenhauses, der sich nebenbei auch als Autor betätigte.

    Die „Windräder“ werden im Sich-Drehen als „Herbstesharfen“ erfahren, in denen der süße Wind ein Lied von Traum und Tod singt. Das lyrische ich lauscht ihm und vernimmt im Knarren des Holzes ein Lachen und zugleich ein Drohen. Die anfänglich mit dem Epitheton „süß“ versehene Idyllik des lyrischen Bildes vom Windrad enthüllt sich in der Aufeinanderfolge der in bemerkenswert sachlich-lyrischer Sprache gehaltenen Verse in seiner Untergründigkeit. Das Lied, das in seinem Sich-Drehen aufklingt, verrauscht, vom Tod kündend, in tiefster Nacht.

    Die Frage wird sein, ob, in welcher Form und Gestalt und wie tiefreichend diese Untergründigkeit des lyrischen Bildes in Marxens Liedmusik Ausdruck findet. Es wurde 1906 komponiert und weist eine in der heimischen Untersteiermark zustande gekommene persönliche Erlebnis-Grundlage auf. In einem mit „Die Sehnsucht der Romantik; Glockenlieder“ betitelten Aufsatz vom 26.1.1936 führt Marx aus:
    „(…) Die Natur wird zur großen Künstlerin, wenn man ihr Gelegenheit zum Musikmachen gibt. Äolsharfenklang aus verlassenen Fensterbogen einer eufeuumsponnenen Burg am späten Sommernachmittag ist die süßeste >Reverie<. Und erst die untersteirischen Windräder, mit verschiedenen, kleinen Holzhämmern an verschiedenen Stellen eines ungleichen Lärchenbrettes oder an ein Stück eines gebrochenen Pfluges schlagend; jeder Ton verschieden lang und verschieden hoch, verschieden stark, und alles so vielfältig durcheinander tönend, wie ein herbstlich gestimmtes Orchester, während Metallklag dazwischen glitzert als Celesta des Herbstes.
    Naturmusiken, die an Kühnheit der seltsamsten Dritteltonskalen und absonderlichsten Rhythmen sowie an eindringlichster Stimmung alles in den Schatten stellen, was die zeitgenössische Tonkunst erklügelt, weil fremdestes Tonspiel hier zum Heimatklang der südsteirischen Weingärten wurde.
    >Ein so vollendetes Decrescendo-Ritardando habe ich noch nie gehört, wie im Spiel der „Windräder“ > sagte Prohaska zu mir, als wir über die Grazer Hügel wanderten. Unvergeßliches Klangerlebnis, in dem Anfang, Ende der Musik sich treffen und zu unbeschreiblichster Landschaftsmusik werden.“


    „Marienlied“ (III)

    Die - romantische - Abkehr von der Welt und Einkehr in die von der Marien-Verehrung erfüllte seelische Innenwelt wird von Marx, und das durchaus der lyrischen Aussage gemäß, als ein ambivalentes Ereignis verstanden. Deshalb dieses Hin und Her zwischen den beiden Tongeschlechtern in der Harmonisierung der Melodik auf den Worten des sechsten Verses. Die Melodik auf den Worten des letzten Verspaares ist dann aber ganz und gar im Tongeschlecht Dur harmonisiert, was angesichts der emphatischen Beschwörung des „unnennbar süßen Himmels“ im Gemüt ja auch nicht anders zu erwarten ist. Die melodische Linie beschreibt, nach einer ruhigen, in einer Rückung von Es-Dur nach As-Dur harmonisierten Abwärtsbewegung aus oberer in mittlere Lage bei dem Wort „unnennbar“, erneut, und das jetzt zum vierten Mal, einen Oktavsprung zur tonalen Ebene eines „As“ in hoher Lage, um bei „süßer Himmel“ von dort einen ausdrucksstarken, anfänglich gedehnten zweischrittigen Sekundfall zu beschreiben, nun aber einen der sie bis zum dem „As“ in mittlerer Lage zurückführt, von dem aus der Oktavsprung erfolgte. Das Klavier vollzieht diesen Fall mit, aber nicht in kontinuierlicher Weise, sondern zweimalig, im nächsten Takt erneut hoch ansetzend, was dem Fall-.Gestus der Melodik eine Akzentuierung verleiht.

    Bemerkenswert ist die Harmonisierung der emphatischen Geist atmenden Melodik auf diesen Worten, denen für das Marienverständnis von Novalis eine Schlüsselfunktion zukommt. Die Harmonik vollzieht hier eine Wandlung von As-Dur nach Des-Dur, dem in der haltaktigen Pause vor dem Fortgang der Melodik auf den Worten des letzten Verses ein B7- und ein Ges-Dur-Akkord nachfolgt, beide wohl als Übergang zu dem Fes-Dur fungierend, in dem die Melodik dann einsetzt. Aber auf der ersten Silbe des Wortes „süßer“ liegt ein, Diskant und Bass übergreifender, im Bass-Bereich aber lang gehaltener sechsstimmiger Akkord in verminderter Fes-Harmonik. Eine Dissonanz bricht also für einen kurzen Augenblick in die Dominanz des Tongeschlechts Dur ein. Das ist wohl nur so zu verstehen, dass Marx hiermit die Komplexität des affektiven Potentials musikalisch aufklingen lassen will, das diesem lyrischen Schlüsselwort innewohnt.

    Nur einen Augenblick lang, nämlich auf dem Wort „mir“, erklingt Fes-Dur-Harmonik. Schon der nachfolgende gedehnte Terzfall ist in As-Dur-Harmonik gebettet. Das Klavier, das schon am Anfang der Melodik auf den beiden Schlussversen in seiner Begleitung von den bislang bevorzugten bitonalen Akkorden zu vielstimmigen übergegangen ist, lässt hier zu diesem an sich ja zweischrittigen melodischen Terzfall vier vierstimmige Achtelakkorde im Diskant und einen taktlang gehaltenen dreistimmigen Akkord im Bass erklingen. Diese Form der Begleitung behält es bis zum Ende der Melodik bei, darin bekundend, wie bedeutungsvoll die Aussage der Melodik hier ist.

    Mit dem gedehnten Terzfall auf „ewig“ setzt sie sich bei den Schlussworten „im Gemüte steht“ fort. Nicht kontinuierlich allerdings. Das wäre der auf Expressivität angelegten Liedmusik von Marx nicht entsprechend. Auf dem Wort „im“ und der ersten Silbe von „Gemüte“ liegt ein ruhiger Sekundfall in mittlerer Lage. Auf der zweiten und dritten Silbe beschreibt die melodische Linie dann allerdings einen ausdrucksstarken, taktübergreifend lang gedehnten, auf der um eine Terz angehobenen tonalen Ebene eines „C“ in oberer Mittellage ansetzenden zweischrittigen Sekundfall, der mit einer harmonischen Rückung von As- nach Es-Dur einhergeht und vom Klavier akkordisch mitvollzogen wird. Die lange melodische Dehnung auf dem Diphthong „-mü-“ erfährt eine Akzentuierung durch einen wieder im Bassbereich lang gehaltenen achtstimmigen As-Dur-Akkord. Nach einem weiteren Sekundschritt abwärts endet die Melodik in einer langen, vom Klavier wieder mit einem nur noch fünfstimmigen As-Dur-Akkord begleiteten Dehnung auf der tonalen Ebene eines „As“ in mittlerer Lage.

    Dem sechstaktigen Nachspiel kommt, was die Gesamt-Aussage der Liedmusik anbelangt, durchaus Bedeutung zu. Es erschöpft sich nicht im einfachen Weitererklingen der für den Klaviersatz konstitutiven bitonalen Viertel-Akkorden. Vielmehr beschreiben diese in ihrer „poco a poco rit. e decresc.“ vorzutragenden Bewegung eine bogenförmige melodische Linie, die beim dritten Mal in eine melismatische Figur aus triolisch ansteigenden und wieder fallenden Achteln übergeht, die Marx mit der Vortragsanweisung „ausdrucksvoll with expression“ versehen hat. Sie mündet mit einem wiederum triolischen Anstieg von Achteln aus tiefer Lage in das dreifache Piano des lang gehaltenen siebenstimmigen As-Dur-Akkords.

    In seinem Fall-Gestus mutet dieses Nachspiel wie ein Fortklingen des lang gedehnten melodischen Falls auf den Worten „Mir ewig im Gemüte steht“ an,
    mit seinem melismatischen Anflug das Entzücken bekundend, das der „unnennbar süße Himmel“ darin bewirkt.

    „Marienlied“ (II)

    Die beiden den dritten und vierten Vers beinhaltenden Melodiezeilen bilden, obwohl sie eine Viertelpause trennt, eine melodische Einheit. Auf den Worten „Doch keins von allen kann dich schildern“ beschreibt die melodische Linie in ruhigen und wie hier üblich gedehnten Schritten eine weit gespannte bogenförmige Bewegung in mittlerer Lage, in der die Worte „kein´s“ und „kann“ eine Hervorhebung durch eine verstärkte Dehnung in Gestalt einer punktierten halben Note erfahren. Harmonisiert ist sie in b-Moll, und das Klavier vollzieht sie mit seinen bitonalen Akkorden im Diskant mit. Das geschieht aber nicht auf die einfache Weise einer synchronen Bindung zwischen deklamatorischem Schritt und entsprechendem Akkord im Klaviersatz. Bei der verstärkten Dehnung auf „kein´s“ beschreiben die Viertelquinten und -quarten im Diskant zum Beispiel eine Bogenbewegung, und bei der auf „kann“ vollziehen Viertel einen Sekundfall über einem lang gehaltenen „E“ in tiefer Lage. Einem „E“ und nicht „Es“ deshalb, weil hier Moll-Harmonik vorherrscht, die wohl das tiefe seelische Gerührt-Sein des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringen soll.

    Auf den ruhigen (halbe Noten) Sekundfall bei dem Wort „schildern“, der nun in B-Dur gebettet ist und vom Klavier in drei Viertelschritten im Diskant mitvollzogen wird, folgt für die melodische Linie zwar eine Viertelpause, die Bewegung, die sie dann aber bei den Worten „wie meine Seele“ beschreibt, wirkt wie eine Fortsetzung der vorangehenden Melodiezeile. Sie setzt, wie das in diesem Lied oft der Fall ist, mit einem auftaktig wirkenden und weiterhin in B-Dur harmonisierten Auf und Ab von deklamatorischen Schritten im Wert eines Viertels ein, wozu das Klavier nun im Diskant einen vierschrittigen Anstieg von Vierteln erklingen lässt, danach aber beschreibt sie, wie schon einmal bei „Maria“, einen ausdrucksstarken Oktavsprung, um bei „Seele“ in einen gedehnten Quartfall aus der Ebene eines „Es“ in hoher Lage überzugehen, der mit einer Rückung der Harmonik nach Es-Dur einhergeht. Das Klavier begleitet das mit der bogenförmigen Figur aus bitonalen Viertelakkorden, die es schon einmal vor dem Oktavsprung auf „Maria“ erklingen ließ.

    Marx arbeitet also mit wiederkehrenden Elementen in Melodik und Klaviersatz, was wesentlich zur Eingängigkeit der Liedmusik beiträgt. Auf den Worten „dich erblickt“ beschreibt die melodische Linie eine ruhige, bei „dich“ gedehnte Bewegung abwärts in Sekundschritten, um in einer Dehnung auf dem als Grundton fungierenden „Es“ in tiefer Lage zu enden. Auch hier erklingt wieder diese Bogen-Figur aus bitonalen Akkorden wie bei „Seele“, dies sogar in identischer Gestalt.

    Mit dem fünften Vers („Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel“) geht der lyrische Text von dem schwärmerisch preisenden Ansprache-Ton zu dem einer Aussage über die kognitive und die emotionale Befindlichkeit des lyrischen Ichs über, bevor er beim letzten Verspaar wieder zum Schwärmen zurückkehrt. Das hat zur Folge, dass sich die Melodik nun zunächst, dies allerdings unter Beibehaltung ihres ruhigen deklamatorischen Grund-Gestus´, in etwas größerem Ambitus entfaltet und zwei Mal in eine Repetition verfällt: Bei „ich weiß“ und „daß der“. Bei „nur“ senkt sie sich in Gestalt einer langen Dehnung zur Ebene eines „Es“ in tiefer Lage ab, um bei „Welt“ dann einen gedehnten Terzfall von der Ebene eines „Des“ in hoher Lage zu beschreiben. Auf dem Wort „Getümmel“ dann aber einen Sekundfall in tiefe Lage. Harmonisiert ist diese wieder in eine Viertelpause mündende Melodiezeile in Es-Dur, das am Ende in ein Es7-Dur übergeht. Bemerkenswert aber ist, dass der Klaviersatz hier klanglich reichhaltiger angelegt ist. Partiell mit nun dreistimmigen Viertelakkorden im Diskant und Oktaven, die im Bass von lang gehaltenen bitonalen Akkorden begleitet werden.

    Bei den Worten des sechsten Verses verwendet Marx wieder dieses Prinzip der auftaktigen Einleitung der nachfolgend gedehnten Melodik mittels dreier Viertelschritte. Hier ist es ein Fall über das Intervall einer Terz hinab zur Ebene eines „F“ in tiefer Lage. Und diese Abwärtsbewegung der melodischen Linie setzt sich fort in Gestalt eines gedehnten Sekundfalls bei „wie ein“ hinab zur Ebene eines „D“ in tiefer Lage. Hier ist die Harmonik vom vorangehenden Es-Dur nach f-Moll gerückt, darin wohl den affektiven Gehalt der Worte „wie ein Traum verweht“ reflektierend.
    Da das, was da verweht ist, „der Welt Getümmel“ nämlich, im Grunde etwas Nichtswürdiges ist, lässt Marx die Melodik bei den Worten „ein Traum verweht“ eine, wieder einmal mit einem Oktavsprung einsetzende und auf einem hohen „D“ ansetzende gedehnte Sekundfallbewegung beschreiben, die in G-Dur harmonisiert ist, - einem G-Dur freilich, das in der nachfolgenden halbtaktigen Pause für die melodische Linie in ein g-Moll übergeht. Aber zuvor begleitet das Klavier diesen melodischen Fall mit einer ausdrucksstarken Folge von Oktaven und dreistimmigen Akkorden, und lässt bei der Dehnung auf der Silbe “-weht“ sogar, ungewöhnlich in diesem Lied, einen sechsstimmigen G-Dur-Akkord erklingen.

    „Marienlied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die Liedmusik steht in As-Dur als Grundtonart. Sie basiert auf einem Viervierteltakt und soll „Leicht und gehend, doch nicht zu rasch (poco rubato)“ vorgetragen werden. Ein eintaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der Melodik voraus. Darin klingt eine Figur auf, die sich als den Satz der Begleitung als allein prägende erweist: Eine Aufeinanderfolge von jeweils vier zwei- bis vierstimmigen Viertel-Akkorden im Diskant, der im Bass synchron eine von Achteln in Gestalt von Einzeltönen bis zu mehrstimmigen und vereinzelt sogar lang gehaltenen Akkorden zugeordnet ist.
    Darin, in diesem Arbeiten mit nur einem strukturellen Motiv in der Gestaltung des Klaviersatzes, zeigen sich die Einflüsse von Hugo Wolf auf Marxens Liedkomposition. In ihrer Klanglichkeit weist diese bogenförmige Legato-Aufeinanderfolge von bitonalen Quinten und Terzen im Diskant die Anmutung von beseelter Lieblichkeit auf und reflektiert darin den Geist des Novalis-Gedichts.

    Die Melodik entfaltet sich in lang gedehnter und gebundener Bewegung. Die deklamatorischen Viertelschritte, in denen die Melodiezeilen einsetzen, wirken wie ein Auftakt zu dieser melodischen Emphase, in der die Liedmusik die schwärmerische Verzückung des lyrischen Ichs reflektiert. Die Eingangszeile auf den Worten „Ich sehe dich in tausend Bildern“ ist diesbezüglich in ihrer Struktur typisch und repräsentativ für den klanglichen Charakter und den Geist dieses Liedes.
    Bei „ich sehe“ beschreibt die melodische Linie, in As-Dur-Harmonik gebettet, einen auf der tonalen Ebene eines „Es“ in tiefer Lage ansetzenden silbengetreuen Anstieg über eine Quarte und eine Sekunde, und mit dem Wort „dich“ geht sie zur Entfaltung in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten über, vollzieht auf „in“ eine Repetition auf der tonalen Ebene eines „C“, beschreibt dann einen das Wort akzentuierenden gedehnten, mezzoforte auszuführenden Sekundfall in hoher Lage, um schließlich in einem mit einem Decrescendo einhergehenden Sextfall auf „Bildern“ zu enden.
    Das Klavier begleitet das durchweg mit der bogenförmigen Figur aus bitonalen Viertelakkorden, wie sie im Vorspiel aufklang.

    Das ist strukturell einfach angelegte Liedmusik, aber gerade darin gründet ihr ganz spezifischer klanglicher Zauber. Und dieser setzt sich in der nächsten, die Worte des zweiten Verses beinhaltenden Melodiezeile fort, in Gestalt einer gesteigerten Emphase sogar. Das Schlüsselwort „Maria“ löst sie aus. Auf ihm beschreibt die melodische Linie, nun in Des-Dur gebettet, einen ausdrucksstarken, und wieder in gedehnten Schritten erfolgenden Oktavsprung zur tonalen Ebene eines „As“ in hoher Lage, dem ein gedehnter, aber verminderter Terzfall nachfolgt. Im dynamischen Forte ereignet sich das, und das Klavier füllt diesen so expressiven melodischen Fall mit einer ebenfalls fallenden angelegten Folge seiner, nun im Intervall sich stark erweiternden bitonalen Akkorde klanglich aus.

    Ohnehin ist der Klaviersatz von dieser zweiten Melodiezeile an darauf angelegt, der melodischen Linie dort, wo sie sich in ihrer Bewegung in die Emphase steigert, dieser mit seinen bitonalen Figuren im Diskant zu folgen, also von der eigenständigen bogenförmigen Entfaltung abzulassen. Bei der Melodik auf den Worten „lieblich ausgedrückt“ zeigt sie das gleich wieder. Sie beschreibt hier auf „lieblich“ einen dreischrittigen, anfänglich gedehnten Legato-Sekundfall und vollzieht dann einen Quartsprung zur tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage, um bei „ausgedrückt“ „etwas zögernd“ einen gedehnten Quintfall mit nachfolgender, in eine Dehnung übergehender Repetition zu beschreiben. Das Klavier folgt der Grundstruktur dieser melodischen Bewegung, dabei den Sekundfall auf der zweiten Silbe von „lieblich“ ignorierend, mit einem kontinuierlichen Anstieg der in ihrem Intervall sich mehr und mehr erweiternden bitonalen Akkorde, die am Ende den gleichen Fall vollziehen wie auch die melodische Linie. Die Harmonik vollzieht hier eine Wandlung von As-Dur zur Doppeldominante B-Dur.

    „Marienlied“

    Ich sehe dich in tausend Bildern,
    Maria, lieblich ausgedrückt,
    Doch keins von allen kann dich schildern,
    Wie meine Seele dich erblickt.
    Ich weiß nur, daß der Welt Getümmel
    Seitdem mir wie ein Traum verweht,
    Und ein unnennbar süßer Himmel
    Mir ewig im Gemüte steht.

    (Novalis)

    Die Marienlyrik von Novalis ist Folge der tiefen existenziellen Erschütterung, die der Tod seiner Verlobten Sophie von Kühn für ihn mit sich brachte. Der Glaube gab ihm inneren Halt und geistige Orientierung. Seinem väterlichen Freund und Briefpartner, dem Kreisamtmann Just in Tennstedt schrieb er im November 1800:
    „Religion ist der große Orient in uns, der selten Getrübt wird. Ohne sie wäre ich unglücklich. So vereinigt sich alles in einen großen, friedlichen Gedanken, in einen stillen, ewigen Glauben.“

    Dieses Gedicht bringt die Bedeutung, die der Glauben Novalis gewonnen hat, am Beispiel Marias lyrisch zum Ausdruck. Die vielen Bilder, die es von ihr gibt, können nicht erfassen, was seine Seele in ihr erblickt. Bezeichnend für den Romantiker ist, dass die Begegnung mit ihr sich im seelischen Innenraum ereignet und einhergeht mit der Abwendung von der als „Getümmel“ erfahrenen Außenwelt. Zur Folge hat sie eine seelische Befindlichkeit, die er in das Bild eines „unnennbar süßen Himmels“ kleidet.

    Lyrisch-sprachlich ereignet sich diese poetische Aussage auf bemerkenswerte Weise. Die Verse gehen in Gestalt von vierfüßigen Jamben im Wechsel von klingender mit stummer Kadenz fließend ineinander über, als würde da einer aus vollem und ganz und gar ungetrübtem Herzen von sich selber singen. Aber bei dem „Und“, mit dem der zweitletzte Vers einsetzt, erfährt der metrische Fluss eine Brechung: Ein Daktylus drängt sich in es und verleiht dem die poetische Aussage generierenden lyrischen Bild eine Hervorhebung.

    Die Vertonung dieser Verse durch Marx entstand 1909. Sie fängt deren innig beseelten Grundton auf treffende und deshalb beeindruckende Weise ein. Sein Biograph Liess charakterisiert das Lied mit den Worten:
    „Es stellt (…) ein Musterbeispiel des harmonischen Mikrokosmos der Musik unseres Komponisten dar, der immer neuen harmonischen Unterbauung der Motive, der feinen Reize in Chromatik, Septimenparallelen usw.“
    Im Grunde ist das ja eine Charakterisierung der Liedkomposition von Marx ganz allgemein, ihren Wesenskern treffend insbesondere in den Worten „der feinen Reize“.


    “Maienblüten” (III)

    Das von Marx in Jakobowskis Gedicht eingefügte, und dessen „Segen“ ersetzende Wort „Frühling“ nutzt er - und das war wohl der Sinn dieses ein Abstraktum durch einen konkreten Begriff ersetzenden Eingriffs in den Originaltext -, um die die Melodik bei ihrer Schlussaussage zum Höhepunkt ihrer Expressivität zu führen. Auf diesem Wort liegt ein fortissimo vorzutragender, auf der tonalen Ebene eines „A“ in hoher Lage ansetzender gedehnter Legato-Terzfall, der sich bei den Worten „breiten sie“ in einem regelrechten Sturz der melodischen Linie bis hinab zur tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage fortsetzt, über das große Intervall einer Dezime also. Und dieser wird auf hochexpressive Weise vom Klavier mittels vierstimmiger Fortissimo-Achtelakkorde im Diskant mitvollzogen, wobei diesen im Bass vierstimmige gleichsam entgegenlaufen. Die Harmonik vollzieht dabei eine Wandlung von D-Dur nach e-Moll.

    Bei den Worten „auf dich“ beschreibt die melodische Linie einen in eine Dehnung auf der tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage mündenden Quintsprung, wobei die Harmonik eine Wandlung vom vorangehenden e-Moll nach g-Moll vollzieht. Das Klavier lässt dazu einen fünfstimmigen g-Moll-Akkord erklingen, der in eine melismatische Achtelfigur übergeht. Diese Akzentuierung hat einen guten Grund. Sie verleiht, zusammen mit der nachfolgenden Achtelpause, den Schlussworten „und mich“ ein stärkeres Gewicht, als ihnen im lyrischen Text zukommt. Auf „mich“ liegt zwar die gleiche melodische Dehnung auf der Ebene des hohen „D“ wie auf „dich“, sie wird nun aber auf „und“ mit einem zu ihr hinführenden Legato-Sekundschritt eingeleitet, und sie ist nicht in Moll-Harmonik gebettet, sondern in die Tonika D-Dur.

    Wieder geht der die Dehnung akzentuierende Akkord in eine Achtelfigur über, dieses Mal ist das aber der Beginn des viertaktigen Nachspiels. Die Achtel-Sechzehntel-Sprungfiguren senken sich, verbunden mit einer Rückung zur Dominante A-Dur in tiefe Lage ab, beschreiben dabei wieder - typisch für Marxens Liedmusik - eine durch eine kurze Zwischenrückung in verminderte Cis-Harmonik eindrückliche melodische Linie und gehen in eine in hohe Lage aufsteigende Folge von drei lang gehaltenen D-Dur -Akkorden über, die im Bass von ebenfalls aufsteigenden Achteln und bitonalen Akkorden begleitet wird. Ein im Bass-Bereich angesiedelter vierstimmiger Achtelakkord bildet den Schluss einer auf eingängige klangliche Schönheit angelegten Liedmusik.

    “Maienblüten” (II)

    Vor dem Einsatz der Melodik auf den Worten der zweiten Strophe erklingt ein zweitaktiges Zwischenspiel, in dem die Achtel-Sprungfiguren, die bislang die Substanz des Klaviersatz bildeten, in ihrer Aufeinanderfolge eine melodische Linie generieren, die wie ein Nachklang derjenigen auf dem Schlussvers der ersten Strophe anmutet. Die Melodik ist eben das von Marx bevorzugte und besonders gepflegte liedkompositorische Ausdrucksmittel.
    Auf den Worten „Sieh, ein Leben süß und wunderlich“ setzt die Melodik in A-Dur-Harmonisierung mit einem Legato-Sextsprung zur tonalen Ebene eines „Cis“ in oberer Mittellage ein, geht dort bei „Leben“ in eine gedehnte Tonrepetition über, vollzieht bei „süß“ einen ausdrucksstarken, weil über eine verminderte Sekunde erfolgenden und mit einer harmonischen Wandlung nach Gis7-Dur verbundenen Sekundfall, um, bei „und“ eine Terz tiefer mit einem auftaktigen Sextsprung wieder in einen expressiven Fall überzugehen. Hier ist es ein silbengetreuer, auf der Ebene eines hohen „Fis“ ansetzender, anfänglich gedehnter und schließlich in eine Dehnung mündender über erst große, dann kleine Sekunde auf dem Wort „wunderlich“, wobei die Harmonik einen Übergang von Gis7- nach H-Dur vollzieht Das Klavier lässt während der Dehnung seine bitonalen Achtelfiguren, mit denen es weiterhin im Diskant begleitet, eine Fallbewegung beschreiben.

    Die Worte „Rinnt durch übersonnte Blätterreihn“ bilden eine eigene, von je einer Viertelpause gerahmte Melodiezeile. Mit ihr setzt der Prozess einer kontinuierlichen Steigerung der melodischen Expressivität ein, durch den sich dieses Lied auszeichnet. Das Wort „rinnt“ trägt eine lange, in E-Dur gebettete Dehnung auf der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage. Danach beschreibt die melodische Linie in einen mit einer Wandlung nach cis-Moll einhergehenden Fall, aber schon bei dem Wort „übersonnte“ geht sie in einen deklamatorisch silbengetreuen Anstieg zu einer gedehnten Repetition auf der Ebene eines „Cis“ in oberer Mittellage über, wobei die Harmonik eine Wandlung nach A-Dur vollzieht. Bei „Bätterreihn“ schließlich steigert sie sich auf der Silbe „-reihn“ nach einem anfänglichen verminderten Sekundfall auf der Ebene eines „E“ in hoher Lage mit einem Terzsprung in eine lange, die Taktgrenze überschreitende Dehnung auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage, wobei die Harmonik von H-Dur nach Gis-Dur übergeht.

    Das Klavier lässt dazu einen siebenstimmigen Gis-Dur-Akkord erklingen, dem in der Dreiachtelpause für die Singstimme ein expressiver, mit der Anweisung „steigernd“ versehener Mezzoforte-Anstieg von Achteln im Diskant und ein gegenläufiger im Bass nachfolgt, der im Bass in dreistimmige Achtelakkord-Repetitionen, im Diskant in einen Fall von bitonalen Akkorden übergeht, in dem die melodische Linie mit ihrer Fallbewegung auf den Worten „alle Blüten“ einsetzt. Auch der in Gis-Dur harmonisierte Terzfall in mittlerer Lage auf dem Wort „Blüten“ erfährt eine Akzentuierung durch einen ähnlich komplexen Klaviersatz wie das Wort „Blätterreihn“ nachträglich. Wieder ein siebenstimmiger, Bass und Diskant übergreifender, mit einem Portato-Zeichen versehener siebenstimmiger Akkord, dem unterschiedliche Achtelfiguren in Diskant und Bass nachfolgen.
    Hier, wie auch in den beiden nachfolgenden Melodiezeilen zeigt sich, wie Marx den generell autonomen Klaviersatz nicht nur zur Akzentuierung der Aussage der Melodik, sondern darüber hinaus auch zur Auslotung von deren affektiven Dimensionen nutzt.

    Aber auch die Harmonik nutzt er in diesem Sinn. Nach dem in Gis-Dur-Harmonik gebetteten Terzfall auf „Blüten“ folgt für die Melodik eine Achtelpause, und der nachfolgende, in die Lage eines D“ in tiefer Lage führende melodische Quintfall auf den Worten „die sie“ ist in einem überraschenden, weil im Quintenzirkel weitab liegenden D-Dur harmonisiert. Und gleich folgt die nächste harmonische Überraschung nach. Bei dem Wort „niederstreuen“ beschreibt die melodische Linie einen anfänglich gedehnten Anstieg von der tonalen Ebene eines „Ais“ in mittlerer Lage zu der eines „D“, und dieser ist in einer komplexen Rückung von Dis-Dur über Gis- und Cis-Dur nach D-Dur harmonisiert. Das Klavier begleitet ihn mit einer entsprechend ansteigenden Folge von drei- bis sechsstimmigen Achtelakkord-Repetitionen.

    “Maienblüten”. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der Liedmusik liegt ein Viervierteltakt zugrunde, und sie soll „Langsam und ausdrucksvoll (nie schleppend)“ vorgetragen werden. D-Dur ist als Grundtonart vorgegeben. Ein eintaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der Melodik voraus. Ihm kommt keine genuine musikalische Aussage zu, es fungiert in seiner strukturellen Identität mit dem nachfolgenden Klaviersatz der Begleitung als Einleitung und Auftakt der Liedmusik. Den Worten „Duld´es still“ widmet Marx eine eigene kleine, von einer Achtelpause gefolgte Melodiezeile. Nach einer rhythmisierten Repetition auf der Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage geht die melodische Linie mit einem Terzsprung zu einer Dehnung auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage über. Diese imperativische lyrische Aussage erfährt auf diese Weise eine Hervorhebung, und das Wort „still“ eine starke Akzentuierung, denn die Harmonik vollzieht bei der melodischen Dehnung eine Rückung von der Tonika D-Dur zur Dominante A-Dur.

    Die Worte „wenn von den Zweigen / Blüten weh'n ins fromme Haar“ sind lyrisch-sprachlicher Inhalt der nächsten, wieder von einer Achtelpause gefolgten Melodiezeile. Die melodische Linie setzt dabei gleichsam auftaktig mit einem repetitiven Auf und Ab auf den Worten „wenn von den Zweigen“ ein, wobei die Harmonik eine Wandlung von D-Dur zur Subdominante G-Dur vollzieht, dann aber beschreibt sie eine auf der Ebene eines hohen „Fis“ ansetzende, ganz und gar in A-Dur gebettete und mit einem Legato-Sekundfall auf „Blüten“ eingeleitete Abwärtsbewegung in ruhigen Sekund- und Terzschritten bis hinab zur tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage.

    Diese auftaktig eingeleitete und danach in deklamatorisch ruhig vollziehenden Fall übergehende Anlage der Melodiezeile ist typisch für die auf klangliche Schönheit Eingängigkeit ausgerichtete Melodik von Marx. Hier, in diesem Lied, wird diese sein ganzes Liedschaffen in seinem spezifischen Charakter prägende kompositorische Intention auf besondere Weise sinnfällig. Dem Klaviersatz kommt dabei eine wichtige Funktion zu, vor allem die einer Akzentuierung der Melodik im Gestus ihrer jeweiligen Entfaltung. So lässt das Klavier etwa bei dem in eine Dehnung mündenden Sekundfall auf den Worten „fromme Haar“ im Diskant einen Fall von bitonalen Achtelakkorden erklingen, der sich während der melodischen Dehnung fortsetzt.

    Auch die nächste, das zweite Verspaar der ersten Strophe beinhaltende Melodiezeile ist nach diesem Konzept angelegt. Auf den Worten „Und sich sacht herniederneigen“ beschreibt die melodische Linie ein - wieder als Einleitung zum expressiven zweiten Teil der Melodiezeile fungierendes - Auf und Ab über unterschiedlich große Intervalle, die das Klavier mit legato auszuführenden Sprungfiguren aus bitonalen und Einzelachtel begleitet (wie überhaupt bezeichnenderweise für den ganzen Klaviersatz die Anweisung gilt: „sempre legato“). Die Harmonik vollzieht hier eine Wandlung von Fis-Dur über H-Dur und Gis-Dur nach cis-Moll. Bei den Worten „Lippenpaar auf Lippenpaar“ steigert sich dann die Melodik, darin das affektiv stark aufgeladene lyrische Bild reflektierend, in große Expressivität.

    Sie beschreibt, mit einem Crescendo versehen, in E-Dur harmonisiert und nun, abweichend vom bisherigen Gestus, vom Klavier im Diskant und im Bass mit vielstimmigen Akkorden begleitet, beim ersten „Lippenpaar“ einen gedehnten Sekundfall und einen über eine Quarte, geht bei „auf“ in einen zweischrittigen (!) Terzanstieg über, um dann auf der Grundlage nun eines Zweivierteltakts in eine ausdrucksstarke, mit einer harmonischen Rückung nach H-Dur einhergehende Fallbewegung über eine verminderte Sekunde mit nachfolgender Rückkehr zur tonalen Ausgangslage, um dort dann in eine in E-Dur gebettete Dehnung überzugehen.