Beiträge von Helmut Hofmann

    Felix Mendelssohn, „Gruß“

    Dass diese Heine-Vers auch von Mendelssohn vertont wurden, darauf wagt man gar nicht hinzuweisen, zu so großer Bekanntheit ist dieses Lied gelangt. Anders als bei „Ihr Bild“, soll hier auch keine ausführliche vergleichende Liedbetrachtung erfolgen. Gleichwohl stellt sich auch hier die Frage nach dem Unterschied im liedkompositorischen Zugriff auf den lyrischen Text. Sie drängt sich sogar regelrecht auf, angesichts des signifikanten Kontrasts im klanglichen Hörbild.


    Es handelt sich um ein reines Strophenlied, es steht im Zweivierteltakt und ist mit der Tempoanweisung „Andante“ versehen. Im Klaviervorspiel steigen über Quarten im Bass Sechzehntel-Terzen im Diskant auf, halten kurz inne, setzen diese Bewegung dann weiter fort und beschreiben am Ende einen kleinen Bogen. Etwas Fanfarenhaftes wohnt dieser musikalischen Bewegung inne. In ihrem Anstiegsgestus suggeriert sie Weite und stellt damit eine zarte Evokation des lyrischen Bildes der ersten Strophe dar. Das Klaviervorspiel wirkt wie ein Vorklang auf den Geist des Liedes: Ein melodisch-harmonisches Auskosten des D-Dur-Akkords.


    Wenn es so etwas wie "professionelle Aufgabenverteilung" gibt, dann kümmert sich der Philosoph nicht um Werkanalysen, sondern um allgemeine ästhetische Fragen - zielt also auf Wesentliches von "Kunst" ab und nicht auf die Analyse / Interpretation des einzelnen Kunstwerks.

    Das ist, nach Faktenlage, nicht ganz zutreffend, lieber Leiermann. Viele Philosophen haben sich auch mit der "Interpretation des einzelnen Kunstwerkes" befasst.

    Ich darf erinnern an Heidegger, Hölderlin oder van Gogh oder die attische Tragödie betreffend, Adorno, der sowohl Lyrik also auch viele musikalische Werke interpretierte, oder Gadamer, der sich (tiefschürfend) mit der Lyrik Paul Celans auseinandersetzte.

    Der Existenzphilosoph Bollnow beschäftigte sich, weil es ihm um das Problem der wesenhaften Einheit von Leben und Tod ging, mit Rilke, und dabei kam er zu Erkenntnissen, im Hinblick auf diesen Thread von großer Bedeutung sein könnten.

    Aber darauf möchte ich hier nicht eingehen, - angesichts des Unbehagens und der Aversion, die hier hinsichtlich der Einbeziehung von Kategorien der philosophischen Ästhetik in die Interpretation von musikalischen Kunstwerken bestehen.

    „Gruß“ (III)

    Bei den Schlussworten „Sag´, ich lass´ sie grüßen“ würde man nun erwarten, dass die melodische Linie, nach diesem zögerlichen Verharren zuvor, in die große, mit einem Aufstieg in hohe Lage einhergehende Emphase ausbricht. Das aber geschieht nicht. Im Gegenteil: Sie vollzieht einen verminderten Quintfall in untere Lage, geht von dort in einen eilig anmutenden, weil in Achtelschritten vollzogenen dreischrittigen Sekundanstieg über, um dann auf dem Wort „grüßen“ allerdings einen gewichtigen, weil in deklamatorischen Schritten im Wert von halben Noten erfolgenden Sekundanstieg in mittlerer Lage zu beschreiben. Eine emphatische Aufgipfelung der Melodik stellt das nicht dar, und der Grund dafür erweist sich auf der Stelle, denn die melodische Linie setzt ihre Entfaltung ohne Pause fort. Sie hat das, was da sich in diesen lyrischen Schlussworten hinsichtlich der Haltung des lyrischen Ichs ausdrückt, das ihnen innewohnende affektive Potential also, noch nicht hinreichend erfasst.

    Mit einem Crescendo versehen und in Subdominantseptharmonik gebettet, beginnt sie nun mit einem zweimaligen Sekundanstieg auf identischer tonaler Ebene in oberer Mittellage und setzt diesen Aufschwung-Dynamik beinhaltenden deklamatorischen Gestus bei den Worten „Rose schaust“ eine kleine Sekunde höher fort, wobei die Harmonik eine Rückung zur Dominante vollzieht. Damit hat sich in der Dehnung auf „schaust“ eine starke melodische Binnenspannung aufgebaut, und nach einer Viertelpause darf sie sich dann endlich entladen. Auf dem Wort „sag´“ liegt nun eine forte vorzutragende lange Dehnung in hoher Lage. Bei den Worten „ich laß sie“ ereignet sich nun nicht mehr der Anstieg in Sekundschritten wie zuvor, vielmehr einer, der auf ausdrucksstarke Weise eine Oktave tiefer ansetzt und über drei Terzschritte erfolgt, auf dass die melodische Linie dann über einen Quartsprung zu einer expressiven, sforzato auszuführenden langen Dehnung in hoher Lage übergehen kann, die auf der zweiten Silbe von „grüßen“ in eine weitere Dehnung eine Sekunde tiefer mündet.

    Erst in der Wiederholung des Schlussverses findet dieser zu der musikalischen Emphase, die die Haltung des lyrischen Ichs und seine Emotionen auf voll und ganz zum Ausdruck bringt. Dies deshalb, weil die melodische Linie nun mit einer langen Dehnung in hoher Lage einsetzt und nach einem Anstieg über das große Intervall einer Oktave in einem stark gedehnten, über zwei Takte sich erstreckenden Sekundfall auf dem Grundton in hoher Lage endet, wobei die Harmonik in gesteigertem Kadenz-Gestus eine Rückung von der der Subdominante A-Dur über die Dominante H-Dur zur Tonika E-Dur beschreibt. Und auch das Klavier trägt dazu seinen Teil bei, indem es von seinen Akkordfolgen ablässt und mit aufsteigend angelegten Sechzehnteln und Legato-Akkordrückungen begleitet.

    Gerade höre ich diese hinreißende und tief beeindruckende Interpretation des Schubert-Impromptus durch Sokolov, und mir kommt in Erinnerung, dass ich dieses Stück auch einmal spielen konnte, nicht so wie er natürlich, aber immerhin ganz ordentlich von Anfang bis Ende, und nun mit meinen alten Händen dazu nicht mehr in der Lage bin.

    Bittere Erfahrung, die mit dem Hören klassischer Musik, wie sie hier dokumentiert wird, einhergehen kann.


    „Gruß“ (II)

    Ein viertaktiges Zwischenspiel erklingt zwischen der ersten und der zweiten Strophe. Es ist in seinen Legato-Sprüngen von G7- und C-Dur-Akkorden von der Schlichtheit, die auch die Melodik der ersten Strophe auszeichnet. In der zweiten Strophe kann sie diese aber nicht beibehalten, denn in den Imaginationen des lyrischen Ichs stellt das das „Haus“ ein, an das seine „Grüße“ gehen sollen, und in dem, ohne dass dies freilich, bei all der zarten Heimlichkeit der lyrischen Heine-Sprache, verbalisiert würde, der geliebte Mensch „zu Hause“ ist. Da kommen für den diese Sprache rezipierenden Komponisten also viele subtextliche Emotionen ins Spiel, die er musikalisch aufzugreifen hat.

    Auf die Worte „Zieh´ hinaus bis an das Haus“ legt Grieg die Melodik des Anfangsverses, und dies wohl nicht, weil er die Anmutung von Strophenlied-Gestus generieren wollte, sondern wohl eher, um eine Anbindung an die erste Strophe hinsichtlich der Grundhaltung des lyrischen Ichs herzustellen. Bemerkenswert aber: Er bettet sie nun in Moll-Harmonik, ein -Moll mit Zwischenrückung nach H-Dur, und er lässt das Klavier sie nicht mehr mit den lebenslustig sprunghaften Figuren des Vorspiels begleiten, wie dort, vielmehr besteht der Klaviersatz nun, und dies bis fast zum Ende der Melodik, also einschließlich auch des ersten Teils der Wiederholung, aus rhythmisierten, aus zwei Achtel- und einem Viertelakkord bestehenden und Diskant und Bass übergreifenden Repetitionen. Es ist, so möchte man das auffassen und verstehen, nach der beschwingten Leichtigkeit der ersten Strophe nachdrückliche Ernsthaftigkeit in die Liedmusik getreten.

    Und so lässt den die Melodik bei den Worten „Wo die Veilchen sprießen“ vom Rückgriff auf die erste Strophe ab und beschreibt, in a-Moll harmonisiert, eine deklamatorische Tonrepetition in hoher Lage, die bei „Veilchen“ mit einem Terzsprung in einen Fall über eine verminderte Terz und eine Sekunde übergeht und bei dem Wort „sprießen“ einen gedehnten Sekundfall in mittlerer beschreibt, dem ein verminderter Sechzehntel-Sekundvorschlag vorausgeht. Das ist typisch für das tonmalerische Elemente einbeziehende liedkompositorische Grundkonzept Griegs. Der Vorschlag verkörpert klanglich das „Sprießen“.

    Bei der nach einer Viertelpause einsetzenden Melodik auf den Worten „Wenn du eine Rose schaust“ ereignet sich eine ausdrucksstarke harmonische Rückung vom vorangehenden a-Moll nach F-Dur. Das ist wohl so zu verstehen, dass Grieg diesem lyrisch unter dem Vorbehalt eines konditionalen „Wenn“ auftretenden Ereignis die musikalische Bedeutsamkeit zukommen lassen will, die es aufweist, wenn man bedenkt, dass die Metapher „Rose“ hier für den in der Ferne weilenden geliebten Menschen steht. Die melodische Linie beschreibt hier erst einen zweimaligen, aus einer Tonrepetition hervorgehenden Terzfall in mittlerer Lage, erhebt sich dann aber wieder über eine verminderte Terz, um bei den Worten „Rose schaust“ auf der damit erreichten tonalen Ebene eine dreischrittige rhythmisierte und am Ende gedehnte Tonrepetition zu beschreiben. Darin, in diesem Verharren daselbst, drückt sich das konditionale „Wenn“ aus.

    Gruß“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Eine Vorbemerkung ist zu machen. Das Lied steht in E-Dur als Grundtonart, und die mir vorliegende - und verlinkte - Aufnahme gibt es auch in dieser wieder. Meine Noten aber stehen in Es-Dur, und da ich - leider! - kein Franz Liszt bin, der eine ihm unbekannte Musik vom Blatt spielen und sie dabei auch noch in eine andere Tonart transponieren konnte, sind meine Angaben zur Harmonik mit Vorbehalt zu nehmen. Das gilt auch für die gleichen Fälle in den nachfolgenden Liedbesprechungen.

    Ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, E-Dur ist, wie gesagt, als Grundtonart vorgegeben, und es soll im „Allegretto con moto“ vorgetragen werden. Ein viertaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie der Singstimme voraus. Sechzehntel schwingen sich zwei Mal auf und münden in eine rhythmisierte dreischrittige Sprungfigur von fünfstimmigen Akkorden. Die Harmonik vollzieht dabei jeweils eine Rückung von der Tonika zur Dominante H-Dur. Der Geist von Aufbruch und ganz und gar ungetrübter seelischer Beschwingtheit klingt da auf. Es ist der, der auch die nachfolgende Liedmusik beflügelt, und dies, ohne dass auch nur ein Hauch von Blässe, eine Verzögerung oder gar ein Bruch in ihrer Entfaltung sie hinderte. Insofern reflektiert sie nicht nur den Geist der lyrischen Aussage, sie steigert sich sogar in diesen hinein. Und wie, also mit welchen Mitteln sie das tut, soll nachfolgend kurz aufgezeigt werden.

    Beschwingt, in hurtigen deklamatorischen Schritten, also „con moto“ entfaltet sich die Melodik. Begleitet wird sie in der ersten Strophe im Klavier darin fast durchgehend mit den Bass und Diskant übergreifenden Figuren des Vorspiels. Erst bei den Worten des letzten Verses weicht der Klaviersatz davon ab. Nun ist er akkordisch angelegt, darin die das zentrale lyrische Wort „Weite“ reflektierende Melodik unterstützend. Die innere Beschwingtheit schlägt sich in der Struktur der melodischen Linie auf den Worten des ersten Verses dergestalt nieder, dass sie nach dem leicht gedehnten Quintfall auf „leise“ und einer Tonrepetition in unterer Mittellage wieder in einen Aufschwung in Sekundschritten übergeht, der sie mittels eines lang gedehnten, die Taktgrenze überschreitenden und das Wort „Sang auf diese Weise akzentuierenden Sekundschritt-Dehnung über die tonale Ebene hinausführt, auf der sie einsetzte. Harmonisiert ist sie dabei in E-Dur, mit Zwischenrückung zur Dominante.

    Das Wort „liebliches“ hebt Grieg auf ausdrucksstarke Weise hervor, in dem er auf ihm eine lange Dehnung in einen Quartfall mit nachfolgendem Wiederanstieg der melodischen Linie über eine Terz übergehen lässt. Sie ist dabei in ein den affektiven Gehalt zum Ausdruck bringendes a- Moll-Harmonik gebettet. Auf „Geläute“ liegt eine einfache Tonrepetition mit Sekundfall. Eine eintaktige Pause folgt für die Melodik nach, weil der lyrische Text nun in den Gestus der Aufforderung übergeht. Dieser hat auch Folgen für die Struktur der melodischen Linie. Auf „klinge“ und den ersten beiden Silben von „Frühlingslied“ beschreibt diese, und dies im Forte und in C-Dur harmonisiert, zwei Mal den gleichen ausdrucksstarken, weil leicht gedehnten Fall über das große Intervall einer Oktave, um anschließend in einer Repetition auf eben der tonalen Ebene zu verharren, in die dieser Fall mündet. Aufforderungs-Gestus atmet auch die melodische Linie auf den Worten „kling´ hinaus in´s“, denn sie beschreibt hier, nun in G-Dur harmonisiert, einen Anstieg in Gestalt erst eines Sprungs über eine Terz, und danach einen über eine Quarte, der auf der Ebene ansetzt, die mit dem ersten Schritt erreicht wurde.

    Das Wort „Weite“ erhält angemessenen musikalischen Ausdruck dadurch, dass die melodische Linie aus einer langen, sich über zwei Takte erstreckenden Dehnung in mittlerer Lage in einen Sekundschritt aufwärts übergeht, wobei die Harmonik eine Rückung nach C-Dur vollzieht. Auch der Klaviersatz reflektiert, wie bereits angedeutet, die in diesen Worten sich ausdrückende innere Haltung des lyrischen Ichs, indem er von den Figuren des Vorspiels nun ablässt und mit einer Achtel-Akkordfolge begleitet.

    Offensichtlich war Goethe kein Bewunderer der Werke Schuberts, vor allem nicht der Liedevertonungen seiner Texte. Das ist nicht erstaunlich, denn Goethes musikalischer Geschmack wurde aus einer völlig anderen Richtung geprägt : enge Freundschaft mit dem "Singemeister" Carl Friedrich Zelter,

    Goethe war der Meinung, dass seine Gedichte autonome künstlerische Gebilde sind, die ihre poetische Aussage auf vollkommene Weise in sich tragen. Also kann Musik allenfalls ein klangliches Bett für sie bereitstellen, darf nur eine affirmative Stützung der Textur vornehmen, auf gar keinen Fall aber interpretatorisch in sie eingreifen.

    Das aber tat Schubert. Bei Zelter hingegen verblieb die Melodik in "syllabischer Dienstbarkeit" (M. Wagner). Das konnte Goethe tolerieren.

    „Gruß“, op. 48, Nr. 1

    Leise zieht durch mein Gemüt
    Liebliches Geläute;
    Klinge, kleines Frühlingslied,
    Kling´ hinaus in´s Weite.

    Zieh´ hinaus bis an das Haus,
    Wo die Veilchen sprießen;
    Wenn du eine Rose schaust,
    Sag´, ich lass´ sie grüßen.

    (Heinrich Heine)

    Heine-Verse, die in ihrer lyrisch-sprachlichen Schlichtheit nicht zu überbieten sind, aber gerade darin ihren großen Zauber entfalten. Kreuzreim, wobei Heine sich allerdings zweimal eine Paarung der Vokale „ü“ und „i“ leistet, vierfüßige Trochäen mit stumpfer Kadenz im Wechsel mit dreifüßigen in klingender. Liebliche, das Wort sogar nutzende lyrische Bilder, die nicht den geringsten Anflug eines Bruchs in ihrem affektiven Gehalt aufweisen. Sie evozieren ein Frühlingslied, das in die Weite bis an ein Haus erklingt, an dem Veilchen sprießen.

    Aber da wäre nicht ein Heine am Werk, wenn sich da nicht im sprachlichen Subtext etwas Bedeutsames täte. Das Frühlingslied erklingt nicht einfach, es zieht leise durch das Gemüt eines lyrischen Ichs, hat dort seinen Ort und bringt dessen seelische Gestimmtheit zum Ausdruck. Und es hat einen Auftrag, es soll einen geliebten Menschen grüßen. Auf höchst subtile, nämlich die symbolischen Konnotationen der Metaphorik nutzende Weise lässt Heine seine Verse das poetisch sagen. Nicht von Rosen, sondern von „einer Rose“ sprechen sie, und diese fungiert als wesenhaft symbolisches lyrisches Bild in all seinem affektiven Potential für den Menschen, der an dem Ort anwesend ist, der von vorherein in singulärer Weise als „das Haus“ benannt und hervorgehoben ist.

    Wann Grieg diese Verse vertont hat, vermochte ich nicht herauszufinden. Publiziert wurde das Lied als Teil des Opus 48, dessen sechs Lieder zwischen 1884 und 1889 entstanden, im Jahr 1889. In seiner Muttersprache trägt es den Titel „Hilsen“, aber die Komposition erfolgte ausweislich der Struktur der Melodik auf der Grundlage des Heine-Textes. Sie reflektiert in ihren deklamatorischen Schritten auf syllabisch exakte Weise die lyrische Sprache und deren wesenhafte Schlichtheit. Überdies lässt sie erkennen, dass Grieg die Hintergründigkeit von deren Metaphorik sehr wohl erfasst hat. Sinnfällig wird das darin, dass er bei den beiden letzten Versen zum kompositorischen Mittel der Wiederholung greift, und dies, um deren Aussage und das lyrische Bild, über das sie erfolgt, in all ihren affektiven Dimensionen liedmusikalisch ausloten zu können.


    Dieser Heine-Text wurde bekanntlich auch von Robert Schumann vertont. Eine liedanalytische Betrachtung davon findet sich hier:

    Robert Schumann und Heinrich Heine. Eine künstlerische Begegnung und ihre liedmusikalischen Folgen


    An sich hat Grieg es vermieden, Heine-Texte zu vertonen, zu denen bereits eine Komposition von Schumann vorlag. Ich habe mich gefragt, warum er in diesem Fall von diesem Prinzip abwich.

    War er der Meinung, dass seine Liedmusik den lyrischen Text tiefer auslotet, als die Schumanns, und deshalb durchaus neben dieser bestehen könne?

    Das könnte durchaus sein, angesichts des hohen Grades an dramatischer Expressivität, in der sie sich von jener auf markante Weise abhebt.

    Es freut mich sehr, diese positiven Urteile über meinen Beitrag hier vorzufinden.

    Zu der Behauptung von thdeck " du machst hier den üblichen Fehler von Leuten, die es nicht gewohnt sind, wissenschaftlich zu arbeiten" sei gesagt:

    Wir sind hier nicht in einem universitären Seminar. Ich könne meine zentralen Thesen selbstverständlich mit Verweisen auf die entsprechenden Quellen und Zitaten aus der musikwissenschaftlichen Literatur belegen, wie ich das im Studium gelernt habe.

    Aber wo kämen wir da hin! Es geht mir in meinen Beiträgen ja gerade darum, jeden wissenschaftlichen Jargon zu vermeiden und die zugehörige Terminologie außen vorzulassen, damit ich von allen verstanden werden kann.

    Ich werde mich auch zukünftig ohne eine vorangestellte Schopenhauer-Lektüre an der grandiosen Musik des Tristan erfreuen und dabei wissen, daß ich unwissend bin, ohne Schamgefühl.

    Dass sich ein Tamino-Mitglied durch das, was sich hier diskursiv-inhaltlich ereignet, zu einer solchen Äußerung veranlasst sieht, ist mir nicht recht erklärlich, vor allem aber betrübt es mich.

    „Hör' ich das Liedchen klingen“ (III)

    Bei den Worten „Dort löst sich auf in Tränen“ setzt die melodische Linie mit einer langen Dehnung auf „dort“ ein, die einen Halbton höher angesiedelt ist, als die lange auf der Silbe „-höh´“ und mit einer harmonischen Rückung nach C-Dur einhergeht. Dort beschreibt sie „poco a poco cresc.“ auf den Worten „löst sich auf in“ eine viermalige Tonrepetition, die in a-Moll harmonisiert ist und den affektiven Gehalt des Wortes „Tränen“ gleichsam schon im Voraus reflektiert. Bei „Tränen“ steigt sie mit einem Terzsprung in hohe Lage auf und vollzieht dort mit einem Crescendo und weiterhin in a-Moll gebettet, einen lang gedehnten, die Taktgrenze überschreitenden ausdrucksstarken verminderten und in eine kleine Dehnung in mittlerer Lage mündenden Sextfall.

    Auf dieser tonalen Ebene setzt die Melodik ohne Pause ihre Entfaltung auf den Worten „Mein übergroßes Weh“ fort, und dies mit einem Quartsprung, der eine hochgradig ausdrucksstarke, weil fortissimo und ritardando sich vollziehende Fallbewegung auf dem Wort „übergroßes“ einleitet, die dessen aus einer Potenzierung bestehenden semantischen Gehalt reflektiert. Auf dem Vokal „ü“ liegt eine lange, in g-Moll harmonisierte Dehnung in oberer Mittellage, die bei „-ber“ in einen Terzfall übergeht, und die damit eingeleitete Fallbewegung setzt sich bei „großes“ in Gestalt eines großen und kleinen Sekundschrittes fort, wobei sich in der g-Moll-Harmonik eine kurze Zwischenrückung nach A-Dur ereignet. Auf dem Wort „Weh“ liegt dann eine lange, einen Halbton tiefer, also auf der tonalen Ebene des Grundtons angesiedelte und fortissimo ausgeführte Schlussdehnung.

    Aber das Klavier kann noch keine Ruhe geben, so tiefgreifend und in seinen affektiven Dimensionen komplex ist der Schmerz des lyrischen Ichs, der in den Schlussversen Ausdruck sucht. Und so lässt es denn zwölf Takte lang weiter seine Sechzehntel-Achtel- Sprungfiguren erklingen, mit denen es die melodische Linie begleitete, im Bass nun aber mit Oktaven, die nun zwei Mal einen sich über zweit Takte erstreckenden Sekundfall in tiefer Lage vollziehen. Gegen Ende geht die Dynamik vom anfänglichen Fortissimo ins Piano, dann ins Pianissimo über, die Sprungfiguren, nun nur noch mit einer einsamen Oktave begleitet, geraten ins Stocken, weil zwei Mal eine ganztaktige Pause in sie einfällt, und dann erklingt im dreifachen Piano der sechsstimmige, über drei Takte sich erstreckende Schlussakkord.

    Dies nicht in dem g-Moll, das so lange in der Begleitung der melodischen Linie als Grundtonart fungierte, sondern in G-Dur. Das lyrische Ich hat sich in seine existenzielle Situation des Verlassen-Seins von der Geliebten eingefunden.

    Insofern würde ich doch Helmut Hofmann und Dr. Holger Kaletha um die als vorzuenthalten angekündigte Ausführungen bitte.


    Ich bin dieser Forderung von Thomas Pape nachgekommen und habe einen Beitrag mit dem Titel „Wagner, Schopenhauer und „Tristan“ verfasst.
    Er wurde in diesem Thread eingestellt:

    Was ist so faszinierend an Richard Wagner ?

    Er erschien mir, da es sich um einen reinen, von jeglicher Polemik freien Sachbeitrag handelt, in der atemlosen und in seiner Thematik permanent schweifenden Hektik des hiesigen Diskurses einfach deplatziert.

    Wagner, Schopenhauer und „Tristan“

    Faszinierend an Wagner ist – für mich - die Kombination seines kompositorischen Schaffens mit einem hohen Grad an Reflexivität. Sie manifestiert sich in der ungewöhnlich großen Fülle von Schriften zu Themen von Kunst und Musik, der ausführlichen Begründung seines Konzepts für eine Opernmusik der Zukunft, aber auch darin, dass er für seine Opernmusik Inspiration aus philosophischem Schrifttum bezog. Zum Beispiel aus der Philosophie Arthur Schopenhauers. Darauf soll hier eingegangen werden.

    Mit Schopenhauer kam Wagner 1854 durch einen Hinweis von Georg Herwegh in Berührung, der ihn auf „Die Welt als Wille und Vorstellung“ hinwies. Er selbst bezeichnete die Begegnung mit Schopenhauers Philosophie als das wichtigste Ereignis seines Lebens und deutete an, dass die Inspiration zur Komposition des „Tristan“ daraus hervorging. Es ist also nicht ganz abwegig, davon auszugehen, dass es Einflüsse von Schopenhauers Philosophie auf das kompositorische Grundkonzept des „Tristan“, seinen narrativen Gehalt und seine musikalische Aussage gibt.
    Und diese gibt es auch, nur sind sie, um es gleich vorweg klarzustellen, nicht fundamentaler Art, so dass die Musik des Tristan nicht zu verstehen wäre, wenn man nicht um sie wüsste. Es handelt sich vielmehr um eine Art Anverwandlung, gleichsam eine Form von Resonanz des grundlegenden Welt- und Menschenbildes Schopenhauers in der Musik Wagners, die, wenn man sie kennt, ein tiefer greifendes Verständnis des narrativen Geschehens, des Verhaltens und Handelns der Personen in der Oper und insbesondere des zentralen ideologischen Konzepts der Einheit von Liebe und Tod darin ermöglicht Das soll nachfolgend in der gebotenen Kürze aufgezeigt werden.

    Tiefreichend angesprochen fühlte sich Wagner insbesondere von Schopenhauers Willensmetaphysik. An Liszt schrieb er am 16. 12. 1854:
    „Sein (Schopenhauers) Hauptgedanke, die endliche Verneinung des Willens zum Leben, ist von furchtbarem Ernste, aber einzig erlösend. Mir kam er wahrlich nicht neu, und niemand kann ihn überhaupt denken, in dem er nicht bereits lebte. Aber zur Klarheit erweckt hat mir ihn erst dieser Philosoph.“
    Zwei Aussagen darin sind wichtig. Erstens: Wagner fand sich in Schopenhauers Philosophie gleichsam wieder, und er hat sie nicht einfach in ihrer Gänze übernommen, zum Beispiel nicht den Schopenhauerschen Pessimismus. Wagners Weltanschauung und seine Ästhetik sind keinesfalls mit der Schopenhauers voll identisch.
    Und zweitens ist es das Wort „erlösend“. Wagner empfindet Schopenhauers philosophisches Konzept der „Verneinung des Willens“ als „erlösend“. Es sei jetzt schon darauf hingewiesen, dass diesem Sachverhalt eine Schlüsselfunktion für die Frage zukommt, der hier nachgegangen werden soll.

    Was steckt hinter diesem Konzept „Verneinung des Willens“?
    Die Willensmetaphysik stellt das Fundament von Schopenhauers Philosophie dar. Alles Wirkliche, also die „Wirklichkeit“, die Schwerkraft, die Elektrizität, das Wachstum der Lebewesen, alle Triebe und das menschliche Wollen sind für Schopenhauer Ausflüsse eines grundlegenden Willens. Dieser „Wille“ ist im metaphysischen Sinn eine bewusstlose Kraft, ein Drang ohne Vernunft und Ziel, der sich in allem Geschehen in der Welt, also auch im menschlichen Wollen und Handeln äußert. Als Äußerung des Willens ist die Welt vorstellbar, der Wille selbst ist es nicht. Er stellt im Grunde Kants „Ding an sich“ dar.

    Da der „Wille“ vollkommen vernunftlos ist, ein irrationaler Drang also, ist er ziellos und kann keine Befriedigung in der Verwirklichung irgendeines Ziels finden. Für das menschliche Leben bedeutet das: Es stellt ein permanent unbefriedigtes Streben, ein ewiges Leiden dar, das sich nach Erlösung sehnt. Und da haben wir es wieder, dieses Wort. Es gibt für den Menschen wegen der universalen Macht und Kraft des „Willens“ letzten Ende keine andere Möglichkeit, „Erlösung“ zu finden, als die Verneinung des Willens zum Leben. Dann tritt die tiefe Stille ein, die Schopenhauer als das „Nichts“ und als „Nirwana“ bezeichnet hat.

    Einen kleinen Weg zu dieser „Erlösung“ zu kommen, gibt es für Schopenhauer aber doch. Nur für einen Augenblick allerdings. Der Weg dazu ist der „Kunstgenuss“ die Rezeption eines künstlerischen Werks, insbesondere eines musikalischen. Das ist deshalb möglich, weil es sich für Schopenhauer bei „Kunst“ um das nicht zweckgerichtete Werk eines „Genius“ handelt. Der Künstler ist nicht einfach „Subjekt“ wie jeder andere Mensch, er hat sich gleichsam zum Subjekt im allgemeinen erhoben, das sich aus den Bedingungen es menschlichen Seins gelöst hat, und Gegenstand seiner Betätigung ist das „Menschsein an sich“. In diesem Sinn ist es interesselos, hat sich von der Bindung an Ziele des Willens emanzipiert. Interesselosigkeit beinhaltet demgemäß „Befreiung vom Dienste des Willens (…) und Erhöhung des Bewußtseins zum reinen, willenlosen, zeitlosen, von allen Relationen unabhängigen Subjekt des Erkennens“ (Schopenhauer).

    In der Rezeption eines Kunstwerkes „sind wir gleichsam in eine andere Welt getreten, wo alles, was unseren Willen bewegt und dadurch uns so heftig erschüttert, nicht mehr ist. (…) Glück und Unglück sind verschwunden.“ (Schopenhauer). Das geschieht auf besonders intensive Weise in der Rezeption von Musik, die für ihn „Abbild des Willens selbst“ und damit die höchste Form von Kunst darstellt. Die „Erlösung“, die sich dabei ereignet, kann aber nur eine kurze, zeitlich begrenzte sein. Endgültige Erlösung kann der Mensch nur in der Verneinung des Willens zum Leben finden, und damit im Tod.

    Der Todesgedanke spielt in Schopenhauers Philosophie eine große Rolle. „Schwerlich“, so meint er, „würde, auch ohne den Tod, philosophiert werden“. Sie bietet auch Trost insofern, als über sie die Erkenntnis gewonnen werden kann, dass im Tod zwar das Individuum verschwindet, der Wille, der es hervorbrachte, die universale Urkraft also, erhalten bleibt. „Das Sterben“ ist für ihn „der Augenblick der Befreiung von der Einseitigkeit der Individualität, welche nicht den innersten Kern unsres Wesens ausmacht, vielmehr als eine Art Verirrung desselben zu denken ist: die wahre, ursprüngliche Freiheit tritt wieder ein“. (Schopenhauer)

    Und damit sind wir, wie ersichtlich geworden sein dürfte, beim „Tristan“, und es sollte klar geworden sein, was an Schopenhauers Philosophie in diesen eingeflossen ist. „Nacht der Liebe; sink´ hernieder“ „gib Vergessen, daß ich lebe“. Dieses „Vergessen“ und das eigentliche „Leben“ kann sich nur im Tod ereignen. Also Tristan ganz konsequent: „Laß mich sterben! Laß den Tag dem Tode weichen!.“ Und im zweiten Cantabile heißt es: „So starben / stürben wir, um ungetrennt, ewig einig, ohne End´/ ohn´ Erwachen, ohne Bangen, namenlos in Liebe / Lieb umfangen, ganz uns selbst ergeben, der Liebe nur zu leben.“

    Das ist die von Schopenhauer in seinen Ausführungen zum Tod genannte „Befreiung von der Einseitigkeit der Individualität, welche nicht den innersten Kern unseres Wesens ausmacht.“ Tristan und Isolde, die in ihrer Liebe den Zwängen dieser Individualität und die damit verbundenen, im Geschehen des Musikdramas dargestellten Leiden durchlaufen müssen, können Erlösung davon nur im Tod finden. Denn er allein bringt die „Erlösung“ von dem Leiden unter der Unmöglichkeit, aus den Zwängen und Fesseln der „Individualität“ heraus- und zu wahrer Gemeinsamkeit und Einheit in Liebe zu finden. Das beinhalten die Worte „namenlos in Liebe“. Namenlos ist das nicht mehr existierende Individuum, die aufgelöste Individuation menschlicher Existenz. Sie verkörpert das Sein der Freiheit vom „Willen“. Und dieses wiederum ermöglicht die Einheit zweier durch die Individuation unüberwindbar getrennter Wesen in Liebe.

    Das ist künstlerischer Niederschlag des Geistes von Schopenhauers Willensmetaphysik. Der Tristan-Akkord stellt in seiner ausdrucksstarken Dissonanz das musikalische Korrelat dieses leidvollen Sich-Sehnens nach Erlösung aus der willensbedingten Individuation dar.
    Aber nicht ganz ist diese Oper musikalische Verkörperung Schopenhauerschen Gedankenguts. Wagner geht darüber hinaus. Für Schopenhauer ist „Liebe“ nichts anderes als Manifestation des Willens in Gestalt menschlicher Triebhaftigkeit. Wahre Liebe ist allein das Mitleid, weil es aus einer Emanzipation von eben derselben hervorgeht. Wagner aber, der ohnehin die Philosophie Schopenhauers nicht Wort für Wort übernimmt, setzt sich über dieses Verständnis von Liebe hinweg und verklärt diese am Ende gar. Andererseits greift er dabei wieder einen Schopenhauerschen Gedanken auf, den vom Wesen der Kunst nämlich.

    Aus dem Blick realweltlicher Rationalität betrachtet sind die beiden Liebenden gescheitert. Sie enden als zwei Tote im Nichts. Ein Jenseits gibt es für Schopenhauer nicht. Das Eintreten in „die wahre ursprüngliche Freiheit“, von dem er in seinen Ausführungen zum Tod spricht ist eines, das sich in der Phase des Sterbens ereignet und in die Einkehr in die absolut bewusstlosen Urkräfte des Kosmos mündet. Wagner aber lässt das dramaturgische Geschehen in einer Auflösung der schmerzlichen Dissonanz des Tristan-Akkords und den in reine Dur-Harmonik gebetteten Worten Isoldes enden: „In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, in des Welt-Atems / wehendem All – ertrinken / versinken - / unbewußt - / höchste Lust.“ Das ist eine vor allem von der Orchestermusik getragene Apotheose des Todes, der nichts vom Wissen um das Nichts innewohnt, in das dieser, unter realweltlicher Rationalität betrachtet, übergeht. Und den Rezipienten, dem Publikum unten im Zuschauerraum bleibt tatsächlich das Bild gegenwärtig: „Ungetrennt, ewig einig, ohne End der Liebe nur leben.“


    Was ist geschehen?
    Das wird nur verständlich und erschließt sich in seiner inneren Logik, wenn man das, was sich hier ereignet, als einen Akt der Sinnstiftung von Leben und Liebe mit den Mitteln des musikalischen Kunstwerkes begreift.
    Wagner hat diesen Akt in der Komposition des „Tristan“ ganz im Sinne von Schopenhauers Verständnis des Wesens von Kunst vorgenommen. Diese ermöglicht, im Augenblick ihrer Rezeption, dass wir „in eine andere Welt treten, wo alles, was unseren Willen bewegt und dadurch uns so heftig erschüttert, nicht mehr ist.“
    Es ereignet sich in der Rezeption von Kunst für einen Augenblick die Emanzipation von der Macht des „Willens“ und eine Sinnstiftung von menschlicher Existenz.

    „Hör' ich das Liedchen klingen“ (II)

    Nach einer dreitaktigen Pause für die Singstimme, in der er sich in eben dieser entfaltet, setzt die melodische Linie auf den Worten des dritten Verses in genau dem gleichen deklamatorischen Gestus ein, in dem sie es am Liedanfang tat: Einer auftaktig einsetzenden, mit einem Crescendo versehenen und nun sogar sechsschrittigen Tonrepetition auf den Worten „So will mir die Brust“. Bei „zerspringen“ beschreibt sie wieder den Quartsprung mit nachfolgendem Fall über das gleiche Intervall. Der Bedeutsame Unterschied ist aber nicht, dass dieses Mal eine kleine Dehnung auf dem zweiten Schritt, liegt, das Wort „will“ akzentuierend, vielmehr, dass sich das nun auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ereignet und nicht in g-Moll, sondern in der Dur-Parallele B-Dur harmonisiert ist. Darin reflektiert die Melodik den lyrisch-sprachlichen Sachverhalt, dass das lyrische Ich seine schmerzerfüllte seelische Befindlichkeit bekennt.

    Bei „Vor wildem Schmerzendrang“, den Worten des vierten Verses, setzt die melodische Linie in repetitivem Gestus wieder auf der gleichen tonalen Ebene an und beschreibt, wie beim zweiten Vers der ersten Strophe, einen Oktavsprung. Dieses Mal vollzieht sie danach bei dem Wort „Schmerzensdrang“ eine etwas komplexere Fallbewegung: Nach einer gedehnten Tonrepetition geht sie in einen verminderter Terzfall über, dem ein Sekundschritt abwärts in Gestalt einer kleinen Dehnung nachfolgt. Nicht nur durch die Verminderung der Terz, sondern auch durch den Übergang von B-Dur nach g-Moll und das aus einem Crescendo hervorgehende Forte, in dem dieser melodische Fall vorgetragen werden soll, kommt geht die Liedmusik zum Ausdruck expressiv gesteigerter Schmerzlichkeit über.

    Nach einem dreitaktigen Zwischenspiel, in dem die Sechzehntel-Sprungfiguren aus dem Bass-Bereich in den Diskant aufsteigen, setzt die melodische Linie, nun auftaktig und im Pianissimo, auf den Worten der zweiten Strophe ein. Ihren repetitiven Gestus behält sie nun zunächst zwar bei, aber nicht immer ereignen sich nun Sprungbewegungen gegen Ende der Melodiezeile. Das Wort „Waldeshöh“ fordert, von seinem semantischen Gehalt her, noch einmal eine solche, und dass die Melodik auf den Worten des letzten Verses mit einem Terzsprung einsetzt, ist der Auftaktigkeit ihres Einsatzes geschuldet. Die in das Bekenntnis eines „übergroßen Wehs“ mündenden lyrischen Aussagen der zweiten Strophe fordern einen im Pianissimo angesiedelten schmerzlich-elegischen Grundton, und diesen weist Griegs Melodik der ersten drei Verse in beeindruckender Weise auf.

    Bei den Worten „Es treibt mich ein dunkles Sehnen“ verharrt die melodische Linie, pianissimo und in f-Moll harmonisiert, bis zur ersten Silbe von „Sehnen“ in einer deklamatorischen Repetition auf mittlerer tonaler Ebene. Erst auf der zweiten geht sie mit einem Decrescendo in einen Quintfall über, der sie in tiefe Lage führt. Diese Repetitionen sind allerdings nicht gleichgewichtig angelegt, vielmehr folgen deklamatorische Schritte im Wert von Achteln, Vierteln und sogar (beim Quintfall) punktierten Vierteln auf aufeinander. Die Worte „treibt“ und „dunkles“ erfahren auf diese Weise eine Akzentuierung. Nach einer zweitaktigen Pause setzt sie ihre Bewegung auf den Worten „Hinauf zur Waldeshöh'“ fort, auftaktig auf der Ebene der vorangehenden Repetitionen ansetzend, dann aber erneut zu vierschrittigen, anfänglich jeweils gedehnten deklamatorischen Repetitionen auf einer um eine Sekund abgesenkten tonalen Ebene übergehend, wobei die Harmonik eine Rückung nach e-Moll vollzieht.

    Bei der der zweiten Silbe von „Waldeshöh´“ beschreibt die melodische Linie einen Quartsprung und überlässt sich einer sehr langen, über vier Takte sich erstreckenden Dehnung in hoher Lage, die in a-Moll harmonisiert ist. Die Melodik reflektiert auf diese Weise nicht nur den semantischen Gehalt des lyrischen Bildes, sie baut in dieser expressiven Aufgipfelung auch ein Sich-Öffnen für den Gehalt der nachfolgenden lyrischen Aussage auf. Die wird in Gestalt der beiden Schlussverse entsprechend ihrer Syntax in eine in sich geschlossenen Melodiezeile umgesetzt, die sich von ihrer strukturellen Anlage als Höhepunkt der Liedmusik darstellt.

    Insofern würde ich doch Helmut Hofmann und Dr. Holger Kaletha um die als vorzuenthalten angekündigte Ausführungen bitte.

    Ich würde es versuchen, möchte das aber lieber Dr. Kaletha überlassen. Er ist diesbezüglich der weitaus Kompetentere von uns Beiden.

    Ich bitte um Verständnis. Ich habe gute Gründe, von einer mangelhaften Kompetenz meinerseits zu sprechen.


    Notiz am Morgen danach: Ihre oben zitierte Forderung hat mir, geschätzter Herr Pape, eine schlaflose Nacht beschert.

    Hör' ich das Liedchen klingen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die nachfolgende Betrachtung der Liedmusik erfolgt auf der Grundlage eines Notentextes, der nicht die Original-Tonart G-Moll aufweist, sondern in f-Moll steht. Die Angaben zur Tonart können also fehlerhaft sein.
    Die Liedmusik ist durchkomponiert. Ein Dreiachteltakt liegt ihr zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Allegro agitato“. Ein viertaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. Sein Satz ist in seiner Grundstruktur der, mit dem, dies allerdings in vielerlei Varianten, die melodische Linie durchweg bis zum Ende begleitet wird. Hier, im Vorspiel und in der ersten Strophe besteht er im oberen Bassbereich aus sprunghaft angelegten Quartolen von drei Sechzehntel und einem Achtel am Ende. Sie generieren, da „allegro agitato“ ausgeführt, die Anmutung von Unruhe, die von Drängen und Getrieben-Sein kommt durch den Bass in seiner unteren Annage zustande.

    Dort bewegen sich ausschließlich Oktaven, dies aber auf ausdrucksstarke Art und Weise. In den meisten Fällen geschieht das, wie hier erstmals im Vorspiel, in Gestalt einer relativ langen, weil legato aus einem Viertel und einem Sechzehntel gebildeten Dehnung, aus der ein Sechzehntel-Sekundsprung oder -fall erfolgt. Da diese Bewegung im Bass am Taktanfang einsetzt, die Figur im Diskant aber erst jeweils nach einer Sechzehntel-Pause, entsteht dieser klangliche Eindruck starker lebhafter Unruhe. Eine Milderung desselben erreicht Grieg dadurch, dass er in der zweiten Strophe im Bass nur noch eine taktlang gehaltene und zuweilen sogar taktübergreifende Oktave erklingen lässt. Im Nachspiel beschreiben die Oktaven dann anfänglich aber wieder eine höchst lebhafte Anstiegs- und Fallbewegung.

    Die Melodik ist, mit Ausnahme des letzten Verspaares, in von Pausen eingehegte und jeweils einen Vers beinhaltende Zeilen untergliedert. Von der syntaktischen Struktur des lyrischen Textes her ist das zwar nicht geboten, es verleiht der Aussage der einzelnen Verse aber eine gesteigerte Ausdruckskraft, und überdies lässt Grieg dabei die Verspaare in der ersten Strophe dadurch zu einer melodischen Einheit werden, dass die melodische Linie beim jeweils zweiten Vers auf der tonalen Ebene ansetzt, auf der sie beim ersten endet. Gleich bei den ersten beiden Versen ist das schon der Fall, und zugleich präsentiert sich hier die Melodik in dem deklamatorischen Gestus, in dem sie sich bis fast zum Ende des Liedes entfaltet. Eine Ausnahme bilden diesbezüglich wieder der beiden Schlussverse, denen in diesem Lied ganz offensichtlich eine herausragende Rolle und Funktion zukommt.

    Auf den Worten „Hör ich das Liedchen“ verharrt die melodische Linie, in g-Moll harmonisiert, in gleichförmiger Tonrepetition auf tiefer tonaler Ebene, bei „klingen“ geht sie zu einem Quartsprung über, um aber nach einer kleinen Dehnung auf der zweiten Silbe des Wortes wieder zur Ausgangsebene zurückzukehren. Nach einer Viertelpause beschreibt sie in einem Crescendo auf den Worten „Das einst die“ eine, nun nur dreischrittige, Tonrepetition auf der gleichen tonalen Ebene und geht danach bei „Liebste sang“ wieder in eine Sprungbewegung über. Nur ist es dieses Mal eine über ein deutlich größeres Intervall, eine Oktave nämlich, die dem Wort „Liebste“ eine Akzentuierung verleiht, zumal sich hier eine kurze harmonische Rückung zur Dominante d-Moll ereignet. Der nachfolgende Fall ist dann ein zweischrittiger über eine Terz und eine Sekunde und mündet bei „sang“ in eine kleine Dehnung.

    Der melodisch-deklamatorische Grundgestus ist also der eines anfänglich repetitiven Verharrens in tiefer Lage und einer sich anschließenden Sprungbewegung mit nachfolgendem Fall, die sich über ein anwachsendes Intervall erstreckt. Man kann das als melodischen Ausdruck der Grundhaltung des lyrischen Ichs auffassen und verstehen: Ein monologisch introvertiertes Verharren in der imaginativen Vergegenwärtigung vergangener Liebe, aus dem sich in Gestalt der Sprungbewegungen wie in Schüben ein Ausbruch in sich steigernde seelische Erregung ereignet. Aber nicht nur diese reflektieren diese affektive Dimension des lyrischen Textes, auch der Klaviersatz tut das in seiner bereits beschriebenen Gestalt.

    Mir geht es darum, dass das Werk etwas mit mir macht, in mir auslöst. Dass es mich etwas (mit)fühlen lässt, an etwas erinnert, mich nachdenken lässt, mich bereichert.


    Das ist der hier von vielen im Forum vertretene absolute Subjektivismus in der Rezeption von klassischer Musik. Diese Grundhaltung hat natürlich ihre unbezweifelbare Berechtigung.


    Es hat keinen Sinn, sich kritisch-argumentativ damit auseinanderzusetzen. Denn die Argumente kämen ja aus einer sich fundamental davon unterscheidenden Grundhaltung in Sachen Rezeption, bestehend in ihrem Kern darin, dass der Rezipient, wie auch der Interpret (der Dirigent, der Regisseur, der musizierende Künstler) sich der Anforderung und möglicherweise auch Verpflichtung gegenübergestellt sieht, die künstlerische Aussage des jeweiligen Werkes zu erfassen und gegebenenfalls zum Ausdruck zu bringen.


    Das sind zwei gleichsam weltanschauliche Grundhaltungen, die hier im Forum schon seit langem einander gegenüber stehen und zuweilen, wie hier eben gerade, hart und ergebnislos aufeinanderprallen.

    Sie können zusammen nicht kommen, das Wasser ist viel zu tief.

    Sorry, lohengrins!

    „Hör' ich das Liedchen klingen“, op. 33, Nr. 6

    Hör' ich das Liedchen klingen,
    Das einst die Liebste sang,
    So will mir die Brust zerspringen
    Vor wildem Schmerzendrang.

    Es treibt mich ein dunkles Sehnen
    Hinauf zur Waldeshöh',
    Dort löst sich auf in Tränen
    Mein übergroßes Weh.

    (Heinrich Heine)

    Diese Verse Heines beziehen ihre poetische Aussage aus der Bipolarität zwischen sprachlich-epischem und lyrisch-evokativem Gestus. Sie erzählen eine kleine, sich aus dem Erklingen eines Liedchens ergebende Geschichte, bauen dabei aber ein hohes evokatives lyrisch-sprachliches Potential auf. Es bezieht seine Quelle aus der imaginativen Vergegenwärtigung längst vergangener Liebe und verdichtet sich in dem Bild eines von „dunklem Sehnen“ angetriebenen Ausbruchs aus der schmerzlichen Situation dieser Wiederkehr von Vergangenheit in die „Waldeshöhe“. Dort findet das lyrische Ich dann aber nicht wirkliche Erlösung aus dieser existenziellen Situation. Es ist nur ein Sich-Auflösen des seelischen Wehs in Tränen, das ihm hier vergönnt ist.

    Durch die Vergegenwärtigung der ehemaligen „Liebsten“ in Gestalt eines ihr zugehörigen „Liedchens tritt eine starke emotionale Erregung und Unruhe in das lyrische Ich: Die Brust will zerspringen, und es fühlt sich hinaufgetrieben zur „Waldeshöh´“. An dieser seelischen Befindlichkeit setzt Grieg mit seiner Vertonung an. Von Anfang an, schon mit dem Vorspiel, klingt musikalische Unruhe auf, die das innere Getrieben-Sein des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt, durchgängig bis zum Ende der Melodik erhalten bleibt und ein für dieses im Umfang kleine Lied ungewöhnlich langes Nachspiel benötigt, um endlich abklingen zu können.

    In erster Linie nutzt Grieg den Klaviersatz, um diesen die Liedmusik so stark prägenden Eindruck von vorandrängender Unruhe zu generieren. Aber auch die Melodik vermag diese innere Befindlichkeit des lyrischen Ichs auf überzeugende Weise zum Ausdruck zu bringen, dies in ihrer Grundstruktur aus vielschrittiger deklamatorischer Tonrepetition auf ansteigender tonaler Ebene, aus der sich mehrfach ausdrucksstarke, weil über große Intervalle erfolgende und in lange Dehnungen mündende Sprungbewegung ereignen.


    Man kann schlicht ohne Schopenhauer als Hintergrund "Tristan und Isolde" nicht verstehen.

    Was Dr. Holger Kaletha hinsichtlich der Voraussetzungen zum Verständnis eines der Vergangenheit entstammenden, also historischen Kunstwerkes am Beispiel Thomas Manns ausführt, ist zweifellos zutreffend. Es gilt für die Rezeption aller solcher historischer Kunstwerke. Man kann sie in ihrer künstlerischen Aussage nicht wirklich verstehen, wenn man das kulturelle, das geistige, aber auch das lebensweltliche Umfeld nicht kennt, in dem sie entstanden sind. Ich bin sogar der Meinung, dass man die Biographie, speziell den geistigen Teil derselben, des jeweiligen Autors kennen sollte, um zu einem wirklich tiefgreifenden Verständnis des jeweiligen Werkes kommen zu können. Ich selbst habe, wenn ich mir diese persönliche Bemerkung erlauben darf, diese Erfahrung immer wieder aufs Neue bei meiner Beschäftigung mit dem liedkompositorischen Werk einzelner Komponisten gemacht. Im Fall von Wolfgang Rihm etwa war dies ganz besonders ergiebig.


    Als ich den Beitrag von Dr. Kaletha las, kam mir diese Bemerkung von Christian B. in den Sinn:

    Ich habe Tristan vor allem durch die Lektüre des Librettos etwas besser verstanden, sehr vieles finde ich persönlich befremdlich, vor allem dieses Ineinander von Liebe und Todessehnsucht in der Nacht im zweiten Akt. Darüber zu sprechen hätte vielleicht noch interessant werden können.

    Ein schöner Beleg für die sachliche Berechtigung von Dr. Kalethas Ausführungen. Karol Berger stellt zu dem von Christian B. angesprochenen "Ineinander von Liebe und Todessehnsucht" fest:

    "Eros treibt die Liebenden zur Transzendenz, lässt sie die Endlichkeit der Tagesexistenz verlassen und in die unendliche Nacht eintreten; aber die Nacht bietet ihnen Nichts. Solange man nicht fähig ist, diesen kompromisslosen Schopenhauer´schen Pessimismus ernst zu nehmen, solange man nicht ernstlich glaubt, dass Nichts besser ist als Etwas, bleiben Zweifel an der endgültigen Bedeutung von Wagners Werk an diesem Punkt bestehen: Der Tristan scheint nicht mehr als nur eine weitere romantische Verherrlichung des nihilistischen Todeswunsches zu sein - sicherlich hinreißend und erhaben, aber umso verderblicher in seiner Erhabenheit."


    Und wenn man jetzt anfängt, über diesen Sachverhalt nachzudenken, muss man hinzunehmen, dass am Ende des Werkes der "Tristanakkord" eine Auflösung erfährt. Das legt nahe, das als finale Verklärung, als Triumph der Liebenden zu verstehen.

    Und die Frage taucht auf: Präsentiert uns Wagner hier einen verlogenen Trost?

    Warum sollte er das primär wollen?

    Mein Eindruck ist doch eher, dass der Künstler in dem Bereich, in dem er tätig ist, etwas ausdrücken möchte, etwas "sagen" möchte, das er nur in dieser Form machen kann. Der primäre Wille des Künstlers scheint mir in dieser Aussage zu liegen. Hier ist auch die kreative Kraft zu finden. Selbstverständlich trägt ihn auch die Kraft, dass man die Aussage nicht an jeder Ecke finden kann revolutionieren. Dass am Ende so etwas herauskommen kann, ist natürlich nicht ausgeschlossen, und dass manche Künstler so denken, selbstverständlich auch nicht. Nur scheint es mir so zu sein, wenn der Wille zu revolutionieren, die künstlerische Aussage überdeckt, die Wahrscheinlichkeit ästhetischer Schwächen ansteigt.

    Das ist wohl richtig gesehen, ist ein sachlich berechtigter Einwand. Man kann das an dem revolutionären Prozess erkennen, der von der Zweiten Wiener Schule eingeleitet worden ist. Hinter diesem steht primär der Wille eine musikalische Sprache zu finden, die das auszusagen vermag, was der Komponist als seine spezifische Aussage intendierte. Die Revolution der musikalischen Sprache war also nicht der primäre Impuls, sondern ein sekundärer Begleiteffekt. Schönbergs Kompositionen werden gegen Ende des 19. Jahrhunderts immer kürzer. Zuvor hatte er in der spätromantischen Tradition stehend episch lange Instrumentalwerke publiziert. Bei den "Fünf Orchesterstücken op. 16" oder den "Sechs kleinen Klavierstücken op. 19" nehmen die Sätze nur noch wenige Minuten, später sogar nur noch eine Minute ein. Schönberg war auf der Suche nach einer neue Musiksprache, ohne dabei die Musik revolutionieren zu wollen. Dahinter stand allein sein subjektiver Ausdruckswille.


    So ist das auch beim Prozess der Emanzipation der Dissonanz. Bezeichnend ist, dass sich die Schönberg-Schule gegen den Begriff "Atonalität" wehrte mit dem Argument, dieser Begriff sei von der Musikkritik erfunden worden "in der Absicht, herabzusetzen". Man wehrte sich also gegen die Einbindung in ein musiktheoretisches Konzept, weil es dem Schönberg-Kreis primär nicht um eine neue Theorie ging, sondern um die Befreiung von traditionellen kompositorischen Konzepten, soweit diese der Absicht entgegenstanden, musikalische "Wahrheit" zu erschaffen.

    Ähnlich wie bei Kandinsky, der die Kunst vom "Überflüssigen" zugunsten des "Wesentlichen" und "Wahren" befreien wollte, suchte man nach einem musikalischen Ausdruckskern, der das "Wahre" verkörperte: Deshalb musste man die Emanzipation der Dissonanz in Kauf nehmen, nicht deshalb, weil man die Musik revolutionieren wollte.

    „Wo sind sie hin?“ (II)

    Ein viertaktiges Zwischenspiel erklingt. Pianissimo-Sechzehntel-Tonrepetitionen im Diskant und in oberer Basslage, darunter aber eine Figur aus Achteln und Sechzehnteln, die wie eine strukturelle Verdichtung der Bewegung anmutet, die die melodische Linie anschließend auf den Worten „Ich habe geliebt manch schönes Kind“ beschreibt. Es ist die gleiche wie auf dem ersten Vers der ersten Strophe, Und das gilt auch für den zweiten Vers der zweiten Strophe, ja sogar noch für die kleinen Melodiezeilen auf den Worten „Wo sind sie hin? Es pfeift der Wind. Auch auf ihnen liegt, den Geist des Strophenlieds verkörpernd, die gleiche Melodik wie in der ersten Strophe. Leichte Variationen weist allerdings der Klaviersatz auf, die bogenförmigen Sechzehntelfiguren im Bass greifen nun legato bis in den Diskant aus. Auf den Worten „es schäumen und wandern die Wellen“ beschreibt die melodische Linie wie beim letzten Vers der ersten Strophe die in verminderter G-Harmonik harmonisierte deklamatorisch rhythmisierte Tonrepetition auf der Ebene eines „G“ mit nachfolgendem Sekundfall, geht danach nun aber in einen in e-Moll harmonisierten Oktavfall über.

    Hier nun, am Ende des Liedes, setzt Grieg das kompositorische Mittel der Wiederholung in gesteigerter Weise ein. Er lässt nicht nur den letzten Vers in Gänze noch einmal deklamieren, dessen zweiter Teil („es wandern die Wellen) erfährt sogar eine weitere Wiederholung. Auch im melodischen Material greift er zur Wiederholung. Die Tonrepetition auf der G-Ebene erklingt noch einmal, auf „Wellen“ liegt nun die, nun allerdings „fz“ vorzutragende lange Dehnung auf der Ebene eines hohen „E“ mit Quartfall am Ende, wie das auf dem Wort „schäumen“ in der ersten Strophe der Fall ist, und auf den Worten „es wandern die“ liegt der gleiche Sekundfall wie dort (auf „die wandern und“).

    Das Wort „Wellen“ erfährt am Schluss eine ganz besondere Hervorhebung. Obwohl es sich von seiner komprimierten, durch das Doppel-L bedingten Zweisilbigkeit dafür eigentlich nicht eignet, lässt Grieg die lange, in H-Dur harmonisierte, auf der tonalen Ebene angesiedelte und die Taktgrenze überschreitende Dehnung dieses Mal nicht einfach in einen Fall zum Grundton „E“ übergehen, sondern macht aus diesem Quintfall ein hochgradig melismatisches Ereignis: Auf einen mit einem Vorschlag versehenen Sekundanstieg folgt ein zweimaliger Fall erst von Sechzehnteln über Quarte, dann einer von Achteln über eine Sekunde, wobei auf dem ersten eine Fermate liegt. Die Harmonik vollzieht dabei eine kurze Rückung nach a-Moll, bevor sie dann, bei dem Terzfall auf der Silbe „-len“ zur Einbettung des „E“ in tiefer Lage in die Tonika e-Moll“ übergehen kann.

    Das ist opernarienreife Melodik, in die sich die Melodik am Lied-Ende versteigt, Und entsprechend dramatisch ist das ungewöhnlich lange, ganze 21 Takte einnehmende Nachspiel angelegt. „Più aninmato e con fuoco“ lautet die Vortragsabweisung. Erst erklingen die Figuren des Zwischenspiels, dann senken sich über einem permanent repetierenden Auf und Ab von Sechzehnteln im Diskant Achteloktaven im Bass ab. Das Auf und Ab weitet sich dann in seinen Intervallen immer weiter aus, die Harmonik geht dabei vom vorangehenden e-Moll zu A-Dur über, die Sechzehntelfiguren beschreiben einen in hoher Lage ansetzenden chromatischen Fall, und am Ende klingt dieses so dramatisch-rasant sich entfaltende und in seiner Mitte bis ins Fortissimo sich steigernde Nachspiel „morendo“ in seinem Sechzehntel-Auf und Ab-Gestus in drei, jeweils am Taktanfang angeschlagenen dreistimmigen Pianissimo-Akkorden in E-Dur aus.

    Wie eine Aufgipfelung des in seinem Wesen dramatischen Agitato-Geistes der Liedmusik empfindet man dieses Nachspiel. Und man fragt sich, ob sie in eben diesem Geist der Heine-Lyrik angemessen ist, die ja doch wohl als eine wesenhaft monologisch-meditative aufgefasst und verstanden werden will.

    „Wo sind sie hin?“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein fünftaktiges Vorspiel geht dem auftaktigen Einsatz der melodischen Linie voraus. In e-Moll gebettet erklingt im Diskant unverändert und pianissimo ein Auf und Ab von Sechzehnteln im Intervall einer Terz, im Bass begleitet zunächst drei Mal von einer Legato-Anstiegsfigur aus Achteln und einem Viertel, danach von einer in die Tiefe sich absenkenden Folge von Vierteln und Achteln. Diese bringen ein starkes vorantreibendes und chromatische Einfärbung mit sich bringendes Drängen in die Sechzehntel-Terzenkette des Diskants, und man geht wohl nicht fehl, wenn man das als klangliche Imagination des lyrischen Bildes auffasst und versteht, das mit den Worten „Es pfeift der Wind (…) die Wellen, die wandern und schäumen“ in der ersten Strophe generiert wird.

    Grieg fasst die beiden ersten Verse in einer Melodiezeile zusammen. Die melodische Linie beschreibt auf den Worten „Es ragt ins Meer der Runenstein“ im Forte einen auf der tonalen Ebene eines „H“ in tiefer Lage ansetzenden und in Gestalt von drei- und zweischrittigen deklamatorischen Tonrepetitionen erfolgenden Anstieg erst über eine Terz, dann über eine Sekunde zur Ebene eines „Fis“ in unterer Mittellage, wobei ein Crescendo in sie tritt. Auf der dritten Silbe „-stein“ vollzieht sie dann einen ausdrucksstarken Quartsprung, wobei die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden e-Moll zur Durdominante „H“ vollzieht. Das ist der erste von noch weiteren nachfolgenden Fällen, in denen Grieg , wie erwähnt, die Dur-Harmonik zum Zweck der Akzentuierung einsetzt. Dazu nutzt er überwiegend die beiden harmonischen Dur-Dominanten zur Grundtonart, greift aber in der zweiten Strophe auch zu weiter abliegenden Tonarten, um die affektive Dimension der lyrischen Aussage in die Liedmusik einzubringen.

    Die Melodik auf den Worten „da sitz' ich mit meinen Träumen“ schließt ohne Pause unmittelbar an die des ersten Verses an, setzt erneut auf der tonalen Ebene des tiefen „H“ an und vollzieht danach wieder einen repetitiven Anstieg, nun aber im Piano und nicht über große Intervalle, die sie am Ende bis zur Ebene eines „H“ führen. Es sind dieses Mal nur Sekundschritte, in denen sich dieser Anstieg ereignet, zur tonalen Ebene eines „C“ und eines „D“, und dies in d-Moll-Harmonisierung. Es fehlt auch der Quartsprung am Ende. Auf dem Wort „Träumen“ liegt ein leicht gedehnter Sekundsprung von der Ebene eines „E“ zur der eines „F“ in tiefer Lage, und auch die Akzentuierung durch eine Rückung in Dur-Harmonik fehlt dieses Mal. Die Rückung verbleibt im klanglichen Raum des Tongeschlechts Moll, sie ereignet sich vom d-Moll zum dominantischen a-Moll. Mit diesem Verharren der Melodik in tiefer Lage, diesem sich nicht Erheben-Können von dort und aus dem klanglichen Raum der Moll-Harmonik, bringt die Melodik auf eindrückliche Weise die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs in seinem Sitzen auf dem „Runenstein“ und dem Befangen-Sein mit seinen „Träumen“ zum Ausdruck.

    Mit den Worten „Es pfeift der Wind, die Möwen schrei´n“ geht der lyrische Text wieder zum deskriptiven, lyrische Metaphorik evozierenden Gestus über. Da er in seiner sprachlichen Gestalt ein konstatierender ist, einer der zwei eigenständige Bilder setzt, macht Grieg daraus, diesen prosodischen Sachverhalt aufgreifend, zwei kleine, von Pausen eingehegte Melodiezeilen. Es sind sogar recht lange im Wert von drei Vierteln, aber bemerkenswert ist, dass er sie in ihrer musikalischen Aussage gleichwohl, anders als Heine, miteinander in Beziehung setzt. In beiden Fällen beschreibt die melodische Linie die gleiche Bewegung: Einen Sprung zu einer Tonrepetition in mittlerer Lage mit einem nachfolgenden Sekundfall. Nur dass die auf dem gleichen tiefen „D“ ansetzende Sprungbewegung im zweiten Fall nicht eine über verminderte Sexte, sondern über eine ebenfalls verminderte Quinte ist, so dass sich die Repetition auf einer Sekunde abgesenkten tonalen Ebene ereignet. Und das geht einher mit einer anderen Harmonisierung. Im ersten Fall vollzieht die Harmonik eine Rückung von B-Dur nach a-Moll, im zweiten eine von As-Dur nach c-Moll. Forte ist in beiden Fällen vorgegeben und der Klaviersatz weist hohe Expressivität auf: Mit steigend angelegten, am Ende in einen Oktavfall übergehenden Sechzehntelfiguren, die in der Pause von Akkordrepetitionen abgelöst werden.

    Grieg verleiht dieser, vom lyrischen Ich als wesenhaft unwirtlich und befremdlich erlebten Naturszenerie starken, darin über Heine hinausgehenden musikalischen Ausdruck. Und das gilt auch für die Worte „die Wellen, die wandern und schäumen“. Die melodische Linie senkt sich hier nach einer fünfmaligen, in verminderte G-Harmonik gebetteten und mit einem entsprechenden taktlang gehaltenen fünfstimmigen Akkord begleiteten deklamatorischen Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „G“ in unterer Lage in zwei Sekundschritten zu der eines tiefen „E“ ab, um von hier aus mit einem ausdrucksstarken Oktavsprung zu einer sehr langen, die Taktgrenze überschreitenden Dehnung in hoher Lage auf dem Wort „schäumen“ überzugehen, wobei der verminderte G-Akkord legato in einen fünfstimmigen a-Moll-Akkord übergeht. Dreistimmige, im Intervall sich um eine Sekunde erweiternde Staccato-Akkorde begleiten diese lange melodische Dehnung, die am Ende, bei der zweiten Silbe von „schäumen“ einen Quartfall beschreibt.

    Grieg hat diesem lyrischen Bild musikalisch starken Ausdruck verliehen, er begnügt sich aber nicht damit und greift zum Mittel der Textwiederholung, darin den Sachverhalt aufgreifend, dass Heine diesem die beiden Strophen beschließenden Vers eine für die poetische Aussage hochrelevante Schlüsselfunktion zugewiesen hat. Dieses Mal lässt er die melodische Linie auf den Worten „die wandern und“ einen um eine Sekunde höher ansetzenden und deshalb vierschrittigen Sekundfall beschreiben, der ohne Klavierbegleitung deklamiert wird, so dass sie, gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen, in ihrem lyrisch-sprachlichen Gehalt besondere Ausdruckskraft entfaltet.
    Erst auf dem langen Fall, den sie bei „schäumen“ nun wieder beschreibt, setzt das Klavier wieder mit seinen im Intervall sich erweiternden Staccato-Akkorden ein. Wieder eine lange Dehnung auf dem Wort „schäumen“ also, dieses Mal aber eine, die, auf der tonalen Ebene eine Terz tiefer angesiedelt und nun in H-Dur harmonisiert, nicht expressiv lange in hoher Lage verharrt, sondern sich „poco ritard.“ und mit einem Crescendo über das Intervall einer Quinte in Kadenz-Manier zum Grundton „E“ in tiefer Lage absenkt, wobei das anfängliche H-Dur konsequenterweise eine Rückung nach e-Moll vollzieht.

    Hab Dank, lieber moderato, für diese Deine Worte. Sie haben mir, um es metaphorisch auszudrücken, wieder etwas mehr Luft unter die Flügel gebracht.

    Du hast ja recht mit dem Verweis darauf, dass der Kreis der Personen, die den Liedgesang schätzen, klein ist. Das vergesse ich oft in meiner Begeisterung

    für diesen. Überdies hatte mich mal wieder, als mir die von Dir mit Unterstreichung zitierte Bemerkung herausrutschte, große Müdigkeit gepackt.

    Aber ich sollte mich grundsätzlich davor hüten, meine persönliche Befindlichkeit in meine Beiträge hier im Kunstliedforum einfließen zu lassen.

    Wird nicht mehr vorkommen!


    Ebenfalls in größter Wertschätzung grüße ich Dich herzlich

    Helmut Hofmann

    „Wo sind sie hin?“, op. 4, Nr. 6

    Es ragt ins Meer der Runenstein,
    da sitz' ich mit meinen Träumen.
    Es pfeift der Wind, die Möwen schrei´n,
    die Wellen, die wandern und schäumen.

    Ich habe geliebt manch schönes Kind
    und manchen guten Gesellen -
    Wo sind sie hin? Es pfeift der Wind,
    es schäumen und wandern die Wellen.

    (Heinrich Heine)

    Reflexion gegenwärtiger existenzieller Befindlichkeit in Gestalt der Vergegenwärtigung vergangenen Lebens, - das klassische Thema Heinescher Lyrik. Und wie für ihn typisch, wird sie eingeleitet mit einem vielsagenden lyrischen Bild, dem in die Weite des Meeres hineinragenden mythisch aufgeladenen, also ebenfalls Vergangenheit in sich tragenden „Runenstein“. Das ist der Ort, an den dieses sich in der Weite des Meeres zu verlieren drohende lyrische hingehört und sich wiederfinden kann. Wild, unruhig, befremdlich bis zur Bedrohlichkeit ist die Natur um es herum, kein Ort möglichen Zuhause-Seins. Das Ich ist allein mit sich in seinen Träumen.

    Sie kreisen um gelebte Liebe, die eines „schönen Kinds“ und eines „guten Gesellen“, und sie gehen dabei einher mit der Erfahrung von Vergänglichkeit. Auf eindrückliche Weise verdichtet diese sich in dem lyrischen Bild von den „schäumenden und wandernden Wellen“, das Heine deshalb zweimal zum Einsatz bringt. In seinem naturhaft-elementaren Geschehen bringt es die Unaufhaltbarkeit zeitlichen Wandels zum Ausdruck, und Heine verstärkt sprachlich die existenziell so bedeutsame Faktizität dieses Sachverhalts, indem er den letzten Vers von der syntaktischen Relativität in die einer konstatierenden Aussage überführt. Bis in die prosodisch-metrische Anlage der Verse schlägt sich - hier ist ein Heine am Werk - dieser Dualismus von träumerisch-vergegenwärtigter Vergangenheit und harter Faktizität von Gegenwart nieder: Im permanenten Hin und Her von jambischem und daktylischem Metrum.

    Griegs Musik greift all das, die prosodischen Gegebenheiten wie vor allem auch die lyrische Aussage auf voll und ganz auf und gibt es auf beeindruckende Weise wieder. Ein Sechsachteltakt liegt ihr zugrunde. „Allegro molto agitato“ lautet die Vortragsanweisung. Als Grundtobart ist ihr ein e-Moll, bzw. G-Dur vorgegeben, aber bemerkenswert daran ist, dass die Dur-Parallele nur zwei Mal kurz aufklingt, dies aber in Gestalt einer harmonischen Verminderung. Moll-Harmonik prägt, eben darin den elegisch-schmerzlichen Geist der Heine-Verse aufgreifend, den Geist der Liedmusik. Die sich immer wieder einmal in sie hindrängende Dur-Harmonik fungiert vorwiegend als dominantische, bzw. subdominantische Akzentuierung der melodischen Aussage. Die formale Anlage ist die eines variierten Strophenlieds.


    „Das alte Lied“ (III)

    Die Bewegung der melodischen Linie auf den Worten „Es klingt so süß, es klingt so trüb!“ mutet wie eine zusammengefallene Wiederkehr der Hauptfigur dieses Liedes an. Sie entfaltet sich, in fis-Moll gebettet und im Bass von einem Achtel-Sekundsturz in die Tiefe begleitet, nur noch in Gestalt von Sekundintervallen auf und ab in tiefer Lage, um es bei „klingt so trüb“ nun nur noch zu einem in eine Dehnung mündenden Sekundanstieg zu bringen, bei dem die Harmonik nach h-Moll rückt. Auf den nachfolgenden Worten „Sie mußten beide sterben“ entfaltet sich die melodische Linie anfänglich noch einmal in der gleichen Weise, nur auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und in h-Moll harmonisiert. Bei dem Wort sterben beschreibt sie nun aber einen ausdrucksstarken, in tiefer Lage ansetzenden und mit einem Crescendo versehenen Legato-Sextsprung, der auf der zweiten Silbe des Wortes in einen Sekundfall übergeht, wobei die Harmonik von D-Dur nach h-Moll rückt.

    „Mf. molto ritard.“ lautet die Vortragsanweisung für die Melodik auf den in ihrer Semantik so vielschichtigen und poetisch polyvalenten Worten des letzten Verses. Sie beschreibt, wie könnte es anders sein, eine sie in tiefe Lage führenden und dort bei dem Wort „lieb“ in einer Dehnung auf dem Grundton endenden Fallbewegung. Sie erfolgt aber nicht geradlinig, vielmehr in Gestalt eines zweimaligen und dadurch ausdrucksstärkeren Falls. Erst in Gestalt von zwei in e-Moll gebetteten Sekundschritten auf „sie hatten“, dann nach einem Sekund-Wiederanstieg über eine, den Fall-Gestus stärker verkörpernde Terz und eine Sekunde hinab zur Ebene des Grundtons.

    Diese letzte Phase des Falls ist in Dur-Harmonik gebettet, eine Kadenz-Rückung von der Dominante A-Dur zur Tonika D-Dur, die Unabänderlichkeit und überzeitliche Gültigkeit der lyrischen Aussage zum Ausdruck bringend.
    Das siebentaktige Nachspiel mutet in seinem Absinken der von Moll-in Dur-Harmonisierung, dynamisch ins Piano-Pianissimo übergehenden und in einen lang gehaltenen, fast schon unhörbaren D-Dur-Akkord mündenden akkordischen Bewegungen an wie ein resignatives Sich-Abfinden mit der unabwendbaren, weil dem Lauf der Welt entsprechenden Tragik des Geschehens.
    Heines Weltsicht eben.

    „Das alte Lied“ (II)

    Auf den Worten „er nahm eine junge Frau“ geht die melodische Linie wie beim zweiten Vers wieder in eine Fallbewegung über, nur erfolgt dieses Mal keine Umkehr aus dieser, vielmehr setzt sie ihren Weg abwärts bis zu einer Dehnung in tiefer Lage bei dem Wort „Frau“ fort. Das Klavier vollzieht diese Bewegung in Diskant und Bass in Gestalt von Vierteln, Achteln und bitonalen Akkorden mit. Harmonisiert ist diese nach einer Achtelpause einsetzende kleine Melodiezeile in einer Rückung von e-Moll über A-Dur zur Tonika D-Dur. Sie bringt in dieser Gestalt und Harmonisierung Griegs Rezeption des Schlussverses der ersten Strophe zum Ausdruck: Er gibt kein freudiges Ereignis wieder. Und das lässt auch das zweitaktige Zwischenspiel vernehmen, dem die Funktion eines Kommentars zukommt, denn in ihm erklingt mittels Akkorden und Vierteln im Diskant die melodische Fallbewegung noch einmal, in ihrer schmerzlich anmutenden-Moll-Phase allerdings akzentuiert durch eine Anstiegsbewegung von Achteln und Sechzehnteln im Bass.

    Voll identisch mit der Anfangsmelodiezeile, weil neben der Melodik auch die Harmonik und den Klaviersatz betreffend, ist auch die Liedmusik auf den die zweite Strophe einleitenden Worten „Es war ein schöner Page“. Auf diese Weise greift Grieg Heines Lakonie im narrativen Grund-Gestus seines Gedichts auf. Bei den Worten „blond war sein Haupt, leicht war sein Sinn“ lässt er aber vom Wiederholungsprinzip ab und greift zu einer neuen Melodik. Sie ist darauf angelegt, das Erscheinungs- und Charakterbild des „Pagen“ in ihrem Gegensatz zu dem des „alten Königs“ auf markante Weise hervorzuheben. Zwei Mal, durch eine Viertelpause unterbrochen, beschreibt die melodische Linie im Piano die gleiche Bewegung: Eine deklamatorische Repetition aus einem Viertel- und zwei Achtelschritten in tiefer Lage, der ein Quartsprung zu einem Viertel in mittlerer Lage nachfolgt, das mit einem Decrescendo versehen ist. Harmonisiert ist sie dabei in einer Rückung von der Tonika D-Dur zur Subdominante G-Dur, und begleitet wird sie mit jeweils zwei lang gehaltenen Akkorden im Diskant und einer in einen Oktavfall mündenden bogenförmigen Achtel-Sechzehntelfigur im Bass. Eine Anmutung von tänzerischer Beschwingtheit wohnt dieser kleinen Melodiezeile inne.

    Bei den Worten „er trug die seid'ne Schleppe“ beschreibt die melodische Linie einen in D-Dur mit Zwischenrückung zur Dominante harmonisierten Sekundfall, der bei „Schleppe“ in einen in tiefer Lage ansetzenden Terzanstieg übergeht. Der Melodik auf den Worten „der jungen Königin“ wohnt eine dezente Andeutung von Bedeutsamkeit inne, denn die melodische Linie verharrt „sostenuto“ in deklamatorisch silbengetreuem repetitivem Gestus auf einer tonalen Ebene in tiefer Lage, vollzieht aber auf der ersten Silbe von „Königin“ einen verminderten Sekundfall, aus dem sie zwar nach einer kurzen Dehnung zur tonalen Ebene wieder zurückkehrt, die Harmonik beschreibt aber eine vielsagende Rückung vom anfänglichen D-Dur nach Cis- und Fis-Dur. In diese Tonart ist die Dehnung auf der Silbe „-gin“ gebettet.

    Das Zwischenspiel vor der dritten Strophe stellt eine Wiederholung des ersten Strophen-Zwischenspiels dar. Auch die Melodik auf den Worten „Kennst du das alte Liedchen?“ ist eine, nämlich die auf dem ersten Vers, die nur eine zusätzliche textbedingte Repetition aufweist. Danach tritt erneut eine zweitaktige Pause in die Melodik. Darin erklingt im Bass unter dreistimmigen Akkorden im Diskant zweimal ein Sekundanstieg von Achteln und Sechzehnteln, bei dem die Harmonik eine Rückung von h-Moll nach fis-Moll vollzieht. Es deutet sich an, dass nun etwas Schlimmes nachfolgen wird. Und die Melodik auf dem nachfolgenden Vers verstärkt diese Ahnung.

    „Das alte Lied“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Wieder liegt mir, verbunden mit den erwähnten Folgen für die Korrektheit meiner Angaben zur Harmonik, ein harmonisch transponierter Notentext vor: Nicht in der Originaltonart D-Dur, sondern in C-Dur. „Allegretto semplice“, so lautet die Tempovorgabe und damit auch Vortragsanweisung für die Liedmusik, der ein Viervierteltakt zugrunde liegt. Mit einem nur kurzen, gerade mal zwei Takte einnehmenden Vorspiel setzt sie ein. Fast möchte man meinen, dass sie auch darin den Geist der Lakonie reflektiert, der Heines Lyrik innewohnt. Es besteht aus einer schlichten Folge eines fünfstimmigen D-Dur und h-Moll-Akkordes, die über ein Viertel im Bass in einen lang gehaltenen, weil fermatierten sechsstimmigen A-Dur-Akkord übergeht.

    Bei den Worten „Es war ein alter König“ setzt die melodische Linie auftaktig und forte mit einem in tiefer Lage ansetzenden Quartsprung ein, geht in mittlerer Lage in eine zweimalige Tonrepetition über, beschreibt danach einen zweischrittigen Fall erst über eine Sekunde, dann eine Terz, um sich schließlich über einen Sekundschritt daraus wieder zu erheben und bei dem Wort „König“ in einen gedehnten Sekundfall zu münden. Bei der Dehnung auf der ersten Silbe von „König“ vollzieht die Harmonik eine kurze Rückung von der Tonika D-Dur zur Subdominante G-Dur, um bei der zweiten wieder zur Tonika zurückzukehren. Das Klavier vollzieht all diese deklamatorischen Schritte erst mit Vierteln in Diskant und Bass mit, den gedehnten Fall auf „König“ begleitet es dann aber mit Akkorden.

    Dieser Mitvollzug der melodischen Bewegung durch das Klavier und die Tatsache, dass ihr eine zweitaktige Pause nachfolgt, in der unter Akkorden im Diskant im Bass ein rhythmisierter Achtel-Sechzehntel-Sekundanstieg erklingt, lassen erkennen, dass Grieg dieser im Intervall sich verengenden melodischen Figur eine Art das Lied eröffnende Schlüsselfunktion zukommen lassen will, dies in dem Sinn, dass sie den Geist der Liedmusik repräsentiert.
    Vielleicht interpretiert man hier ja etwas hinein, wenn man in diesem Abreißen der melodischen Bewegung im gedehnten Sekundfall am Ende die Lakonie von Heines lyrischem Text vernimmt, aber es spricht doch einiges dafür, dass es dafür eine Berechtigung gibt, vor allem die Tatsache, dass diese Figur immer wieder erklingt, nicht nur in Varianten, sondern auch im Original auf dem die zweite und die dritte Strophe einleitenden Vers. Und letzterer kommt mit ihrer Frage „Kennst du das alte Liedchen?“ wahrlich eine zentrale Rolle in der Genese der poetischen Aussage des Gedichts zu.

    Die drei Strophen dieses Liedes sind melodisch alle nach dem gleichen Muster angelegt. Auf den Worten des ersten und des dritten Verses erklingt diese melodische Schlüsselfigur entweder in identischer oder nur geringfügig modifizierter Gestalt, auf denen des zweiten und vierten Verses nimmt die melodische Linie zwar eine neue Gestalt an, aber selbst in dieser ist der deklamatorische Gestus dieser Figur in Einzelelementen vernehmlich. Die Melodik auf den Worten „sein Herz war schwer, sein Haupt war grau“ lässt das recht deutlich erkennen. Bei „sein Haupt war schwer“ beschreibt die melodische Linie die gleiche Bewegung wie auf den Worten „es war ein alter“, nur dieses Ma auf einer um eine Terz abgesenkten tonalen Ebene, nur mit einem Sekundsprung eingeleitet und nun, darin den affektiven Gehalt der lyrischen Aussage reflektierend, in h-Moll mit Zwischenrückung nach G-Dur harmonisiert. Erst bei den Worten „Haupt war grau“ geht sie zu einer neuen Bewegung über: Kein gedehnter Sekundfall nun, sondern ein in eine Dehnung mündender partiell repetitiver Sekundanstieg.

    Beim dritten Vers beschreibt die melodische Linie auf den Worten „der arme alte“ die gleiche Bewegung wie im ersten Vers, dann aber setzt sie zu dem Wort „König“ hin den Fall über eine Terz weiter fort und geht aus tiefer Lage auf der Silbe „Kö-“ zu einem Legato-Sextsprung über, dem auf der zweiten ein Sekundfall nachkommt. Anders angelegt sind auch Harmonik und Klaviersatz. In diesem erklingt im Bassbereich nun ein Sekundanstieg von Vierteln und Achteln, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von-Moll nach A-Dur. Die Liedmusik reflektiert auf diese Weise den affektiven Gehalt der den König charakterisierenden Worte „arm“ und „alt“. Schon damit setzt übrigens Heines Ironie ein, ohne dass dies allerdings hier schon bewusst werden könnte. Denn dieser „arme alte“ Mensch lässt die beide sich Liebenden töten.