Beiträge von Helmut Hofmann

    Damit es nicht vergessen geht: Liedgesang ist eine partnerschaftliche künstlerische Tätigkeit.

    Das ist schon richtig. Aber der maßgebliche und die Interpretation dieser Liedmusik prägende Beitrag kommt von Jan Bostridge.

    Er ist es, der dieses Herausarbeiten und zum Ausdruck-Bringen der diesem Lied innewohnenden affektiven Dimensionen in der Wiedergabe der Melodik geleistet hat.

    Man kennt dieses gesanglich-interpretatorische Konzept von ihm ja, und das bringt er auch mit anderen Begleitern in gleicher Weise zum Ausdruck.

    Es freut mich, dass ich dir, lieber greghauser, mit dem, was ich hier über die Lieder Schuberts geschrieben habe, von Nutzen sein konnte.

    Das ist, wie moderato es sieht, in der Tat eine schöne Auswahl von großen Schubertliedern für diesen Liederabend, bei dem ich gar gerne anwesend wäre.

    Wie für Fiesco ist auch für mich "Im Freien" eines meiner Lieblingslieder. Mit seiner schwebend sich entfaltenden Melodik vermag es zu beschwingen, zu beflügeln und kann die Seele von schweren Lasten befreien, wenn man sich ihm hörend hingibt.


    Das habe ich in der hier und in den nachfolgenden Beträgen vorliegenden Besprechung nicht erwähnt:, weil ich mich dabei, wie das bei all meinen liedanalytischen Betrachtungen der Fall ist, vom Prinzip der Objektivität habe leiten lassen

    Franz Schubert. Liedkomposition nach existenziell tiefgreifender Lebenskrise


    Und so hole ich es denn hier nach und lasse es noch einmal erklingen. Dieses Mal aber in einer anderen Interpretation als der oben zitierten von Dietrich Fischer-Dieskau.

    Bostridge wagt es, anders als dieser, die affektiven Dimensionen dieser Liedmusik viel stärker zum Ausdruck zu bringen.


    „Im Wald“ (III)

    Dass Schumann auf das ebenfalls mit dem Ausruf „O sieh“ eingeleitete Verspaar zwei und drei der dritten Strophe die gleiche Melodik gelegt hat wie in den beiden vorangehenden Strophen, ist von den lyrisch-textlichen Gegebenheiten her naheliegend und entspricht überdies dem diese Komposition prägenden Strophenlied-Geist. Aber mit den Worten „Und wie sie mich seh'n“ geht der lyrisch-deskriptive Gestus zu dem der subjektiven Betroffenheit über, und es ist wieder die für die poetische Aussage des Gedichts relevante Erfahrung in den beiden letzten Versen vor dem Bilanz-Refrain, die eine Abkehr vom Wiederholungsprinzip und eine diese reflektierende Melodik fordert.

    Die Betroffenheit des lyrischen Ichs bringt Schumann mittels einer dreimaligen Tonrepetition auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage zum Ausdruck. Diese geht anschließend auf den Worten „mich sehn“ in einen triolischen Sekundanstieg über. Die Harmonik beschreibt dabei eine Wandlung von der Tonika C-Dur zur Dominante, und das Klavier begleitet mit einer Folge von drei- und vierstimmigen Akkorden, in die ein Achtel-Sekundstieg eingelagert ist. Auf den Worten „entflieh'n / Sie fern in Berg und Tal“ beschreibt die melodische Linie wieder die Fallbewegung, die mit nur leichten Variationen in der Struktur in allen drei Strophen auf dem zweitletzten Vers unter Einbeziehung des letzten Wortes vom vorangehenden liegt. Wie auf den Worten „und suchen und locken sie…“ setzt sie mit einem Crescendo mit der gleichen Kombination aus Quart- und Sekundsprung zu einem „D“ in hoher Lage ein, um von dort in eine Fallbewegung überzugehen, die allerdings dieses Mal in ihren letzten Schritten anders angelegt ist. Sie beschreibt nun am Ende nicht wie bei „Geäst“ dort einen verminderten Quintsturz zu einem tiefen „Cis“ mit nachfolgendem Sekundanstieg, sondern einen Fall, der wie ein Ausklingen anmuten, weil er in gleichförmigen Sekundschritten erfolgt, bei „Berg“ eine kleine Dehnung aufweist und auf der Ebene eines „D“ in tiefer Lage endet.

    Das Klavier folgt dieser Abwärtsbewegung der melodischen Linie mit dreistimmigen Staccato-Akkorden im Diskant und synchronen Staccato-Vierteln im Bass und verleiht ihr damit starkes Gewicht. Schumann setzt dabei wieder subtile harmonische Akzente. Anfänglich ist sie in einer Wandlung von C-Dur nach F-Dur harmonisiert. Der Sekundfall bei den Worten „Berg und Tal“ ist aber in d-Moll gebettet, mit einer kurzen Zwischenbewegung nach A-Dur allerdings. Es ist wieder so wie bei den fünften Versen der vorangehenden Strophen: Das lyrische Ich macht die Wald-Naturerfahrung, hier das Flüchten der Rehe vor ihm, auf schmerzliche Art und Weise, wird ihm doch allemal dabei seine existenzielle Befindlichkeit bewusst: Das Allein-Sein und voll Pein Sein.

    Sie ist aus der Sicht Schumanns von solch elementarem Eigengewicht, dass er das Lied ohne jegliches Nachspiel in der gleichen Weise wie die die beiden vorangehenden Strophen enden lässt. Mit nur einer kleinen, die Anmutung von Ende evozierenden Variation allerdings. Auf dem ersten „voll Pein“ liegt nun ein Legato-Sekundanstieg, damit auf dem zweiten und letzten eine in eine lange, mit einer Fermate versehene und mit einem fünfstimmigen fermatierten a-Moll-Akkord Dehnung mündende Dehnung auf der Ebene eines „E“ in tiefer erklingen kann.

    Ich finde diesen Liedschluss aus der Fragestellung dieses Threads aufschlussreich und vielsagend, wie überhaupt Schumanns Griff zu diesem lyrischen Text. In der psychischen Verfassung, in der er sich zurzeit der Komposition dieses Opus 107 befand, den hochgradigen und immer mehr in die Introversion drängenden Depressionen, konnte er sich sehr wohl in diesem Ausruf „Ich bin so allein, voll Pein!“ wiedergefunden haben.

    Für mich gehört diese Ansammlung von Liedern eindeutig zu einem geplanten Liederzyklus und damit, dicht gefolgt von der WR, zu meinen herzallerliebsten.

    Mit Verlaub, Ulli, das ist ist keiner, und schon gar kein "geplanter" "Liederzyklus".

    Es handelt sich hierbei um eine nach Schuberts Tod vom Verleger arrangierte, von ihm mit diesem Titel versehene, aber im Grunde gar nicht zusammenpassende Folge von hinterlassenen Liedern.

    „Im Wald“ (II)

    Und nun der alle Erfahrungen des lyrischen Ichs gleichsam auf den Punkt bringende und deshalb mit einer Konjunktion eingeleitete Schlussvers „Und ich bin so allein, voll Pein!“. Um seiner, die poetische Aussage des Gedichts verkörpernden Bedeutung gerecht zu werden, greift Schumann hier zur kompositorischen Wiederholung, und dies sogar auf potenzierte Weise, indem er die Worte „voll Pein“ ein weiteres Mal deklamieren lässt.
    Dieser mit einem Ausrufezeichen versehene und in den durch ein Komma abgesetzten Worten „voll Pein“ in seiner Schmerzlichkeit gleichsam aufgipfelnde Schlussvers der drei Strophen war es wohl, worin er sich bei diesem Gedicht angesprochen fühlte. Und wahrscheinlich hat er eben deshalb auch deshalb an der Melodik, in die er ihn mitsamt seiner Wiederholung gesetzt hat, keine Variation vorgenommen. Er hat offenbar als lyrische Aussage absolut genommen, also nicht in einem funktionalen Zusammenhang mit den lyrischen Bildern der drei Strophen stehend und davon abhängig aufgefasst und ihn deshalb drei Mal in der gleichen Melodik und Harmonik, ja sogar mit dem gleichen Klaviersatz versehen erklingen lassen.

    Umso mehr Gewicht dürfte, wenn man diesen liedkompositorischen Sachverhalt so interpretiert, nun der Aussage der Liedmusik auf diesem letzten Vers zukommen. „Zurückhaltend“ lautet die Vortragsanweisung für die melodische Linie und den Klaviersatz auf den Worten „Und ich bin so allein, voll Pein!“. Schumann versteht also diese Worte, obgleich sie von Müller mit einem entsprechenden Zeichen versehen sind, nicht als in die Welt hinaus sich richtenden Ausruf, sondern als introvertierte Äußerung. Und demgemäß legt er auch die Liedmusik an.
    Die melodische Linie ist in ihrem Gestus stark repetitiv angelegt. Bei „und ich bin“ beschreibt sie aus tiefer Lage einen Anstieg erst über eine Sekunde, dann über eine Quarte, geht danach auf der Ebene eines „H“ in mittlerer Lage in eine dreimalige Repetition über und vollzieht danach bei „allein“ einen in eine kleine Dehnung mündenden Quintfall. Harmonisiert ist diese melodische Bewegung in einer Wandlung von d-Moll nach a-Moll, das Klavier begleitet sie mit einer geradezu spärlichen Folge von bitonalen Akkorden. Auf den Worten „voll Pein“ liegt dann ein schlichter, wiederum in eine kleine Dehnung übergehender verminderter Sekundfall, bei dem die Harmonik eine Wandlung von a-Moll nach E-Dur vollzieht.

    Das ist in der Tat eine Liedmusik, die man im deklamatorischen Gestus und der Moll-Harmonisierung als Ausdruck eines in sich Hineinsprechens des lyrischen Ichs empfindet. In der nachfolgenden Zweiviertelpause allerdings lässt Schumann eine kleine bitonale Akkordfolge im Fortepiano erklingen, als wolle es der melodischen Aussage den Nachdruck verleihen, zu dem das lyrische Ich sich nicht in der Lage fühlt. Denn er lässt es bei der Wiederholung dieser Worte seine introvertierte Grundhaltung beibehalten, versieht die melodische Linie nun aber mit einem Anflug von expressiver Schmerzlichkeit. Sie beschreibt nun, in E-Dur gebettet, bei „so allein“ einen auf eine Tonrepetition in tiefer Lage folgenden verminderten Sekundfall, von dort aus geht es, nun in a-Moll-Harmonisierung, bei „voll Pein“ in Gestalt eines weiteren Sekundfalls sogar hinab bis zu einem „C“ in tiefer Lage.

    Auf der neuerlichen Wiederholung von „voll Pein“ geht die melodische Linie aber in einen zweischrittigen Sekundanstieg über, bei dem das a-Moll nach E-Dur rückt. Das mutet so an, als habe das lyrische Ich, nun in einen konstatierenden Gestus übergehend, sich mit seiner existenziellen Grundbefindlichkeit abgefunden, sei damit einverstanden. Und für diese Deutung spricht, dass in der nachfolgenden, eineinhalb Takte einnehmenden Pause das Vorspiel in unveränderter Gestalt erklingt und die melodische Linie wie am Liedanfang auf den Worten des ersten Verses in ihm einsetzt.
    Das lyrische Ich kehrt also, das ist das der Vertonung dieses Müller-Gedichts zugrundeliegende kompositorische Konzept, vor der zweiten und der dritten Strophe zu der Haltung zurück, in der es am Liedanfang einsetzte. Dieses ist, darin die Anlage des Gedichts reflektierend, ein gleichsam additives, eine sich aneinanderreihende Folge von drei Erfahrungen eines lyrischen Ichs „im Wald“, die allesamt die gleiche existenzielle Selbsterkenntnis zur Folge haben.

    Die erste davon ist in ihrer liedmusikalischen Gestalt dargestellt, die beiden anderen gilt es nun noch in der jeweiligen liedmusikalischen Umsetzung zu betrachten. Auf die Worte „O sieh zwei Vöglein erschrocken / Entstieben dem warmen Nest“ legt Schumann die gleiche Melodik wie auf die entsprechenden Verse zwei und drei der ersten Strophe. Auch die Harmonisierung ist identisch, nur der zugehörige Klaviersatz weist Variationen auf. Bei den Worten „Doch singen und suchen und locken / Sie hoch sich im Geäst“ beschreibt die melodische Linie eine ähnliche, wellenartige Fallbewegung wie auf den Worten „so wiegen
    Sie sich in der Blumen Duft“ der ersten Strophe. Sie setzt, mit einem Crescendo versehen, mit einer Kombination aus Quart- und Sekundsprung ein und senkt sich, immer wieder in Gestalt von aufwärts gerichteten Sekundschritten kurz innehaltend, über das große Intervall einer None bis zu einem „Cis“ in tiefer Lage ab, um von dort bei „Geäst“ wieder mit einem Sekundschritt aufwärts in eine kleine Dehnung überzugehen. Harmonisiert ist die in einer Wandlung von C-Dur über A-Dur nach D-Dur, aber der Sekundsprung auf „locken“ ist in eine kurze Wandlung von a-Moll nach e-Moll gebettet. Die Lieblichkeit des Bildes soll darin Ausdruck finden, und das lässt - wieder einmal - die hochgradige Differenziertheit von Schumanns Harmonisierung der Melodik erkennen.

    Auffällig ist, dass er auf ein lyrisches Bild, das an sich eine Aufwärtsbewegung beinhaltet, die „Vöglein“ locken sich bei Müller „hoch im Geäst“, eine sich so weit in die Tiefe absenkende und mit einem Decrescendo versehene Fallbewegung legt. Die Erklärung dafür könnte sein, dass er hier vom lyrischen Ich aus denkt. In diesem löst dieses lyrische Bild ja kein Entzücken aus, es fühlt sich vielmehr ausgeschlossen von einem solchen liebevoll lockenden Umgang miteinander in seiner menschlichen Lebenswelt, und so mündet diese Begegnung mit der Vogelwelt prompt in den schmerzlichen Ausspruch des lyrischen Refrains.

    „Im Wald“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Ziemlich lebhaft“ soll die Liedmusik vorgetragen werden. Ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, und als Grundtonart ist a-Moll, bzw. dessen Dur-Parallele vorgegeben. Ein kurzes, nur einen Takt einnehmendes Vorspiel geht dem Einsatz der Melodik voraus. Es besteht im Diskant aus einer leicht steigend angelegten und piano auszuführenden Folge von dreistimmigen Akkorden, die im dritten Fall leicht rhythmisiert und in a-Moll mit einer Zwischenwandlung nach E-Dur harmonisiert ist. Seine Funktion erschöpft sich in der Vorausnahme der deklamatorischen Figur und deren Harmonisierung, in der die melodische Linie auf den Worten „ich zieh´ so allein“ einsetzt.

    Sie beschreibt auf diesen einen mit einem verminderten Sekundfall einsetzenden Sekundanstieg, der leicht rhythmisiert ist und in eine längere (punktierte halbe Note) Dehnung auf der Ebene eines „C“ in mittlerer Lage mündet. Das Piano ist dabei mit einem Crescendo versehen, und das a-Moll beschreibt eine kurze Zwischenbewegung nach E-Dur. Auf den Worten „in den Wald hinein“ liegt eine sich um eine Sekunda absenkende viermalige Tonrepetition, in die bei „Wald“ eine verminderte Terz eingelagert ist. Diese melodische Bewegung ist in einer Wandlung von E-Dur nach a-Moll harmonisiert, uns alles wird vom Klavier im Diskant erst von der dreistimmigen Akkordfolge des Vorspiels und danach von sforzato auszuführenden Terzfolgen begleitet, wobei auf „Wald“ noch einmal ein dreistimmiger Akkord erklingt, der zusammen mit dem verminderten melodischen Terzfall diesem Wort eine leichte Akzentuierung verleiht. Anders als die Dehnung auf der zweiten Silbe von „allein“ ist sie aber nicht von Gewicht.

    Die Tatsache, dass dieser erste Vers alle drei Strophen unverändert einleitet, nimmt Schumann zum Anlass, auch die zugehörige Liedmusik unverändert wiederkehren zu lassen. Diese kompositorische Entscheidung hat, über ihr Hervorgehen aus dem Strophenlied-Konzept hinaus, durchaus ihre Berechtigung, hat dieser erste Vers in seinem sprachlichen Feststellungscharakter doch die Funktion einer strophischen Einleitung. Eben deshalb lässt er die Melodik in einem deklamatorisch repetitiven Gestus enden und begnügt sich damit, das für die lyrische Aussage einzig relevante Wort „allein“ in Gestalt einer mit vorgelagerten Sekundsprung versehenen relativ langen Dehnung, der überdies ein auf sie hinführendes dynamisches Crescendo vorausgeht, auf markante Weise hervorzuheben. Das alles hat durchaus seine kompositorische Logik.

    Anders ist dies aber beim ebenfalls aus sprachlich identische Weise wiederkehrenden letzten Vers. Bei diesem greift Schumann zwar zum Prinzip der Wiederholung von lyrischem Text, setzt aber in allen drei Fällen die gleiche Liedmusik ein, obwohl man doch als liedkompositorischer Interpret die Aussage dieses letzten Verses als Folge von drei unterschiedlichen Erfahrungen des lyrischen Ichs lesen und dementsprechend bei der Melodik zum Mittel der Variation greifen könnte. Vor allem bei der vom lyrischen Ich in der dritten Strophe gemachten Erfahrung der Einsamkeit wäre das geradezu angesagt, und das Konzept des variierten Strophenliedes gäbe das ja auch sehr wohl her.
    Hat hier der kompositorische Aussagewille und die dafür erforderliche Gestaltungskraft nicht mehr ausgereicht? Eine solche Frage stellt sich der dem liedkompositorischen Spätwerk Schumanns zuwendenden Liedbetrachtung.

    Die Melodik ist durchaus darauf angelegt, den Gehalt der lyrischen Bilder zu reflektieren. Bei den Versen zwei und setzt die melodische Linie, dem appellativen „o sieh“ entsprechend, mit einem in d-Moll gebetteten Quartsprung ein, bei den Worten „zwei Falter fliegen“ und „sie tummeln sich“ beschreibt sie, nun ganz und gar im Tongeschlecht Dur (C-Dur mit Zwischenbewegung zur Dominante) zwei Mal eine Kombination aus zweischrittigem Legato-Anstieg und nachfolgendem Quartfall, und das Bild „durch die Luft“ erfährt melodischen Ausdruck durch einen auf eine Tonrepetition folgenden Quartsprung“. Das Klavier begleitet das mit schlichten Viertelakkordfolgen. Bei den Worten „so wiegen sie sich in der Blumen Duft“ geht die melodische Linie, auch darin die Metaphorik reflektierend, mit einem Crescendo in eine wiegend angelegte, weil in Gestalt eines Auf und Abs von Sekund- und Terzschritten erfolgende Abwärtsbewegung über, die bei „Blumen Duft“ mit einem Decrescendo in einen zweischrittigen und anfangs gedehnten Sekundfall in tiefer Lage mündet. Die Harmonik beschreibt hierbei eine ausdrucksstarke Wandlung von einem anfänglichen Dominantsept-C-Dur über ein F-Dur nach d-Moll.

    „Im Wald“, op.107, Nr.5

    Ich zieh' so allein in den Wald hinein!
    O sieh zwei Falter fliegen!
    Sie tummeln sich durch die Luft,
    Und wenn sie ruh'n, so wiegen
    Sie sich in der Blumen Duft,
    Und ich bin so allein, voll Pein!

    Ich zieh' so allein in den Wald hinein!
    O sieh zwei Vöglein erschrocken
    Entstieben dem warmen Nest!
    Doch singen und suchen und locken
    Sie hoch sich im Geäst,
    Und ich bin so allein, voll Pein!

    Ich zieh' so allein in den Wald hinein!
    O sieh zwei Rehe zieh'n
    An der grünen Halde zumal!
    Und wie sie mich seh'n, entflieh'n
    Sie fern in Berg und Tal,
    Und ich bin so allein, voll Pein!

    (Wolfgang Müller von Königswinter, 186-1873)

    Der Autor dieses Gedichts heißt eigentlich Peter Wilhelm Karl Müller. Er wurde 1816 in Königswinter geboren, starb 1873 in Neuenahr, und war eigentlich Arzt von Beruf, betätigte sich aber daneben als Verfasser von patriotischer Lyrik, Sagen und Volkliedern.
    Dass er über nur bescheidenes poetisches Potential verfügte, lassen diese Verse unschwer erkennen. Was er lyrisch sagen will, bringt auf unverblümt direkte Weise der als Refrain fungierende und sprachlich wie ein Ausruf angelegte letzte Vers der Strophen zum Ausdruck.
    In seinem prosaisch-konstatierenden Gestus hat dieser mit Lyrik eigentlich wenig zu tun, aber vermutlich war gerade er es, der Schumann dazu bewog, dieses Gedicht zur Vertonung heranzuziehen.

    Der sechste Vers bildet bei jeder Strophe zusammen mit dem ersten, der ebenfalls unverändert wiederkehrt, eine Art Rahmen, und innerhalb desselben macht das lyrische Ich in der Begegnung mit zwei Faltern, zwei Vöglein und zwei Rehen die im letzten Vers zum Ausdruck kommende Erfahrung. Zwei müssen es jeweils sein, weil das lyrische Ich sich anders nicht als „allein“ erleben kann, und die Erfahrung von „Pein“ resultiert aus dem lyrischen Geschehen, das den Gehalt der vier Verse innerhalb des Rahmens bildet. In den ersten beiden Strophen ist es die Begegnung mit einem gemeinsamen und zugleich freien Leben in der Geborgenheit von Natur. In der dritten ist es die Erfahrung des verlassen und gemieden Werdens durch das Ich fürchtende Lebewesen, - die Erfahrung von Einsamkeit also.

    Schumann hat aus dieser ganz und gar arglosen Lyrik eine Liedmusik in Gestalt eines variierten Strophenlieds gemacht, die sich in einer gefälligen Melodik entfaltet, und die, weil es da nicht viel musikalisch zu interpretieren und an affektiven Dimensionen auszuloten gibt, sich auf das Sich Einlassen auf die jeweiligen lyrischen Bilder beschränkt und sogar auf die Variation der Rahmenverse verzichtet, sich im Grunde in eben dieser schönen Gefälligkeit erschöpft.


    Die "Überreferenz" in Sachen Klavierkonzert lief gestern bei ARTE


    ABM und Celibidache

    Ich hatte die Festplatte eingeschaltet zum Mitschnitt, ahnend, dass sich da bei Arte etwas Außergewöhnliches ereignen wird. Und so war´s.

    Ich sehe das mit dem Begriff "Referenzaufnahme" so wie Holger:

    Referenzaufnahmen sind für mich solche, die Maßstäbe gesetzt haben, an denen andere Aufnahmen gemessen werden in verschiedener Hinsicht.

    Und in diesem Sinn liegt bei dieser Ravel-Interpretation durch Michelangeli eine solche vor. Eindeutig!

    Noch einmal: „Die Spinnerin“ , Johannes Brahms

    Dieses Lied ist Fischer-Dieskau in seinem Schumann-Buch nur die Bemerkung wert, dass es „erst später in das Heft aufgenommen“ wurde. Und ähnlich wie bei dem Lied „Der Gärtner“ mit dem Verweis auf Hugo Wolf, fügt er hier wie nebenbei die Feststellung hinzu: „Das gleiche Gedicht beflügelte Brahms zu Besserem“. Er spielt damit auf die Vertonung von Johannes Brahms an, die bei ihm den Titel „Mädchenlied“ (op.107, Nr.5) trägt.

    Dem Lied liegt ein Dreiachteltakt zugrunde, die Grundtonart ist h-Moll, und es soll „leise bewegt“ vorgetragen werden. Die erste und die zweite Strophe sind in der Liedmusik identisch, bei der dritten weist die melodische Linie nur eine geringfügige, der Klaviersatz aber eine deutlich ausgeprägte Variation auf, die vierte ist in einer eigenständigen Liedmusik gestaltet, so dass sich das Strophenschema „A-A-A´-B“ ergibt. Weil die lyrische Aussage in einer ländlich-dörflichen Sphäre angesiedelt ist, hat Brahms der Liedmusik die Anmutung von Volksliedhaftigkeit verliehen und die Form des variierten Strophenlieds gewählt. Zwar weist besonders der Klaviersatz eine hochgradig artifizielle Struktur auf, und auch die melodische Linie enthüllt sich dem näheren Blick als durchaus kunstvoll gestaltet. . Gleichwohl begegnet das Lied – und erweist sich darin als eine typische Brahms-Komposition - seinem Hörer als ein den Geist des Volkslieds atmendes, relativ schlichtes und unprätentiöses und gerade darin überaus liebenswertes musikalisches Gebilde.

    Zu Recht spricht Fischer-Dieskau bei dieser Brahms-Komposition von „etwas Besserem“.
    Hier ist das Lied in ausführlicher Weise vorgestellt und besprochen:

    Johannes Brahms. Seine Lieder, gehört und betrachtet im Bemühen, ihr Wesen zu erfassen


    „Die Spinnerin“ (III)

    In der eineinhalbtaktigen Pause vor dem Einsatz der melodischen Linie auf den Worten der vierten Strophe senkt sich die quartolische Sechzehntel-Spinnradfigur im Fortepiano aus hoher Diskantlage in mittlere ab, und erneut ereignet sich im Bass Ungewöhnliches. Nicht die übliche Figur aus Einzelton und Achtelakkord erklingt, vielmehr eine anfangs gedehnte und dann rhythmisierte Folge von dreistimmigen Akkorden in hoher Diskantlage, wohl darauf verweisend, dass nun eine Melodik von hohem affektivem Gehalt nachfolgen wird. Und dem ist ja auch so. Bei den Worten „Und die Tränen mir rinnen / Leis übers Gesicht“ beschreibt die melodische Linie, nun in einer Wandlung von e-Moll nach h-Moll harmonisiert und auf der Ebene eines „Cis“ in tiefer Lage ansetzend, einen ausdrucksstarken Aufstieg über das große Intervall einer Dezime, wobei dies bei „rinnen“ in Gestalt eines verminderten Quintsprungs geschieht. Mit dem Wort „leis“ setzt ein Fall in Sekundschritten ein, der bei „übers“ in einer kurzen Tonrepetition kurz innehält, um dann bei „Gesicht“ in einen Sekundanstieg überzugehen.

    Auch hier weicht der Klaviersatz, die Schmerzlichkeit der melodischen Aussage akzentuierend, von seiner üblichen Gestalt ab und weist im Diskant ein Auf und Ab von Sechzehnteln über ein großes Intervall auf, und im Bass eine steigend angelegte Folge von Achteln, sich ebenfalls über ein großes Intervall erstreckend. Dieses Auf und Ab im Diskant wird von der nun in h-Moll gebetteten melodischen Linie auf den Worten „Wofür soll ich spinnen“ gleichsam aufgegriffen, wohl die Ratlosigkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringend. Deshalb lautet die Vortragsanweisung hier auch „etwas zurückhaltend“. Bei den Worten „Ich weiß es ja nicht“ reflektiert die melodische Linie in ihrer Gestalt und ihrer Harmonisierung wieder den konstatierenden Gestus der lyrischen Aussage. Sie setzt, in Fis-Dur harmonisiert, mit einem verminderten Quartfall ein, geht in eine dreimalige deklamatorische Tonrepetition auf der Ebene eines „Ais“ in mittlerer Lage über, um bei dem Wort „nicht in einem Sekundschritt aufwärts zu enden. Dieser ist in G-Dur harmonisiert, einer Tonart, die einerseits weitab liegt vom vorangehenden Fis-Dur, andererseits aber die Subdominante der Grundtonart D-Dur darstellt.

    Da es sich überdies bei dem „H“, auf dem die leichte Dehnung auf „nicht“ liegt, um die Terz zur Tonart G-Dur handelt, deutet sich an, dass die Liedmusik noch nicht zu Ende ist. Und tatsächlich: Schumann lässt die Worte „Ich weiß es ja nicht“ noch einmal deklamieren. In ihnen drückt sich die tiefe existenzielle Ratlosigkeit dieses Dorfmädchens aus, das in seiner Ausgegrenztheit vom fröhlichen Kreis der Altersgenossinnen und ihrer Dorfbuben nicht mehr weiß, wozu es sein Leben weiterführen soll. Denn so ist diese lyrische Aussage doch wohl zu verstehen, besteht doch dieses Leben wesenhaft in der Tätigkeit, die es gerade ausübt.

    Ich denke, dass Schumann sich in seiner damaligen existenziellen Befindlichkeit in diesem „ich weiß es ja nicht“ wiederfand. Wohl deshalb lässt er es wiederholen, und um die tiefe Nachdrücklichkeit dieser Aussage zum Ausdruck zu bringen, legt er auf sie die gleiche Melodik. Aber in einem sehr wichtigen Sachverhalt weicht er von der Wiederholung ab. Nun ist die kleine Dehnung auf dem Schlusswort „nicht“ anders als zuvor nicht in G-Dur gebettet, sondern in h-Moll.

    Bekamen die Worte des letzten Verses durch die Dur-Harmonik, in denen die Melodik endete, noch den Anflug einer nach außen hin sich richtenden Feststellung, so fällt das lyrische Ich bei ihrer Wiederholung mit dem h-Moll wieder in seine introvertiert-schmerzliche Grundhaltung zurück. Und das viertaktige Nachspiel mutet mit seinen in tiefe Lage absinkenden, ganz und gar in Moll-Harmonik gebetteten und mit einem regelrechten Sturz in einer schlichten h-Moll-Oktave im Bass endenden Sechzehntel-Sekundsprung-Figuren an, als würde das lyrische Ich in dieser Haltung versinken.

    „Die Spinnerin“ (II)

    Die melodische Linie geht im Fall dieses vierten Verses mit einem Quartsprung zu einem triolischen Sekundfall auf den Worten „flink geht das“ über, um dann auf „Rädchen“ einen eine Quinte höher ansetzenden Fall über eben diese Quinte zu beschreiben. Das ist exakt der gleiche Fall, den die melodische Linie auf dem Wortteil („Herz“-) „-buben“ vollzieht, nur dass er nun nicht in fis-Moll gebettet ist, vielmehr in eine Wandlung von Cis-Dur nach Fis-Dur. Auch bei dem entsprechenden, mit der gleichen melodischen Bewegung versehenen Wort „Hochzeitsgeläut“ geht die Harmonik von Moll zum Tongeschlecht Dur über, nur ist es, weil die Melodik hier silbenbedingt nicht in einen Quintfall, sondern in einer langen Dehnung auf der Ebene eines „Cis“ in oberer Mittellage endet, nun ein Cis-Dur.
    Das Tongeschlecht Dur setzt Schumann nur an wenigen Stellen der Liedmusik ein, und ganz offensichtlich sind es jene, an denen sich im lyrischen Text eine für die Lebenswelt und die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs hochrelevante Aussage im Sinne eines Faktums ereignet.

    Gleich in der Melodik der ersten Melodiezeile der dritten Strophe, in der ja sich ja erstmals das lyrische Ich als solches äußert, ereignet sich der Übergang vom an sich dominanten Tongeschlecht Moll zum Dur erneut. Auf den Worten „Kein' Seel', die mir gut ist“ beschreibt die melodische Linie nach einem auftaktigen verminderten Sekundsprung eine dreimalige anfänglich gedehnte Tonrepetition auf der Ebene eines „Cis“ in oberer Mittellage, die in Fis-Dur gebettet ist und das Wort „Seel´“ auf diese Weise mit einer Akzentuierung versieht. Der sich anschließende, eine Quarte hoher einsetzende und mit einem Portato-Zeichen versehene Sekundfall auf den Worten „gut ist“ erfolgt hingegen wieder in Moll-Harmonisierung (h-Moll). Der seelische Schmerz des lyrischen Ichs verschafft sich Ausdruck. Und diese harmonische Wandlung wiederholt sich in der Melodik auf den zu dieser Melodiezeile gehörenden Worten des zweiten Verses: „Kommt mit mir zu plaudern“. Nur dass Schumann dieses Mal umgekehrt verfährt, in Gestalt einer Wandlung von Moll nach Dur nämlich.

    Dieser zweite Teil der ersten Melodiezeile ist in seiner musikalischen Anlage ohnehin ungewöhnlich. Der Grund dürfte darin zu finden sein, dass hier das lyrische Ich erstmals Einblick in seine Seele gibt, und Schumann diesen lyrischen Sachverhalt in die angemessene Liedmusik umsetzt. Auf „kommt mit mir“ beschreibt die melodische Linie, das von Heyse aus Gründen der Metrik ausgelassene Wort „um“ reflektierend, eine anfänglich gedehnte Tonrepetition wieder auf der tonalen Ebene des „Cis“, auf der sich die erste ereignete, und geht danach bei „dir“ in einen verminderten Sekundfall über. Diese mutet eben wegen eben dieses im Intervalls verminderten Intervalls schmerzlich an und ist deshalb in h-Moll gebettet. Dann aber ereignet sich in dieser Liedmusik Ungewöhnliches. Auf „plaudern“ liegt ein Sekundfall in hoher Lage, und im Klaviersatz reißt die Spinnfiguren-Reihe aus Sechzehntel-Sekundsprüngen ab, und es erklingt nach einer Sechzehntel Pause eine Folge von triolischen Fall-und Sprungfiguren aus einer Sechzehntel-Terz und zwei Einzel-Sechzehnteln. Und dies in Fis-Dur Harmonik.

    Dieser Ausbruch aus dem bislang vorherrschenden liedmusikalischen Satz soll wohl, so verstehe ich das, die existenzielle Bedeutsamkeit der überaus schmerzlichen Erfahrung zum Ausdruck bringen, die das lyrische Ich in den einfach-volksliedhaften Worten “Kein' Seel', die mir gut ist, kommt mit mir zu plaudern“ bekennt. Die Dur-Harmonik dient Schumann hier dazu, die Faktizität dieses Sachverhalts musikalisch zu unterstreichen. Er lässt zwar in der auf diese erste Melodiezeile folgenden Pause wieder die in h-Moll-gebettete und „fp“ vorzutragende Spinnlinien-Sechzehntel-Figur erklingen, aber der Melodik auf den Worten „Gar schwül mir zu Mut ist / Und die Hände zaudern“, dem zweiten Verspaar der dritten Strophe also, ereignet sich erneut zwei Mal die harmonische Wandlung von Fis-Dur nach h-Moll. Bei beiden Versen endet die eine eigene Zeile bildende melodische Linie in einem Sekundfall in hoher Lage. Aber während der erste auf den Worten „zu Mut ist“ in h-Moll gebettet ist, weil diesen ein hoher affektiver Gehalt innewohnt, ereignet sich bei „zaudern“ eine Wandlung von h-Moll nach Fis-Dur. Diese lyrische Aussage hat mehr den Charakter einer Feststellung.

    „Die Spinnerin“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Formal betrachtet handelt es sich bei dieser Komposition um ein variiertes Strophenlied: Die ersten beiden Strophen sind in ihrer Melodik, ihrer Harmonisierung und im Klaviersatz fast identisch, - mit Ausnahme des deklamatorisch wortbedingten melodischen Endes der zweiten Strophe. Die dritte und die vierte Strophe weisen eine je eigene Liedmusik auf, und es ist auch erklärlich, warum Schumann das Lied so angelegt hat. Der Griff zum Strophenlied-Konzept ist als eine Reverenz dem Volkslied-Geist der Lyrik gegenüber aufzufassen, die darauf folgende Durchkomposition ergibt sich aus der Notwendigkeit, die die Vielgestaltigkeit der affektiven Komponenten der Aussagen des lyrischen Ichs liedmusikalisch zu erfassen.

    Ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, „nicht zu schnell“ soll sie vorgetragen werden, und als Grundtonart ist h-Moll, bzw. dessen Dur-Parallele vorgegeben. Ein nur kurzes, gerade mal eineinhalb Takte einnehmendes Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. Um ein wirkliches Vorspiel mit eigener musikalischer Aussage handelt es sich ja auch gar nicht. Hier erklingt der Klaviersatz, der in Gestalt vieler struktureller Varianten im Diskant als Begleitung fungiert. Im Bass ist er als Ostinato angelegt, und die melodische Linie setzt in der zweiten Hälfte des zweiten Taktes ganz einfach auftaktig in ihm ein. Auch das kann man als Zugeständnis Schumanns an den Volkslied-Geist auffassen und verstehen.

    Im Diskant besteht der Klaviersatz durchweg als aus zwei quartolischen Sechzehntelfiguren, die zumeist zwei Sekundsprünge aufweisen und in unterschiedlichen tonalen Ebenen aufeinanderfolgen. Nur wenige Abweichungen gibt es davon, dergestalt, dass das letzte Sechzehntel einen Fall über ein großes Intervall vollzieht, gar alle Sechzehntel der Vierergruppe einen Fall beschreiben und einmal sogar nur ein triolisches Paar aus einer Terz und zwei Sechzehnteln erklingt.
    Aber man geht wohl nicht fehl, wenn man dieses Auf und Ab von Sechzehntelfiguren als klangliche Evokation des Fadenspinnens auffasst und versteht, wobei es sich hierbei ja auch um gedankliche Fäden handelt. Erstaunlich einfach ist der Klavierbass angelegt. Mit nur drei Ausnahmen besteht er aus nichts anderem als zwei Figuren aus Einzelachtel und Achtel-Akkord pro Takt. Das ist, von Schumann ganz gewiss kompositorisch so intendiert, die Imagination einer Volksmusik-Begleitung von Melodik.

    Mit einer ganzen Reihe von kompositorischen Elementen insinuiert Schumann also die klangliche Atmosphäre einer dörflichen Spinnstuben-Szenerie. Aber bei der Melodik und ihrer Harmonisierung ist für ihn, anders als für Brahms, der diese Heyse-Verse auch vertont hat, diesbezüglich eine Grenzlinie erreicht, die er nicht überschreiten mag. Als allenfalls angehaucht von Volksliedgeist empfindet man diese, aber in ihrer Struktur ist sie viel zu komplex, als dass man meinen könnte, hier singe ein einfaches Dorfmädchen.
    Ein Schubert, ein Brahms oder ein Hugo Wolf vermochten eine entsprechende Melodik zu kreieren, und Schumann wäre ganz gewiss ebenfalls dazu fähig gewesen. Aber es hätte seinem liedmusikalischen Grundkonzept widersprochen, das auf eine kompositorische Interpretation des lyrischen Textes ausgerichtet war. Für die Melodik hat das allemal zur Folge, dass ihre Struktur die sprachliche Gestalt, ihre Semantik und deren affektiven Gehalt zu reflektieren hat, also eine entsprechende Komplexität aufweisen muss.

    So ist das auch im Fall dieses Heyse-Gedichts. Und es ist im Grunde ja auch angebracht. Denn dessen lyrische Aussagen entspringen zwar einer bäuerlich-dörflichen Lebenswelt, und sie artikulieren sich sogar in einer dementsprechenden Sprachlichkeit, gleichwohl weisen sie in ihrem Gehalt einen hohen Grad an kognitiver Reflexivität und seelischer Komplexität auf. Da ist einem lyrischen Ich „schwül zu Mut“, die „Hände zaudern“ ihm, und Tränen rinnen ihm „leis“ übers Gesicht. Auf den Worten „Auf dem Dorf in den Spinnstuben“ beschreibt die melodische Linie, in h-Moll harmonisiert, eine Anstiegsbewegung aus tiefer Lage, anfänglich über Sekunden, dann über Terzen, und bei „Spinnstuben“ geht sie in einen Quartfall mit Tonrepetition auf der Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage über. Das geschieht in silbengetreuer Deklamation, und diese deklamatorische Bindung an die Silbe behält sie auch durchweg bei, darin ihre Orientierung am Volksliedton bekundend.

    Aber in diesem am Volksliedton sich ausrichtenden deklamatorischen Gestus, zu dem ja auch die Identität von Vers und Melodiezeile gehört, kann sich Schumann in seinem interpretativen kompositorischen Ansatz nicht voll entfalten, und das zeigt sich schon in der zweiten, nach einer Achtelpause einsetzenden Melodiezeile. Diese umgreift nämlich nun die Verse zwei und drei, obwohl eigentlich naheliegen würde, nach dem Wort „Mädchen“ erneut eine Achtelpause einzulegen, zumal hier im lyrischen Text ein Punkt sitzt. Und auch die syllabisch exakte Deklamation wird nicht durchgehalten. Auf dem Wort „lustig“ beschreibt die melodische Linie eine in e-Moll harmonisierte melismatische Figur aus Legato-Sechzehntel-Achtel-Anstieg und nachfolgendem Sekundfall, dies in der Absicht, den semantischen Gehalt dieses Wortes klanglich sinnfällig werden zu lassen.

    Danach allerdings wird die deklamatorische Silbenbindung zwar bis zum Ende der Melodiezeile wieder eingehalten, aber auch hier interpretiert die Melodik den semantischen und den affektiven Gehalt des lyrischen Texts. Auf „Mädchen“ vollzieht die melodische Line, nun in h-Moll harmonisiert, einen Quartsprung, bei „jedes“ gipfelt sie in Gestalt einer Tonrepetition in hoher Lage auf, um diesen Sachverhalt hervorzuheben, und auf dem Wort „Herzbuben“ liegt eine silbengetreue und ausdrucksstarke Kombination aus Terzsprung und Quintfall, die in ein harmonisch weitab liegendes fis-Moll gebettet ist.
    Moll-Harmonisierung herrscht ohnehin bis hierher vor, und das ist eigentlich verwunderlich, treten doch die ersten drei Verse sprachlich als Beschreibung eines situativen Sachverhalts auf. Anscheinend will aber Schumann diesen schon aus der Perspektive des lyrischen Ichs gesehen haben, und da wohnt diesem Sachverhalt die Anmutung von Schmerzlichkeit inne. Denn dieses lyrische Ich sieht sich ja ausgeschlossen von diesem lustigen Kreis der Mädchen mit ihren „Herzbuben“. Schumanns Harmonik stellt also auf hintergründige Weise die Gültigkeit des Wortes „alle“ infrage.

    Und wie tiefgehend seine Liedmusik interpretiert, das zeigt sich beim letzten Vers der ersten - und auch der zweiten - Strophe. An sich beinhalten die Worte „wie tief geht das Rädchen“ erneut nichts anderes als die Feststellung eines Sachverhalts (so auch „ein Hochzeitsgeläut“). Aber Schumann setzt die Melodik darauf mittels einer Achtelpause von der vorangehenden Melodiezeile ab und weist ihr damit einen eigenen Zeilencharakter zu. Dies wohl deshalb, weil er diesen lyrischen Sachverhalt für so bedeutsam hält, dass er ihm das ihm gebührende liedmusikalische Gewicht verleihen will. Das lyrische Bild vom „flink gehenden Rädchen“ verweist (wie auch das vom „Hochzeitsgeläut“) auf die dynamisch-vitale Ungebrochenheit der Lebens- und Arbeitswelt dieser „Mädchen“. Und das ist von Bedeutung, weil es den Bruch in der Lebenswelt des lyrischen Ichs in seiner existenziellen Relevanz allererst sichtbar werden lässt.

    „Die Spinnerin“, op.107, Nr.4

    Auf dem Dorf in den Spinnstuben
    Sind lustig die Mädchen.
    Hat jedes seinen Herzbuben,
    Wie flink geht das Rädchen!

    Spinnt jedes am Brautschatz,
    Daß der Liebste sich freut.
    Nicht lange, so gibt es
    Ein Hochzeitsgeläut!

    Kein' Seel', die mir gut ist,
    Kommt mit mir zu plaudern;
    Gar schwül mir zu Mut ist,
    Und die Hände zaudern.

    Und die Tränen mir rinnen
    Leis übers Gesicht.
    Wofür soll ich spinnen,
    Ich weiß es ja nicht!

    (Paul Heyse)

    Das einfache Mädchen aus dem Volk in der Spinnstube oder am Herd. Das ist ein vielsagendes und eindrückliches Bild, dem sich große Dichter lyrisch gewidmet haben: Goethe in „Gretchen am Spinnrade“ etwa, Mörike in „Das verlassene Mägdlein“, Clemens Brentano in „Der Spinnerin Lied“, und eben auch – nicht ganz auf deren poetischem Niveau - Paul Heyse.
    Obgleich: Er insinuiert lyrisch-sprachlich den Volksliedton, und in der ganz und gar unverblümten und unsentimentalen Direktheit des Monologs und dem sich auf die wesentlichen Konturen konzentrierenden lyrischen Aufriss der Situation, in der dieser sich ereignet, ist ihm das zweifellos gut gelungen.

    Das Mädchen, das sich in der Spinnstube unter all den anderen, die unter fröhlichem Singen am Material für das Hochzeitskleid arbeiten, seiner Einsamkeit bewusst wird, sich im Wissen darum, dass es keinen Menschen gibt, der nach ihr fragt, auf die existenziell hoch relevante Frage „Wozu tu ich das alles?“ zurückgeworfen sieht, auf die es keine Antwort gibt, - das ist ein in der geradezu sachlich-konstatierender Sprachlichkeit, in der Heyse es poetisch gestaltet hat, tief anrührendes lyrisches Bild.

    Schumann hat sich wohl, so darf man vermuten, in der Lebenslage und seelischen Befindlichkeit zur Zeit der kompositorischen Arbeit an diesem Opus 107 von diesen Versen Heyses menschlich unmittelbar angesprochen gefühlt. Vielleicht erklärt sich auch daraus, warum er die erste Strophe so stark abgeändert hat. Denn die lautet bei Heyse:


    Auf die Nacht in den Spinnstub´n
    Da singen die Mädchen,
    Da lachen die Dorfbub´n,
    Wie flink gehn die Rädchen!


    Das Ersetzen des dritten Verses durch die Worte „Hat jedes seinen Herzbuben“ lässt die in der dritten und vierten Strophe zum Ausdruck kommende Einsamkeit des lyrischen umso schmerzlicher hervortreten.


    Mal kurz von Schumann zu Schubert


    Ich möchte gerne, bevor ich mit der nächsten Vorstellung eines Schuman-Liedes diesen Thread im Sinne seines Themas fortsetze, kurz auf diese von mir vorangehend getätigte Äußerung eingehen:

    Ich setze mal an einer Erfahrung an, die viele Liebhaber des Kunstliedes kennen: Man liest einen lyrischen Text, und automatisch stellt sich eine bestimmte Liedmusik ein.


    Die die hinter dieser Erfahrung sich auftuende Frage nach dem Warum, nach den die verursachenden Gründen, beschäftigt mich schon seit langer Zeit, ohne dass ich eine befriedigende Antwort darauf gefunden hätte. Aber sie ist eine durchaus bedeutsame, schließlich mache ich diese Erfahrung ja wohl nicht allein, einst bekannte auch ein Golo Mann, dass Goethes „Erlkönig“ die einzige Ballade sei, die er „nicht hersagen könne“. „Und warum?“, fragt er sich , und fährt fort: Wegen der Schubertschen Komposition. Melodie und Wort haben sich derart vereinigt, daß sie nie mehr voneinander zu scheiden sind; was für die Melodie spricht und das Wort auch.“

    So viel ist mir immerhin klar geworden: Die Antwort muss im Wesen der Melodie zu finden sein. Aber diesem wohnt ein Geheimnisvolles inne, etwas das sich rational nicht voll und ganz fassen lässt. Dass die Frage wesenhaft mit der Melodik einer Liedkomposition zu tun haben muss, ergibt sich aus der Tatsache, dass diese sich diese Erfahrung - bei mir jedenfalls – in den meisten Fällen bei Schubert-Vertonungen ereignet. Und Schubert war, anders als Hugo Wolf, als Komponist primär ein Melodiker.
    Mit gutem Grund hat deshalb Hans Gal seine 1970 bei S. Fischer erschienene Schubert-Biographie mit dem Titel „Franz Schubert oder die Melodie“ versehen. Und darin findet sich die bemerkenswerte Feststellung:
    „Das Außerordentliche bei Schubert ist seine schlichte Selbstverständlichkeit, die immer den Eindruck erweckt, als sei eine solche Melodie seit Erschaffung der Welt vorhanden gewesen.“

    Schubert hatte wohl ein hochgradig ausgeprägtes Sensorium für die der lyrischen Sprache innewohnende Melodik. Ich nehme mal als Beispiel Goethes „Gretchen am Spinnrade“. Das ist auch so ein Fall, wo ich nicht den Text lesen kann, ohne dass sich dabei automatisch Schuberts Melodie einstellt.
    Warum?

    Die Worte „Meine Ruh´ ist hin, mein Herz ist schwer“ stellen, rein grammatisch-sprachlich betrachtet, eine einfache Feststellung dar. Aber ihnen wohnt ein mit einem Anapäst eingeleiteter in Jamben sich fortsetzender rhythmischer Fluss inne. Klanglich-lautlich ereignet sich am Anfang ein Sturz von einem hellen Vokal von dem die Aussage syntaktisch konstituierenden, sich wiederholenden Hilfsverb „ist“ zu dem dunklen, in der Artikulation eine Dehnung aufweisenden „u“ von „Ruh´“, im zweiten Teil dominiert aber der helle Vokal „e“. In seiner Semantik handelt es sich um ein aus tiefer Seele kommendes, also ein hohes affektives Potential aufweisendes Geständnis.

    Betrachtet man nun Schuberts Melodik, die er auf diese Worte legt, so stellt man fest, dass sie all diese Sachverhalte aufgreift und berücksichtigt. Er hat also, was Thrasybulos Georgiades in ausführlicher Weise nachgewiesen hat, lyrische Sprache unmittelbar in musikalische umgesetzt. Das d-Moll, in die sie gebettet ist, reflektiert das affektive Potential. Den Anapäst-Auftakt erfasst er mit einem deklamatorischen Achtel-Sekundanstieg. Auf das semantisch zentrale Wort „Ruh“ legt er eine den dunklen Vokal zum Klingen bringende lange (Legato von punktiertem Viertel und Achtel) Dehnung. Auf dem Hilfsverb „ist“ liegt ein Sekundfall, beim Wort „hin“ geht die melodische Linie in eine lang gedehnte und dieses damit mit einer Akzentuierung versehende gedehnte Tonrepetition über, die sich auf der gleichen tonalen Ebene ereignet wie auch die auf „Ruh´“, und das „ist“ erklingt ebenfalls auf dieser.

    Diese tonale Ebene, es ist die der Quinte zum Grundton, nimmt, wie die melodische Figur auf „mein Herz ist schwer“ zeigt, eine zentrale Rolle ein, stellt gleichsam den Ruhepunkt der meloodischen Bewegung dar, und sie ist der Faktor, in der sich ihre innere Geschlossenheit konstituiert. Denn bei diesen Worten setzt die melodische Linie nach einer Achtelpause von ihr aus mit einem Quartsprung zu einer langen Dehnung auf dem Wort „Herz“ an, die dieses wiederum mit einer Hervorhebung versieht, und fällt danach auf sie zurück zu einer in eine kleine Dehnung mündenden deklamatorischen Tonrepetition auf den Worten „ist schwer“.

    Die Melodik entfaltet sich also von einer als Basis fungierenden und mittels eines Sekundanstiegs eingeleiteten tonalen Ebene, von der aus sie sich mit nur einem Sekund- und einem Quartsprung auf „Herz“ erhebt, um danach wieder zu ihr zurückzukehren. In dieser strukturellen Einfachheit gründet ihre spezifische Eingängigkeit, die Tatsache dass sie sich so leicht einprägt. Gleichwohl reflektiert sie darin die sprachliche Gestalt mit ihren rhythmischen Scherpunkten „Ruh´“, „Herz“ und „schwer“, die Lautlichkeit, die Semantik und das affektive Potential der lyrischen Aussage. Dies mit den Dehnungen auf den Worten „Ruh““, „Herz“ und „schwer“, die Ansiedlung des klanglich dunklen Wortes „Ruh´“ auf der tonalen Ebene, der des helleren Wortes „Herz“ eine Quarte höher und der kleineren Dehnung auf dem als nur als syntaktisches Adverbial fungierenden, gleich wohl aber semantisch bedeutsamen Wort „schwer“.

    Das ist Melodik, in der man sich als Leser des lyrischen Textes unmittelbar wiederfindet, weil man sie so rezipiert, als sei dieser ganz und gar zu Musik geworden. Als sei sie ihm also nicht aufgesetzt und gar übergestülpt, sondern sei eine Verkörperung seiner selbst in einem anderen Medium.
    Schubertsche Melodik eben.

    Noch einmal: „Der Gärtner“

    Noch ein anderer von den Großen hat Mörikes Gedicht vertont: Hugo Wolf. Eine Besprechung seines Liedes findet sich hier: Hugo Wolf und Eduard Mörike

    Und hier ist das Lied zu hören:



    Dietrich Fischer-Dieskau fügte seinem nur einen Satz umfassenden Kommentar zu Schumanns Lied „Der Gärtner“ diese Bemerkung hinzu:
    „Wolf scheint durch Ende und Nachspiel dieses Liedes bei der eigenen Vertonung des Textes stark beeinflußt. Daß er auch en Galopprhythmus der punktierten Triolen von Schumann übernahm, verhinderte nicht, daß er ein ungleich treffsichereres Lied formte.“ (in seinem Schumann-Buch, S.187)

    Was aber meinte er mit dem Komparativ „treffsicherer“? Die lyrische Aussage, das, was Mörike zu poetisch zu sagen hat und die Art und Weise, wie dies lyrisch-sprachlich geschieht, kann doch nicht gemeint sein. Das liedkompositorisch zu erfassen ist, wie in der analytischen Betrachtung doch wohl aufgezeigt und nachgewiesen ist, Schumann auf vollkommene Weise gelungen. Was aber gibt es noch, das Wolf „sicherer“ als Schumann getroffen haben könnte? Der Publikumsgeschmack kann es doch ganz sicher nicht sein, der hat weder Schumann noch Hugo Wolf interessiert.

    Ich setze mal an einer Erfahrung an, die viele Liebhaber des Kunstliedes kennen: Man liest einen lyrischen Text, und automatisch stellt sich eine bestimmte Liedmusik ein. Und das ereignet sich auch - jedenfalls bei mir - im Fall dieses Mörike-Gedichts. Ich höre beim Lesen automatisch die Wolf-Melodik. Sie hat sich mir so eingeprägt, dass ich sie ohne Notenvorlage singen kann. Und in dieser Erfahrung ist wohl die Antwort zu finden, was Hugo Wolf besser getroffen hat als Schumann. Melodik und lyrische Sprache sind eine innige Verbindung eingegangen, sind auf vollkommene Weise miteinander verschmolzen, so dass man das Gefühl hat, die lyrische Sprache hat die Melodik aus sich hervorbracht, hat sie geboren.

    Man könnte also, an Fischer-Dieskaus Wort „treffsicherer“ ansetzend sagen: Besser als Robert Schumann ist es Hugo Wolf gelungen, in einer ihr Melos auf vollkommen gebundene und in sich stimmige Weise entfaltenden Melodik musikalisch den Geist einzufangen und zu erfassen, der Mörikes Lyrik innewohnt: Es ist der einer Begegnung eines lyrischen Ich mit einem es bezaubernden und seelisch beflügelnden Prinzessinnen-Traumgesicht.

    Anders als Robert Schumann setzt Hugo Wolf nicht silbengetreu-deklamatorisch am einzelnen Vers an, vielmehr, und dies in einem radikal melodischen Ansatz, am zentralen lyrischen Bild. Und das ist ja doch ein höchst erstaunlicher Sachverhalt, denn es müsste ja eigentlich genau umgekehrt sein. Vielsagend ist: Hier, leistet sich der ansonsten so sehr auf syllabisch exakte Deklamation achtende Hugo Wolf zwei „Fehler“ im Skandieren: Bei dem Wort „Leibrößlein“ trägt die Silbe „-röß“ einen Ton (er müsste eigentlich auf „Leib-„ sitzen), und auch das Wort „durch“ im vierten Vers der ersten Strophe wird durch einen tonalen Akzent zu stark hervorgehoben.

    Die in schöner Kantabilität dahinfließende melodische Linie fordert ihr eigenes Recht. Und das darf sie, denn sie reflektiert auf vollkommene Weise die Beglückung, die sich beim lyrischen Ich im Augenblick des Sich-Hingebens an seine Wunschträume einstellt. Wolf folgt in der Struktur der melodischen Linie ja eigentlich der Metrik der Mörike-Verse. Dort tragen, wenn man metrisch korrekt skandiert, die Silbe („Leib“-) –„röss-„ („lein“) und das Wort „durch“ nämlich einen Ton. Hört man sich die melodische Linie der Singstimme unter diesem Aspekt an, dann liegt die These nahe, dass die klangliche Faszination, die von ihr ausgeht, in eben diesem Sich-Anschmiegen an die metrischen Akzente der Sprachmelodie gründet.

    Korrekte Deklamation war ein ehernes Grundprinzip der Wagnerianer. Hugo Wolf, der sich immer wieder leidenschaftlich als solcher bekannte, zeigt in seiner Liedkomposition aber nicht nur hier, sondern auch in vielen anderen Fällen, dass er durchaus kompositorische Eigenständigkeit zu wahren wusste. Dies hier in der Weise, dass ihm die Ungebrochenheit der Melodik und die Beibehaltung des tänzerischen Grundrhythmus´ des Liedes so wichtig war, dass er die Korrektheit der Deklamation guten Gewissens zu opfern vermochte.

    Eine Anmerkung noch:
    Auf Hugo Wolfs Vertonung dieser Mörike Verse wurde deshalb hier kurz eingegangen, weil es in diesem Thread um das Erfassen der Wesensmerkmale von Schumanns später Liedsprache geht. In ihrer Ausrichtung auf das musikalische Erfassen der lyrischen Aussage in ihren affektiven Dimensionen, die kompositorische Interpretation derselben also, kommt der Melodik eine wichtige und klar definierte Funktion zu, dies aber immer im Zusammenhang mit dem Klaviersatz. Und Schumann war in der Hochzeit seines liedmusikalischen Schaffens selbstverständlich in der Lage, Melodik so einzusetzen wie Hugo Wolf dies hier tut.

    Es fällt aber auf, dass er dies in der sich anschließenden liedkompositorischen Phase mehr und mehr meidet und der wortbezogen deklamatorische Gestus in den Vordergrund rückt. Und hier, bei diesem Lied „Der Gärtner“ zeigt sich auch einer der Gründe dafür. Es ist, wie sich in der Besprechung gezeigt haben dürfte, sein spezifisches Verständnis des lyrischen Ichs. Und in dieses, so kann man vermuten, floss wiederum seine eigene existenzielle Daseinsbefindlichkeit zur Zeit der Entstehung des Liedes ein.

    Es wird sich im weiteren Verlauf des Threads herausstellen, dass dies ein Sachverhalt ist, dem hinsichtlich der spezifischen Eigenart von Schumanns später Liedsprache eine maßgeblich prägende Funktion zukommt.

    „Der Gärtner“ (III)

    Bei den Worten „Nimm tausend für eine, / Nimm alle dafür!“ erreicht die Melodik, darin die reizvolle Gigantomanie reflektierend, in die das lyrische Ich sich gesteigert hat, den vorläufigen Höhepunkt ihrer Expressivität. Zwei Mal beschreibt sie die gleiche, einen großen Ambitus einnehmende Bewegung aus einer Kombination aus Quartsprung und Septfall, wobei dieser bezeichnenderweise auf den Worten „tausend“ und „alle“ liegt. Beim zweiten Mal endet die melodische Bewegung dann aber in einer mit einem Sekundfall eingeleiteten und kurze Ruhe bringenden Dehnung auf der zweiten Silbe von „dafür“.
    Aber die liegt auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage, der Terz zum Grundton also, und das will heißen: Für Schumann ist liedmusikalisch noch nicht alles gesagt. Dieses lyrische Ich will alles dafür geben, was es geben kann, für ein kleines Zeichen der Zuneigung oder wenigstens auch nur der Wahrnehmung vonseiten der bewunderten Prinzessin. Und das muss es noch einmal auf emphatisch gesteigerte Weise zum Ausdruck bringen dürfen.

    Das ereignet sich in Gestalt einer potenzierten Wiederholung der beiden letzten Verse, - potenziert deshalb, weil der letzte sogar erneut wiederholt wird. Nun legt die Melodik ihre innere Kontrolle in Form einer deklamatorischen Bindung an die sprachliche Silbe und der damit verbundenen Einschränkung in der Sprunghaftigkeit der Entfaltung zu einem großen Teil ab, aber - typisch für das kompositorische Konzept Schumanns - nicht ganz und gar. . Und das Klavier folgt ihr darin, indem es sie mit lebhaft bewegten Figuren nicht nur im Diskant, sondern nun sogar auch im Bass begleitet, in dem bislang weitgehend große Ruhe geherrscht hat. Mit einem Crescendo beschreibt die melodische Linie auf den Worten „Nimm tausend für eine“ nun eine bogenförmige, auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage ansetzende und dorthin auch wieder zurückkehrende Bogenbewegung, die deshalb so schwungvoll anmutet, weil sich erstmals in diesem Lied auf einer Silbe eine zweischrittige Legato-Bewegung ereignet: Auf der ersten Silbe von „tausend“ ein Legato-Terzenanstieg und auf der ersten von „eine“ ein Legato-Sekundfall.

    Die Melodik auf diesen Worten, die in einer Rückung von A-Dur nach D-Dur harmonisiert ist und vom Klavier im Diskant in Gestalt von Achtelfiguren mitvollzogen wird, mutet wie ein Anlauf zu dem Sextsprung an, den die melodische Linie bei dem Wort „alle“ vollzieht. Er führt sie zur Ebene eines hohen „E“, von wo sie, und dies im Forte, in einen Sekundfall übergeht. Diesem Wort „alle“ wird auf diese Weise eine noch stärkere Akzentuierung verliehen als beim ersten Mal. Es ereignet sich dieses Mal gleichsam die Umkehr des Septfalls, der dort auf ihm lag. Bei „dafür“ kehrt die melodische Linie nach einem kleinen Sekundfall wieder zu der Ebene zurück, in die der leicht gedehnte Sekundfall auf „alle“ mündete.

    Denn die Liedmusik ist noch nicht zu Ende. Während sich die melodische Line auf der zweiten Silbe von „dafür“ einer leichten Dehnung auf dem in D-Dur gebetteten Grundton in hoher Lage überlässt, lässt das Klavier seine rhythmisiert triolischen Staccato-Akkorde erklingen, dies aber bemerkenswerterweise im Pianissimo. Nun werden die Worte „Nimm alle dafür!“ noch einmal deklamiert, und wieder ist bemerkenswert, wie das geschieht. Die melodische Linie setzt, aus dem Forte zurückgenommen, mit einem Quintsprung ein und geht nun bei „alle“ in eine lange, den Takt überschreitende Dehnung in Gestalt einer gleichsam gestreckten Version des Sekundfalls über, den sie bei der ersten Wiederholung dieses Wortes in der gleichen A7-Harmonisierung beschrieb. Dort aber im Forte, nun ist daraus ein Piano geworden, und der der ganzen Takt gehaltene A7-Akkord erklingt sogar im Pianissimo.

    Und noch mehr Bemerkenswertes geschieht: Statt in einen weiteren Anstieg zu beschreiben, geht die melodische Linie in ein Ritardando über und vollzieht einen Quintfall, der auf den beiden Silben des Wortes „dafür“ in einen Terzfall, der auf der Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage in Gestalt eines schlichten deklamatorischen Viertels mündet. Also in keine längere Schlussdehnung und überdies auch noch auf der Terz der Tonika. Das ist der gleiche Ausklang, der sich in der Melodik schon beim ersten Mal ereignete, und wieder ist es also ein melodisch offener und überdies auch noch ein wenig lakonisch anmutender, denn die Schlussdehnung ist dieses Mal noch kürzer.

    Die Liedmusik hat also noch ein Weiteres zu sagen, und wie sich das für Schumann gehört, erfolgt das im Nachspiel. Es ist relativ lang, nimmt sieben Takte ein und besteht im Diskant ausschließlich aus einer Folge der den Klaviersatz prägenden triolischen Achtelfigur, nun in ihrer akkordischen Gestalt, im Bass mit Oktaven begleitet. Sie beschreiben eine langsame Abwärtsbewegung und münden, - in ein wiederum lakonisch anmutendes, von Achtelpausen unterbrochenes Aufeinander zweier D-Dur-Akkorde mit einem A7-Akkord dazwischen. Und dies auch noch im Pianissimo.

    Und warum erscheint mir dieser Liedschluss aus partiell zweifacher Wiederholung und langem Nachspiel „bemerkenswert“?
    Für mich findet darin auf eine beeindruckende, für Schumanns Liedkomposition ganz typische Art und Weise sein Verständnis des lyrischen Ichs musikalischen Ausdruck. Es ist ein überaus zartes, feinsinniges, ein Ich, das nur kurz in die Emphase von Entzücken und Beglückung ausbricht, um sich alsbald daraus wieder in sein Inneres zurückzunehmen.

    Ist es darin Verkörperung des Lebensgefühls, in dem Schumann in der Spätphase seines liedkompositorischen Schaffens befangen war?
    Ich halte das für möglich.

    „Der Gärtner“ (II)

    In der zweiten Strophe tritt erstmals das lyrische Ich auf, so dass die Aussagen als die Seinen zu verstehen sind. Das hat für Schumann zur Folge, dass er sie liedmusikalisch stärker, als in der ersten Strophe der Fall ist, in ihrem affektiven Gehalt erschließt. Die melodische Linie behält zwar ihren Grundgestus der syllabisch strikt gebundenen Deklamation bei, auch das repetitive Verharren auf der tonalen Ebene bleibt bestehen, es ereignen sich aber Sprünge über ein größeres Intervall daraus, und der Anteil an kleinen Dehnung wird größer. Vor allem ist es der Klaviersatz, in dem sich diese kompositorische Intention niederschlägt. Einzelne, zum Zweck der Akzentuierung eines Wortes eingesetzte Viertel-Akkorde gibt es nicht mehr, der Klaviersatz besteht im Diskant nun ausnahmslos aus steigend angelegten Triolen von Einzelachteln und zwei- bis dreistimmigen Achtel-Akkorden, die im Bass vorwiegend von lang gehaltenen Oktaven begleitet werden.

    Diese Klaviersatzfiguren sind das musikalische Äquivalent zum lyrischen Bild des „hold hintanzenden Rössleins“, das den Geist des lyrischen Ichs ganz offensichtlich beflügelt, so dass es diese Worte auf einer melodischen Linie erklingen lässt, die bei „Rösslein“ einen Sextsprung in hohe Lage beschreibt, dem bei „hintanzet“ zwar ein gleich großer Fall zurück zur Ausgangsebene nachfolgt, aber nur, auf dass die melodische Linie nun bei „so hold“ zu einer triolischen Quartsprung-Figur mit sich anschließendem, in eine Dehnung mündenden Sekundfall übergeht. Die Dehnung liegt auf einem „A“ in mittlerer Lage, und stellt, weil sie in A-Dur gebettet ist, sozusagen einen Grundton dar, was dem Wort „hold“ eine klangliche Hervorhebung verleiht.

    Und noch einmal nimmt die melodische Linie, darin das Beschwingt- und Beflügelt-Sein des lyrischen Ichs reflektierend, einen emphatischen Aufschwung. Auf den Worten „Der Sand, den ich streute“ verbleibt die melodische Linie in ihrem repetitiv-silbengetreuen deklamatorischen Gestus zwar auf der Ebene eine „A“ und eines „G“ in mittlerer Lage, mit nur einschrittigen Abweichungen über eine Sekunde nach unten dabei, aber bei „er blinket“ ereignet sich erneut der gleiche Sextsprung wie schon zuvor bei „Rösslein“, um auf dem Wort „blinket“ auf der tonalen Ebene eines hohen „D“ einen lang gedehnten, in der hellen Doppeldominante E-Dur harmonisierten Sekundfall zu beschreiben, der nun sogar im Bass mit ansteigenden Vierteln begleitet wird und anschließend bei den Worten „wie Gold“ in eine partiell triolische Folge von zweimaligem Terzfall mit zwischengelagertem Sekundanstieg übergeht. Das „A“ der kleinen Dehnung auf „Gold“ hat durch seine A-Dur-Harmonisierung wiederum den Wert eines Grundtons und damit das entsprechende musikalische Gewicht.
    Schumann lässt seine Melodiezeilen immer wieder in dieser Weise enden, darin sein Verständnis dieser Mörike-Lyrik zum Ausdruck bringend.

    Ein Zwischenspiel folgt nach, das zwar fast zwei Takte in Anspruch nimmt, gleichwohl aber, und darin den Geist dieser Liedmusik reflektierend, wie tänzerisch vorbeihuschend anmutet, weil es nur aus einer rasch vorgetragenen Kombination aus zwei leicht gedehnten A-Dur-Akkorden und einer triolischen Staccato-Folge von G- und D-Dur-Akkorden besteht. Mit der dritten Strophe beginnt sich die melodische Linie in deutlich weiter ausgreifender Phrasierung und stärkerer Bindung der deklamatorischen Schritte zu entfalten. Das ist wohl Niederschlag der Tatsache, dass das lyrische Ich nun ganz und gar zum Gestus der Ansprache übergeht und Ausdruck eines damit einhergehenden wachsenden Ergriffen-Seins von den traumhaft imaginierten lyrischen Bildern darstellt.
    Nur der erste Vers ist noch als eigene, in eine Pause mündende Melodiezeile angelegt, und dies wohl deshalb, weil Schumann das zentrale Objekt der Ansprache, das „rosenfarbe Hütlein“, mit einer musikalischen Hervorhebung versehen will. Deshalb legt er auch den Klaviersatz wieder akkordisch an und lässt die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung von a-Moll über e-Moll und die Dominantseptversion von H-Dur nach dem weitab liegenden C-Dur beschreiben. In dieses C-Dur ist der melodisch ebenfalls ausdrucksstarke Quintfall gebettet, der sich auf dem Wort „Hütlein“ ereignet.

    Die Pause vor der Fortsetzung der nun eine geschlossene Zeile darstellenden Melodik auf den restlichen drei Versen nimmt zwar eineinhalb Takte ein, in denen das Klavier wieder seine tänzerisch hüpfenden Staccato-Akkordtriolen erklingen lässt, sie stellt aber keinen wirklichen Einschnitt in der melodischen dar, weil diese bei den Worten „Wohl auf und wohl ab“ auf genau der tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage ansetzt, in die der Quintfall bei „Hütlein“ mündete.
    Hier, auf diesen Worten, entfaltet sie sich noch, dabei vom Klavier weiterhin mit Akkorden im Diskant begleitet, in einem silbengetreuen Sekundanstieg aus tiefer Lage, der bei „wohl ab“ in einer Repetition auf der Ebene eines „Fis“ endet. Auch bei den Worten „O wirf eine Feder“ verbleibt die melodische Linie in ihren Bewegungen zunächst noch in unterer Lage. Aber sie setzt, mit einem Crescendo versehen, mit einem Terzsprung ein, geht, und dies immer weiter in syllabisch exakter Weise, in eine dreimalige und nun forte vorzutragende deklamatorische Repetition über, um danach bei „Feder“ einen expressiven Sextsprung zu vollziehen.

    In dieser Bewegung, die forte einsetzt, aber gleich wieder in ein Decrescendo übergeht, drückt sich der Aufforderungscharakter der lyrischen Worte aus, und deshalb ist sie auch in einer Rückung von der Dominante A-Dur zur Tonika D-Dur harmonisiert.
    Aber die Subtilität von Schumanns Liedmusik, die aufzuzeigen ja der Sinn dieser so detaillierten liedanalytischen Betrachtungen ist, zeigt sich in diesem sofortigen Übergang vom Forte ins Piano und darüber hinaus auch darin, dass er den Klaviersatz hier wieder von der akkordischen Anlage zu triolischen Achtelfiguren übergehen lässt.
    Rein sprachlich betrachtet stellen diese Worte zwar eine Aufforderung dar, im lyrischen Kontext sind sie aber eine Bitte des lyrischen Ichs, die Schumann als eine auffasst, die aus äußerster liebe- und ehrfurchtsvoller Zurückhaltung geäußert wird. So bringt das seine diesbezügliche Liedmusik zum Ausdruck. Und die Melodik klingt auf den Worten „Verstohlen herab!“ in diesem Sinne aus: Mit einem in eine partiell gedehnte Tonrepetition übergehenden, auf die Ausgangsebene zurückkehrenden und in einem Terzfall mit Dehnung endenden Sekundfall in oberer Mittellage, wobei das Klavier bei seiner Begleitung mit Achteltriolen bleibt und die Harmonik eine Rückung von E-Dur nach A-Dur vollzieht.

    Die Melodik auf den Worten der vierten Strophe entfaltet sich in einer noch weiter ausgreifenden Phrasierung ohne jegliche Unterbrechung durch eine Pause und einem größeren Ambitus in ihren Bewegungen. Darin schlägt sich der Grad an Verzückung nieder, den das lyrische Ich in seiner an die traumhafte Imagination sich richtenden Ansprache erreicht hat. Aber die liedmusikalische Emphase schlägt nicht über die Stränge, sie bleibt auf bemerkenswerte Weise verhalten und gedämpft.
    Für Schumann weist dieses Ich ganz offensichtlich eine gewisse Scheu gegenüber der imaginierten Prinzessin auf, wie sie sich in dem lyrischen Bild von der Bitte um eine verstohlen herabgeworfene Feder ausdrückt, und das macht den Reiz seiner Liedmusik aus.

    In der Melodik auf den Worten „Und willst du dagegen / Eine Blüte von mir“ begegnet man dieser Scheu wieder. Die melodische Linie verharrt, in einer Rückung von A7- nach D-Dur harmonisiert, erst in einer mit einem Terzsprung eingeleiteten und in der tonalen Ebene sogar noch um eine Sekunde sich absenkenden Tonrepetition in unterer Mittellage, bevor sie sich bei „eine Blüte“ mit einem Crescendo über das Intervall einer Sexte und mit einer Rückung nach E-Dur verbunden in hohe Lage aufschwingt. Aber von dort geht´s gleich mit einem Decrescendo wieder abwärts zu einer Tonrepetition in mittlerer Lage auf dem Wort „Blüte“, und auf den Worten „von mir“ liegt dann ein mit einem Sekundsprung einsetzender und in A-Dur gebetteter Terzfall in mittlerer Lage. Immerhin bringt aber das Klavier mit jeweils nach einer Achtelpause einsetzenden und triolisch rhythmisierten Akkordfolgen im Diskant die innere Beschwingtheit des lyrischen Ichs ganz und gar ungeniert zum Ausdruck.

    „Der Gärtner“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Der klangliche Charakter dieses Liedes wird wesentlich dadurch geprägt, dass die anfänglich durch die vielen Pausen wie stockend einsetzende Melodik im Verlauf ihrer weiteren Entfaltung zu immer mehr innerer Geschlossenheit findet und die ihr innewohnende Kantabilität voll entfaltet. In dieser strukturellen Anlage reflektiert die Liedmusik nicht nur den Ablauf des lyrischen Geschehens, sondern darüber hinaus auch den Prozess der wachsenden seelischen Verzückung, wie er sich im Übergang des lyrischen Textes vom sprachlichen Gestus der Deskription zur Ansprache ereignet. Die Liedmusik erweist sich darin als vollkommener, weil Prosodie, Sprache und Semantik umfassender Niederschlag von Lyrik im Medium der Liedmusik. In welcher Weise Schumann dies kompositorisch zustande gebracht hat, soll nachfolgend in Konzentration auf die diesbezüglich aufschlussreichen Teile der Liedmusik gezeigt werden.

    Ein zweitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. „Zart und leicht begleiten“ lautet die Vortragsanweisung dazu. Es ist sogar ein dreitaktiges, denn die triolisch angelegte, anfänglich pianissimo vorzutragende Akkordfolge vollzieht harmonisch eine Rückung von der Grundtonart D-Dur zur Dominante A-Dur. Diese erklingt in Gestalt eines sechsstimmigen Dominantseptakkords, und dieser bricht auf markante Weise, nämlich in Gestalt eines unvermittelten Fortes aus dem bislang vorherrschenden Pianissimo heraus. Er geht aber legato mit einem ebenso unmittelbaren Decrescendo in das Piano eines vierstimmigen D-Dur- Akkord über, der als punktiertes Viertel in den dritten Takt hineinragt. Eben jenem, in dem die melodische Linie auf den Worten „Auf ihrem Leibrösslein“ einsetzt. Aber nur in den ersten beiden repetitiven Schritten von ihm begleitet, danach bleibt sie unbegleitet, und er sie begleitende Klaviersatz setzt erst auf der zweiten Silbe von „Leibrösslein“ wieder ein.

    Dieser Auftakt der Liedmusik wurde deshalb so genau beschrieben, weil er in seiner Anlage die Subtilität von Schumanns Liedkomposition erkennen lässt. Aber er wirft natürlich die Frage nach dem Warum auf. Die Abfolge der Akkorde weist in ihrer triolischen Grundstruktur und deren Werten zwei Schwerpunkte auf: Dem dritten Akkord am Anfang und dem in seiner Dominantsept-Fortepiano-Legato wie eine Aufgipfelung wirkenden Ende. In der Raschheit des Vortrags wohnt ihm ein wie flüchtig wirkender hüpfender Gestus inne. „Zart und leicht“ lautet ja Schumanns Anweisung, und ich denke: Man greift zu kurz, wenn man in dieser triolisch-akkordischen Staccato-Figur nur die klangliche Evokation des „Leibrössleins“ sieht. Diese Funktion hat sie wohl, zumal sie ja den Klaviersatz maßgeblich prägt, in Kombination mit einer triolischen Achtel-Anstiegsfigur eigentlich sogar seine Substanz darstellt. Aber Schumann will damit mehr bewirken: Er will im Vorspiel damit, einleitend und gleichsam programmatisch, den Geist dieser Liedmusik zum Ausdruck bringen. Es ist ein vom Wesen des schönen Traums beschwingter und beflügelter.

    Am Anfang, bei den Worten „Auf ihrem Leibrösslein / So weiß wie der Schnee“, entfaltet sich die Melodik in einem bemerkenswert rezitativisch-deklamatorischen Gestus. Syllabisch exakt ausschließlich in Achtelschritten und zuerst in Repetitionen auf nur einer tonalen Ebene mit einem einzigen Zwischensprung darin, danach, nach einer Achtelpause, in Gestalt eines repetitiven Sekundfalls in tiefer Lage, und erst in dem diese Bewegung vorläufig beschließenden Sekundfall geht sie bei „Schnee“ in eine kleine Dehnung im Wert eines Viertels über. Das macht diese in D-Dur mit Zwischenrückung zur Dominante harmonisierte Melodik auf den Worten des zweiten Verses, obgleich ihr keine Pause nachfolgt, zu einer kleinen Melodiezeile.

    In ihrer Anlage stellt sie eine musikalisch-deskriptive Skizze dar. Schumann hat sie offensichtlich noch nicht als Aussage des lyrischen Ichs gelesen. Und das gilt für die ganze erste Strophe. Denn auf den Worten „Die schönste Prinzessin / Reit't durch die Allee“ setzt sich die melodische Linie weiterhin in diesem syllabisch streng gebundenen und stark repetitiv geprägten deklamatorischen Gestus fort. Nur auf den Worten „die schönste“ liegt ein leicht gedehnter, weil im Wert von Viertelnoten erfolgender und sie akzentuierender Terzfall, und der Sekundsprung, in dem diese vierte Melodiezeile bei „Allee“ endet, hat wieder die Funktion eines melodischen Schlusses. Ansonsten sind alle deklamatorischen Schritte solche im Wert eines Achtels. In ihrer Harmonisierung und den sie begleitenden Klaviersatz hebt sich diese dritte Melodiezeile, weil das lyrische Bild in seinem affektiven Gehalt reflektierend, aber unter den anderen hervor. Die Harmonik beschreibt hier eine Rückung von h-Moll über E-Dur nach fis-Moll, und in der nachfolgenden Viertalpause erklingt wieder das triolisch-akkordische Staccato-Motiv.

    Die vierte Melodiezeile stellt die Melodik auf den Worten des vierten Verses der ersten Strophe deshalb dar, weil auf die des dritten Verses eine Viertelpause folgt. Also hat Schumann jedem Vers eine eigene Melodiezeile zugeordnet, und diese Anlage der Liedmusik der ersten Strophe weist sie, zusammen mit der deklamatorisch kurzschrittig sich entfaltenden Melodik als musikalische Skizze der Eingangs-Szenerie des lyrischen Geschehens aus.
    Darüber hinaus legt auch der Klaviersatz dieses Verständnis der Liedmusik nahe, denn er erweist sich in seiner Anlage als mehr als nur eine Begleitung der melodischen Linie der Singstimme. Erst bei der deklamatorischen Repetition auf der zweiten und dritten Silbe von „Leibrösslein“ setzt er ein, dies mit der triolischen Staccato-Figur aus dem Vorspiel und damit das leichtfüßige Traben desselben insinuierend. Zu dem Wort „weiß“ lässt das Klavier nur einen fünfstimmigen Staccato-Akkord erklingen, und bei „Schnee“ ist es ein dreistimmiger. Aber bei „die schönste Prinzessin“ ist es, um dieses lyrische Bild in der angemessenen Weise zu begleiten, eine melismatisch angehauchte doppelte Folge von triolischen Figuren aus bitonalen Akkorden und Einzelachteln im Diskant.

    „Der Gärtner“, op. 107, Nr. 3

    Auf ihrem Leibrösslein
    So weiß wie der Schnee,
    Die schönste Prinzessin
    Reit't durch die Allee.

    Der Weg, den das Rösslein
    Hintanzet so hold,
    Der Sand, den ich streute,
    Er blinket wie Gold.

    Du rosenfarb´s Hütlein
    Wohl auf und wohl ab,
    O wirf eine Feder,
    Verstohlen herab!

    Und willst du dagegen
    Eine Blüte von mir,
    Nimm tausend für eine,
    Nimm alle dafür!

    (Eduard Mörike)

    Das in seinem Zentrum stehende und in seiner Idyllik so harmlos und bezaubernd anmutende lyrische Bild öffnet sich im Laufe der Begegnung mit ihm in überaus behutsamer, aber doch unübersehbarer Weise in seiner existenziellen Tiefendimension. Es ist die von der Bereicherung und Überhöhung des Daseins durch den Traum von der Begegnung mit der Schönheit in Form des schönen Lebens, der geträumt werden will, unerfüllbar bleibt und gerade darin seine Faszination entfaltet.

    Es sind überaus zarte lyrische Bilder, aus denen sich dieses Gedicht in seiner dichterischen Aussage speist. Sie rühren ganz nahe an die in die Unwahrhaftigkeit abgleitende metaphorische Übersteigerung. Aber genau darin liegt ihr Reiz und ihre letztendliche Wahrhaftigkeit. Denn sie enthüllen sich ja als Imagination eines von der Erfüllung all seiner Lebenswünsche träumenden lyrischen Ichs. Träumen darf man. Und auch in den süßesten Bildern darf man das. Wenn …

    Wenn man gesteht, dass man alles dafür zu geben bereit ist. Insofern sind die beiden letzten Verse das eigentliche lyrische Zentrum dieses Gedichts: „Nimm tausend für eine, // Nimm alle dafür“. Dieses visionär erschaute Wesen ist in seiner feenhaften Erscheinung der Inbegriff von Schönheit. Sie ist abgehoben von der Schwere der Realität: Das Rösslein tanzt wie schwerelos über wie Gold blinkenden Sand.
    Von diesem Wesen ein Zeichen des Wahrgenommen-Werdens zu erhalten wird als eine Erfahrung von Transzendenz empfunden. Es ist das Höchste, was dieses so einfache, den Beruf des Gärtners ausübende lyrische Ich sich vorzustellen vermag. Und dafür ist es bereit, alles zu geben, was es zu geben hat.

    D-Dur ist für die Liedmusik als Grundtonart vorgegeben. Sie weist einen Zweivierteltakt auf, und die Vortragsanweisung lautet: „Mit Anmuth“. Und so klingt diese Komposition auch. Ein leichtfüßig tänzerischer Rhythmus liegt ihr zugrunde, allerdings einer, der auf eine eigentümliche Weise ein wenig stockend wirkt. Das hängt nicht nur mit der Tatsache zusammen, dass bei der ersten und der zweiten Strophe jeder Vers eine eigene – allerdings musikalisch eingebundene – Melodiezeile trägt und dass sich dazwischen jeweils kurze Pausen einlagern. Es ist auch auf den Klaviersatz zurückzuführen.

    Dieser besteht fast durchgehend aus einer Kombination von Achtelakkord-Triolen und Einzelakkorden im Wert eines Viertels. Die eigentümlich tänzerische und zugleich stockende Rhythmik ergibt sich daraus, dass die Triolen vor dem gewichtigen Einzelakkord wie ein Anlauf zu diesem wirken. Man darf wohl annehmen, dass sich Schumann bei dieser Rhythmisierung von dem Bild des „hintanzenden Rössleins“ inspirieren ließ.


    „Die Fensterscheibe“ (IV)

    Wie ist das alles zu verstehen?
    Wohl, so denke ich, als liedmusikalischer Niederschlag von Schumanns Verständnis der lyrischen Aussage, der Grundhaltung des lyrischen Ichs also. Das ist für ihn kein sich der Schmerzlichkeit seiner existenziellen Erfahrung hingebendes und gar daran zerbrechendes Ich. Er sieht in ihm, der Aussage des lyrischen Textes entsprechend, ganz offensichtlich die seelisch stabile Fensterputzerin, die zwar eine leidvolle und für sie höchst schmerzliche Erfahrung in Gestalt nicht erwiderter Liebe macht, aber sehr wohl in der Lage ist, dies als ein Faktum hinzunehmen, ohne daran zu zerbrechen. Eben deshalb lässt er die durchaus seelischen Schmerz zum Ausdruck bringende Melodik auf den Worten „Als leis mein Herz geknickt!“ am Ende einen in eine Dehnung auf der Ebene eines „Fis“ in unterer Mittellage übergehen, bei der die Harmonik eine Rückung aus der dissonant-klanglichen Verminderung der Doppeldominante E-Dur zur Tonika D-Dur vollzieht.

    Die Dehnung, in der die Melodik des Liedes endet, ereignet sich allerdings nicht auf der Ebene der Tonika, sondern auf der der Terz dazu. Und bei Schumann heißt das allemal: Das Nachspiel hat das letzte Wort.
    Es nimmt vier Takte ein und besteht aus einer Folge von dreistimmigen Viertel-Akkorden im Diskant. Sie setzt mit einer gedehnten, weil aus einer Kombination aus gedehntem Viertel- und Sechzehntelakkord bestehender und mit einer Rückung von G-Dur nach Ais-Dur einhergehenden Sprungbewegung ein, um danach in eine ruhig-gleichförmige Legato-Abwärtsbewegung überzugehen. Dabei ist die Harmonik von großer Bedeutung. Sie besteht aus einer Rückung von besagtem Ais-Dur über fis-Moll, G-Dur hin zu einem verminderten G-Dur, um schließlich in den lang gehaltenen, weil mit einer Fermate versehenen vierstimmigen Schluss-Akkord in d-Moll zu münden.

    Die Dominanz von Moll- und verminderter Harmonik in diesem Nachspiel will, als Kommentar zur Aussage der Melodik an ihrem Ende aufgefasst, will wohl sagen: Bei aller Akzeptanz einer solch solchen Liebes-Erfahrung bleibt sie gleichwohl eine höchst schmerzliche, auch einen seelisch stabilen Menschen existenziell tief treffende.

    "Die Fensterscheibe“ (III)

    Ganz anders angelegt ist dann die Melodik auf den Worten „Als leis mein Herz geknickt“. Auslöser dieser seelischen Erschütterung, die Ullrich in dieses sprachlich missglückte lyrische Bild fasst, ist die Tatsache, dass der Geliebte das lyrische Ich im Vorbeigehen nicht anblickt. Schumann nimmt das Bild aber sehr ernst, weil er es, wie die Liedmusik das vernehmen lässt, als situativ sich ereignende, existenziell bedeutsame Erfahrung von Entfremdung auffasst. Schon in den Worten der beiden vorangehenden Verse wird das ja angesprochen und von der Melodik in entsprechender Weise aufgegriffen. Auf den eine Melodiezeile bildenden Worten „Und in die Augen dir hab' ich gesehn; / Ach Gott, wie lang ist es nicht geschehn“ entfaltet sich die melodische Linie fast durchgehend nur in deklamatorischen Tonrepetitionen. Erst wieder auf der Ebene des „H“ in mittlerer Lage, der Schumann in diesem Lied ganz offensichtlich eine bedeutsame Rolle zugewiesen hat, dann, nach einem gedehnten Sekundfall auf „Augen“ und einem triolischen Sekundanstieg auf „hab ich gesehn“ mit nachfolgendem Sekundfall, eine neuerliche Repetition auf der „H“-Ebene, dann eine triolische mit Dehnung eine Sekunde tiefer und schließlich ein diese Zeile beschließender Sekundfall auf „geschehn“.

    Das Klavier begleitet die melodische Linie in dieser Zeile anfänglich mit fallenden Oktaven, dann aber, wenn das lyrische Ich in den mit den Worten „ach Gott“ eingeleiteten schmerzlichen Ruf ausbricht, mit einer Folge von gewichtigen, weil den Wert eines Viertels aufweisenden vierstimmigen und zum Teil staccato anzuschlagenden Akkorden. Und auch die Harmonik ist hier komplex angelegt. Sie beschreibt, darin das große affektive Potential der lyrischen Aussage reflektierend, eine Rückung von e-Moll über Fis-Dur und h-Moll nach G-Dur mit einem dazwischen kurz aufklingenden D-Dur.
    In dieser das Tonartenspektrum weit übergreifenden und dabei beide Tongeschlechter in Anspruch nehmenden Harmonisierung dieser Melodiezeile zeigt sich die Subtilität von Schumanns Liedmusik in diesem Opus 107. Denn die Komplexität der harmonischen Rückungen steht ja in einem auffälligen Kontrast zum dominant repetitiven deklamatorischen Gestus der Melodik. Und vielsagend diesbezüglich ist, dass sich bei dem melodischen Sekundfall auf dem die Melodiezeile beschließenden Wort „geschehn“ eine harmonische Rückung vom vorangehenden G-Dur in die Dissonanz eines verminderten Dis-Durs ereignet. Das „ach wie lang“ weist als Ausruf einen ganzen Berg von schmerzlichen Emotionen auf. Ein Einbruch von klanglicher Dissonanz in die den zweiten Teil der Melodiezeile dominierenden G-Dur-Harmonik lässt das vernehmlich werden

    Auch die Melodik auf den Worten „Hast mich ja nicht einmal angeblickt“ ist anfänglich in dissonant-verminderte Harmonik gebettet. Bei dem Wort „mich“ lässt Klavier einen fünfstimmigen, den ganzen Takt ausfüllenden verminderten G-Dur-Akkord erklingen, bei „angeblickt“ ereignet sich dann eine Rückung nach h-Moll. Ein schmerzlicher Unterton wohnt dieser sich an den Anderen richtenden, aber monologisch bleibenden Anrede inne, deshalb diese Harmonisierung der melodischen Linie. Und diese bringt das auch zum Ausdruck, indem sie mit einem Terzsprung in eine triolische Repetition auf der Ebene eines „G“ in unterer Lage übergeht, der ein dreischrittiger Sekundfall in wiederum repetitiven Schritten nachfolgt. Aber wie subtil Schumann Melodik hier angelegt ist, das zeigt sich darin, dass in der Viertelpause vor dem Einsatz der ganz und gar in harmonische Dissonanz und Moll gebetteten Melodik dieser kleinen Melodiezeile ein C-Dur-Akkord erklingt, und in der nachfolgenden Viertelpause erneut ein solcher. Dieser Dur-Harmonik-Rahmen soll wohl, so verstehe ich Schumann hier, die schmerzliche Faktizität des Geschehens hervorheben.

    Und nun erklingt die Liedmusik auf den Schlussworten „Als leis mein Herz geknickt!“. Ullrich versieht sie mit einem Ausrufezeichen, weil er sie als Vorwurf verstanden wissen will. Schumann liest diese Worte anders. Für ihn sind sie ein introvertiert stilles Bekenntnis einer schmerzerfüllten, mit einem seelischen Bruch einhergehenden existenziellen Erfahrung. Die Melodik lässt das deutlich vernehmen. Ihr Einsatz ist dieses Mal ein höchst gewichtiger, gar nicht mehr auftaktig wirkender. Auf dem Wort „als“ liegt, wie auch bei dem „hast“, mit dem die vorangehende Melodiezeile einsetzt, ein deklamatorischer Schritt im Wert eines Viertels, also im Kontext der ansonsten üblichen Achtelschritte eine leichte Dehnung. Ihm folgt ein ausdrucksstarker Sturz in die Tiefe nach, über das Intervall einer verminderten Quinte hinab zur tonalen Ebene eines „Cis“ in tiefer Lage. Dort ereignet sich auf den Worten „leis mein“ eine leicht gedehnte Tonrepetition, und dann beschreibt die melodische Linie eine bemerkenswerte, weil eigentlich nicht zu erwartende Bewegung.

    Auf „mein Herz“ liegt ein Terzsprung, ihm folgt zu „geknickt“ ein Sekundfall nach. Aber dass sich nun diese Abwärtsbewegung der melodischen Linie auf der zweiten Silbe dieses Wortes weiter fortsetzt, vollzieht sie einen Terzschritt aufwärts, der in eine lange Dehnung mündet. Und genauso bemerkenswert ist die harmonische Rückung, die damit einhergeht. Aus der dissonant verminderten E-Tonalität, in die das Wort „Herz“ gebettet ist, geht die Harmonik in ein rundes und klares D-Dur über. Und so trat die Harmonik gerade zuvor schon einmal auf: Das kleine Wort „leis“ wird vom Klavier, das der melodischen Linie hier in ihren Bewegungen mit dreistimmigen Akkorden folgt, mit einem Fis-Dur-Akkord begleitet.

    „Die Fensterscheibe“ (II)

    Auf den Worten „So sehr muss ich da erschrocken sein“, mit denen die zweite lyrische Strophe einsetzt, liegt dann die „a tempo“ vorzutragende Melodik des ersten Verses der ersten Strophe. Das lyrische Ich hat, so wie Schumann das sieht, zur eingangs eingenommenen inneren Haltung zurückgefunden und behält sie bis zu den Worten „Rot über meine Hand“ bei. Denn auch hier ereignet sich in der tonalen Ebene dieser Anstieg der melodischen Linie im repetitiven deklamatorischen Gestus über eine kleine Sekunde, dieses Mal aber ohne den auftaktigen Sekundschritt.
    Was die Frage anbelangt, warum sich Schumann bei den beiden ersten Strophen zum Einsatz des Strophenliedkonzepts entschieden hat, so zeigt sich auch beim letzten Vers der zweiten Strophe, dass dies im Hinblick auf die lyrische Aussage angemessen war. Denn auch diese ist in ihrer lyrischen Sprachlichkeit als Feststellung angelegt, und man kann ihr, wie Schumann das ja auch im ersten Fall getan hat, liedmusikalisch eine Anmutung von leichtem Erschrecken beigeben. Hier lässt er die entsprechende, in ihrer Struktur und Harmonisierung mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz identische Melodiezeile vermutlich deshalb sogar erst nach einer ganztaktigen Pause vortragen.

    Wie bei den ersten beiden Strophen, so sind auch bei der dritten die ersten drei Verse in einer Melodiezeile zusammengefasst. Bei der vierten Strophe sind es nur noch die ersten beiden, so dass die Strophe nun in drei Melodiezeilen untergliedert ist. Schumann lässt nun also vom Strophenlied-Konzept ab, weil damit die Bandbreite der Emotionen und Affekte, wie sie sich in den beiden Strophen auftut, liedmusikalisch nicht erfassbar wäre. Durchweg aber bleibt die Melodik stark vom Gestus der deklamatorischen Tonrepetitionen geprägt. Bei „Und mag sie auch bluten, meine Hand“ setzt die melodische Linie mit einem Terzschritt ein, fällt dann eine Sekunde zurück, um eine Tonrepetition zu beschreiben und vollzieht bei „bluten“ dann den Terzschritt erneut. Auf „meine Hand“ liegt dann eine dreimalige Repetition auf der gleich tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage, auf der sich schon die auf „bluten“ ereignete. Durch diese Wiederholung der deklamatorischen Figuren auf identischer tonaler Ebene gewinnt die Melodik starke Eindrücklichkeit. Und bei den Worten „und mag mich auch schmerzen“ behält sie dieses Prinzip mit neuerlichen Repetitionen auf der tonalen Ebene des „H“ bei.

    Erst bei den Worten „böse Brand“ geht sie, um ihnen den angemessenen Ausdruck zu verleihen, in einen Fall über das Intervall einer Quinte über, um auf der Ebene eines „E“ in tiefer Lage eine dreimalige Repetition zu vollziehen, die sich am Ende sogar noch um eine kleine Sekunde zu einem „Es“ hin absenkt. Die Harmonik beschreibt hier einen ausdrucksstarken Fall. Bewegte sie sich zuvor in Rückungen von a-Moll über ein kurzes H-Dur nach e-Moll und hin zu h-Moll, so ist nun die Melodik auf den Worten „böse Brand“ in C-Dur harmonisiert, und das Klavier, das die melodische Linie im Diskant bislang mit aus einer Kombination von Sechzehntel- und Achtelakkord gebildeten Figur begleitete, lässt nun eine Legato-Folge von drei Akkorden aus drei, vier und zwei Stimmen in Basslage erklingen.

    Auf den die Melodiezeile beschließenden Worten „hast einen Blick doch herauf geschickt“ beschreibt die melodische Linie eine neue Bewegung, ist anders harmonisiert, wird aber vom Klavier mit den akkordisch verdichteten Figuren begleitet, wie das schon bei „böse Brand“ geschah. Schumanns Musik reflektiert auf diese Weise, darin ganz seinen liedkompositorischen Grundintentionen folgend, die vom lyrischen Ich so erlebte Außergewöhnlichkeit des Ereignisses. Die melodische Linie setzt mit einem zweischrittigen Terzanstieg ein, geht in einen repetitiven Sekundfall über und schwingt sich danach aber bei der zweiten und dritten Silbe des Wortes „heraufgeschickt“ zu einem mit einem Quartsprung eingeleiteten gedehnten Sekundfall in oberer Mittellage auf, wobei die Harmonik, die in ihren Rückungen bislang schon im Tongeschlecht Dur verblieb (Rückung von „D7“ nach G-Dur), nun eine ausdrucksstarke von C-Dur nach A-Dur vollzieht.

    Auch die Worte „Als laut das Glas geknickt“, die des vierten Verses der dritten Strophe also, werden von Schumann als außergewöhnliches Ereignis aufgefasst, und er reagiert damit auf die Tatsache, dass sie im Schlussvers in sprachlich-strukturell identischer, aber semantisch-metaphorisch modifizierter Form wiederkehren. Die poetisch fragwürdige, weil die Komik tangierende Weise, in der Titus Ullrich hier verfährt, wird dabei von Schumann auf bemerkenswerte Weise übergangen. Hier beschreibt die melodische nach einem auf eine Tonrepetition folgenden Sekundfall auf dem Wort „Glas“ einen expressiven, in eine kleine Dehnung auf der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage übergehenden Sextsprung, der mit einer Rückung von G-Dur nach C-Dur einhergeht und mit einem Crescendo-Decrescendo versehen ist. Bei „geknickt“ ereignet sich dann ein Fall über eine Terz und eine kleine Sekunde, den das Klavier in vierstimmigen Akkorden mitvollzieht, und die Harmonik vollzieht eine ausdrucksstarke Rückung von C-Dur nach A-Dur.

    „Die Fensterscheibe“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Nicht schnell“ soll die Liedmusik vorgetragen werden. Diese Vortragsanweisung ist durchaus vielsagend, verrät sie doch, dass für Schumann das Erfassen der Aussage des lyrischen Textes von großer Bedeutung ist. Dies deshalb, weil nur auf diese Weise die daraus hervorgehende, sie in ihren semantischen und affektiven Aussagen auslotende Liedmusik in ihrer Plausibilität und dimensionalen Komplexität voll und ganz verständlich wird. Sie verrät also indirekt seine liedkompositorische Grundintention. Ein Zweivierteltakt liegt ihr zugrunde, und als Grundtonart sind e-Moll, bzw. seine Dur-Parallele G-Dur vorgegeben. Sie ist zwar durchkomponiert, ist aber in der ersten und zweiten lyrischen Strophe als variiertes Strophenlied angelegt und weist in den Strophen drei und vier im Bereich der Melodik wiederkehrende deklamatorische Figuren auf. Darin bringt Schumann die durchgehend konstante Grundhaltung des lyrischen Ichs zum Ausdruck.

    Ein dreitaktiges Vorspiel geht der darin auftaktig einsetzenden melodischen Linie voraus. Rhythmisiert repetierende und in h-Moll mit Zwischenrückung nach e-Moll harmonisierte Terzen beschreiben im Diskant einen Sekundanstieg, senken sich wieder ab und gehen am Ende in einen bitonalen Akkord in Gestalt einer Quarte über. Das mutet an wie ein wehmütiger Kurzkommentar zu dem Ereignis, das im Zentrum der nachfolgenden Liedmusik steht. Und auch die nun einsetzende Melodik ist in ihrer ersten, die Worte der ersten drei Verse umfassende Zeile in Moll-Harmonik gebettet, ein e-Moll, das, mit nur einer einmaligen kurzen Rückung nach Fis-Dur immer wieder nach h-Moll rückt. Erst bei dem Quintfall mit Tonrepetition auf dem letzten Wort („mancherlei“) ereignet sich eine Rückung nach E-Dur. Der permanent sich ereignende Übergang vom einen Tongeschlecht zum anderen ist ein typisches Merkmal der Harmonik dieses Liedes, und es erweist sich als ein von Schumann eingesetztes kompositorisches Mittel, die beiden Ebenen des lyrischen Textes zu erfassen: Einerseits die des real-lyrischen Geschehens, wie es vom lyrischen Ich narrativ und deskriptiv präsentiert wird, und andererseits die der Affekte und Emotionen, die den Aussagen des lyrischen Ich innewohnen.

    Die Melodik der ersten Strophe, die in der zweiten Strophe mit nur zwei kleinen, unwesentlichen, weil deklamatorisch textbedingten Variationen auf identische Weise wiederkehrt, lässt das sehr deutlich erkennen. An sich stellen die Worte „Die Fenster klär' ich zum Feiertag,/ Daß sich die Sonn' drin spiegeln mag“ rein sprachlich betrachtet die narrative Wiedergabe eines Sachverhalts dar. Und die Struktur der melodischen Linie reflektiert das auch, indem sie sich deklamatorisch in einem syllabisch exakten und stark von Tonrepetitionen geprägten Auf und Ab in mittlerer tonaler Lage entfaltet, das vom Klavier mit einer schlichten, von Achtelpausen unterbrochenen Folge von dreistimmigen Achtelakkorden im Diskant begleitet wird. Aber Schumann bettet sie durchgehend in e-Moll- und h-Moll-Harmonik, verleiht nur dem Wort „ich“ eine Akzentuierung durch einen singulären Fis-Dur-Akkord. Und das soll doch wohl so verstanden werde, dass dieses lyrische Ich aus seiner Sicht seine Betätigung als triste Angelegenheit betrachtet.

    Bei den Worten „und klär und denke gar mancherlei“ geht die melodische Linie aber in ihrem deklamatorisch-repetitivem Auf und Ab zu größeren Intervallen über, beschreibt darin sogar eine triolische Bewegung, und der Klaviersatz weist eine Verdichtung in Gestalt einer pausenlosen und rhythmisierten Aufeinanderfolge von Achtelakkorden auf. Und am Ende vollzieht die Harmonik, wie schon beschrieben, eine Rückung vom vorangehenden e-Moll nach E-Dur. Man kann das vielleicht so interpretieren, dass das lyrische Ich über eine semantische Deutung des Wortes „klären“ zu einer Sinnstiftung seiner Tätigkeit findet. Dass dann die Harmonik bei der Melodik auf den Worten „Da geht er stolz vorbei“ ganz und gar im Bereich des Tongeschlechts Dur verbleibt, ist der Tatsache geschuldet, dass hier vom lyrischen Ich ein realer Sachverhalt konstatiert wird. Die melodische Linie verharrt dementsprechend im Gestus der Tonrepetition.

    Aber auch hier bringt Schumann, und dies auf höchst subtile Weise, die mit dieser Feststellung einhergehenden Gefühle des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Zunächst einmal dadurch, dass er diese Worte in eine eigene, nach einer Dreiachtelpause einsetzende Melodiezeile fasst und die Dynamik ins Pianissimo zurücknimmt. Überdies aber auch in der Anlage der Melodik. Mit einem auftaktigen Sekundschritt geht die melodische Linie bei den Worten „geht er“ zunächst zu einer rhythmisierten Repetition auf der tonalen Ebene eines „F“ in tiefer Lage über, bei dem Wort „stolz“ beschreibt sie dann aber eine kleine Dehnung einen Halbton höher, auf der Ebene eines „Fis“ also, und die Harmonik vollzieht dabei die ausdruckstarke Rückung von G-Dur zum weitab liegenden H-Dur, das sich in einem länger gehaltenen vierstimmigen Akkord ausdrückt. Auf „vorbei“ liegt dann eine neuerlich rhythmisierte Tonrepetition auf dieser Ebene.
    Im nachfolgend kurzen Zwischenspiel ereignet sich ein Aufstieg von Akkorden im Ritardando, der wohl auf weitere Emotionen verweisen soll, die sich beim lyrischen Ich beim Blick auf den „stolz“ vorbeigehenden Geliebten einstellen.

    „Die Fensterscheibe“, op.107, Nr.2

    Die Fenster klär' ich zum Feiertag,
    Daß sich die Sonn' drin spiegeln mag,
    Und klär' und denke gar mancherlei.
    Da geht er stolz vorbei!

    So sehr muss ich da erschrocken sein,
    Daß ich gleich brach in die Scheiben hinein,
    Und gleich auch kam das Blut gerannt
    Rot über meine Hand.

    Und mag sie auch bluten, meine Hand,
    Und mag mich auch schmerzen der böse Brand,
    Hast einen Blick doch herauf geschickt,
    Als laut das Glas geknickt.

    Und in die Augen dir hab' ich gesehn;
    Ach Gott, wie lang ist es nicht geschehn!
    Hast mich ja nicht einmal angeblickt,
    Als leis mein Herz geknickt!

    (Titus Ullrich)

    Wie beim vorabgehenden Gedicht „Herzeleid“, so erweist sich auch hier Titus Ullrich nicht gerade als handwerklich und metaphorisch großer Lyriker. Geradezu unbeholfen mutet die Handhabung der lyrischen Sprache an, und das gilt auch für das Metrum. Bei diesem geht es mit dem Jambus und dem Daktylus bunt durcheinander, und was die sprachliche Gestaltung der lyrischen Bilder anbelangt, so mutet die Aufeinanderfolge der in beiden Fällen mit demselben Wort eingeleiteten Verse „gleich brach in die Scheiben hinein“ und „gleich kam auch das Blut gerannt“ wie der Inbegriff von poetischem Unvermögen an. Und geradezu peinlich wirkt die Kombination der Worte „Glas“ und „Herz“ mit dem Wort „geknickt“ in den syntaktisch gleich angelegten Schlussversen der dritten und vierten Strophe.

    Es könnte allerdings sein, und es ist sogar ziemlich wahrscheinlich, dass diese geradezu wunderliche sprachliche Unbeholfenheit von Ullrich gewollt ist: Als Sprache eines lyrischen Ichs, bei dem es sich hier ganz offensichtlich um eine Art Fensterputzerin handelt; einen Menschen aus einer Gesellschaftsschicht also, der seine Erfahrungen in Liebe in Worte zu fassen versucht, und dies eben nicht besser vermag als auf diese Weise. Dann wäre diese Lyrik anders zu beurteilen. Gleichwohl wäre ihr aber dann kritisch vorzuhalten, dass ihr Verfasser in dieser Intention nicht konsequent verfahren ist. Denn sie stellt unter diesem Aspekt einen Mischmasch aus mehr oder weniger stark elaboriertem sprachlichem Code dar. Es ist hier eben kein Eduard Mörike hier am Werk, - in seinen Versen über „Das verlassene Mägdlein“.

    Auch hier habe ich mich so ausführlich auf den lyrischen Text eingelassen, weil ich mir nicht recht zu erklären vermag, warum sich ein Robert Schumann, für den ja Liedkomposition wesenhaft Interpretation von Lyrik zum Zweck der Erschließung ihrer semantischen und affektiven Dimensionen darstellt, sich auf solche im Grund ja doch in jeglicher Hinsicht unzulängliche Lyrik eingelassen hat. Allerdings ist festzustellen: Aus der kompositorischen Begegnung und Auseinandersetzung mit ihr ist keine große Liedmusik hervorgegangen. Das ist ja auch gar nicht möglich, geht doch von ihr keine sonderlich große Herausforderung an den Komponisten hervor und können von den lyrischen Bildern keine großen Impulse kommen.

    Schumann hat ganz offensichtlich dieses Gedicht nicht in der von mir erwogenen Interpretationsvariante gelesen. Er ignoriert den Sachverhalt, dass sich hier eine Fensterputzerin lyrisch artikuliert und fasst das lyrische Ich als ein sozial nicht näher definiertes auf, das bei seiner Arbeit eine in doppelter Hinsicht schmerzhafte Begegnung mit dem in der Ferne an ihm vorbeigehenden Geliebten macht, die sich als seelisch tief treffende Erfahrung nicht erwiderter Liebe erweist.
    Diese existenzielle Dimension lotet Schumann in ihren affektiven Dimensionen aber in einer so tief reichenden Weise aus, dass die Liedmusik in ihrer Aussage die des lyrischen Textes weit übersteigt und dabei dessen lyrisch-sprachliche Schwächen und den Bereich der Komik tangierende metaphorische Plattitüden völlig vergessen macht.
    Schumann scheint den lyrischen Text ganz aus der personalen Betroffenheit durch das wörtlich genommene Geschehen in ihm in Musik gesetzt zu haben.


    „Herzeleid“ (II)

    Auch die sich unmittelbar, das heißt ohne Pause anschließende Melodik auf den Worten „Die unglücksel´ge Träumerin“ ist wieder vom Fall-Gestus geprägt. Dies dergestalt, dass sie bei dem Wort „unglücksel´ge“ mit einem verminderten Sekundfall zu einem rhythmisierten dreisichrittigen Auf und Ab auf der Ebene eines „Fis“ in unterer Lage übergeht, das vom Klavier, nun von seiner üblichen Sechzehnte-Fallfigur ablassend, mit einem harmonisch weitab liegenden sechsstimmigen Fis-Dur-Akkord begleitet wird und dadurch eine markante Hervorhebung erfährt. Und bei dem Wort „Träumerin“ beschreibt die melodische Linie dann einen gedehnten, in eine Tonrepetition auf der Ebene eines „Dis“ in tiefer Lage mündenden verminderten Sekundfall. Er ist in H-Dur gebettet und wird vom Klavier wieder mit der üblichen Sechzehntel-Fall-Figur begleitet. Durch diese Dur-Harmonisierung der Melodik (Fis- und H-Dur) auf den Worten „die unglücksel´ge Träumerin“ will Schumann wohl die lyrische Aussage auf die Ebene einer sachlich ausgerichteten Feststellung heben und damit der existenziellen Situation dieser lyrischen Figur Allgemeingültigkeit verleihen. Und das dürfte man als Indiz dafür verstehen, dass er selbst sich in ihr wiedergefunden hat.

    Nach einer wiederum relativ langen Pause, in der die Harmonik in den sie ausfüllenden Sechzehntelfiguren eine Rückung von „H7“ nach e-Moll vollzieht, setzt die Melodik auf den Versen der zweiten Strophe ein. Sie ist, dies auch in ihrer Harmonisierung, bis einschließlich des dritten identisch mit jener der ersten Strophe. Die einzige markante Abweichung liegt bei ihrem Einsatz auf den Worten des ersten Verses vor. Statt einer auftaktig in eine Dehnung übergehenden Tonrepetition wie dort, setzt die melodische Linie nun mit einer den Wert eines Viertels einnehmenden Dehnung auf dem Wort „und“ ein. Sie ereignet sich aber auf der gleichen tonalen Ebene wie dort, also auf der eines „H“ in mittlerer Lage. Auch der Klaviersatz ist der gleiche, ein sich im ersten Zwischenspiel in die Sechzehntel-Fallfigur hineindrängender Akkord ist im Grunde für die Aussage der Liedmusik bedeutungslos.

    Neu ist die Melodik auf dem zweimaligen Ausruf „Ophelia“ im letzten Vers. Aber sie weist die gleiche strukturelle Einfachheit auf wie die des ganzen Liedes. Auf dem Shakespeare beschwörenden Ruf liegt eine schlichte, mit einem Sekundsprung eingeleitete, in e-Moll harmonisierte und syllabisch exakt rhythmisierte, auf dem Vokal „e“ eine kleine Dehnung aufweisende dreimalige Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „D“ in oberer Mittellage. Und Schumann lässt sie mitsamt dem zugehörigen, aus nichts anderem als der üblichen Sechzehntel-Figur bestehenden Klaviersatz unverändert noch einmal deklamieren.

    Aber das hat natürlich seinen guten Sinn. Diese Melodik reflektiert in ihrer strukturellen Schlichtheit den Ruf-Charakter des lyrischen Textes, und die Wiederholung steigert die suggestiv-lockende Anmutung, die ihm innewohnt.
    Der Verfasser des Gedichts lässt ja offen, ob sein lyrisches Ich diesem Lispel-Lockruf der „Wellen“ folgt. Und Schumann? Er kann natürlich mit seinen musikalischen Ausdrucksmitteln keine definite Aussage machen. Aber kann sie mit deren evokativem Potential nahelegen. Und da ist nun auffällig und vielsagend, dass er die Melodik des Ophelia-Rufs auf die Quinte zum Grundton legt und sie damit für das Nachspiel öffnet.

    Was aber sagt das?
    Drei Takte lang erklingt pianissimo die Sechzehntel-Grundfigur des Klaviersatzes in der ihr zugehörigen, aber mit Zwischenrückung nach H-Dur versehenen e-Moll-Harmonisierung. Aber im Unterschied zum Vorspiel bildet nun der Oberton eine melodische Figur ab. Und siehe: Es ist die, die der Melodik auf den Worten des ersten und des zweiten Verses beider Strophen zugrunde liegt: Der eine gedehnte Tonrepetition folgende Sekundanstieg, der anschließend in einen Fall über eine Quinte, bzw. eine Terz übergeht und anschließend wieder zur Ausgangsebene zurückkehrt.
    +
    Diese Figur, um die die ganze Melodik dieses Liedes kreist und aus der sie sich aufbaut, bringt die Grundhaltung des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Und sie mutet an, als sei sie die eines Seins zum Tode.

    „Herzeleid“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Langsam“ soll die Liedmusik vorgetragen werden. Ein Dreiachteltakt liegt ihr zugrunde, und als Tonart ist e-Moll, bzw. seine Dur-Parallele vorgegeben. Mit einem zweitaktigen Vorspiel setzt sie ein. Im Piano erklingt ein im Diskant einsetzender und sich im Bass fortsetzender Fall von Sechzehnteln über ein Terzintervall, und mit einem Sekundsprung geht der Oberton dieser Figur zur Fortsetzung derselben im zweiten Takt über, so dass sich über ein Terzintervall fallende Sechzehntel, die sich der Ansatz einer melodischen Linie vernehmen lässt, die sich als der Kern derjenigen erweist, die den Worten des ersten Verses zugrunde liegt. Zumal sich hier und dort die gleiche harmonische Rückung von e-Moll nach H-Dur ereignet.

    Diese Sechzehntel-Figur erweist sich als der substanzielle Kern des Klaviersatzes. In der ersten Strophe begleitet das Klavier die melodische Linie mit Varianten von ihm, ergänzt nun gegen Ende mit vierstimmigen Akkorden. In der zweiten Strophe erfährt er eine weitere Verdichtung durch in ihn eingelagerte bitonale Akkorde, und er reflektiert auf diese Weise die Potenzierung des affektiven Gehalts der lyrischen Bilder. Die Grundgestalt bleibt aber durchweg erhalten, und man kann sie in dem ihr innewohnenden Fall-Gestus als klangliches Äquivalent des das Gedicht einleitenden Bildes von den matt ihre Zweige hängen lassenden Weiden auffassen und verstehen.

    Auch die Melodik dieses Liedes weist - zumindest in der ersten Strophe - im Einklang mit dem Klaviersatz eine starke Prägung durch den mit Mollharmonik einhergehenden Fall auf. Bei den Worten „Die Weiden lassen matt die Zweige hangen“ setzt sie, piano und in e-Moll-Harmonik gebettet, auftaktig mit einer in eine Dehnung übergehenden Tonrepetition auf der Ebene eines „H“ in mittlerer Lage ein, beschreibt bei „Weiden“ einen Sekundschritt aufwärts, geht nach einem Quartfall in einen neuerlichen, sie auf die bereits bei „Weiden“ erreichte Ebene führenden Anstieg über, um sich dann aber bei „die Zweige hangen“, ganz der Semantik dieser Worte entsprechend, einem Sich-Absenken hin zur tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage hinzugeben. Der Sekundfall in tiefer Lage auf dem Wort „hangen“ ist in ein a-Moll gebettet, das ihm als harmonische Rückung vom vorangehenden H-Dur eine starke klangliche Hervorhebung verleiht.

    Beim zweiten Vers, den Worten „Und traurig ziehn die Wasser hin“ verharrt sie dann zwar in einem Auf und Ab von Sekundschritten auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage, wobei die Worte „traurig“ und „Wasser“ eine leichte Akzentuierung durch einen gedehnten Sekundanstieg, bzw. -fall erfahren, und überdies ist diese wiederum in eine längere Pause mündende Melodiezeile ganz und gar im Tongeschlecht Dur (in der Subdominante C-Dur mit Rückung zur Tonika G-Dur) harmonisiert. Das hat aber seinen Grund im Gehalt des lyrischen Bildes, so wie Schumann diesen aufgefasst hat. Er weist ein geringeres affektives Potential auf, und zudem ist das Bild nicht von dem Verb „fallen“, sondern von „hinziehen“ geprägt. Deshalb das Verharren der melodischen Linie auf der tonalen Ebene.

    Anders ist das nun wieder bei den Versen drei und vier. Schumann zieht sie zu einer Melodiezeile zusammen, weil der vierte Vers eine syntaktische Apposition zum dritten darstellt. Hier ist das affektive Potential nun sehr hoch, weil die lyrische Aussage nicht mehr landschaftlich deskriptiv angelegt ist, sondern auf das lyrische Ich Bezug nimmt und mit dem Bild von den „bleichen Wangen“ ihre existenzielle Gefährdung aufscheinen lässt. Bei den Worten „Sie schaute starr hinab mit bleichen Wangen“ geht die melodische Linie nach einer anfänglich dreimaligen, in C-Dur harmonisierten Tonrepetition auf der Ebene eines „E“ in tiefer Lage in rhythmisierten (punktierte Sechzehntel und ein Zweiunddreißigstel) Anstieg zu Ebene eines „C“ in oberer Mittellage über und gipfelt bei dem Wort „bleichen“ in einer triolischen Bogenfigur auf, wobei die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung von vorangehenden F-Dur zu dissonanter G-Dur-Harmonik vollzieht, die sich in einem erstmals im Klaviersatz erklingenden sechsstimmigen Akkord ausdrückt. Auf dem Wort „Wangen“ liegt dann die Fortsetzung des mit dieser Figur eingeleiteten melodischen Falls in Gestalt eines in a-Moll gebetteten und in eine kleine Dehnung mündenden Sekundschritts abwärts.


    Dieser Thread ist in seinen Liedbetrachtungen darauf ausgerichtet, die spezifische Eigenart von Schumanns Liedmusik in der Spätphase ihrer Entwicklung zu erfassen. Eine solche Entwicklung lässt sich tatsächlich feststellen. Die Lieder, die in der Düsseldorfer Zeit entstanden, also in den Jahren 1851 bis 1853, heben sich von jenen des sog. „Liederjahres“ und der Zeit bis etwa 1849 deutlich ab. Allein schon dadurch, dass ihnen nun meist nicht mehr große Lyrik zugrunde liegt, und dies in Gestalt größerer, jeweils einem Dichter sich widmender Liederzyklen, stattdessen lyrische Texte mit geringerem poetischem Potential, die von weniger bekannten Autoren stammen und häufig Einzelkompositionen oder nur kleine Gruppen von zwei bis drei Liedern darstellen.

    Aber auch die Liedsprache hat sich gewandelt, und um zu erfassen, in welcher Weise sich dies darstellt und der Frage nachzugehen, welche Gründe dafür verantwortlich sein könnten, sollen die beiden in eben jener Düsseldorfer Zeit entstandenen Lied-Opera 107 und 135 liedanalytisch näher betrachtet werden. Die zentrale Frage wird dabei sein, ob und in welchem Grad die für Schumanns Liedsprache so typische und charakteristische Synthese von strukturell hochgradig differenzierter Melodik und autonomem Klaviersatz erhalten blieb, das kompositorische Instrumentarium also, das für die von ihm intendierte Interpretation von Lyrik zum Zweck der Erschließung ihrer affektiven Dimensionen, das, was er „die feineren Züge des Gedichts“ nannte, erforderlich war.

    „Sechs Gesänge op. 107“

    Diese sechs “Gesänge” entstanden im Januar, im Spätsommer 1851 setzte Schumann die kompositorische Arbeit daran fort, und im Januar 1852 war er noch einmal damit befasst. In diesem Jahr wurden sie auch publiziert. Anders als in der Hochzeit seiner Liedkomposition 1841 ging diese ihm nach seinem Umzug nach Düsseldorf im Spätsommer 1850 nicht mehr so flott von der Hand. Seine anwachsenden seelischen Probleme dürften dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben.
    In seinem Tagebuch findet man aus dieser Zeit Notizen wie „Auch Ver- und Umstimmungen“ und „Auch Menschen, die die schwachen Stunden anderer zu benutzen wissen, um sich auf irgendeine Art über sie zu stellen.“
    Er spricht von „einsamen Spaziergängen“, fühlt sich von regelrechten Panikzuständen geplagt und entwickelt sogar Fluchtpläne.
    In diesem Zusammenhang wird hier auch der Frage nachzugehen sein, ob sich davon ein Niederschlag in der Musik dieser „Gesänge“ zu finden ist.

    „Herzeleid“, op.107, Nr. 1

    Die Weiden lassen matt die Zweige hangen,
    Und traurig ziehn die Wasser hin:
    Sie schaute starr hinab mit bleichen Wangen,
    Die unglücksel´ge Träumerin.

    Und ihr entfiel ein Strauss von Immortellen,
    Er war so schwer von Tränen ja,
    Und leise warnend lispelten die Wellen:
    Ophelia, Ophelia!

    (Titus Ullrich)

    Der Verfasser dieser Verse, der Schriftsteller und Literaturkritiker Titus Ullrich (1813 - 1891), wurde von Schumann hoch geschätzt, wie aus einem Brief an Friedrich Hebbel hervorgeht. Darin bekannte er, fast alle Werke von ihm auswendig zu kennen. Er traf mit ihm auch mehrmals in Berlin zusammen. Neben diesem und dem nachfolgend vorgestellten Gedicht „Die Fensterscheibe“ vertonte er von ihm auch noch den lyrischen Text „Zu den Waffen“ in Gestalt eines Werks für Männerchor.

    Das Thema „Herzeleid“ wird hier in einer Analogie zur Shakespeare-Gestalt Ophelia lyrisch abgehandelt, die so weit geht, dass dem lyrischen Ich, das als „unglückselige Träumerin“ vorgestellt wird, Wellen warnend zweimal „Ophelia“ zulispeln, eine Anspielung auf den Bach, in dem diese tot aufgefunden wurde. Das ist ein bisschen weit hergeholt und nicht gerade Ausweis großer Lyrik.
    Das muss man auch für die übrigen lyrischen Bilder feststellen. „Traurig hinziehende Wasser“, „bleiche Wangen“ und der „Strauss von Immortellen“, das stellt im Zusammenhang mit dem lyrischen Thema reichlich abgegriffene Metaphorik dar. Und sie wirkt sogar ein wenig peinlich: Dem lyrischen Ich entfällt der Strauß, er wird ausdrücklich als „schwer von Tränen“ bezeichnet, und man kann sich kaum der Annahme erwehren, dass diesbezüglich eine Kausalität besteht. Mal ganz abgesehen davon, dass das kleine Wörtchen „ja“ nur angefügt wurde, damit hier das für den zweiten Vers der Strophe obligatorische vierfüßig- jambische Metrum mit stumpfer Kadenz eingehalten werden kann.

    Dieses Gedicht wurde deshalb einer ins Detail gehenden kritischen Betrachtung unterzogen, weil es auf den ersten Blick unerklärlich erscheint, warum der literarisch so hochgebildete Robert Schumann dergleichen zu einer Vertonung herangezogen hat. Auf den zweiten Blick stellt sich aber dann doch eine Erklärung ein. Er könnte sich in seiner damaligen, ihn schwer verstörenden und belastenden seelischen Verfasstheit in diesem lyrischen Ich wiedergefunden haben, und dies jenseits aller Beachtung der Kriterien literarischer Qualität. Sie spielten für ihn, anders als in seinem Liederjahr 1840, damals keine Rolle mehr. Und mit einem leichten Schauer kommt einem in den Sinn, dass er sich selbst drei Jahre nach der Komposition dieses Liedes in den Rhein gestürzt hat.
    Solches „Herzeleid“ könnte er damals in Düsseldorf wohl auch empfunden haben. Und so scheint das auch Dietrich Fischer-Dieskau zu sehen, wenn er zu den Aussagen des lyrischen Textes anmerkt:
    „Sie mögen bereits den Gedanken Schumanns zu dieser Zeit entsprochen haben, so kurz vor seinem eigenen Zusammenbruch und dem Versuch, sich im Rhein zu ertränken.“


    Zum Schluss

    Es ist nur ein kleiner Teil aus dem doch recht umfangreichen Liedschaffen Reimanns, der hier vorgestellt wurde. Aber ich denke, dass damit ein Eindruck vom Charakter und Wesen desselben vermittelt werden konnte.
    Ich hatte ursprünglich diesem Thread den Titel gegeben „Aribert Reimann, ein liedmusikalische Außenseiter der Moderne“. Den ersetzte ich nach Einwänden von Werner Hintze und kurzstueckmeister, um in Ruhe meine Liedbetrachtungen fortsetzen zu können, durch den jetzt gültigen.

    Ich möchte nun nicht nachkarten, nur um der Sache willen darauf hinweisen, dass dieser Begriff „Außenseiter“ nicht von mit stammt, sondern von Reimann selbst. Er konnte mit den avantgardistischen Trends, wie sie ihm Darmstadt und Köln begegnet sind und in der seriellen Technik im Grunde auf eine Entemotionalisierung der Musik hinausliefen, nichts anfangen. Seine eigenen Versuche darin empfand er als frustrierend und kam zu der Erkenntnis, dass „die streng reihenbasierte Klangdetermination seinem als >organisch< empfundenen, entwickelnden Denken nicht entspricht“ (H.U. Gumbrecht).
    In Reimanns eigenen Worten:
    „Diese Konfrontation mit der seriellen Sprache hat ungeheuer negativ auf mich gewirkt, aber sehr positiv in dieser negativen Erfahrung, weil ich damals schon wusste, diesen Weg kann ich nicht gehen. Und ich wusste ein halbes Jahr später, ich werde ein Außenseiter sein. Entweder glückt es mir oder nicht. Ich muss den Weg so gehen, wie ich ihn kompositorisch verantworten kann.“

    Er sieht sich also selbst als „Außenseiter“. Seine Überzeugung war, dass es der Musik gelingen würde, „eine Gegenwelt zu schaffen, in der wieder der menschliche Ausdruck in seiner einfachsten oder auch kompliziertesten Sprache sich äußert“ (Reimann). Im Bereich der Liedmusik kommt für ihn dabei dem Melos eine herausragende Rolle und Funktion zu.

    Wie sich diese konkret darstellt, das, so denke ich, sollte in diesem Thread deutlich geworden sein.

    „Auf meines Kindes Tod“ (III)


    Was aber hat darin die melodische Linie der Singstimme noch zu sagen?
    Auf den Worten „Was ist mir denn so wehe?“ beschreibt sie zwar wieder eine Anstiegsbewegung in kleinen Sekundschritten, diese setzt nun aber im einem vorangehenden verminderten Sekundfall ein, und sie endet nicht in der bogenförmigen Legato-Sekundschrittfigur wie beim ersten Mal, vielmehr setzt sie jetzt auf „wehe“ den Aufstiegsgestus in Gestalt zweier Sekundschritte weiter fort, wovon der erste ein im Legato verminderter ist, der zweite dann aber in eine Dehnung auf der Ebene eines „A“ in hoher Lage ist. Der lyrische Ausruf hat seine Anmutung von Kläglichkeit abgelegt und ist zum Ausdruck von tiefer schmerzlicher Klage übergegangen.

    In vier Takten lässt das Klavier ihm nun, auch das viel länger als beim ersten Mal, einen Kommentar nachfolgen. Das geschieht „ppp“ in Gestalt von vier- bis siebenstimmigen Legato-Figuren in Diskant und Bass, die sich allerdings am Ende schon zu vierstimmigen verkleinern. Bei den Worten des letzten Verses beschreibt die melodische Linie eine hochexpressive, darin die Bedeutsamkeit der lyrischen Aussage zum Ausdruck bringende Bewegung. Jeder deklamatorische Schritt wird in gedehnter Weise ausgeführt, und so liegt denn auf den Worten „wie bald“ ein ausdrucksstarker verminderter Septsprung zu tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage, der auf „bald“ in einen Oktavfall mit sich anschließender langer Dehnung übergeht. Bei „wird alles still“ trägt das Wort „wird“ eine Dehnung auf einem „D“ in oberer Lage, ebenso der Vokal „a“ von „alles“.

    Auf „alles“ ereignet sich ein verminderter, ebenfalls gedehnter Oktavsprung, und zur Silbe „-les“ senkt sich die melodische Linie zu einer langen Dehnung auf der Ebene eines „B“ in oberer Lage ab, so dass dieses Wort eine starke Hervorhebung erfährt. Und noch größer ist diese bei dem lyrisch so bedeutsamen und vielsagenden Wort „still“. Hier steigt die melodische Linie im Intervall einer kleinen Sekunde von der tonalen Ebene der langen Dehnung auf der Silbe „-les“ an und überlasst sich anschließend auf der tonalen Ebene eines „H“ einer extrem langen, sich über sechs Takte erstreckenden und darin ohne eine Diminuendo endenden Dehnung.

    Das Klavier begleitet das mit einer Folge von drei- und vierstimmigen Figuren auf drei Ebenen, zweien im Diskant und einer im Bass, wobei die obere im Diskant-Oktav angesiedelt ist, so dass sich infolge der extrem großen Intervalle zwischen dieser Ebenen und der zunehmenden Verkleinerung der Achtelfiguren zu Dreistimmigkeit der Eindruck einer Zersplitterung und eines Zerfalls des Klaviersatzes einstellt. In dem einen Takt nach dem Ausklingen der Dehnung auf „still“ besteht er nur noch aus einer Legato-Sekundsprungfigur im Oktav-Diskant, zweien als Sekundfall angelegten im mittleren Diskant und einem einsamen Achtel-C im Bass.

    Die Struktur der Melodik auf den Worten des letzten Verses und vor allem die Anlage des Klaviersatzes lassen das liedkompositorische Konzept, das diesem Lied zugrunde liegt, in aller Deutlichkeit erkennen: Die Liedmusik verkörpert in ihrer Gestalt den Zerfall und die Auflösung von lebensweltlichem und menschlichem Sein, wie sie, so wie Reimann das aufgefasst hat, Eichendorff bei diesem Gedicht in den Aussagen des lyrischen Ichs und der diese genierenden Metaphorik zum Ausdruck gebracht hat.