Beiträge von Helmut Hofmann

    Ich bedanke mich für die so rasche Erfüllung meiner Bitte um Änderung des Thread-Titels.

    Ich hätte diesen, wie ich jetzt einsehe, sprachlich so nicht anlegen sollen, weil er eine Komponente subjektiver Wertung enthielt, also nicht in der gebotenen Weise sachlich-neutral formuliert war.

    Beschäftigt habe ich mich außer mit Wolfgang Rihm, zu dem ich ja hier einen Thread eingestellt habe, vor allem mit Stockhausen und Henze. Das aber nicht sehr gründlich und tiefgehend.

    Dann ist für Dich Henze auch ein Außenseiter, hm?

    (...)

    Ich vermute mal, dass die Ursache für Deine (Fehl-)Zuordnung eine Art Feindseigkeit gegenüber serieller Musik Deinerseits ist?

    Von einer "Feinseligkeit gegenüber serieller Musik" meinerseits kann keine Rede sein.

    Ich gewann diesen Eindruck aus dem Vergleich der Liedkompositionen Reimanns mit denen der anderen, seiner Generation angehörenden Repräsentanten der Moderne.

    Aber wenn der Titel dieses Threads dich stört, Du sogar von einer "Fehleinschätzung" sprichst, dann kann er gerne geändert werde. Du verfügst ja über die Möglichkeit dazu.

    Ich schlage vor: "Aribert Reimann. Eine Betrachtung ausgewählter Liedkompositionen".

    Mir soll´s recht sein. Ich bitte darum.

    Lied 4: „Hörst du die Gründe rufen“

    Hörst du die Gründe rufen
    In Träumen halb verwacht?
    O, von des Schlosses Stufen
    Steig nieder in die Nacht! --

    Die Nachtigallen schlagen,
    Der Garten rauschet sacht,
    Es will dir Wunder sagen,
    Die wunderbare Nacht.

    Diese zwei kleinen Strophen verkörpern den Inbegriff von Eichendorff-Lyrik, und dies in allen ihren Bereichen: Der lyrischen Sprache, ihrer prosodischen Gestalt, ihrer Metaphorik und der aus ihrem evokativen Potential hervorgehenden poetischen Aussage. Die Sprache ist vom Hellen ins Dunkler absinkenden Vokalen und den sonoren Konsonanten „l“, „m“ und „n“ geprägt. Sie ist auf diese Weise in ihrer Klanglichkeit zu Musik geworden. „Nacht“ ereignet sich, und dies, wie typisch für Eichendorff, in Gestalt von wesenhaft zarte und leise Bewegung beinhaltenden lyrischen Bildern. Der Garten rauscht „sacht“ und die Urgründe dieser Welt rufen aus der Tiefe wie aus Träumen kommend nur „halb verwacht“. Das Schlagen der Nachtigall stört dieses Bild von urgründiger Ruhe nicht, denn es generiert Ferne und Weite.

    Eichendorff gestaltet hier poetisch „Nacht“ allein mit einer Metaphorik ohne lyrisches Ich. Das ereignet sich im sprachlichen Gestus der Ansprache an ein imaginäres „Du“, und indem der Rezipient sich mit diesem identifiziert, wird er durch diese sich in gleichförmig dreifüßigen Jamben, Kreuzreim und dem Wechseln von klingender und stumpfer Kadenz entfaltende, onomatopoetische Folge von suggestiver Metaphorik hineingezogen und erfährt das, was die „Nacht“ ihm zu sagen hat. „Wunder“ sind es, die reale Welt transzendierende und zu deren Urgrund hinführende Erfahrungen also. Eichendorff intensiviert diese Erfahrung durch eine bewusst eigesetzte sprachliche Operation, die ein Lyriker tunlichst meiden sollte: Die Wiederholung eines Wortes in zwei aufeinanderfolgenden Versen. Hier ereignet sich das mit dem für die lyrische Aussage fundmentalen Wort „Wunder“ in den letzten beiden Versen.

    Konnte man, wie das mir beim dritten Lied erging, einmal den Eindruck gewinnen, dass Reimann in seinem konsequenten kompositorischen Ansatz an der lyrischen Sprache dem spezifischen Geist der Eichendorff-Lyrik, deren spezifischem affektiven Potential nicht voll und ganz gerecht wurde, so ist das hier in keiner Weise der Fall. Dieses Lied stellt ohne Zweifel das romantischste in diesem Zyklus dar. Weitaus stärker als in den übrigen vier Kompositionen entfaltet sich hier die Melodik in liedhaft gebundener und phrasenhaft weiter angelegter Weise, die Musik erfasst sowohl den semantischen, wie auch den affektiven Gehalt der lyrischen Bilder, fängt sozusagen die Stimmung des lyrischen Textes ein und sie reflektiert in der taktförmigen Gleichförmigkeit ihres Verlaufs auch die prosodischen Gegebenheiten desselben.


    „Vor dem Schloß in den Bäumen“ (III)

    Bedeutsam sind sie ja, diese Worte „Schau nicht nach mir zum Fenster hinaus“, bringen sie doch indirekt die Gefahr zum Ausdruck, die von diesem Spielmann und seinen Liedern ausgeht. Und die melodische Linie, die nun erneut a cappella vorgetragen wird und bemerkenswerterweise Piano, reflektiert in ihrer Anlage auch auf eindrückliche Weise dieses Gefahrenpotential. In schnellen, durch die Einlagerung von Sechzehnteln und mit Vorschlag versehenen Sprungfiguren geradezu hektisch wirkenden deklamatorischen Schritten eilt sie in hoher Lage dahin und klingt in einer kleinen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „G“ auf der zweiten Silbe von „hinaus“ aus. Das Klavier kommentiert ihre Aussage nicht, denn die Figuren, die es forte nach einer kleinen Achtelpause erklingen lässt, sind der nun einsetzenden Melodik auf den Worten der dritten Strophe als Begleitung zugedacht.

    Man kennt sie schon. Sie erklangen erstmals nach der Melodik auf den Worten „Unter den Fenstern ein Spielmann geht“, und ihr Auf und Ab von Achteln über riesige, vom tiefen Bass bis zum extrem hohen Bass sich erstreckende Intervalle Sie evozieren als klangliche Chiffre irrwitzige Hektik und begleiten darin die Melodik bis zum Ende des dritten Verses der dritten Strophe. Und diese entfaltet sich in eben diesem Gestus irrwitzig schneller, in Achtel- und Sechzehntelschritten über kleine und große Intervalle in vorwiegend hoher und bei dem Wort „verzweifelter“ in der tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage aufgipfelnder Bewegung, um erst bei dem Wort „Strauß“ innezuhalten. Dies aber auf höchst expressive Weise, in Gestalt eines in eine längere Dehnung übergehenden Sekundfalls von einem zweigestrichenen „G“ zur Ebene eines „Es“ in hoher Lage, wobei die Sprungbewegungen im Klaviersatz das extreme Intervall von der Ebene eines fünfgestrichenen „E“ im Diskant bis zu der eines dreigestrichenen „E“ im Bass erreicht haben.

    Die Melodik auf den Worten „Wird doch kein fröhlicher Kranz nicht daraus!“ mutet in ihrem quartolischen Auf und Ab wie ein lakonischer Nachtrag dazu an. Sie stellt ohnehin, wie der sie im Klavierdiskant begleitende kontinuierliche Anstieg von Achtelquintolen andeutet, ein Bindeglied zu dem dar, was die nach einer Viertelpause einsetzende Melodik des ersten Verses letzten Strophe zu sagen hat. Die melodische Linie auf den Worten „Wird aus dem Schrei doch nimmer Gesang“ wirkt in dem zweimaligen Übergang eines septolischen Auf und Ab-Anstiegs von Sechzehntels in ein quintolisches von Achteln in hoher Lage wie eine Karikatur von Gesang, und das Klavier unterstreicht das, indem es pro Takt einen einzigen vierstimmigen Achtel-, bzw. Sechzehntelakkord erklingen lässt, als könne das diese Perversion von Gesang begleitende Instrument keinen rechten Klang hervorbringen. Diese Art der Begleitung behält das Klavier nun, wenn es nicht wieder einmal ganz und gar verstummt, bis zum dritten Vers einschließlich bei.

    Auch die Melodik behält den deklamatorischen Gestus, den sie mit den Worten des ersten Verses eingeschlagen hat, bei. In der Abfolge von sprunghaft angelegten Legato-Achtelfiguren wirkt sie wie ein nicht enden wollendes und darin höchst eindrückliches, langsam vom Fortissimo ins Mezzoforte übergehendes Geleier, das, und das ist gleichsam die Krönung dieses wie eine übertriebene Karikatur von Gesang anmutenden Gestus, auf der zweiten Silbe von „verweht“ in einen wahrlich deklamatorisch fünfschrittigen Legato-Sekundanstieg mit anschließend vermindertem Sekundfall endet. Das Klavier hat dazu nur noch einen vierstimmig-dissonanten Achtel-Akkord in tiefer Basslage beizutragen.

    Mit dem letzten Vers lässt Reimann die Liedmusik von der - meines Erachtens zweifelhaften, weil ins Extrem getriebenen - Karikatur von melodischer Gesanglichkeit zum Gestus eindeutiger Ernsthaftigkeit übergehen. Er kann gar nicht anders, wenn er denn die Aussage „Lebt wohl“ so auffasst, wie sie vom lyrischen Ich gemeint ist, - als möglicherweise in den Tod führendes Ausscheiden aus der menschlichen Gesellschaft.
    Ein arpeggierter sechsstimmig dissonanter Akkord geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. Auf diesen Worten beschreibt sie einen in eine Dehnung übergehenden, a cappella und piano vorzutragenden verminderten Sekundfall von einem hohen „E“ zu einem „Es“. Erst im Nachhinein lässt das Klavier wieder den gleichen Arpeggio-Akkord erklingen, und auf diese Weise wird die Liedmusik in der Tat dem semantischen und auch dem affektiven Gehalt dieser lyrischen Aussage gerecht.

    Erst nach einer Viertelpause setzt die melodische Linie ihre Bewegungen fort, und dies auch nicht bis zum Ende des letzten Verses. Vor den Worten „wohin es geht“ wird sie darin noch einmal von einer Achtelpause unterbrochen, und diese, sich auch in der Struktur der melodischen Linie auf diesen Worten niederschlagende Ausführlichkeit der liedmusikalischen Reflexion des letzten Verses ist durchaus als Beleg für die Gründlichkeit und Tiefe des kompositorischen Umgangs mit den Versen Eichendorffs aufzufassen.
    Da die Worte „und fragt nicht“ eine Aufforderung beinhalten, beschreibt die melodische Linie erst einen Legato-Bogen in oberer Mittellage und anschließend eine verminderten Quartsprung in hohe, um sich von dort wiederum legato um eine kleine Sekund abzusenken. Das geschieht wieder ohne Klavierbegleitung, und wie auch bei den anderen Fällen dieser Art gewinnt man den Eindruck, dass Reimann mit diesem a cappella-Prinzip die Nachdrücklichkeit der Aussage dieses wesenhaft einsamen lyrischen Ichs zum Ausdruck bringen will.

    Die nach einer Achtelpause einsetzende melodische Linie auf den Schlussworten „wohin es geht“ erfährt zwar wieder eine Klavierbegleitung, diese zeichnet sich aber durch eine bemerkenswerte klangliche Dürftigkeit aus. Durchgehend besteht sie nur aus zwei- und dreistimmigen, mal steigend, dann aber wieder fallende angelegten Achtelfiguren im Bass, die aber quintolische darstellen, weil sie von Achtelpausen unterbrochen werden und deshalb wie nur hingetupft wirken. In diesem Aus- und Verklingen reflektiert der Klaviersatz den Geist der melodischen Linie. Denn diese mutet in der Art ihrer Entfaltung ebenso an. Auf dem Wort „wohin“ beschreibt sie im Piano einen Legato-Anstieg zur Ebene eines „D“ in hoher Lage, um sich dort auf der zweiten Silbe dieses Wortes einer Dehnung zu überlassen. Auf „es“ liegt ein verminderter Sekundfall, zu dem Wort „geht“ hin wird daraus dann aber ein großer, und auf dieser tonalen Ebene, der eines „C“ in hoher Lage also, klingt die melodische Linie in Gestalt einer langen Dehnung aus.

    Im dreitaktigen Nachspiel lässt das Klavier seine nun nur noch zweitönigen Achtelfiguren in der Tiefe des Basses versinken, und am Ende erklingt nur noch ein einsames dreigestrichenes Achtel-„G“. Es ist ein liedmusikalisches Ersterben, was sich da in der Melodik und im Klaviersatz des letzten Verses ereignet, und man darf darin, wie ich denke, durchaus vernehmen, dass der Weg dieses einsamen Spielmann-Ichs einer in den Tod ist.

    „Vor dem Schloß in den Bäumen“ (II)

    Mit einer heftig anmutenden, weil in hoher „Es“-Lage ansetzenden und über die großen Intervalle einer Sexte und einer Septe (im Sprung) sich ereignenden Fall- und Sprungbewegung setzt die melodische Linie auf der Worten „der Spielmann“ ein. Sie reflektiert die innere Erregung des lyrischen Ichs. Und im gleichen deklamatorischen Gestus, nur nun im kleineren Intervall einer Sexte setzt sie sich bei „aber ich selber bin“ in der tonalen Ebene auf mittlere Lage ab, um über einen Quintfall bei „bin“ in einer kleinen Dehnung zu enden.

    Nun, mit der zweiten Strophe, wandelt sich das Verhältnis von Melodik und Klaviersatz. An die Stelle eines solistischen Nacheinanders tritt ein Zusammenspiel. Aber das ist nur ein formales, insofern beide zugleich erklingen, dabei aber ihre absolute Autonomie beibehalten, so dass man von einem wirklichen „Zusammen“ eigentlich nicht sprechen kann. Und im übrigen wird dieser fakturielle Sachverhalt auch nicht durchgehalten, erklingt doch mehrmals noch die melodische Linie mehr oder weniger lang a capella.

    Vor dem Einsatz der melodischen Linie auf den Worten des ersten Verses der zweiten Strophe setzt das Klavier im Diskant wieder mit seinen Legato-Sechzehntel-Folgen ein, die nun aber noch stärker irrlichternd wirken, weil sie nicht mehr als bogenförmige Kette angelegt sind, sondern erst als zweimaliges Aufwärts, dann als fallende Kennte und schließlich als sprunghaftes Auf und Ab. Und überdies kommt nun, anders als in der ersten Strophe, auch der Klavierbass zum Einsatz, und dort ereignet sich Ähnliches wie im Diskant, nur zumeist als gegenläufige Bewegung von Achteln, was den Klaviersatz noch dichter und expressiver macht. Als klangliche Chiffre reflektiert er das lyrische Bild vom lyrischen Ich als ein Dahin- und Vorüberjagen.

    Die melodische Linie auf den Worten „Vorüber jag ich an manchem Schloß“ setzt, und dies nun nicht mehr im Piano, sondern im Mezzoforte, im zweiten Takt dieses Klaviersatzes ein. Reimann lässt nun von dem Verfahren ab, jeden Vers in eine geschlossene, also pausenlose Melodiezeile umzusetzen, erst der letzte Vers der zweiten Strophe ist wieder als ununterbrochene Melodiezeile angelegt. Hier, beim ersten Vers, beschreibt die melodische Linie nach einem anfänglich Ab und Auf über große Intervalle, das dem Wort „Vorüber“ starken Ausdruck verleiht, bei „jag ich“ einen Anstieg in hohe Lage, dann tritt eine Sechzehntelpause in sie, und bei den Worten „an manchem Schloss“ wieder zu ihrem anfänglichen deklamatorischen Gestus des Auf und Abs zurück, nun aber in Gestalt von kleineren Intervallen. Und diese kleine zweite Teil der Melodiezeile erklingt sogar a-cappella.

    Dass sich die Wanderschaft des lyrischen Ichs an „manchem Schloss“ vorbei ereignet, das ist zwar auch insofern bedeutsam, dass es die Ausgeschlossenheit des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringt, bedeutsamer ist aber noch im Hinblick auf seine existenzielle Grundbefindlichkeit, dass dies „jagend“ geschieht. Deshalb entfaltet sich die melodische Linie im ersten Teil in größerer Expressivität, und sie ist in den dieses „Jagen“ klanglich evozierenden Klaviersatz gebettet. Und dieser setzt sich in der fast zweitaktigen Pause für die Melodik des zweiten Verses in dieser Grundstruktur fort, nur dass an die Stelle der nach oben schießenden Sechzehntel-Ketten nun durchweg ein wellenförmiges Auf und Ab sowohl im Diskant, wie auch im Bass tritt. Der dritte Vers enthält in den Worten „Die Locken zerwühlet, verwildert das Roß“ ja nicht ein bewegtes, das Leben des lyrischen Ichs beschreibendes lyrisches Bild, sondern dessen daraus hervorgehendes Äußere und das seines „Rosses“.

    Wieder setzt die melodische Linie erst nach dem Erklingen des Klaviersatzes, dieses Mal sogar erst in dessen drittem Takt ein. Das Wort „zerwühlet“ erfährt dadurch eine Akzentuierung, dass sie melodische Line nach einem verminderten Quartfall einen in eine Dehnung mündenden Anstieg über Terz und eine Quinte beschreibt, und in der nach einer Viertelpause erklingenden zweiten Hälfte der Melodiezeile steigert dich die melodische Linie in noch größere Expressivität. Nun soll sie sogar forte vorgetragen werden. Sie setzt mit einem Legato-Vorschlag in Gestalt eines Quintsprungs ein und steigt drei deklamatorischen Schritten über immer größere Intervall bis zur extrem hohen Lage eines zweigestrichenen „G“ empor, um sich dort bei „Ross“ einer kleinen Dehnung zu überlassen. Diese kleine Zeile erklingt wieder einmal a cappella, das Klavier fügt ihr aber gleichsam im Nachschlag einen Bass und Diskant übergreifenden sechsstimmigen arpeggierten Akkord hinzu.

    In dieser Weise ist auch die Melodik auf den Worten „Du frommes Kindlein im stillen Haus“ angelegt. Die melodische Linie bewegt sich zunächst a cappella in Gestalt eines Auf und Abs in Gestalt kleiner Intervalle in hoher Lage, in der nachfolgenden Achtelpause erklingt wieder der gleiche arpeggierte Akkord, und bei den Worten „im stillen Haus“ beschreibt sie, nun wieder ohne Klavierbegleitung, einen mit einem Sekundfall einsetzenden Anstieg über eine kleine Sekunde und eine Terz in oberer Mittellage. In der sich anschließenden zweitaktigen Pause lässt das Klavier, wie es das schon einmal vor der Melodik des vierten Verses der ersten Strophe tat, wieder eine in Bass und Diskant auseinanderlaufenden Folge von vier- bis sechsstimmigen Akkorden erklingen, und wie dort ist das wohl als Vorab-Verweis auf die Bedeutsamkeit der nun erklingenden melodischen Aussage aufzufassen.

    „Vor dem Schloß in den Bäumen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Über die ganze erste lyrische Strophe hin wechseln Klaviersatz und Melodik miteinander ab. Diese erklingt also durchweg ohne Klavierbegleitung, und da die Liedmusik mit einem fünftaktigen Klaviersatz einsetzt, diesem also gleichsam der Primat zukommt, gewinnt man den Eindruck, dass er gleichsam den klanglichen Raum und die atmosphärische Aura entwirft, in denen die melodische Linie der Singstimme sich entfaltet.

    Es ist ein Raum und eine Atmosphäre von klanglich irrlichternder Zerrissenheit, und der Begriff „melodische Linie“ ist eigentlich unangebracht, denn ein Melos wohnt dem Vortrag der Singstimme nicht inne, die Linie, in der sie sich deklamatorisch entfaltet, ist wesenhaft rezitativisch geprägt. Reimann greift damit den Sachverhalt auf, dass der vierte Vers der ersten Strophe die Aussagen aller anderen Verse als die eines lyrischen Ichs ausweist, so dass dessen Wesen, seine existenzielle Grundsituation und emotionale Befindlichkeit von Anfang an in die Melodik Eingang finden müssen. Sie muss also Ausdruck eines Spielmanns sein, dem Gesang nicht mehr gelingen will, so dass er sich im „Schrei“ artikulieren muss.

    Über fünf Takte erstreckt sich im Diskant der geradezu riesige Bogen aus Sechzehnteln, mit dem die Liedmusik einsetzt. Er entfaltet sich vorwiegend in Sekundintervallen, und der Anstieg, auf der Ebene eines tiefen „E“ ansetzend, nimmt veritable zwei Oktaven ein, so dass der Bogen auf der Ebene eines zweigestrichenen „F“ aufgipfelt, um sich danach zweieinhalb Takte lang zu seinem Ausgangspunkt wieder abzusenken. Das geschieht bemerkenswerterweise im Pianissimo und wiederholt sich nach der Deklamation der Worte des ersten Verses auf identische Weise noch einmal, nun aber im Bass von sprunghaft angelegten Achtelfiguren begleitet. Die musikalische Evokation des Raumes, in dem das lyrische Ich sich artikuliert, erfolgt auf in ihrer klanglich irrlichternden Rasanz höchst eindrückliche, in ihrem Pianissimo aber zugleich geisterhaft anmutende Art und Weise.

    Im Piano entfaltet sich auch die Melodik auf den Worten „Vor dem Schloß in den Bäumen es rauschend weht“. Und auch hierbei stellt sich nicht zuletzt deshalb die Anmutung von atemloser Geisterhaftigkeit ein. Vor allem liegt das aber an ihrer Struktur. Nach einer leicht gedehnten Tonrepetition vollzieht die melodische Linie einen zweimaligen Anstieg bis zur tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage, um danach eine Sexte tiefer bei „rauschend“ eine vierschrittige Legato-Figur aus Sechzehntel-Sekundfall und Quartsprung mit Tonrepetition zu beschreiben, die, wie eine klangliche Imagination dieses Wortes und eben deshalb auch ein wenig geisterhaft anmutet. Auf dem Wort „weht“ liegt dann eine kleine Dehnung auf der gleichen Ebene, auf der sich gerade die deklamatorische Tonrepetition ereignete.

    Unmittelbar danach lässt das Klavier noch einmal den so weit gespannten Sechzehntelbogen erklingen, mit dem es die Liedmusik eröffnete. Er stellt eine von jenen klanglichen Chiffren dar, die die Welt des Spielmanns und sein Leben darin musikalisch erstehen lassen. Man könnte sie als klangliche Imagination der Aussage des ersten lyrischen Verses verstehen. Aber ich denke, dann hätte man sie in ihrer Aussage zu eng verstanden. In ihr klingt auch das irre Jagen auf, in dem sich das Leben des Spielmanns entfaltet.

    Die, wieder ohne Klavierbegleitung vorzutragende, Melodik auf den Worten „Unter den Fenstern ein Spielmann geht“ empfindet man wie eine Fortsetzung derjenigen des ersten Verses, denn sie weist den gleichen deklamatorisch hektischen Gestus auf. Nach einem Auf und Ab in oberer Mittellage ereignet sich ein Sextsprung zur gleichen tonalen Ebene des hohen „Es“ wie dort, und danach beschreibt die melodische Linie wieder einen Fall, nun sogar über das große Intervall einer Oktave, um danach in einen rasanten Anstieg zur Ebene eines hohen „B“ überzugehen und schließlich ebenfalls, nur eine Terz tiefer, in einer Tonrepetition mit kleiner Dehnung zu enden.

    Die nun nachfolgende Chiffre, der an diese Melodiezeile sich anschließende dreitaktige Klaviersatz, mutet nun aber wirklich wie die Einleitung zur Melodik auf den Worten des dritten Verses an, denn sie besteht aus quintolischen Figuren, in denen sich Sprünge und Stürze von Achteln über riesige Intervalle vom extrem hohen Diskant bis zu abgrundtiefen Bass ereignen.
    Da klingen, so kann an das verstehen, die „irren Töne“ auf, von denen der dritte Vers spricht, und tatsächlich vollzieht die melodische Linie auf diesen Worten auch ein sprunghaftes Auf und Ab in Achtelschritten, dies natürlich über kleinere Intervalle, aber immerhin von einer Sexte bis zur None reichenden. Bei den Worten „verlockend den Sinn“ geht sie dann, die lyrische Aussage derselben reflektierend, zu einem quartolischen Auf und Ab in Sekundintervallen auf hoher Lage über, in dem durch einen eingelagerten Sechzehntelfall mit nachfolgend vermindertem Sekundanstieg im Legato der Semantik des Wortes „verlockend“ Ausdruck verliehen wird.

    Der vierte Vers ragt aus der ersten Strophe heraus, ist von seiner lyrischen Aussage her von ganz anderer Qualität als die drei vorangehenden Verse. Diese stellen, da man noch nicht weiß, wer sie artikuliert hat, gleichsam sachlich ausgerichtete lyrisch-sprachliche Deskription dar. Beim vierten Vers aber handelt es sich um das Bekenntnis eines lyrischen Ichs. Und dieser Sachverhalt findet, wie könnte es anders ein, angesichts der strikten Wortgebundenheit von Reimanns Liedkomposition, auch seinen Niederschlag in der Liedmusik. Schon der der Melodik wie üblich vorangehende Klaviersatz ist nun von ganz anderer Art. Keine Sechzehntel in Gestalt von weit ausgreifenden Ketten oder statischem Hingetupft-Sein mehr, sondern eine im Diskant aufsteigend angelegte und damit gleichsam zur Melodik hinführende Folge von vier sechs- und fünfstimmigen Akkorden, von denen der erste ein „mf“ vorzutragender arpeggierter ist, die anderen aber piano erklingen.

    Lied 3: „Vor dem Schloß in den Bäumen“

    Vor dem Schloß in den Bäumen es rauschend weht,
    Unter den Fenstern ein Spielmann geht,
    Mit irren Tönen verlockend den Sinn -
    Der Spielmann aber ich selber bin.

    Vorüber jag ich an manchem Schloß,
    Die Locken zerwühlet, verwildert das Roß,
    Du frommes Kindlein im stillen Haus,
    Schau nicht nach mir zum Fenster hinaus.

    Von Lüsten und Reue zerrissen die Brust,
    Wie rasend in verzweifelter Lust,
    Brech ich im Fluge mir Blumen zum Strauß,
    Wird doch kein fröhlicher Kranz nicht daraus!

    Wird aus dem Schrei doch nimmer Gesang!
    Herz, o mein Herz, bist ein irrer Klang,
    Den der Sturm in alle Lüfte verweht.
    Lebt wohl, und fragt nicht, wohin es geht!

    Schon von seinem Umfang, erst recht aber von seiner poetischen Aussage her bildet dieser dritte lyrische Text den Schwerpunkt und das Zentrum dieses Eichendorff-Liederzyklus´. Die Figur des heimatlos umherziehenden Spielmanns ist in der Literatur der Romantik und in der Lyrik Eichendorffs die Metapher für den der Ort- und Heimatlosigkeit ausgesetzten Dichter. Hier wird dieses Ausgesetzt-Sein sogar als existenzielle Gefährdung durch Irrsinn und Tod lyrisch thematisiert. Das zweite Verspaar der zweiten Strophe ist Eichendorffs Gedicht „Der irre Spielmann“ (1837) entnommen. Hier, in diesen Versen, ereignet sich gar eine Identifikation des lyrischen Ichs mit dieser Figur.

    Des Spielmanns „Töne“ sind „verlockend“, aber sie sind zugleich auch gefährlich. Dies deshalb weil sie aus einer „von Lüsten und Reue“ „zerrissenen Brust“ eines Menschen kommen, so dass er „das fromme Kindlein im stillen Haus“ warnen muss, sich ihnen hinzugeben, könnte es doch dadurch in seine zutiefst gefährdete Existenz hineingezogen werden. An Goethes „Erlkönig“ fühlt man sich da erinnert. Lyrische „Blumen“ vermag er zwar zu brechen, einen „fröhlichen Strauß“ aber gleichwohl daraus nicht zu binden. Seine Unzugehörigkeit zur menschlichen Gesellschaft findet lyrisch darin Ausdruck, dass er „an manchem Schloß“ vorüberjagt, ohne Zugang finden zu wollen und zu finden.

    Die innere Zerrissenheit, der „irre Klang“ seines Herzens kann so weit führen, dass er nur noch den einfachen „Schrei“ , nicht aber mehr den gestalteten Gesang hervorzubringen vermag. Der mit den Worten „Lebt wohl“ eingeleitete letzte Vers bringt ein Abschied-Nehmen aus der menschlichen Gesellschaft dar. Das Wohin seines Weges wird zwar offengelassen - hier ist ein Eichendorff am Werk -, aber das vielsagende „fragt nicht“ legt nahe, dass das der Tod ist.

    Reimanns Liedkomposition auf diesen Text legt nahe, dass er nicht primär an der existenziellen Heimatlosigkeit dieser Figur „Spielmann“ ansetzt, sondern an deren Folgen, der inneren Zerrissenheit, Rastlosigkeit und Verzweiflung dieses lyrischen Ichs. Seine Musik bringt das in Gestalt ihrer eigenen, in der Abfolge von klanglich hochexpressiven klanglichen Chiffren sich entfaltenden strukturellen Zerrissenheit auf höchst eindrückliche Weise zum Ausdruck.

    Wie dieser Spielmann vermag sie keinen melodisch gebundenen Gesang hervorzubringen, dieser mutet in seiner stoßweise sich entfaltenden, ganz und gar des Melos entbehrenden und von jeglicher Klavierbegleitung häufig alleingelassenen deklamatorischen Rhetorik wie das verzweifelte Herausschreien von tiefer Seelenpein an. Es steigert sich darin vom anfänglichen Piano bis ins Fortissimo, vom Klavier mal in seinem rezitativisch-deklamatorischen A-Cappella-Gestus nur kommentiert, mal darin akzentuiert, und erst am Ende, beim affektiv ausgerichteten „Lebt wohl“, kommt ein leicht wehmütig angehauchtes Piano-Melos in die Melodik, und das Klavier lässt, ablassend von diesem Gestus, nur noch zwei einsame arpeggierte Akkorde erklingen.


    Der Begriff "Lied" scheint nicht übersetzbar,

    (...)

    (mir fallen da lediglich zwei Vertonungen von "Edvard" ein, aber Helmut hätte bestimmt einige mehr auf Lager.


    Liebe Grüße vom Thomas :hello:

    In der Tat. "Lied" wird in anderen Sprachen als Begriff übernommen, wird also nicht übersetzt. Die Franzosen zum Beispiel sprechen von "le Lied" und unterscheiden es damit von ihrer "mélodie".


    O nein! Was die schottische Ballade "Edvard" betrifft, so kenne ich nur eine Vertonung mehr als du, die von Loewe, von Schubert, die dir wohl eingefallen sind, und die von Brahms nämlich.

    Sie sind hier besprochen:

    Carl Loewe. Seine Balladen, vorgestellt und betrachtet im Vergleich mit Vertonungen des Textes durch andere Komponisten

    Ich habe da eine Frage, die etwas seitlich zum Thema liegt, die ich aber, da sie mir schon lange immer wieder mal in den Sinn kommt, jetzt mal loswerden will: Ich verstehe nicht, was das Wort »Liedmusik« bedeutet (...)

    Ich frage das, weil ich das Wort »Liedmusik« bisher nur in diesem Forum gesehen habe und daher hoffe, meine Frage in diesem Forum beantwortet zu bekommen. Ist das möglich?

    Natürlich ist das möglich. Gern beantworte ich diese Frage.

    Das Klavierlied besteht bekanntlich aus Melodik und Klaviersatz. Ich lasse mich bei meinen Betrachtungen zumeist getrennt auf diese Bestandteile des Liedes ein. Wenn ich aber etwas zu dem Zusammenspiel dieser beiden, wie es mir im Notentext gegenübertritt und wie es bei der Aufführung eines Liedes erklingt, sagen möchte, dann verwende ich dafür den Begriff "Liedmusik".

    „Die Vöglein, die so fröhlich sangen“ (III)

    Auf den Worten „Nur das Verlangen der Liebe wacht“ beschreibt die melodische Linie eine ein hohes expressives Potential entfaltende und deshalb überaus eindrückliche Anstiegsbewegung. Die Gründe dafür liegen darin, dass dieser Anstieg, in oberer Mittellage einsetzend, durchweg auf kontinuierliche Weise über das Intervall einer Sekunde erfolgt, dies durchweg in gedehnten deklamatorischen Schritten, aus einem Piano in ein „Poco Crescendo“ übergeht und in einen lang gedehnten verminderten Terzfall in extrem hoher Lage mündet.

    Mit einer auftaktigen und sofort in die erste Dehnung auf dem Wort „das“ übergehenden Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „E“ in oberer Mittellage setzt die melodische Linie ein. Bei dem Wort „Verlangen“ geht die Dynamik vom anfänglichen Piano in ein „poco cresc.“ über, und die Fortsetzung des Anstiegs ereignet sich nun dergestalt, dass auf jeder der drei Silben eine jeweils um eine Sekunde angehobene Dehnung liegt. „Liebe“ ist ein lyrisches Schlüsselwort, ihm kommt eine für die poetische Aussage konstitutive Relevanz zu, und deshalb steigert sich die melodische Linie auf ihm in den höchsten Grad ihrer Expressivität. Von der ersten zur zweiten Silbe ereignet sich ein gedehnter Terzschritt zur Ebene eines zweigestrichenen „F“, und dieses wird auf der Silbe „-be“ fast einen ganzen Takt lang gehalten, bevor die melodische Linie zu dem Wort „Wacht“ hin in einen verminderten Terzfall übergeht, und nun auf der Ebene eines „Es“ in hoher Lage in Gestalt einer wiederum taktlangen Dehnung ausklingt.

    Die Melodik dieser letzten Lied-Zeile entfaltet sich in ihrer deklamatorischen Struktur in einem geradezu eklatanten Widerspruch zur sprachlichen Deklamation des ihr zugrundeliegenden Textes. Das ist für Reimanns liedkompositorisches Grundkonzept ganz und gar ungewöhnlich, denn dieses ist geradezu strikt auf den Einklang von lyrisch-sprachlicher und melodischer Deklamation ausgerichtet. Man kann das nur so verstehen, dass er auf diese Weise den semantischen und affektiven Gehalt des letzten Verses in der Bedeutung zum Ausdruck bringen wollte, die ihm aus seiner Rezeption desselben zukommt.

    Das Klavier begleitet die melodische Linie mit lang gehaltenen, also deren Dehnungen entsprechenden Einzeltönen im Diskant und punktuell gesetzten Achteln im Bass. Nur zweimal weicht es von diesem Gestus ab. Bei der auftaktigen melodischen Tonrepetition am Anfang lässt es die erwähnte, Unheimlichkeit suggerierende arpeggierte Sechzehntelfigur im Bass erklingen und vor der extrem langen Dehnung auf „Liebe“ wie zum Auftakt eine vierschrittige, im tiefen Bass ansetzende und bis hinauf in den Diskant sich erstreckende Sechzehntel-Sprungfigur. Mit ihr setzt dann auch das Nachspiel ein, und dieser Sachverhalt berechtigt meines Erachtens dazu, dieses als im Sinne eines Kommentars sich ereignender Fort- und Ausklang der Schluss-Melodiezeile aufzufassen und zu interpretieren.

    Mit der bereits erwähnten, aus tiefem Bass bis in den Diskant aufsteigenden Sechzehntelfigur setzt das Nachspiel ein, im hohen Diskant folgt ein gedehnter Sekundanstieg von Achteln, einem Viertel und einem Sechzehntel nach, der in einen Septfall übergeht. Ein neuerlicher Aufstieg dieser Art ereignet sich, wieder erklingt eine Variante dieser Sechzehntelfigur, und dann verharren gedehnte Einzeltöne in hoher Diskantlage, in tiefer und in Basslage treten kurt angeschlagene Viertel und Achtel hinzu, das Diminuendo wird immer stärker, das Piano geht in einem sich ausdünnenden Klangbild in ein Pianissimo über, und schließlich verklingt das Nachspiel in Gestalt eines Sekundstiegs von einem hohen „Es“ zu einem „D“ im Piano-Pianissimo.

    Seine Grundstruktur, der zweimalige Anstieg mit nachfolgendem Fall von Achteln und Vierteln und das Verklingen derselben im Auf und Ab über Sekundintervalle in hoher Diskantlage kann man im Kontext mit der Aussage der Melodik des Schlussverses wohl als klangliche Evokation von Untergang interpretieren, der sich, unberührt von dem „Wachen“ des „Verlangens der Liebe“ mit naturhafter Unumgänglichkeit ereignet.

    „Die Vöglein, die so fröhlich sangen“ (II)

    Auf den Worten „der Blumen“ beschreibt sie einen mit einer übermäßigen Quart eingeleiteten, leicht wehmütig anmutenden verminderten Sekundfall in Gestalt von zwei gedehnten Schritten auf der tonalen Ebene eines „Fis“ und eines „Es“ in hoher Lage. Bei den Worten „bunte Pracht“ vollzieht sie einen ausdrucksstarken gedehnten und in seiner Verminderung ein wenig kläglich anmutenden Septfall in mittlerer Lage, dem allerdings, wie zum Trotz, ein Sextsprung mit langer Dehnung nachfolgt, der das Wort „Pracht“ auf markante Weise hervorhebt.

    Nun folgt der in seiner Aussage so unheilvolle vierte Vers. Und bemerkenswert ist, mit welchen Mitteln Reimann ihn in Liedmusik umsetzt und damit seiner poetischen Bedeutsamkeit gerecht wird. Nach einer Dreiachtelpause beschreibt die melodische Linie, darin deutlich abweichend von ihrem bisherigen Gestus der Entfaltung in großem Ambitus, auf den Worten „'s ist alles unter nun gegangen“ im Piano ein Auf und Ab im auf der Ebene eines „H“ in hoher Lage, wobei dies im kleinen Intervall einer Sekunde geschieht. Auf „alles“ liegt dabei ein dieses Wort akzentuierender triolischer, mit einem Vorschlag versehener und in eine kleine Dehnung mündender Sekundanstieg zur Ebene eines „C“, und auch „unter“ und „gegangen“ erfahren eine leichte Hervorhebung durch eine kleine Dehnung auf der Ebene eines „H“.

    In diesem Zusammenschrumpfen des deklamatorischen Ambitus auf dem Intervall einer Sekunde reflektiert die Melodik die Aussage des lyrischen Textes, und das Bemerkenswerte dabei ist, dass das Klavier wieder, wie schon zuvor bei der extrem langen Dehnung auf dem Wort „sangen“ im ersten Vers, wieder ins Schweigen. Verfällt. Man empfindet diese Exposition der Melodik in die klangliche Leer als markante Hervorhebung der lyrischen Aussage.

    Erst bei der Dehnung auf der zweiten Silbe von „gegangen“ setzt das Klavier mit einem auftaktig angeschlagenen langen „A“ in mittlerer Diskantlage wieder ein. In diese Dehnung fällt im Bass eine Figur ein, die danach noch zweimal erklingen wird: Im Zwischenspeil vor dem Einsatz der melodischen Linie und unmittelbar am Anfang derselben. Sie besteht aus einem dreistimmig-dissonanten arpeggierten Sechzehntel-Akkord, bei dem das obere „F“ eine Rückung nach „G“ vollzieht. Er weist, so empfinde ich das jedenfalls, ähnlich wie der extrem tiefe Terzenakkord im ersten Lied, eine Anmutung von Unheimlichkeit auf.

    Das nachfolgende Zwischenspiel nimmt volle drei Takte und ein Viertel ein und tritt damit - was ja typisch für Reimanns Liedmusik ist - als Element des die liedmusikalische Aussage maßgeblich generierenden und prägenden Klaviersatzes auf. Es mutet in den impressionistisch hingetupften quintolisch ansteigenden und fallend in eine Dehnung übergehenden Achtelfiguren im Diskant, in die einmal die besagte Sechzehntel-Figur im Bass einfällt, geisterhaft an. Es ist von Reimann wohl als die Aussage der Melodik im Nachklang bestätigende und ergänzende, musikalische Evokation der Unheimlichkeit gedacht.

    Während die Melodik des zweiten und des dritten lyrischen Verses sich nur über vier Takte erstreckt, widmet Reimann dem vierten einen gleich langen melodischen Raum wie dem ersten Vers. Und wenn man das siebentaktige Nachspiel als dieser Melodik zugehörig betrachtet, wofür vieles spricht, so nimmt die Liedmusik auf dem Schlussvers fast genauso viel Raum ein wie die auf den vorangehenden drei Versen. Damit würde Reimann dessen lyrischer Aussage weitaus mehr Gewicht und Bedeutsamkeit einräumen, als dies bei Eichendorff der Fall ist. Und für diese Deutung der zweiten Liedkomposition des Zyklus spricht auch die Anlage der Melodik und die aus ihr sich ergebende musikalische Aussage. Auf den Schlussworten „Liebe Wacht“ gipfelt die Liedmusik in hochgradig expressiver Weise auf der höchsten tonalen Ebene auf.

    „Die Vöglein, die so fröhlich sangen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Die sechs Takte Klaviersatz, die dem Einsatz der melodischen Linie der Singstimme vorausgehen, stellen kein „Vorspiel“ im Sinn des herkömmlichen Klavierlied-Modells dar. Dieses liegt Reimanns Liedkompositionen gar nicht zugrunde. Klaviersatz und Melodik fungieren als autonome Faktoren eines musikalischen Satzes. Dass diese Komposition, wie das ja auch bei den drei anderen dieses zyklischen Werkes der Fall ist, mit einem mehrtaktigen Klaviersatz einsetzt, lässt in diesem Fall in besonderer Weise sinnfällig werden, welche Funktion dem Klaviersatz in Reimanns Liedmusik zukommt. Denn das Besondere ist hier seine Struktur. Sie weicht auf markante Weise von der der drei anderen Lieder ab.

    In extrem hoher Diskantlage, auf der tonalen Ebene eines sehr hohen „F“ ansetzend und sich anschließend zu der eines „Fis“ und eines „G“ absenkend, beschreiben lang gehaltene Einzeltöne einen dreimaligen, mit einem Achtelvorschlag versehenen Fall, der sich vom anfänglichen Intervall einer Septe zu dem einer Quarte verengt. In ebenfalls extremer Basslage erklingt dazu drei Takte lang ein „F“, dann ein „Gis“ und schließlich wieder, nun eineinhalb Takte lang, das „F“. Auf diese Weise entfaltet sich ein Klangraum, der in seiner spitzen, durch die Vorschläge gesteigerten Klanglichkeit die Anmutung von Erstarrung und Leere aufweist. Bis zum dritten Vers einschließlich bleibt der Klaviersatz in dieser Grundstruktur erhalten, durchläuft dabei aber verschiedene Variationen, die markanteste darunter bei der Melodik auf den Worten des ersten Verses. Da ist die Starre ganz besonders ausgeprägt dadurch, dass im Diskant nur zwei lang gehaltene Töne erklingen, ein jeweils nur eingestrichenes „C“ und ein „Cis“, wobei das „C“ beim zweiten Mal wieder einen Vorschlag aufweist. Im Bass lässt das Klavier vier Takte lang ein einsames tiefes „H“ dazu erklingen.

    Wie will Reimann diesen Klaviersatz wohl aufgefasst und verstanden wissen?
    Aufgrund der Anmutung von Weite, Leere und Starrheit, die von ihm ausgeht, darf man darin, wie ich meine, wohl die klangliche Evokation von Untergang allen Lebens in der Nacht vernehmen, wie ihn der dritte Vers zum Ausdruck bringt. Und was diese Deutung besonders nahelegt und als wahrscheinlich zutreffend macht, ist die Tatsache, dass die Melodik auf diesem a cappella vorgetragen wird, das Klavier dabei also verstummt und die klangliche Leere, die es bislang evozierte, zur einer absoluten werden lässt. Und dazu fügt sich, dass die Melodik ihrerseits hier in eine eigenartige Starre verfällt. Was sie damit sagen will und in den beiden Versen zuvor zu sagen hat, und wie das im Kontext mit diesem ganz spezifischen Klaviersatz zu interpretieren ist, das bedarf nun einer genaueren Betrachtung und Reflexion.

    Auf den Worten des ersten Verses beschreibt die melodische Linie eine Bewegung, die sich auf ungewöhnliche Weise in drei extrem weit ausgreifenden Dehnungen auf den Worten „Vöglein“, „fröhlich“ und „sangen“ entfaltet. Diese sind nicht von ein, zwei oder frei ihrerseits gedehnten Tönen ausgefüllt, sondern mit komplexen, aus Quintolen, Septolen und Terzen bestehenden deklamatorischen Achtel-Figuren, die eine ausgeprägte melismatische Anmutung auf weisen. Bei „Vöglein“ geht die melodische Linie nach einem auftaktigen Sekundfall auf „die“ in ein quintolisches Auf und Ab auf der Ebene eines „“Fis“ und „G“ in oberer Mittellage über, dem ein verminderter Quintsprung mit Terzfall nachfolgt. Auf „die so“ vollzieht sie einen Anstieg in obere Lage und vollzieht von dort aus bei „fröhlich“ einen sehr lang gestreckten, weil septolischen Fall in partiell verminderten Sekundschritten, der am Ende in einen zweischrittigen Sekundanstieg hin zu der melodischen Figur auf „sangen“ übergeht.

    Diese besteht aus drei Triolen in Gestalt eines Auf und Abs auf der tonalen Ebene eines „A“ und „G“ in oberer Lage, denen ein ausdrucksstarker, mit einem Vorschlag versehener verminderter Septsprung zur Ebene eines „Es“ in extrem hoher nachfolgt, auf der zwei mit einem Crescendo versehene lange Dehnungen erklingen. Das Wort „sangen“ erfährt auf diese Weise, und auch dadurch, dass das Klavier auf der ihm zugehörigen melodischen Linie zwei Takte lang verstummt und erst an ihrem Ende mit einem „pp“ angeschlagenen sehr hohen „A“ im Diskant und extrem tiefen „F“ im Bass wieder einsetzt, eine starke Akzentuierung.

    In ihrer extremen Vielschrittigkeit mutet diese Melodik ein wenig überladen und in der langen Dehnung am Ende sogar übertrieben expressiv an. Sie wirkt darin so, als wolle sie das fröhliche Singen der Vöglein aus der Vergangenheit gewaltsam in die Gegenwart zurückholen, dies aber, ohne damit wirklich Erfolg zu haben. Denn noch vor ihrem Ende entfaltet das Klavier nach seinem zweitaktigen Innehalten seinen geisterhaft leeren Klangraum aufs Neue, so dass auch die nach einer eintaktigen Pause einsetzende Melodik auf den Worten des dritten Verses sich in ihm entfalten muss. Das tut sie nun, nach ihrem vorangehenden Ausbruch in die Expressivität, bemerkenswerterweise im ausdrücklich vorgeschriebenen Pianissimo und in einem vergleichsweise verhaltenen deklamatorischen Gestus.

    Lied 2: „Die Vöglein, die so fröhlich sangen“

    Die Vöglein, die so fröhlich sangen,
    Der Blumen bunte Pracht,
    's ist alles unter nun gegangen,
    Nur das Verlangen der Liebe wacht.

    Man kann diese Verse als Fortsetzung der vorangehenden vier lesen. Das Imperfekt der ersten beiden deutet schon an, dass die dort noch als heraufziehend thematisierte und einen Warnruf auslösende „Nacht“ nun eingetreten ist, und der dritte Vers macht dies ja dann auch explizit. Bemerkenswert aber die Art und Weise, in der das geschieht. Die Nacht könnte das fröhlich-bunte Leben, den Gesang der Vögel und die Pracht der Blumen ja bergend in sich aufnehmen und das Leben zur Ruhe finden lassen. Für Eichendorff bringt „Nacht“ aber hier Untergang mit sich, und er weitet diesen sogar ins Kosmische aus, indem er ihn mit dem Wort „alles“ verbindet.

    Die den Inbegriff von Leben verkörpernde „Liebe“ tritt im vierten Vers zwar als lyrischer Kontrapunkt auf, und Eichendorff lässt deshalb das vorangehende jambische Metrum in ein daktylisches übergehen. Sie erfährt darin aber gleichsam eine Relativierung dadurch, dass sie nicht selbst wachend der Nacht gegenübertritt, sondern nur das Verlangen nach ihr. Man kann das aber immerhin so interpretieren, dass das Leben sich der Nacht gegenüber behaupten will, insofern das Verlangen, es zu leben, Bestand hat. Das ist, darauf sei hier nur nebenbei verweisen, dieselbe lyrisch-gedankliche Figur wie Eichendorffs „Sehnsucht“.

    Angesichts der semantischen Zugehörigkeit dieser Vierer-Versgruppe zur vorangehenden ist es ein höchst bemerkenswerter, ja sogar erstaunlicher Sachverhalt, dass die zugehörige Liedmusik ihren Rezipienten in einem fundamental anderen Klangbild entgegentritt. Standen dort Melodik und Klaviersatz bei all ihrer Eigenständigkeit gleichwohl in einem Bezug zueinander, waren sogar partiell miteinander verwoben, so entfalten sie sich hier bei den ersten drei Versen auf zwei, ja sogar wegen der Eigenständigkeit von Diskant und Bass im Klavier drei autonomen, einander nicht tangierenden Ebenen, so dass sich der Eindruck einstellt, die Melodik trete in einen vom Klavier klanglich auf überaus feine, weil mit mittels Einzeltönen in extreme Diskant- und Basslage Weise evozierten Klangraum ein. Die Liedmusik des vierten Verses bietet dann aber, darin die lyrischen Gegebenheiten reflektierend, ein sich davon abhebendes Klangbild. Das wäre nun Gegenstand einer genaueren Beschreibung und analytischen Betrachtung.


    Allen in diesem Forum, und natürlich auch seiner Leitung, wünsche Ich für dieses nun anbrechende Neue Jahr alles erdenklich Gute, so viel von Glück und Freude erfüllte Tage wie möglich und zu guter Letzt, dass Alfreds Wunsch in Erfüllung gehen möge: "Man sollte sich (und anderen) Fehler zugestehen."

    Aber darum ging es gar nicht: Du hattest geschrieben, das letzte Intervall im Klaviernachspiel sei ein "verminderter Sekundschritt". Das wunderte mich, weil es bedeuten würde, dass zweimal derselbe Ton angeschlagen wird, der aber unterschiedlich notiert wäre, also z.B. gis-as. Inzwischen hat sich ja herausgestellt, dass das nicht der Fall ist, sondern dass es sich um einen kleinen Sekundschritt handelt.

    Ich bitte nochmals um Entschuldigung.

    In den beiden letzten Takten des Nachspiels lässt das Klavier im Diskant folgende Töne erklingen:

    Ein aus dem vorangehenden Takt herüberklingendes, also länger gehaltenes "B" in hoher Lage, dann folgt im Pianissimo nach ein Staccato-Achtel-Anstieg von einem hohen "D" zu einem "E", dann zu einem "G" und schließlich (also letzter Ton) zu einem "Gis".

    Es handelt sich also tatsächlich umeine kleine Sekunde. Im Bass herrscht Stille, und nach einer fermatierten Viertelpause folgt das Vorspiel zum zweiten Lied.

    Ich kenne das Lied nicht, aber ein "verminderter Sekundschritt" wäre hörbar zweimal derselbe Ton, also z.B. h-ces oder fis-ges. Hört das Lied tatsächlich so auf?

    Alles zurück! Ich bin in das zweite Lied geraten.

    Auf den Worten "nimm dich in Acht" liegt (im Bassschlüssel) eine Dehnung auf der Ebene eines hohen "Ges", und dann ereignet sich in Gestalt einer Triole zu "dich" hin ein Quintfall und einer über eine verminderte Terz, dem zu dem Wort "Acht" hin ein Schritt aufwärts von einem "Ais" zu einem "His" nachfolgt.

    Ich bitte um Entschuldigung!

    „Wir ziehen treulich auf die Wacht“ (III)

    Wie schon beschrieben, folgt dieser dritten Melodiezeile kein sie kommentierendes Nach- und Zwischenspiel. Die Septolen-Staccato-Figur im Diskant klingt aus, und das Klavier verfällt danach in ein fast drei Takte währendes Schweigen.
    Ich meine, dass das so aufzufassen ist, dass Reimann die nachfolgende melodische Aussage als unmittelbare Folge aller vorangehenden Aussagen verstanden wissen will. Die Melodik auf den Worten des letzten Verses setzt also a cappella ein, und in dieser Weise entfaltet sie sich auch in einer für diese Liedmusik ungewöhnlich langen Zeit, nämlich über die Worte „du schöne Welt“ hin. Ihnen wird auf diese Weise ein geradezu herausragendes musikalisches Gewicht verliehen. Und das geschieht auch durch die Struktur der sie aufgreifenden melodischen Linie.

    Diese weicht sowohl in ihrer Grundgestalt, wie auch deklamatorischen Binnenstruktur deutlich von den vorangehenden Melodiezeilen ab. Anders als diese, die in ihrem sprunghaften Auf und Ab einen Anstieg beschreiben und darin am Ende aufgipfeln, ist sie als kontinuierliche Fallbewegung angelegt. Und sogar eine, die über das sehr große Intervall einer Dezime erfolgt. Die melodische Linie setzt bei dem Wort „schöne“ auf dem höchsten Ton des Liedes, einem zweigestrichenen „Fis“ an, beschreibt auf diesem einen gedehnten Sekundfall, senkt sich auf „Welt“ auf triolische, weil mit einem Vorschlag versehene Weise über eine Terz zu einer weiteren Dehnung ab und setzt diesen Gestus nach einer Sechzehntelpause auf dem Wort „nimm“ fort, indem sie auf diesem eine Sekunde tiefer wieder in eine Dehnung übergeht. Auf den Worten „dich in Acht“ weicht sie aber davon ab, um der diesem Vers innewohnenden Warnungs-Appell Ausdruck zu verleihen. Nach einem Quintfall senkt sie sich über Terz noch weiter bis zur tonalen Ebene eines „Ais“ in mittlerer Lage ab, um danach zu dem Wort „Acht“ hin einen Sekundanstieg zu vollziehen und in eine kleine Dehnung überzugehen.

    Das ist eine Melodik, die den Worten dieses vierten Verses eine hohe Eindrücklichkeit verleiht, weil sie sich in weitgreifender Phrasierung und mittels gedehnter Schritte über Sekundintervalle absenkt, dabei den Worten „schöne“ uns „Welt“ eine Akzentuierung verleiht, um schließlich in einen radikaleren Fall überzugehen und in einem Sekundanstieg zu enden. Auf diese Weise kommt ein Anflug von Drohung in diesen appellativen Warnruf. Und prompt setzt das Klavier in der Sechzehntelpause vor dem Wort „nimm“ mit seinem unheimlichen tiefen Pianissimo-Akkord im Bass ein. Es ist dieses Mal sogar ein fünfstimmiger in Terzen, und er ist mit der Vortragsanweisung „Ped.“ versehen. Danach lässt das Klavier im Diskant einen zur melodischen Linie gegenläufigen, und sie in ihrer Aussage damit akzentuierenden quintolischen Anstieg von partiell gedehnten Achteln und Vierteln erklingen.

    Diese letzte Melodiezeile spricht Eichendorffs Verständnis von „Nacht“ in seinem Wesenskern an, ihrer zwielichtigen, und darin existenziell bedrohliche Ambiguität, und sie verleiht dem auf geradezu erschreckende Weise Ausdruck. Das fünftaktige Nachspiel mutet wie eine Bekräftigung der melodischen Schlussaussage an. Aus tiefer Basslage steigen gedehnte Einzeltöne über Quint- und verminderte Quartintervalle in hohe Diskantlage auf, um dann pianissimo einen vierschrittigen Staccato-Anstieg in extreme Höhe zu vollziehen und darin im letzten verminderten Sekundschritt abrupt zu enden.

    „Wir ziehen treulich auf die Wacht“ (II)

    Der Melodik auf den Worten „Wie bald kommt nicht die ew'ge Nacht“, dem zweiten Vers also, geht eine in Sekund- und Terzintervallen steigend angelegte Sechzehntelkette voraus, die wohl das „Kommen“ der Nacht klanglich verkörpern soll, denn die melodische Linie setzt in ihrem letzten Teil ein. In wie enger Anbindung an die Semantik des lyrischen Textes Reimann seine Melodik gestaltet, zeigt sich hier darin, dass die Melodik bei den Worten „wie bald kommt nicht“ aus einem strikt wortgebundenen ruhigen Auf und Ab über kleine Intervalle in oberer Diskantlage besteht. Der lyrische Text spricht ja nicht von einem unmittelbar bevorstehenden realen Kommen der Nacht, sondern, wie es das eingelagerte „nicht“ zum Ausdruck bringt, von dem Kommen als allgemeinem Ereignis. Und der gleichsam schwebend angelegten melodischen Linie entsprechend, besteht der Klaviersatz auch hier aus einem, deren Bewegungen gleichsam mitvollziehenden quintolischen Auf und Ab von in großen Intervallen bitonal angelegten Achtel-Folgen im Diskant bei Leere im Bass. Dort setzt das Klavier erst wieder bei der Melodik auf den nachfolgenden Worten „nicht die ew´ge Nacht“ ein, und im Diskant geht es ebenfalls wie hier im Bass zu unruhigen Sechzehntel-Figuren über.

    Dazu gibt es allen Grund, denn die ohnehin schon wesenhaft unheimliche Nacht wird hier ja sogar als „ewige“ lyrisch imaginiert. Und das hat zur Folge, dass sich die melodische Linie in dem ihr ohnehin innewohnenden Aufstiegs-Gestus zu noch größerer Expressivität steigert. Nun vollzieht sie einen quintolischen Anstieg über erst über eine Terz, dann über eine Quarte hoch zu tonalen Ebene eines „H“, beschreibt dort bei „ew´ge einen gedehnten Sekundanstieg, der diesem Wort einen eigenartigen Akzent verleiht, weil er auf dessen letzter Silbe in einen mit einem eingelagerten Vorschlagen versehenen Quartfall aus Sechzehntel- und punktiertem Viertelschritt übergeht. Aber er scheint nur dazu zu dienen, die Expressivität dessen zu potenzieren, was sich nachfolgend auf dem Wort „Nacht“ liedmusikalisch ereignet.

    Die melodische Linie beschreibt einen lang gedehnten Legato-Fall von der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage über die eines „Es“ und eines „D“ zu der eines „Cis“. Das Klavier begleitet das mit ansteigenden Achteln im Diskant und einem ausdrucksstarken Sekundschritt- Fall von vierzehn Sechzehnteln in extrem tiefe Basslage, wobei sich harmonisch eine dissonante Rückung von den Tonalitäten „A“ über „H“ nach Cis“ ereignet. Die irrlichternde Unheimlichkeit von „Nacht“ findet hier geradezu beängstigend starken Ausdruck. Man fühlt sich an Schumanns „Zwielicht“ erinnert.
    Klanglichkeit irrlichternd mutet auch das nachfolgende fast dreitaktige Zwischenspiel mit seinem Fall von quartolischen und quintolischen Sechzehntel- und Achtel-Sprungfiguren aus bitonalen Akkorden von großem Intervall und Einzeltönen an, in das ein Arpeggio eingelagert ist und zu dem wieder der nun vierstimmig-dissonante Terzenakkord in extremer Basstiefe im üblichen Pianissimo erklingt.

    Die Melodik auf den Worten des dritten Verses soll mezzoforte vorgetragen werden. Sie ist in zwei kleine, durch eine Achtelpause voneinander abgesetzte Zeilen untergliedert. Auf den Worten „und löschet aus“ beschreibt die melodische Linie einen Anstieg über zwei Quarten, der in einen Legato-Fall über eine verminderte Septe übergeht, dem ein Sprung über eine nun große Septe zur tonalen Ebene eine „H“ in hoher Lage nachfolgt, auf der sich dann eine lange Dehnung auf dem Wort „aus“ ereignet. Sie verleiht ihm, zusammen mit der in ein Arpeggio mündenden quintolischen Sprungfigur aus Sechzehnteln, starken Ausdruck. Und wieder erklingt die unheimliche Terzen-Bassfigur, hier in der gleichen Gestalt wie zuvor gerade im Zwischenspiel.

    Die in der Achtelpause aufklingende Figur aus einem nun fallend angelegten Auf und Ab von Sechzehnteln mutet, obgleich natürlich ebenfalls dissonant, klanglich heller an, und reflektiert darin das nun folgende lyrische Bild von „der Länder Pracht“. Hier geht die melodische Linie, ebenfalls dessen affektiven Gehalt aufgreifend, nach einem relativ ruhigen, weil anfänglich leicht gedehnten dreischrittigen, und sogar mit einem melismatischen Vorschlag versehenen Sekundfall mit einem verminderten Quintsprung zu einer langen Dehnung langen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „C“ in hoher Lage über. Sie wird vom Klavier im Diskant mit geradezu leichtfüßig anmutenden Septolen aus Staccato-Achteln begleitet, die nach einem Sekundanstieg in ein Auf und Ab in Sekundschritten übergehen und dabei Cis-Tonalität entfalten. Das Wort „Pracht“ erfährt auf diese Weise eine tiefgreifende Auslotung seines semantischen und affektiven Gehalts.

    „Wir ziehen treulich auf die Wacht“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Mit einem Sturz von Sechzehnteln, einem vierstimmigen Achtelakkord und einem Viertel in die Tiefe der besagten Pianissimo-Terz setzt das Vorspiel ein, um im im zweiten Takt in ein Auf und Ab in partiell verminderten Sekundintervallen auf der Ebene eines „C“ in tiefer Diskantlage überzugehen, das sich in Cis-Tonalität ereignet und sich im dritten Takt in Basslage fortsetzt, wobei man ein fis-Moll zu vernehmen meint. Und wieder klingt die abgrundtiefe Pianissimo-Terz auf. Im vierten Takt ereignet sich dann in Gestalt einer Sechzehntel-Achtel-Sprungfigur ein Aufstieg in hohe Lage, und dieser geht dann im Diskant, und dies nun piano, in einen rasanten, und nach einem Fall neu ansetzenden Sekundanstieg von Sechzehnteln über, der in einem neuerlichen Auf und Ab in hoher Lage endet. Eine fast zweitaktige Pause im Klaviersatz folgt nach, in der die melodische Linie der Singstimme einsetzt.

    Was vernimmt man in diesem Vorspiel?
    Es könnte eine klangliche Imagination der Aspekte der lyrischen Aussage sein. Drei Figuren prägen es: Das triolische Auf und Ab über Sekundintervalle, der über ein großes Intervall erfolgende Sekundanstieg und die über große Intervalle sich erstreckende Sprungbewegungen. Die erste und die zweite Figur erklingen in variierter Gestalt im dreitaktigen Zwischenspiel vor dem Einsatz der Melodik des zweiten Verses noch einmal, und darin könnte sich die innere Unruhe der mit dem „Wir“ gemeinten Menschen gegenüber der Nacht und das Aufziehen derselben ausdrücken.
    Diese Deutung ist naheliegend, weil im der Melodik des zweiten Verses zugeordneten Klaviersatz die Sechzehntel-Sekundanstiegsfigur gleich drei Mal erklingt, bei zweiten Mal als Kombination aus Anstieg im Diskant und Fall im Bass. In der Sprungfigur imaginierte sich dann das Unheimliche und Bedrohliche der Nacht.

    Diese drei durchweg dissonant harmonisierten Figuren prägen in immer neuen Varianten den Klaviersatz, wobei die ansteigend angelegte Sechzehntelkette nur im Klaviersatz der ersten beiden Melodiezeilen vorhanden ist, in dem der dritten und vierten aber nicht mehr auftaucht. Und das entspricht ja auch der Aussage des lyrischen Texts, denn da geht es nicht mehr um das „Kommen“ der Nacht, sondern um das, was sie mit sich bringt. Die ihre Unheimlichkeit verkörpernden Sprungbewegungen dominieren aber schon im Zwischenspiel vor der Melodik auf den Worten des dritten Verses und werden dabei deutlich expressiver, weil über größere Intervalle erfolgend in hohe Diskantlage sich steigernd und durch Arpeggien ergänzt. In dieser Weise setzt sich der Klaviersatz in der dritten Melodiezeile fort.

    Dass man diese über kleine Sechzehntelketten miteinander verbundenen Achtel-und Sechzehntel-Sprungfiguren als klangliche Evokation des Wesens der Nacht verstehen kann und darf, zeigt sich darin, dass sie häufig mit in tiefe Basslage abstürzenden Sechzehntelketten verbunden sind und zwei weitere Male mit den im Vorspiel und im ersten Zwischenspiel erstmals aufklingenden Pianissimo-Terzakkorden in extrem tiefer Basslage. Sie muten an wie die klangliche Inkorporation von Unheimlichkeit, und eben deshalb setzt Reimann diese Figur an den Anfang des nach der dreitaktigen A-Capella-Fallbewegung der melodischen Linie auf den Worten des vierten Verses neu aufklingenden Klaviersatzes.
    Es ist offensichtlich: Dem Klaviersatz kommt, als autonome Begleitung der Melodik, die Funktion einer ganz und gar eigenständigen klanglichen Imagination und Interpretation der lyrischen Aussage zu.

    Der melodischen Bewegung auf den Worten des ersten Verses wohnt eine innere Unruhe inne, weil alle Schritte als triolische angelegt sind. Und sie erfährt eine Steigerung durch den zugehörigen Klaviersatz, der auf der melodischen Dehnung auf der Silbe „treu-“ mit einem in hoher Diskantlage einsetzen Fall von zwei aus einer Oktave sich lösenden Sechzehnten einsetzt. Er besteht im Diskant aus einer bogenförmig angelegten Kette von Sechzehnteln in hoher Lage, die im Bass von einer steigend angelegten Folge von Achteln begleitet wird. Bei den Worten „auf die Wacht“ beschreibt die melodische Linie einen triolischen Anstieg über eine verminderte Sekunde und eine Quinte zur tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage, um dort bei „Wacht“ in eine lange Dehnung überzugehen, die diesem Wort eine starke Akzentuierung verleiht. Auch diese unterstützt das Klavier wieder, indem es einen komplexen, vom hohen Diskant in den tiefen Bass sich erstreckenden Fall von Achteln und Sechzehnten erklingen lässt, in den sogar ein Arpeggio eingelagert ist.
    Das nachfolgende zweieinhalbtaktige Zwischenspiel besteht wieder aus dem partiell triolischen Auf und Ab auf der Ebene eines „Cis“ in tiefer Lage, wie es im Vorspiel schon aufklang, und es wird von dem nun dreistimmigen Pianissimo-Terzenakkord in extrem tiefer Basslage begleitet, dem in diesem Lied eine wichtige Funktion zukommt: Die, so würde ich das deuten, einer klanglichen Evokation des untergründig Unheimlichen von Nacht.

    Im Jahr 2000 habe ich billig einen Thorens TD320 erstanden, ein hervorragendes Gerät für Klassik.

    Auch ich gehöre zu jenen Zeitgenossen, die klassische Musik über Platten hören. Noch kein einziges Mal habe ich gestreamt. Die einzige weitere Quelle, über die ich Musikaufnahmen höre, ist die CD. YouTube ziehe ich nur zum Verlinken von Liedaufnahmen hier ins Forum heran.

    Thorens-Plattenspieler sind in der Tat hervorragende und dauerhaft stabile Geräte. Ich benutze einen TD 125, MK II mit einem von mir eingesetzten SME Series III-Tonarm seit vier Jahrzehnten. Und er tut seine Dienste noch immer.

    Ich bedauere, dass Du dich aus der Diskussion verabschiedest, habe aber Verständnis dafür.

    Das tue ich auch und hoffe auf eine baldige Rückkehr von Holger in diesen Thread.

    Vielleicht kann diese sich ja dadurch ereignen, dass der Diskurs in ihm wieder zu seiner eigentlichen Thematik zurückfindet, von der er sich zurzeit weit entfernt hat (wie das im Forum leider geradezu üblich ist).

    „Nachtstück“ für Bariton und Klavier

    Dieser Zyklus auf Texte von Eichendorff wurde 1966 für den Bariton Peter-Christoph Runge komponiert und von diesem 1967 in Nürtingen zusammen mit Reimann am Klavier uraufgeführt. Er besteht aus fünf Liedern, die ohne Pause ineinander übergehen. Die zugrundeliegenden Texte, die drei Mal aus nur einer Strophe bestehen, beim dritten, gleichsam das Zentrum bildenden Lied aber aus vier und beim vierten Lied aus zwei Strophen, wurden zwei Werken Eichendorffs entnommen: Lied zwei und vier dem von Eichendorff selbst zusammengestellten Zyklus „Nacht“, die anderen dem Roman „Dichter und ihre Gesellen“.

    Reimann unternimmt in seinem Zyklus gleichsam eine Art liedmusikalischen Gang durch die Nacht, wie sie sich ihm in Eichendorffs Lyrik darstellt, und er ordnet sich damit ein in die lange, geradezu endlose Reihe von Lyrikern und Komponisten, die sich seit der Romantik mit dem Thema „Nacht“ künstlerisch auseinandergesetzt haben. Nacht wird dabei in der ihr eigenen Bipolarität zum Gegenstand: Als Raum der bergenden, den Menschen zur Einkehr in sich selbst und zur Offenheit für die Unendlichkeit finden lassenden Ruhe einerseits, und als Ort des Ausgeliefert-Seins an das Unheimliche, Fremde und Bedrohliche auf der anderen Seite.
    Beide Seiten sind in der Rezeption von Eichendorffs Lyrik zu erfahren, und Reimanns Interesse richtet sich vor allem auf diese zweite Seite von „Nacht“, weil es für ihn da um die existenzielle Gefährdung von Mensch-Sein geht. Und wie groß dieses Interesse ist, zeigt sich darin, dass er sich dem Thema „Nacht“ kompositorisch noch drei weitere Male zugewandt hat: In dem - bereits erwähnten und hier zur Besprechung anstehenden - Liederzyklus „Nachtstück II“, der 1988 entstandenen Komposition für Klavier zu vier Händen und Sopran „Nacht-Räume“ und der James Joyce-Vertonung „Nightpiece“ für Sopran und Klavier von 1992.

    Eichendorff rezipiert er, wie man ihn heute liest, nachdem die Literaturwissenschaft, aber vor allem Adorno in seinem Rundfunk-Vortrag und dem darauf beruhenden Akzente-Artikel „Zum Gedächtnis Eichendorffs“ von 1957 das Wese seiner Lyrik erschlossen hat.
    „Die Erfahrung des modernen Elements in Eichendorff, das heute wohl erst offen liegt, führt am ehesten ins Zentrum des dichterischen Gehalts. Es ist wahrhaft antikonservativ: Absage ans Herrschaftliche, an die Herrschaft zumal des eigenen Ichs über die Seele. Eichendorffs Dichtung läßt sich vertrauend treiben vom Strom der Sprache ohne Angst, in ihm zu versinken“, so Adorno.

    Und Claudia Öhlschläger knüpft in ihrem Aufsatz zur Poetologie von Eichendorff von 1999 an Adorno an, wenn sie, ihn zitierend, feststellt:
    „Wenn die Sprache an ihre Bedeutsamkeit stößt, wo sie die größte Bilderflut entfacht, gibt sich Eichendorffs Dichtung dort am verschwiegensten, wo Bilder die Szenerie beherrschen. In der >Kraft des Ungesagten<, im >Augenblick des Aufblitzens einer gleichsam noch in sich erzitternden Dingwelt<, entäußert sich Eichendorffs >allegorische Intention< (Adorno), alles in Bilder zu verwandeln.“

    Eben daran, an Eichendorffs Bildern, die Adorno auf höchst treffende Weise mit den Worten charakterisiert hat „Keines (…) ist nur das, was es ist, und keines läßt sich doch auf seinen Begriff bringen“, setzt Reimann mit seiner Liedmusik an, und in Zusammenhang damit an der klanglichen Sinnlichkeit seiner diese Bilder ins Wort fassenden lyrischen Sprache.

    Und das ist nun aufzuzeigen, angesichts all der Probleme, vor die sich der musikwissenschaftliche Laie bei dem Versuch gestellt sieht, zeitgenössische Musik in ihrer kompositorischen Faktur und deren Aussage in adäquater Sprachlichkeit darzustellen. Das wird nicht immer in sachlich hinreichender und korrekter Weise gelingen.


    Lied 1: „Wir ziehen treulich auf die Wacht“

    Wir ziehen treulich auf die Wacht,
    Wie bald kommt nicht die ew'ge Nacht
    Und löschet aus der Länder Pracht,
    Du schöne Welt, nimm dich in Acht!

    Die lyrische Aussage erfährt durch prosodische Geschlossenheit der Strophe In Gestalt eines durchgängig vierfüßigen Jambus und nur eines Reims auf die Silbe „-acht“ eine starke Eindringlichkeit. Die Nacht wird als etwas fundamental Bedrohliches erfahren. Schon dem mit den Worten „Wie bald“ eingeleiteten zweiten Vers wohnt ein Anflug von Warnung inne, die dann im vierten Vers explizit wird und eine Konkretisierung erfährt. Nacht kann zur „ewigen“ werden und als solche zerstörerisch, insofern sie „der Länder Pracht“ auszulöschen vermag. „Wacht“ ist deshalb geboten, obgleich sie ja doch im Grunde dagegen nicht mehr auszurichten vermag, als diesen Sachverhalt ins Bewusstsein zu rufen.

    Reimanns Liedmusik auf diese Verse weist im Notentext nur die mit einem Achtelnotenzeichen versehene Angabe „ca. 96“ auf, sonst weiter nichts, was bedeutet, dass sie in ihrer Harmonik atonal angelegt ist.
    Mit einem fünftaktigen Vorspiel setzt sie ein, dies im Piano, das aber im Diskant schon nach dem ersten Takt in ein Mezzoforte übergeht. Es ist hochkomplex, was allein schon daraus ersichtlich wird, dass die aus Achteln und Sechzehnteln gebildeten und anfänglich triolisch angelegten Figuren in den Bass absinken, dort aber durch Terzen in extrem tiefer Basslage ergänzt werden, die pianissimo auszuführen sind.

    Es ist ganz offenkundig, dass dem Klavier eine höchst wichtige Funktion in der Genese der den lyrischen Text interpretierenden musikalischen Aussage zukommt. Man sieht sich also vor die Aufgabe gestellt, diese Aussage zu erfassen, und konkret heißt das, die musikalischen Figuren als solche zunächst beschreiben, und alsdann in dem zu deuten, was sie selbst und in ihrer Aufeinanderfolge zu sagen haben. Das muss zwangsläufig, und das ist das große Problem dabei, mit sehr viel Subjektivität einhergehen.


    ... insofern ist das alles eine Frage der Perspektive: persönliche Wahrnehmung vs. Statistik.

    Das Konzept, das diesem Thread zugrunde liegt, ist - wenn ich mir diesen Hinweis erlauben darf, geschätzter Thomas Pape - nicht das der "persönlichen Perspektive", sondern das einer auf objektive Sachlichkeit ausgerichteten liedanalytischen Betrachtung.

    Aus statistischer Perspektive ist Aribert Reimann in der Tat der bekannteste und meistgespielte Komponisten der zweiten Hälfte der Gegenwart. Aber um den Komponisten Reimann ganz allgemein geht es hier gar nicht, sondern um seine Liedmusik. Und was diese betrifft, so ist der objektive Sachverhalt festzustellen, den ich in der Einführung zu diesem Thread mit den Worten beschrieben habe:

    "Von Anfang an stand er zwar den die Musik der Moderne prägenden avantgardistischen Bestrebungen durchaus aufgeschlossen gegenüber, er übernahm sie aber nicht in all ihren Komponenten, sondern ging beharrlich, so sogar trotzig seinen eigenen Weg, der im Fall der Liedkomposition darin bestand, traditionelle liedsprachliche Ausdrucksmittel nicht generell abzulehnen, eben weil sie zu überwindende Vergangenheit darstellen, sondern sie je nach Bedarf für die eigenen kompositorischen Intentionen zu nutzen, sie also in die eigene Liedsprache zu integrieren."


    In der Tat stand Reimann als Liedkomponist (auch als Komponist ganz allgemein) aus grundsätzlichen Erwägungen seitab vom europäischen Serialismus, wie er in Deutschland in dominanter Weise von der "Darmstädter Schule" repräsentiert wurde und über dem die Vermeidung, ja das Verbot der Verwendung gleichsam gebrauchsfertiger Ausdrucksmittel (Adornos "Kanon des Verbotenen") wie ein Motto schwebte. Diesem Motto beugte Reimann sich nicht. In diesem Sinn ist mein in keiner Weise wertend eingesetzter Begriff "liedmusikalischer Außenseiter" zu verstehen.


    Dies im Einzelnen aufzuzeigen und nachzuweisen ist Absicht und Ziel dieses Threads. Der Aspekt der Rezeption seines kompositorischen Schaffens, zu dem ja auch die Beliebtheit gehört, bleibt dabei völlig außen vor.


    Dass bei der Betrachtung der Liedmusik der zeitgenössischen Moderne neben Wolfgang Rihm unbedingt auch auf Aribert Reimann einzugehen ist, dafür gibt es gleich doppelten Anlass: Er ist wie dieser ein genuiner Liedkomponist, insofern das Lied für ihn ein bedeutendes Medium seines kompositorischen Ausdruckswillens darstellt und infolgedessen von ihm ein umfangsreiches liedkompositorisches Werk vorliegt. Nach meiner Zählung (für die ich aber keine Garantie übernehmen kann), hat er allein für Gesang und Klavier insgesamt achtzehn Werke geschaffen. Das ist weitaus mehr als von anderen Komponisten der Moderne vorliegt und belegt, welch herausragende Bedeutung Liedmusik für ihn hat.

    Der zweite Anlass, sich mit Aribert Reimann als Liedkomponisten näher zu beschäftigen und ihm hier einen eigenen Thread zu widmen, ist die Tatsache, dass ihm nicht nur in seiner spezifischen Liedsprache, sondern in seinem kompositorischen Schaffen ganz allgemein die Rolle eines Außenseiters der musikalischen Moderne zukommt. Von Anfang an stand er zwar den die Musik der Moderne prägenden avantgardistischen Bestrebungen durchaus aufgeschlossen gegenüber, er übernahm sie aber nicht in all ihren Komponenten, sondern ging beharrlich, so sogar trotzig seinen eigenen Weg, der im Fall der Liedkomposition darin bestand, traditionelle liedsprachliche Ausdrucksmittel nicht generell abzulehnen, eben weil sie zu überwindende Vergangenheit darstellen, sondern sie je nach Bedarf für die eigenen kompositorischen Intentionen zu nutzen, sie also in die eigene Liedsprache zu integrieren.

    Seine eigene Position in der kompositorischen Moderne drückte er einmal in diesen Worten aus:
    „Diese Konfrontation mit der seriellen Sprache hat ungeheuer negativ auf mich gewirkt, aber sehr positiv in dieser negativen Erfahrung, weil ich damals schon wusste, diesen Weg kann ich nicht gehen. Und ich wusste ei n halbes Jahr später, ich werde ein Außenseiter. Entweder glückt es mir oder nicht. Ich muss den Weg so gehen, wie ich ihn kompositorisch verantworten kann.“

    In seinem Verhältnis zur Liedmusik wurde er in frühen Lebensjahren stark geprägt durch die Erfahrungen, die er in den Gesangsstunden seiner Mutter machte, in die er als Klavierbegleiter eingebunden war. So lernte er das Repertoire der romantischen Klaviermusik kennen, wobei vor allem derjenigen Schumanns Bedeutung zukam. Für sein eigenes Liedschaffen war aber besonders die Begegnung mit dem der Zweiten Wiener Schule stark prägend. Wohingegen er der Liedmusik der Avantgarde der fünfziger und sechziger Jahre, die er unter anderem in Darmstadt kennenlernte, ablehnend gegenüberstand. Er konnte und wollte ihre regulativen Normen und Prinzipien nicht alle übernehmen.

    Reimanns Liedsprache ist von ganz eigener Art. Sie bezieht ihren spezifischen Charakter ganz und gar vom lyrischen Text her und den Erfordernissen, die sich aus der Absicht ergeben, diesen in seiner Semantik, seiner poetischen Aussage und seinem affektiven Gehalt in allen ihren Dimensionen zu erschließen. Dazu werden je nach Bedarf unterschiedliche musikalische Aussageelemente genutzt, wobei bei der symmetrischen Anlage und der Reihentechnik und Zwölftontechnik die Einflüsse der Wiener Schule, beim Einsatz des Clusters (Komplex mehrerer eng benachbarter Töne), aber auch die von György Ligeti erkennbar sind. Grundsätzlich bevorzugt Reimann bei der Melodik die horizontale Linie. Ihr Zusammenspiel mit dem Klaviersatz ist, weil dieser wie sie selbst Autonomie in Anspruch nimmt, wesenhaft kammermusikalisch angelegt.

    Liedkomposition ist für ihn – und das ist als Feststellung hier bedeutsam - in ihrem Wesen nicht Vertonung von lyrischem Text, sondern die Erschaffung eines eigenständigen musikalischen Werks, die durch einen von diesem ausgehenden Impuls ausgelöst wird. Er beschreibt diesen Vorgang mit den Worten:
    „Es ist ein Wort, eine Farbe, eine Grundstimmung, es ist irgendetwas im Gedicht, das es auslöst. Entweder es löst Musik aus oder nicht, eine Phrase, ein Klang oder etwas, das ich noch entdecken muss. Der Vorgang ist wohl stets der gleiche: Es entsteht irgendetwas im Hintergrund und es muss ein Text sein, der sehr viel offen lässt.“

    Auch wenn das daraus hervorgehende musikalische Werk ein autonomes Gebilde darstellt, reflektiert es gleichwohl doch den lyrischen Text in allen seinen Elementen, von seiner Prosodie über die Struktur der Sprache und den Gehalt der Metaphorik bis hin zu den emotional-affektiven Konnotationen der lyrischen Aussage.

    Dem Melos kommt für Reimann eine ganz besondere Bedeutung zu. Darin unterscheidet er sich nicht nur von Aribert Reimann, er stellt sogar eine Ausnahmeerscheinung unter den Liedkomponisten der zeitgenössischen Moderne dar. Dahinter steht bei ihm die Hoffnung und der Glaube, er könne mit seiner Liedmusik „eine Gegenwelt schaffen, in der wieder der menschliche Ausdruck in seiner einfachsten oder auch kompliziertesten Sprache sich äußert“. Zur Folge hat das nicht nur, dass der Melodik eine wichtige Funktion in der Liedmusik zukommt und sie dabei, soweit der lyrische Text das zulässt, auf gebunden-deklamatorische Entfaltung angelegt ist, es führte auch zu dem singulären Sachverhalt, dass von ihm eine hohe Zahl von Sologesängen ohne jegliche Begleitung durch irgendein Instrument vorliegt.

    Gegenstand der liedanalytischen Betrachtungen in diesem Thread soll Reimanns Liedmusik sein, die in der kompositorischen Auseinandersetzung mit der Lyrik Eichendorff entstand. Dies nicht nur deshalb, weil er sich durch sie - und das hat er mit einem Anderen hier gemein - in besonderer Weise angesprochen fühlte. Es hat noch einen anderen Grund. Gleich zwei Mal hat sich diese Auseinandersetzung ereignet und zu zwei Liederzyklen für Bariton und Klavier geführt. Sie tragen den Titel „Nachtstück“ und „Nachtstück II“, und weil der erste Zyklus 1966 entstanden ist, der zweite aber zwölf Jahre später, lässt sich der Frage nachgehen, ob und in welcher Weise Reimanns Liedsprache eine innere Entwicklung aufweist.

    „Mignon“: „So laßt mich scheinen“. Vergleichende Betrachtung

    Auch bei diesem Lied soll – und dies zum Ende meiner Ausführungen in diesem Thread - ein vergleichender Blick auf die Vertonungen dieses letzten Mignon-Textes geworfen werden. Dies, wie bei den vorangegangenen Mignon-Liedern, unter der zentralen Frage nach den Unterschieden in der Umsetzung des lyrischen Textes in Musik und das darin sich niederschlagende Verständnis der literarischen Gestalt „Mignon“.

    Schubert hat sich bei seiner Vertonung dieses lyrischen Textes für die Form des variierten Strophenliedes entschieden, und er entfaltet darin eine einfache diatonische Melodik. Man darf vermuten, dass dahinter wohl die Figur der „Mignon steht“, wie sie sich ihm in diesem Gedicht darstellt: Ein Wesen, das in seinem Wunsch, „von der schönen Erde“ zu eilen, um in der Transzendenz zu verklärter Leiblichkeit zu finden, keine komplexe Melodik mehr braucht, um sich zu artikulieren. Es genügen zwei melodische Grundmotive, die sich in leicht variierter Form auf die vier Strophen des Gedichts verteilen.
    Er lässt seine Mignon eine klanglich faszinierende, diatonisch schwebende Melodie anstimmen, die der Gesang eines in seinem Kern naiven, also zwar leidenden, aber reflexiv ungebrochenen weiblichen Wesens ist, das imaginativ im Begriff steht, von dieser schönen Erde hinab zu eilen und eine Verklärung der leiblichen Existenz zu erfahren.

    Schumanns Vertonung dieses Mignon-Liedes ist die neunte, also die letzte in seinem 1849 entstandenen Opus 98a. Das Lied steht in G-Dur, ein Dreiviertel-Takt liegt ihm zugrunde, und die Vortragsanweisung lautet „Langsam“. Von der Struktur der melodischen Linie her, die, weil sie in ihren Bewegungen immer wieder einmal große Intervalle durchschreitet oder mit Sprüngen überbrückt, erscheint Mignon als ein Wesen, das die Verklärung nicht – wie man das bei Schubert zu hören meint – als einen geheimen Wunschtraum artikuliert, sondern in durchaus expressiver Weise beschwört, - so, als sei die Transzendenz der Ort, wo sie eigentlich hingehört, weil sie dort zu ihrem Wesen findet.

    Schon bei der ersten Melodiezeile ist dieser für das Lied typische melodische Ton zu vernehmen. Nach dem mit G-Dur Akkorden einsetzenden zweitaktigen Vorspiel macht die Vokallinie nach einem kurzen Anstieg zu dem Worte „scheinen“ hin einen verminderten Quintfall und danach noch einmal eine Fallbewegung über eine Quinte, bis dann das Wort „werde“ auf einem gedehnten Sekundfall deklamiert wird. Die Harmonik durchläuft dabei mehrere Modulationen. Wenn man dies im unmittelbaren Vergleich mit dem Einsatz des Schubert-Liedes und seiner diatonisch schwebenden Melodik hört, dann wird der Unterschied im kompositorischen Verständnis dieser Mignon-Gestalt unmittelbar einsichtig.

    Schumann lässt Mignon ihre seelischen Regungen auf immer wieder beeindruckende Weise mit den Mitteln der Melodik zum Ausdruck bringen, gestützt und akzentuiert natürlich auf den jeweils adäquaten Klaviersatz. Er besteht nur an wenigen Stellen aus der Abfolge von Akkorden, zumeist sind es – z.T. triolische – Bewegungen von Achteln, in die zwei- bis dreistimmige Achtelakkorde eingelagert sind. Das, was das Klavier klanglich zur melodischen Linie beizutragen hat, empfindet – auch im Zusammenkang mit den harmonischen Modulationen – als Ausdruck der seelischen vielfältigen seelischen Regungen des lyrischen Ichs.

    Bei den Worten „von der schönen Erde“ beschreibt die melodische Linie eine aus einem triolischen Fallen hervorgehende gedehnte bogenförmige Bewegung, die in einen Quintsprung mündet. Der Vers „Dort ruh´ ich eine kleine Stille“ wird, vom Auf und Ab von Achteln im Klavier getragen und in Moll harmonisiert, in Gestalt von Tonrepetitionen auf drei Ebenen deklamiert, und dann folgt bei den Worten „Dann öffnet sich“ („…der frische Blick“) eine forte auf einem hohen „g“ ansetzende Fallbewegung über große Intervalle. Und diese durchaus expressive Fallbewegung wiederholt sich unmittelbar danach (bei den Worten „ich lasse dann die reine Hülle“) noch einmal, wieder forte einsetzend, - dieses Mal von einer harmonischen Rückung begleitet, die in einem lang gehaltenen Es-Dur-Akkord zum Ausdruck kommt. Ohnehin pendelt die Dynamik des Liedes immer wieder zwischen Piano und Forte hin und her: Auch das Ausdruck der starken seelischen Bewegtheit Mignons.

    Auch in diesem Lied setzt Schumann das Mittel der Wiederholung ein, - allerdings nicht in solch exzessiver Weise wie bei „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Der letzten Melodiezeile liegen die Worte zugrunde: „Macht mich auf ewig wieder jung, / auf ewig wieder jung“. Zunächst macht die Vokallinie eine Fallbewegung in Terzen, aus der sie aber gleich wieder in hohe Lagen aufsteigt.. Am Ende aber, bei der Wiederholung der letzten Worte, beschreibt sie, auf dem höchsten Ton des Liedes (einem „a“) ansetzend, höchst ausdrucksstarke und am Ende in eine Dehnung mündende Sprung und Fallbewegungen. Das Wort „jung“ erklingt auf der lange gehaltenen Tonika.

    Was Schumann aber in gleichsam deklamatorischer Weise mitteilt, das setzt Hugo Wolf in eine Musik, die den Hörer an diesem Weg aus der leidvoll-realen Existenz in die imaginative Verklärung klanglich ganz unmittelbar und zutiefst anrührend teilhaben lässt. Kein anderer Komponist hat, so sehe ich das jedenfalls, das Wesen dieser von Geheimnis umwobenen literarischen Gestalt „Mignon“, wie sie einem in dieser ihrer letzten lyrischen Äußerung begegnet, so vollkommen musikalisch erfasst wie Hugo Wolf in diesem Lied. In ihm wird die visionäre Entrückung, von der der lyrische Text spricht, musikalisch imaginiert. Die Musik folgt jenem Weg von der „schönen Erde“ hinab in das „tiefe Haus“ und leuchtet dabei mit ihrer Melodik und einem in seiner Struktur komplexen Klaviersatz alle Bilder aus, die sich dabei im lyrischen Ich einstellen, wobei die des „realen Lebens“ sich mit jenen vermengen, die aus der Vision eines paradiesischen Lebens kommen.