„Nachtstück“ für Bariton und Klavier
Dieser Zyklus auf Texte von Eichendorff wurde 1966 für den Bariton Peter-Christoph Runge komponiert und von diesem 1967 in Nürtingen zusammen mit Reimann am Klavier uraufgeführt. Er besteht aus fünf Liedern, die ohne Pause ineinander übergehen. Die zugrundeliegenden Texte, die drei Mal aus nur einer Strophe bestehen, beim dritten, gleichsam das Zentrum bildenden Lied aber aus vier und beim vierten Lied aus zwei Strophen, wurden zwei Werken Eichendorffs entnommen: Lied zwei und vier dem von Eichendorff selbst zusammengestellten Zyklus „Nacht“, die anderen dem Roman „Dichter und ihre Gesellen“.
Reimann unternimmt in seinem Zyklus gleichsam eine Art liedmusikalischen Gang durch die Nacht, wie sie sich ihm in Eichendorffs Lyrik darstellt, und er ordnet sich damit ein in die lange, geradezu endlose Reihe von Lyrikern und Komponisten, die sich seit der Romantik mit dem Thema „Nacht“ künstlerisch auseinandergesetzt haben. Nacht wird dabei in der ihr eigenen Bipolarität zum Gegenstand: Als Raum der bergenden, den Menschen zur Einkehr in sich selbst und zur Offenheit für die Unendlichkeit finden lassenden Ruhe einerseits, und als Ort des Ausgeliefert-Seins an das Unheimliche, Fremde und Bedrohliche auf der anderen Seite.
Beide Seiten sind in der Rezeption von Eichendorffs Lyrik zu erfahren, und Reimanns Interesse richtet sich vor allem auf diese zweite Seite von „Nacht“, weil es für ihn da um die existenzielle Gefährdung von Mensch-Sein geht. Und wie groß dieses Interesse ist, zeigt sich darin, dass er sich dem Thema „Nacht“ kompositorisch noch drei weitere Male zugewandt hat: In dem - bereits erwähnten und hier zur Besprechung anstehenden - Liederzyklus „Nachtstück II“, der 1988 entstandenen Komposition für Klavier zu vier Händen und Sopran „Nacht-Räume“ und der James Joyce-Vertonung „Nightpiece“ für Sopran und Klavier von 1992.
Eichendorff rezipiert er, wie man ihn heute liest, nachdem die Literaturwissenschaft, aber vor allem Adorno in seinem Rundfunk-Vortrag und dem darauf beruhenden Akzente-Artikel „Zum Gedächtnis Eichendorffs“ von 1957 das Wese seiner Lyrik erschlossen hat.
„Die Erfahrung des modernen Elements in Eichendorff, das heute wohl erst offen liegt, führt am ehesten ins Zentrum des dichterischen Gehalts. Es ist wahrhaft antikonservativ: Absage ans Herrschaftliche, an die Herrschaft zumal des eigenen Ichs über die Seele. Eichendorffs Dichtung läßt sich vertrauend treiben vom Strom der Sprache ohne Angst, in ihm zu versinken“, so Adorno.
Und Claudia Öhlschläger knüpft in ihrem Aufsatz zur Poetologie von Eichendorff von 1999 an Adorno an, wenn sie, ihn zitierend, feststellt:
„Wenn die Sprache an ihre Bedeutsamkeit stößt, wo sie die größte Bilderflut entfacht, gibt sich Eichendorffs Dichtung dort am verschwiegensten, wo Bilder die Szenerie beherrschen. In der >Kraft des Ungesagten<, im >Augenblick des Aufblitzens einer gleichsam noch in sich erzitternden Dingwelt<, entäußert sich Eichendorffs >allegorische Intention< (Adorno), alles in Bilder zu verwandeln.“
Eben daran, an Eichendorffs Bildern, die Adorno auf höchst treffende Weise mit den Worten charakterisiert hat „Keines (…) ist nur das, was es ist, und keines läßt sich doch auf seinen Begriff bringen“, setzt Reimann mit seiner Liedmusik an, und in Zusammenhang damit an der klanglichen Sinnlichkeit seiner diese Bilder ins Wort fassenden lyrischen Sprache.
Und das ist nun aufzuzeigen, angesichts all der Probleme, vor die sich der musikwissenschaftliche Laie bei dem Versuch gestellt sieht, zeitgenössische Musik in ihrer kompositorischen Faktur und deren Aussage in adäquater Sprachlichkeit darzustellen. Das wird nicht immer in sachlich hinreichender und korrekter Weise gelingen.
Lied 1: „Wir ziehen treulich auf die Wacht“
Wir ziehen treulich auf die Wacht,
Wie bald kommt nicht die ew'ge Nacht
Und löschet aus der Länder Pracht,
Du schöne Welt, nimm dich in Acht!
Die lyrische Aussage erfährt durch prosodische Geschlossenheit der Strophe In Gestalt eines durchgängig vierfüßigen Jambus und nur eines Reims auf die Silbe „-acht“ eine starke Eindringlichkeit. Die Nacht wird als etwas fundamental Bedrohliches erfahren. Schon dem mit den Worten „Wie bald“ eingeleiteten zweiten Vers wohnt ein Anflug von Warnung inne, die dann im vierten Vers explizit wird und eine Konkretisierung erfährt. Nacht kann zur „ewigen“ werden und als solche zerstörerisch, insofern sie „der Länder Pracht“ auszulöschen vermag. „Wacht“ ist deshalb geboten, obgleich sie ja doch im Grunde dagegen nicht mehr auszurichten vermag, als diesen Sachverhalt ins Bewusstsein zu rufen.
Reimanns Liedmusik auf diese Verse weist im Notentext nur die mit einem Achtelnotenzeichen versehene Angabe „ca. 96“ auf, sonst weiter nichts, was bedeutet, dass sie in ihrer Harmonik atonal angelegt ist.
Mit einem fünftaktigen Vorspiel setzt sie ein, dies im Piano, das aber im Diskant schon nach dem ersten Takt in ein Mezzoforte übergeht. Es ist hochkomplex, was allein schon daraus ersichtlich wird, dass die aus Achteln und Sechzehnteln gebildeten und anfänglich triolisch angelegten Figuren in den Bass absinken, dort aber durch Terzen in extrem tiefer Basslage ergänzt werden, die pianissimo auszuführen sind.
Es ist ganz offenkundig, dass dem Klavier eine höchst wichtige Funktion in der Genese der den lyrischen Text interpretierenden musikalischen Aussage zukommt. Man sieht sich also vor die Aufgabe gestellt, diese Aussage zu erfassen, und konkret heißt das, die musikalischen Figuren als solche zunächst beschreiben, und alsdann in dem zu deuten, was sie selbst und in ihrer Aufeinanderfolge zu sagen haben. Das muss zwangsläufig, und das ist das große Problem dabei, mit sehr viel Subjektivität einhergehen.