„Leis auf zarten Füßen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ein Dreivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, sie soll „Un poco mosso, man in troppo“ vorgetragen werde. Ohne Vorspiel setzt die Melodik ein, und dies sogar, möglicherweise das lyrische Eingangsbild musikalisch umsetzend, ohne Klavierbegleitung. Auf den Worten „Leis auf zarten Füßen naht es“ liegt eine auf der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage ansetzende, fallend angelegte und zu einer Dehnung bei dem Wort „naht“ wieder zurückkehrende Bogenbewegung, die sich in gleichförmigen Achteln über Sekundintervalle entfaltet. Das syntaktisch zugehörige Personalpronomen „es“ erklingt erst nach der relativ langen (halbe Note) Dehnung auf „naht“ in Gestalt eines deklamatorischen Viertels, so dass dieses Wort eine starke Akzentuierung erfährt, die dadurch verstärkt wird, dass hier auch die Klavierbegleitung einsetzt, die bemerkenswerterweise genau mittels Terzen die gleiche Bogenbewegung wie die Melodik gerade zuvor beschreibt, im Diskant, bei Schweigen im Bass. Sie ist in a-Moll harmonisiert und mutet wie ein Echo der Melodik an, deren Geist der raschen, fast schon flüchtig wirken lassenden Entfaltung reflektierend. Sie ist ganz auf ihren Schwerpunkt der Dehnung angelegt, weil sie dort einen Augenblick zur Ruhe kommt.
Auf die Worte des zweiten Verses, „vor dem Schlafe wie ein Fächeln“ also, hat Ullmann die gleiche melodische Linie noch einmal gelegt, nun aber direkt in ihrer Bewegung vom Klavier synchron wieder mit Terzen und Achteln im Diskont mitvollzogen. Die Dehnung liegt jetzt auf der ersten Silbe von „Fächeln“, und wieder klingt das repetitive deklamatorische Viertel auf der zweiten Silbe nach. Hier aber beschreiben die Terzen während der Dehnung nun im Diskant aber eine Fallbewegung in Sekunden, im Bass vollziehen Achtel eine gegenläufige Aufstiegsbewegung.
Und nun deutet sich an, jedenfalls verstehe ich das so, warum Ullmann die Liedmusik auf den ersten beiden Versen so angelegt hat. Mit ihrer flüchtig anmutenden Repetition der gleichen melodischen Figur im Pianissimo soll sie den Geist des lyrischen Bildes, der sich mit zarten Füßen wie ein Fächeln sich nähernden, von wem auch immer getätigten Ansprache einfangen und zum Ausdruck bringen. Die Viertelpause, die für die Melodik nachfolgt, bekräftigt, darin die prosodischen Gegebenheiten reflektierend, die Funktion der Melodik des ersten Verspaares als einleitende Eröffnung der nachfolgenden Liedmusik.
Und prompt hat die Melodik mit dem dritten Vers den Gestus der flüchtig hurtigen Entfaltung in repetitiven Figuren verlassen, bewegt sich nun im deklamatorischen Auf und Ab in Achtelschritten, überlässt sich dabei immer wieder Dehnungen, verbleibt aber dynamisch weiterhin im Bereich des Pianissimos und nimmt sich, dies auf der Grundlage eines Zweivierteltakts, mit dem vierten Vers sogar ins Piano-Pianissimo zurück.
Es ist der Geist und Gestus des Ratgebens, der in sie getreten ist. Bei den Worten „Horch, o Seele, meines Rates“ entfaltet sie sich im Auf und Ab von Fall- und Sprungbewegungen auf der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage, die bei den Worten „Seele“ und „Rates“ in eine diese akzentuierende Dehnung auf eben dieser Ebene übergehen. Die Harmonik vollzieht dabei eine Vielzahl von Wandlung en von Gis-Dur über F-Dur und verminderte Tonalität zu vermindertem D-Dur. Ullmanns Harmonik ist allemal von hoher Komplexität.
Die Worte „Horch, o Seele, meines Rates“ werden wiederholt, nun in Gestalt einer Melodik, die sich nicht mehr im Drei-, sondern im Zweivierteltakt entfaltet und damit den Gestus des Ratgebens deklamatorisch stärker hervorhebt. Das geschieht auch in ihrer Gestalt, denn einschließlich der Worte des vierten Verses („laß dir Glück und Tröstung lächeln“) entfaltet sie sich drei Mal in der gleichen Figur: Eines erst in hoher, dann in mittlerer Lage ansetzenden Falls über eine Terz oder eine Sekunde, der in eine Tonrepetition (bei „Rates), eine Dehnung (bei „Glück“) oder am Ende in einen gedehnten Sekundfall in tiefer Lage (bei „lächeln“) mündet.
Das Klavier vollzieht diese Bewegung mit und akzentuiert auf diese Weise die Melodik in ihrem deklamatorischen Gestus. Die Harmonik beschreibt - wieder einmal - eine komplexe Wandlung von verminderter Gis-Tonalität über h-Moll, verminderte E- und Fis-Tonalität zu einem E-Dur-Akkord, der aber erst in der Pause nach dem gedehnten Sekundfall auf „lächeln“ erklingt und auf kunstvolle Weise über einen lang gehaltenen arpeggiert-dissonant arpeggierten und eine daraus hervorgehende bogenförmige Kette von Achteln im Diskant eingeleitet wird.
Beiträge von Helmut Hofmann
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„Leis auf zarten Füßen“
Leis auf zarten Füßen naht es,
vor dem Schlafe wie ein Fächeln:
Horch, o Seele, meines Rates,
laß dir Glück und Tröstung lächeln.
Die in Liebe dir verbunden,
werden immer um dich bleiben,
werden klein und große Runden
treugesellt mir dir beschreiben.
Und sie werden an dir bauen,
unverwandt, wie du an ihnen, -
und, erwacht zu Einem Schauen,
werdet ihr wetteifernd dienen!
(Christian Morgenstern)
Morgenstern ist in erster Linie bekannt als Verfasser burlesker, grotesk-phantastischer Verse, aber er hat auch, erst unter dem Einfluss Nietzsches, dann unter dem Rudolf Steiners stehend, gedanklich tiefe, sogar gottsucherische Lyrik verfasst. Dieses Gedicht hier stellt einen Lobpreis der Liebe dar, formal angelegt als Ansprache, die, und das macht den eminent lyrischen Geist dieser Verse aus, nicht durch ein personales Wesen erfolgt, sondern, sondern durch ein ganz und gar unbestimmt bleibendes, das sich vor dem Schlaf dem Du „leis auf zarten Füßen“ nähert, also möglicherweise sogar eine Imagination dieses Du darstellt.
Liebe wird hier nicht als beglückende emotional-rauschhafte menschliche Beziehung gepriesen, vielmehr einer sprachlich durchaus unlyrischen, reflexiv geprägten Betrachtung unterzogen, und ihre ethische, aus ihrer Partnerschaftlichkeit sich ergebende Werthaftigkeit in all ihren Aspekten aufzeigt. Wie der lyrische Text es gleich in der ersten Strophe selbst bekennt, wohnt ihm ein ratgeberischer, wohl Steinersche Anthroposophie atmender Geist inne, der sich in einer entsprechenden Sprachlichkeit und Metaphorik niederschlägt.
Dass Ullmann beim Thema „Liebe“ zu einem solchen, stark ethisch-reflexiv ausgerichteten und nicht emphatisch preisenden lyrischen Text zur Vertonung gegriffen hat, verrät viel über seine menschlich-liedkompositorische Grundhaltung. Diese ist ganz wesentlich und tiefgreifend von den existenziell-biographischen Faktoren seiner gesellschaftlichen und politischen Lebenswelt und der eigenen Auseinandersetzung damit geprägt und bestimmt.
Und so ist es in keiner Weise verwunderlich, dass seine Liedmusik auf diese Verse deren Geist, ihre poetische Intention und ihre sprachliche Gestalt nicht nur voll und ganz reflektiert, sondern sie sogar akzentuiert. Weit entfernt ist sie von lyrisch-melodischem Schönklang. Markant rhetorisch-deklamatorisch tritt sie auf, den ratgeberischen sprachlichen Gestus auf eindrückliche Weise hervorhebend. -
„Die arme Seele“ (III)
Die Reaktion der himmlischen Figur, wer immer das auch sein mag, erfolgt aus einer ganz anderen Haltung. Und auch das reflektiert Ullmanns Liedmusik auf eindrückliche Weise. Jetzt kehrt die Melodik wieder zur Entfaltung in der beschwingt-leichtfüßigen Viertel-Achtel-Figur zurück und behält das auch bis zum Ende bei. Die Worte „arme Seele mein“ lässt Ullman, um die Nachdrücklichkeit der Anrede zu erhöhen, zweimal deklamieren, und dies eben deshalb in unterschiedlicher Melodik und sogar Harmonisierung. Zunächst beschreibt die melodische Linie, in A-Dur harmonisiert, eine viermalige Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage mit eingelagertem Sekundsprung bei „Seele“. Bei der Wiederholung setzt sie aber mit einem Terzfall auf „arme“ ein, der den affektiven Gehalt dieses Wortes hervorhebt, und senkt sich danach um eine weitere Sekunde zu einer Repetition auf der Ebene eines „Cis“ in oberer Mittellage ab. Hierbei vollzieht die Harmonik, auch dies wieder zur Erfassung des affektiven Gehalts der Aussage, eine Wandlung zu verminderter A-Tonalität. Das Klavier begleitet das im Diskant mit bogenförmig ansteigenden bitonalen Akkorden im Diskant und Terzenbewegungen im Bass. Auf den Worten „komm zu mir ins Paradeis“ liegt ein zu einer Tonrepetition auf der Ebene des „Cis“ führender melodischer Anstieg, dem ein Fall zu einer langen Dehnung auf der letzten Silbe von „Paradies“ Fallbewegung nachfolgt, wobei die Harmonik eine Wandlung von A-Dur nach G-Dur vollzieht.
Diese Entfaltung in Sprung- und Fallbewegungen mit eingelagerten Tonrepetitionen behält die melodische Linie auf den Worten des letzten Verses bei, dies aber aus Gründen der Akzentuierung in Gestalt einer Aufgipfelung mit nachfolgendem Fall auf dem Wort „Kleider“ und einem ausdrucksstarken Legato-Terzsprung mit Quintfall bei „alle“. Nun vollzieht das Klavier diese Bewegung der Melodik mit drei- und zweistimmigen Akkorden im Diskant mit, und die Harmonik vollzieht eine Wandlung von D-Dur nach A-Dur. Die lange Dehnung auf dem Schlusswort „weiß“ ist aber in a-Moll-Harmonik gebettet. Der Grund: Es ist nur lyrisch das Schlusswort, melodisch aber nicht, denn die Worte des letzten Verses lässt Ullmann, weil er sie für gewichtig im Hinblick auf die poetische Aussage hält, noch einmal deklamieren.
Und hierbei verfährt er so, wie er das schon bei den vorangehenden Wiederholungen tat: Die Melodik ist identisch, der Klaviersatz aber wird modifiziert. Diese Modifizierung besteht hier in einer großen Steigerung der Expressivität. Die Akkorde folgen zwar wiederum der Bewegung der melodischen Linie, sie sind jetzt aber durchgängig vierstimmig und werden im Bass synchron durch Oktaven ergänzt, so dass eigentlich eine Sechsstimmigkeit vorliegt. Und nun ist die Schlussdehnung auf „weiß“ auch nicht mehr in Moll-Harmonik gebettet, sondern wird vom Klavier mit einem lang gehaltenen sechsstimmigen A-Dur-Akkord begleitet.
Ein elftaktiges Nachspiel folgt. In Gestalt einer bitonalen Fassung der deklamatorisch-melodischen Grundfigur lässt das Klavier „poco accel. e rubato die melodische Linie des ersten Verses erklingen. Sie geht in einen akkordisch dreistimmigen, die Melodik des Schlussverses verkörpernden Fall über und mündet in einen lang gehaltenen sechsstimmigen A-Dur-Schlussakkord. Dies im dreifachen Piano, hat doch die Musik dieses Liedes niemals den Bereich des Pianissimos verlassen. -
„Die arme Seele“ (II)
Während er den dritten und vierten Vers guten Gewissens in der gleichen Liedmusik noch einmal erklingen lassen kann, weil die lyrische Aussage hier im Gestus der Deskription verbleibt, geht das für Ullmann bei den nachfolgenden vier Versen nicht mehr. Hier herrscht wörtliche Rede vor, und eine, in der der lyrische Text zum relevanten Kern seiner Aussage kommt. Die Liedmusik wandelt infolgedessen ihren Charakter in allen ihren Bereichen, in der Struktur ihrer Melodik, deren Harmonisierung und im Klaviersatz. Dies allerdings, ohne dabei zu einer ganz und gar anderen und neuen zu werden. Die Melodik behält zwar ihren Grundgestus der Entfaltung in der deklamatorischen Grundfigur von auftaktig eingeleitetem bitonalem Achtel-Sekundfallt und nachfolgendem gedehnten Viertelschritt grundsätzlich bei, weicht aber, und ist vielsagend hinsichtlich des liedkompositorischen Grundkonzepts von Ullmann in seiner engen Anbindung an die lyrische Sprache, in den an für die poetische Aussage des Textes hochbedeutsamen Versen fünf und sechs davon ab.
Bei den Worten "Was traurist, was traurist, arme Seele vor Gott?" beschreibt die melodische Linie mit einem Quart- und einem Quintsprung einen Anstieg zur tonalen Ebene eines „Gis“ in hoher Lage und setzt dort ihre Entfaltung in Gestalt eines Auf und Abs in großen und kleinen Sekunden fort, um am Ende bei „Gott“ in einen Legato-Fall über eine Quarte überzugehen. Diese Bewegung in kleinen Intervallen auf hoher tonaler Ebene verleiht ihr, und damit auch der Frage, einen hohen Grad an Eindringlichkeit. Das geschieht auch durch die Wandlung nach Cis-Dur, die sich bei dem Wort „Seele“ in der ansonsten durch A-Dur und D-Dur geprägten Harmonik ereignet.
Das Klavier begleitet hier in Bass und Diskant mit den Figuren, in denen sich die Melodik in diesem Lied für gewöhnlich entfaltet, also der Kombination aus Achtel-Fall und Viertel in Gestalt von bitonalen Akkorden, und das mutet an, als würde sie sich in den Klaviersatz verlagern, weil die Melodik hier davon ablässt. Sie besteht fast durchgehend aus deklamatorischen Schritten im Wert eines Viertels. Nur auf „arme Seele“ klingt diese Figur kurz auf.
Die hier geäußerte Frage fasst Ullmann offensichtlich als sehr gewichtig auf, so dass er von der leichtfüßig-beschwingten Achtel-Viertelfigur ablässt und zum deklamatorischen Viertel greift. Das gilt auch für die ein gewichtiges Geständnis des lyrischen Ichs enthaltenden sechsten Vers. Hier bewegt sich die melodische Linie weiterhin in Gestalt von deklamatorischen Viertel-Schritten im Auf und Ab in Sekundintervallen auf der tonalen Ebene des „Gis“ in hoher Lage. Bei „ich han übertreten“ setzt sie sogar mit einem verminderten Quartsprung zur Ebene eines „Ais“ eine Terz höher ein, um danach in einen Fall in verminderten Sekunden zur Ebene eines „Fis“ überzugehen.
Diese ausdrucksstarke, die Bedeutsamkeit des Geständnisses reflektierende Sprung- und Fallbewegung ist dementsprechend in einer ebenso ausdrucksstarken Wandlung von Gis-Dur nach G-Dur harmonisiert. Und nun mündet die Bewegung der melodischen Linie auch nicht, wie das bei der vorangehenden der Fall ist, am Ende in einen Legato-Quartfall, vielmehr verharrt sie bei dem Wort „Gebot“ in hoher Lage, dies in Gestalt eines zweischrittigen Falls in verminderten Sekundschritten hin zur Ebene eines „E“ in hoher Lage. Und harmonisch akzentuiert wird das mit einer Wandlung von Cis- nach D-Dur.
Diese Harmonisierung des Verharrens der Melodik in hoher Lage in leicht schmerzlich anmutenden kleinen Sekundfallschritten bringt die zerknirschte Seelenlage des lyrischen Ichs zum Ausdruck. Und weil dieses Geständnis von so hoher Relevanz für die poetische Aussage des lyrischen Textes ist, lässt Ullmann es in melodisch identischer Weise noch einmal wiederholen. Er verfährt dabei aber so wie bei der Wiederholung des zweiten Verses. Er wandelt den Klaviersatz ab, und dieser hat bemerkenswerterweise die gleiche Gestalt wie dort. -
Sie erfreuen mich, deine Worte, lieber moderato. Peter Härtling hatte ein besonderes Verhältnis zu Franz Schubert, wie aus seinem 1992 bei Suhrkamp erschienenen Roman "Franz Schubert" ersichtlich wird. Ich kannte ihn übrigens gut. Er wohnte nicht weit von mir in derselben Stadt, und ich besuchte ihn auch mal in seiner Wohnung. Ein überaus sympathischer Mensch. Hab tief getrauert, als ich von seinem Tod 2017 erfuhr.
Einen Nachtrag möchte noch machen, die letzte Feststellung in meinem voranstehenden Beitrag betreffend. Ich dachte dabei u. a. an Christian Gerhaher. In einem Gespräch mit Jürgen Kesting, vorzufinden im Feuilleton der FAZ vom 26. 5., hält dieser ihm am Ende entgegen:
"Wenn er an einem freien Abend die freie Wahl habe, so hat der Kritiker John Steane gesagt, greife er nicht zu Fischer-Dieskau. >Die Liebe zu ihm ist nicht Eros, sondern Caritas. Ich dürste nicht nach Fischer-Dieskau<."
Darauf antwortet Gerhaher:
"Ich muss gestehen, dass ich mir im Moment generell nicht allzu vieles anhöre. Ich habe aber so vieles von Fischer-Dieskau gelernt, weil, als ich begann, es mich nach seinen Aufgaben gedürstet hat. Dieser Durst ist ziemlich gestillt, und das finde ich auch ganz normal. Im Ohr habe ich ihn aber immer noch, oft genug vorbildhaft."
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Anlässlich seines hundertsten Geburtstages
Die Kritik eines Fischer-Dieskau-Liederabends mit der „Schönen Müllerin“ im August 1960 leitete Joachim Kaiser mit den Worten ein:
„Muß zum seinem Lobe noch etwas gesagt werden? Er ist gewiß das größte Talent, das seit dem Zweiten Weltkrieg auf den Konzertpodien Europas erschien; seine Wiedergabe der >Schönen Müllerin< ergriff und war vollendet.“
Er war, wenn auch vielleicht nicht das „größte“, so doch ganz sicher ein großes, ein herausragendes Talent. Aber seine eigentliche Bedeutung liegt, so ist heute anlässlich seines hundertsten Geburtstages festzustellen, nicht nur in der tief beeindruckenden Eigenart seines Liedgesanges, sondern darin, dass er damit Geschichte geschrieben hat.
Zum ersten Mal in dessen Verlaufsgeschichte wurde bewusst, dass ein Kunstlied mehr ist als klangschöne textgetragene Melodik, man erlebte und erkannte, dass es in Musik gesetzte Lyrik ist, musikalische also.
Dass sich im Lied neben und in Einheit mit der Musik Lyrik in ihrer genuinen Aussage artikuliert, das wurde als neue Erfahrung den Hörern im Konzert und zu Hause in der Schallplattenaufnahme erstmals bewusst, und sie fühlten sich tief angesprochen und berührt. Ich vergesse nie das staunend fassungslose Gesicht des Schriftstellers Peter Härtling, dem ich nach dem gemeinsamen Erlebnis einer „Winterreise“-Interpretation durch Fischer-Dieskau am Ausgang des Konzertsaales zufällig begegnete.
In dem vorangestellten Lied „Auf dem Wasser zu singen“ (D 774) ist das sehr deutlich zu vernehmen und zu erkennen. Die mit einem Sextsprung einsetzenden und die Melodik in ihrer Aussage maßgeblich prägenden, weil die spielerisch-tänzelnde Bewegtheit der lyrischen Bilder reflektierenden Sechzehntel- Fallfiguren werden je nach Bild in unterschiedlicher Weise gesanglich ausgeführt, die die lyrische Aussage konstituierenden Worte erfahren eine dezente deklamatorische Hervorhebung, wie das zum Beispiel bei „winket“ oder „atmet“ der Fall ist, indem die von Schubert ja schon durch den gedehnten Sekundsprung, bzw. Quartfall besonders betont wird. Die Art und Weise, wie Fischer-Dieskau das Wort „atmet“ vorträgt, dem eine zentrale lyrische Funktion zukommt, ist ganz typisch für sein gesanglich-interpretatorisches Grundkonzept. Die lange, fast zwei Takte einnehmende Dehnung, die Schubert auf es legt, wird von ihm auf höchst differenzierte Weise ausgeführt, in einer an- und abschwellenden und im gedehnten Sekundfall am Ende gleichsam ausklingenden Dynamik nämlich.
Die spezifische Eigenart der Melodik, dass sie nämlich immer wieder vom „Es“ ausgehend und zu ihm zurückkehrend Wellen gleichsam unterschiedlicher Größe zeichnet, dabei tänzerische Walzerrhythmen generiert und sich in „schwelgerisch österreichischer Singseligkeit“ entfaltet, wie Fischer-Dieskau das selbst formuliert hat, wird in dieser gesanglichen Interpretation auf geradezu beseligende Weise vernehmlich.
Ja, es ist so. Mit seinem neuen interpretatorischen Konzept des Kunstlied-Gesangs hat Dietrich Fischer-Dieskau Geschichte geschrieben. Das zeigt sich darin, dass die nachfolgende Generation der Liedsänger und -sängerinnen darauf aufbaut, es fortführt und weiterentwickelt. -
„Die arme Seele“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ein Dreivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, A-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, dieses dominiert aber nach Volkslied-Manier im Wechsel mit der Dominante nur in der identischen Liedmusik der ersten beiden Strophen. „Andante tranquillo“ lautet die Vortragsanweisung. Ein relativ langes, acht Takte in Anspruch nehmendes Vorspiel geht dem auftaktigen Einsatz der Melodik voraus, und schon dieser Sachverhalt lässt erkennen, dass sich die Liedmusik nicht im Volkslied-Gestus, in dem sie ja vorwiegend als reiner Träger der Träger der lyrischen Aussage fungiert, erschöpfen wird. Sie ist auf eine Interpretation derselben angelegt, und das Vorspiel beginnt sogleich damit.
Anfänglich beschreiben Quinten im Diskant „pp dolce“ eine bogenförmige, in A-Dur harmonisierte Fallbewegung, dieser geht aber schon im dritten Takt „poco accel. e rubando“ in eine lebhafte und expressive Folge von Legato-Achtelfiguren aus bitonalen Akkorden und Einzelachtel über, wobei die Harmonik eine Wandlung nach fis-Moll vollzieht, um danach wieder zum A-Dur zurückzukehren. Dem folgen Bewegungen von dreistimmigen Akkorden, kombiniert wieder mit Einzelachteln nach, die in einer Wandlung von D-Dur über A-Dur nach E-Dur harmonisiert sind, und in diesem Stadium setzt dann die Melodik ein. In ihrer Folge generieren die akkordischen Figuren eine melodische Linie, die zwar strukturell der entspricht, die auf den Worten des ersten Verses liegt, aber sie lässt mit ihren klanglichen Mitteln deren wesenhaft frohgemuten Jubel-Geist erklingen, dies mehr, als sie selbst es dann in ihrer wortgebundenen Entfaltung zu tun vermag. Sie interpretiert sie also.
Die Melodik auf den sich wiederholenden Worten „im Himmel“ bekundet gleich in diesem ihrem ersten Auftritt den Geist, der ihr nicht nur in den ersten beiden Strophen, sondern im ganzen Lied innewohnt. Es ist ein wesenhaft beschwingter. Sie entfaltet sich in vom Dreivierteltakt geprägten deklamatorischen Figuren aus einem Legato-Achtelfall mit nachfolgender kleiner Dehnung in einem repetitiven Viertelschritt, wobei, anders als dies bei „im Himmel“ der Fall ist, das Intervall dieser Figur weit über die Sekunde und die Terz hinausgehen kann und auf diese Weise die Expressivität der Melodik konstituiert.
Bei den Worten „im Himmel, im Himmel“ setzt sie mit einem auftaktigen Sekundschritt zur tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage ein, dann kommt der Legato-Sekundfall dieser Figur mit nachfolgender Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage, aber schon bei der Wiederholung wird aus dem auftaktigen Sekundschritt ein Achtelfall über eine Terz, die Repetition ereignet sich auf der Ebene eines „E“ und dann eines „D“ und „Cis“ und auf den Worten „sind der Freuden“ geht die Melodik mit dieser Figur zu einem Anstieg aus mittlerer Lage zu einer Repetition auf dem „C“ über, um schließlich auf „so viel“ einen auf der Ebene eines „D“ ansetzenden zweischrittigen, anfänglich legato erfolgenden und dann in eine lange Dehnung auf der Ebene eines „H“ in mittlerer Lage mündende Dehnung zu beschreiben. Die Harmonik vollzieht dabei mehrfach die einfache Wandlung von der Tonka A-Dur zur Dominante E-Dur.
Auf den Worten des zweiten Verses setzt die melodische Linie auf der tonalen Ebene an, auf der die des ersten Verses endete und führt sie, und das ist Volksliedmanier, ihre Bewegung im gleichen Gestus fort. Sie setzt auftaktig mit einem Legato-Sekundsprung in hoher Lage ein, geht bei „singen“ in eine Tonrepetition über, beschreibt bei „die Engel“ einen Legato-Fall in mittlerer Lage und endet nach einem Legato-Auf und Ab mit nachfolgender Tonrepetition bei dem Wort „Spiel“ in einer langen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage. Und so schlicht, einfach und eingängig diese Melodik ist, weil an Volkslied-Geist sich anlehnend, so einfach ist auch ihre Harmonisierung. Sie besteht aus einer permanenten Wandlung von der Tonika A-Dur zur Dominante E-Dur, und die Schluss-Dehnung besteht, ganz diesem kompositorischen Konzept entsprechend, aus dem in die Tonika gebetteten Grundton. Auch der Klaviersatz ist strukturell einfach angelegt. Er folgt der Bewegung der Melodik im Diskant mit bitonalen Akkorden, zumeist Terzen, und Einzelachteln und -vierteln. Und als wäre das nicht genug des Volksliedgeistes wird der ganze Vers in melodisch identischer Gestalt wiederholt.
Ganz will Ullmann dieses Konzept aber doch nicht beibehalten. Die lyrische Aussage ist ihm, weil sie das Wesen der himmlischen Welt beschreibt, doch zu bedeutsam, als dass er ganz und gar im Volkslied-Geist verharren könnte. Bei der Wiederholung verändert er den Klaviersatz. Nun folgt das Klavier nicht mehr durchgängig der melodischen Linie. Während der viermaligen Tonrepetition auf „singen die“ ereignet sich im Diskant eine aus einem lang gehaltenen E-Dur-Akkord hervorgehende Sekundschritt-Fallbewegung von Achteln, die in hoher Lage ansetzende Fall-Bewegung auf die Engel wird nun in Gestalt von dreistimmigen Akkorden mitvollzogen und damit akzentuiert, und bei dem melodischen Auf und Ab am Ende erklingt noch einmal die Begleitungsfigur auf den Worten „sie singen“. -
„Die arme Seele“
Im Himmel, im Himmel sind der Freuden so viel,
da singen die Engel, sie haben gut Spiel.
Dort hinten, dort hinten, bei der himmlischen Tür,
dort steht eine arme Seele, schaut traurig herfür.
"Was traurist, was traurist, arme Seele vor Gott?"
"Ich han übertreten die zehn Gebot'."
Arme Seele mein, komm zu mir ins Paradeis,
dann werden deine Kleider ja alle schneeweiß.
(nach einem alten Schweizer-Volksliede)
Wenn Viktor Ullmann zu einem Volkslied-Text greift, dann nicht, weil ihn, wie das bei einigen anderen Liedkomponisten, Brahms etwa, der Fall ist, die Gattung als solche lockt, sondern deshalb, weil er sich, so vermute ich, durch die Aussage des Textes in seiner damaligen Lebens-Situation und existenziell-emotionalen Befindlichkeit angesprochen gefühlt haben durfte. Diese hatte sich für ihn als Juden durch den Einmarsch der Nazi-Truppen in Österreich am 11. September 1938 auf grundlegende und schlimme Weise verändert. In seinem Tagebuch findet sich dieses Gedicht mit dem Titel „Meinem Vater“:
„Ich bin allein. Die Welt ist tot.
Der Antichristen Banner loht.
Und Gott ist fern
auf seinem Stern.
Wir sind all-ein. Die Welt, sie lebt.
Des Michael goldnes Banner schwebt.
und Gott ist nah
im Herzen da.“
Dieses Volkslied besingt den - christlichen - Himmel, der voller Freuden ist und in den auch eine arme, leidende Seele selbst dann Aufnahme findet, wenn sie in ihrem Leben alle zehn Gebote übertreten hat. In dieser Zeit besuchte ihn in Prag der anthroposophische Leiter der Abteilung Musik am Goetheanum Dornach, Karl von Baltz, und er berichtete später, dass Ullmann für nichts anderes mehr ansprechbar gewesen sei, als für die Frage „Wie komme ich weg von hier“. Es gelang ihm bekanntlich nicht. Und dass ihn zu dieser Zeit eine solche, in schlichtem Schwyzer Dütsch gehaltenen Beschwörung einer himmlischen Erlösung tief angesprochen und zu einer Vertonung angeregt hat, ist naheliegend.
Die Liedmusik ist, dem Text entsprechend, in Melodik, Harmonik und Klaviersatz im Volksliedton gehalten, einschließlich der formalen Anlage im Konzept des Textwiederholungen einschließenden variierten Strophenlieds. Aber da wäre nicht ein großer Komponist des zwanzigsten Jahrhunderts am Werk, wenn das durchgängig so bliebe. In dem Augenblick, wo die „arme Seele“ auf ihre Trauer angesprochen und befragt wird, verlässt die Liedmusik diesen Gestus volksliedhafter Schlichtheit und Einfachheit und geht sowohl in der Struktur der Melodik wie auch deren Harmonisierung zur Entfaltung in komplexer Kunstlied-Sprachlichkeit über. -
„Um Mitternacht, im Schlafe schon“ (III)
Es liegt ganz in der Konsequenz dieses Konzepts, das, so verstehe ich das, die Konstanz der inneren Haltung des lyrischen Ichs reflektieren soll, dass auf den Worten „Ein Engel, der vorüber lief“ erneut und zum letzten Mal pianissimo das melodische Zentralmotiv erklingt, nun aber auf höherer tonaler Ebene ansetzend als in allen Fällen zuvor, auf der eines „As“ in hoher Lage nämlich und dementsprechend in as-Moll gebettet.
Aber was neu ist und eine erhebliche Steigerung der Expressivität mit sich bringt, ist der Satz der zugehörigen Begleitung. Sie besteht aus einer wellenartig in Sekundschritten fallenden und wieder ansteigenden, darin der Struktur der Melodik entsprechenden Kette von Achteln in Diskant und Bass, dies jedoch auf unterschiedlicher tonaler Ebene, so dass sich bitonale Klanglichkeit einstellt, die eine beeindruckende Anmutung von Wehmut in die Melodik einbringt.
Und dass dieses melodische Zentralmotiv den Kern der musikalischen Aussage des Liedes verkörpert, erfährt eine Bestätigung und Bekräftigung dadurch, dass Ullmann es auch der Melodik auf den Schlussworten „und wieder sang es, da ich schlief“ zugrunde gelegt hat. Auf dem Wort „sang“ beschreibt die melodische Linie, nun in die Grundtonart g-Moll gebettet, nach dem vorangehenden Fall in kleinen Sekundschritten einen Legato-Sprung zur tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage, um erneut einen Fall über kleine Sekunden zu beschreiben, der allerdings bei dem Wort „da“ in einer Tonrepetition kurz innehält, dann aber bei „schlief“ in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage mündet, wobei die Harmonik eine Wandlung von As-Dur nach g-Moll vollzieht. Das Klavier begleitet die melodische Bewegung auf den Worten des letzten Verses auf eindrückliche Weise mit bitonalen Akkorden im Diskant und Terzen im Bass.
Das kurze, nur zwei Takte in Anspruch nehmende Nachspiel will sich als Nach- und Ausklang verstanden wissen. Es setzt die melodische Fallbewegung auf den Worten „da ich schlief“ in Gestalt von dreischrittigen, in eine kleine Dehnung mündenden bitonalen Achtelfiguren fort und mündet, und das ist bemerkenswert, nicht in einen großen Schlussakkord, sondern klingt in der letzten dieser Figuren in tiefer Lage im Pianissimo ganz einfach aus.
Darin verkörpert es den Geist dieses ganzen, in seiner wehmütigen Moll-Klanglichkeit so sehr beeindruckenden Liedes. -
„Um Mitternacht, im Schlafe schon“ (II)
Ohne Pause setzt die Melodik auf den Worten der zweiten Strophe ihre Bewegung fort. Das lyrische Bild des ersten Verses („Im Waldgebirg der Mond versinkt“) bringt die Melodik dazu, sich in tiefer Lage zu entfalten, dies in Gestalt eines Sekundfalls in Achtel-Sekundschritten zur tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage, aus der sie sich auf gleiche Weise wieder erhebt, allerdings nur bis zu einer Repetition auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage. Schon bei den Worten „Die Notenschrift am Himmel blinkt“ beschreibt sie die vierschrittige Achtel-Sekundfallbewegung noch einmal (wieder also die Wiederholung einer melodischen Figur), setzt sie nun aber weiter nach unten fort, um am Ende in ein Ab und Auf in der tonalen Ebene eines „D“ in tiefer Lage überzugehen. Die Harmonik vollzieht hier eine Wandlung von d-Moll nach D-Dur.
Und wieder erklingt auf den beiden Fragen „War das der Klang? Klang dort das Lied?“ jeweils das melodische Zentral-Motiv im Pianissimo. Beim ersten Mal auf der tonalen Ebene eines „D“ in oberer Mittellage ansetzend und in g-Moll harmonisiert, beim zweiten Mal aber eine kleine Sekunde höher und nun in as-Moll gebettet, was der Frage leicht gesteigerten Nachdruck verleiht. Das Klavier folgt im Diskant dieser Bewegung, dies aber auf subtile Weise, wie das für die Komplexität von Ullmanns Klaviersatz typisch ist.
Es geschieht nämlich nur mit dem Oberton von bitonalen Akkorden, deren Unterton eine gegenläufige Bewegung beschreibt, so dass das Intervall sich verkleinert. Und wie schon in der ersten Strophe folgt dem Zentralmotiv auf dem zweiten Verspaar eine Abwärtsbewegung der Melodik in Figuren nach, die auf einem in eine kleine Dehnung mündenden Auf und Ab von zwei Achtel- und einem Viertelschritt bestehen. Und wieder folgt das Klavier dem im Diskant mit dem Oberton bitonaler Akkorde. Die Harmonik vollzieht eine Wandlung von g-Moll nach As-Dur.
Es ist unüberhörbar. Mit den vielen Wiederholungen melodischer Figuren lehnt sich Ullmann nicht nur an traditionelle spätromantische Liedsprache an, er übernimmt sogar deren Neigung, Volkslied-Geist in sich einfließen zu lassen
Das geschieht aber nicht aus vordergründigen Motiven, also gesteigerte rezeptive Eingängigkeit etwa, vielmehr will er damit ganz offensichtlich die Haltung des lyrischen Ichs und seine Emotionen erfassen und zum Ausdruck bringen.
Diese Liedsprache hebt sich auf bemerkenswert markante Weise von der deutlich moderneren der Ricarda Huch-Vertonungen ab, die aber nicht etwa später entstanden sind, so dass man einen liedsprachlichen Entwicklungsprozess in Richtung Moderne vor sich hätte. Nein, dieses Opus 20 entstand ein Jahr früher. Und das heißt:
Ullmann geht es in seiner Liedkomposition nicht, wie das bei vielen anderen Liedkomponisten der musikalischen Moderne der Fall ist, um die Entwicklung einer zeitgemäßen Liedsprache, er will vielmehr dem lyrischen Text jeweils die Liedsprache zuteilwerden lassen, die dessen lyrische Sprachlichkeit nach seiner Auffassung erfordert.
Ein langes, vier Takte einnehmendes Zwischenspiel folgt der Melodik der zweiten Strophe nach. In einer Kombination aus bitonalen und Einzelachteln erklingt zwei Mal das melodische Zentralmotiv, nun in as-Moll gebettet, und es folgt, wie in den beiden vorangehenden Strophen, die Fallbewegung nach, hier in Gestalt von drei- und zweistimmigen, durch Achtel im Obertonbereich miteinander verbundenen und eine melodische Linie generierende Achteln. Die Harmonik vollzieht nun eine Wandlung von fes-Moll über ges-Moll nach Des-Dur. Die Harmonik, wie auch der Klaviersatz, sind bei Ullmann allemal von zeitgemäß moderner Komplexität, auch dort, wo er die Melodik wie hier in einer die Nähe zum Volkslied suchenden Schlichtheit und Einfachheit anlegt.
Auf den Worten „Aus halbem Winkel seh ich nur“ beschreibt die Melodik eine Bewegung, die sich als Wiederkehr der erweist, die auf den Worten „Im Waldgebirg der Mond versinkt“, dem ersten Vers der zweiten Strophe also,, nur dass sie dieses Mal auf einer tonalen Ebene eine Terz höher angesiedelt und in Des-Dur mit Wandlung über As-Dur nach f-Moll harmonisiert ist. Auch die Melodik auf den Worten des zweiten Verses stellt eine Wiederholung aus der zweiten Strophe auf dieser abgehobenen tonalen Ebene dar, nur dass der Klaviersatz nun komplexer, weil stärker akkordisch geprägt ist. Das schon zuvor praktizierte Wiederholungskonzept erfährt eine Intensivierung, indem es von einzelnen melodischen Figuren auf ganze Verse ausgeweitet wird. -
„Um Mitternacht, im Schlafe schon“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Genau sind die Anweisungen für den Vortrag dieser Liedmusik: „Tranquillo e semplice (ca. 76 für das Viertel)“. Ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, der, im Unterschied zur sonstigen Liedmusik Ullmanns, und darin ihren Geist verkörpernd, auch bis zum Ende durchgehalten wird. Ein viertaktiges Vorspiel geht dem darin erfolgenden auftaktigen Einsatz der Melodik voraus. Darin klingt, und das ist vielsagend, das leitmotivische melodische Motiv in Gestalt bitonaler, durch Einzelachtel vermittelter und in g-Moll harmonisierter bitonaler Akkorde auf und mündet in eine Variante derselben in Gestalt von Terzen. Im Bass beschreiben Oktaven erst zweimal einen gegenläufigen Anstieg, bis sie sich am Ende, nun aber in ihrem Intervall erst verkleinert, dann vergrößert, in den Fall der Terzen im Diskant einfügen.
Auf den Worten des ersten Verses „Um Mitternacht, im Schlafe schon“ beschreibt die Melodik im Pianissimo zweimal die gleiche und sich deshalb gleich einprägende, in g-Moll harmonisierte Fallbewegung: Ansetzend auf der tonalen Ebene eines „D“ in oberer Mittellage senkt sie sich erst in zwei ruhigen, weil im Wert eines Viertels erfolgenden verminderten Sekundschritten, dann über das Intervall einer verminderten Terz zur tonalen Ebene eines „G“ in unterer Mittelage ab. Das Klavier begleitet das in Gestalt einer Wiederholung des Vorspiels, vollzieht diese Bewegung also im Diskant in Gestalt von bitonalen Akkorden mit, lässt aber im Bass zwei Mal Achtel-Sexten emporsteigen.
Das ist also das zentrale melodische Motiv dieses Liedes. Eine Anmutung von Wehmut wohnt ihm inne, bedingt nicht nur durch die Moll-Harmonisierung, sondern auch, und vor allem, dadurch, dass der ruhige melodische Fall durchweg über verminderte Intervalle erfolgt. Es ist wohl die innere Haltung, die Fülle an Emotionen des lyrischen Ichs, die Ullmann in diesen Versen vernimmt. Es könnte sich dabei um eine tiefes, wehmütig-sehnsuchtsvolles Berührt-Sein von den Erfahrungen handeln, von denen es hier berichtet. Sehnsuchtsvoll, weil es in ihrem Wesen ja doch imaginierte sind, an denen eine wirkliche Teilhabe nicht möglich ist.
Bei den Worten „ermuntert mich ein leiser Ton“ vollzieht die Melodik erneut eine Fallbewegung, nun aber eine, die nicht linear abwärts führt, sondern in einem Auf und Ab von lebhafteren deklamatorischen Achtelschritten erfolgt und in mittlerer tonaler Lage angesiedelt ist. Bemerkenswert ist dabei, dass Ullmann auch hierbei ein kleines melodisches Motiv eine Terz tiefer wiederkehren lässt: Den Sekundschritt aufwärts mit nachfolgendem Quartfall auf „ermuntert“ bei den Worten „mich ein“. Er will damit eine hohe Eingängigkeit der Melodik erreichen. Dazu dient auch, dass das Klavier hier ebenfalls die melodische Bewegung im Diskant mitvollzieht, nun aber in Gestalt von Terzen, während der Bass des Klaviersatzes weiterhin Sexten-Bewegungen aufweist. Bei dem silbengetreuen verminderten Sekundanstieg in tiefer Lage auf den Worten „leiser Ton“ ereignet sich eine kurze harmonische Wandlung nach fis-Moll, den affektiven Gehalt reflektierend, der ihnen innewohnt.
Und erneut erklingt, weiterhin im Pianissimo, zwei Mal das melodische Zentralmotiv, dies bei den Worten „Ich tu die Fensterladen auf“, nun aber eine Terz höher ansetzend, also auf der tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage, aber ansonsten strukturell unverändert und in g-Moll harmonisiert. Verändert aber hat sich der Klaviersatz. Er folgt der Melodik im Diskant nun nicht mehr, besteht vielmehr dort und im Bass aus einer Folge von bitonalen Achtelakkorden und zwischengelagerten Einzelachteln, die aber ebenfalls eine leichte Fallbewegung beschreibt. „Dolcissimo“ lautet hier die Vortragsanweisung. Klanglich Zartheit und Schönheit soll die Liedmusik zum Ausdruck bringen, die Gefühle reflektierend, von denen das lyrische Ich erfüllt ist. Bemerkenswert ist, dass Ullmann auf den Worten des letzten Verses der ersten Strophe, den Worten „und schaue nach dem Sternenlauf“ also, die Melodik am Anfang zweimal eine der auf den Worten „ermuntert mich ein“ im zweiten Vers strukturell ähnliche Figur beschreiben lässt, nur dieses Mal in hoher Lage, sich beim zweiten Mal aber wieder um ein kleines Intervall nach unten absenkend, und nun in Es-Dur harmonisiert. Danach senkt sich die melodische Linie in zwei aufwärts gerichteten Achtel-Sekundschritten in untere Mittellage ab, wobei die Harmonik eine Wandlung von as-Moll über F-Dur nach g-Moll vollzieht und damit zu der Tonart abgekommen ist, die in der ersten Strophe dominiert und damit als Grundtonart fungiert.
Dass es in diesem Lied so etwas gibt wie eine dominierende Tonart, zeigt, wie stark sich Ullmann hier in der Harmonisierung der Melodik an der Tradition des spätromantischen Kunstliedes orientiert. -
Geistliche Lieder, op. 20 für eine hohe Singstimme und Klavier
Dieses Opus 2 besteht aus sechs Liedern, von denen jedes eine Widmung trägt:
„Meiner lieben Martha“ (1), „Für meine Mutter“ (2), „Für Karel Pokorný“ (3), „Für Nelly Urbach“ (4), „Form y son Max“ (5), „Form a little son James“ (6). Das ist wohl als Indiz dafür zu verstehen, dass Liedkomposition für Ullmann eine höchst persönliche Sache war, eine, in die viel eigenes inneres Leben einfloss. Im Druck erschienen diese Lied im Eigenverlag Prag 1940.
„Um Mitternacht, im Schlafe schon“, op. 20, Nr. 1
Um Mitternacht, im Schlafe schon,
ermuntert mich ein leiser Ton.
Ich tu die Fensterladen auf
und schaue nach dem Sternenlauf.
Im Waldgebirg der Mond versinkt,
die Notenschrift am Himmel blinkt.
War das der Klang? Klang dort das Lied?
Die Augen werden wieder müd.
Aus halbem Winkel seh ich nur
entschwinden eine Silberspur.
Ein Engel, der vorüber lief,
und wieder sang es, da ich schlief.
(Albert Steffen)
Albert Steffen (1894 - 1963), Schweizer Schriftsteller und Anthroposoph, der nach dem Tod Rudolf Steiners dessen Nachfolger als Vorsitzender der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft wurde, stand nicht nur in persönlichem Kontakt mit Viktor Ullmann, dieser vertonte neben lyrischen Texten von ihm auch sein Drama „Der Sturz des Antichrist“.
In einem Brief an diesen vom 16. September 1935 teilte er ihm mit, und das sei hier zitiert, weil es etwas über seine Grundhaltung und sein Selbstverständnis als Komponist verrät:
„Ich versuchte, fern von allen zeitgenössischen Stilfragen, Ihrem Werk seinen eigenen Ton abzulauschen. Vertraut mit all dem, was uns Rudolf Steiner über Musik gesagt hat, hoffe ich, Einiges in seinem und Ihrem Sinne getroffen zu haben. Der Umstand, daß ich für die Musik nichts an dem Drama ändern mußte (…) schien mir zu bestätigen, daß die Umhüllung ihres Werkes mit Musik innerlich berechtigt sei; und vielleicht kann es so auf Menschen einwirken, die ihm ohne Musik nicht so bald begegnet wären.“
In einer tiefen Lebenskrise hatte Ullmann 1931 beschlossen, „die Musik zurückzustellen und sich in die Anthroposophie zu vertiefen".
Die lyrische Aussage konstituiert sich in diesem Gedicht in einfache gehaltener narrativ-deskriptiver Sprachlichkeit. Ein lyrisches Ich schildert ein nächtliches Erlebnis, das ihm zur Erfahrung von Transzendenz wird. Es ist eine genuin musikalische, nicht allerdings als Klanglichkeit auftretend, vielmehr sich manifestierend in einer Notenschrift am Himmel. Auf dezente Weise meidet es Steffen, diese Erfahrung zu einer realen werden zu lassen. Er rückt sie mittels zweier Fragen in den Raum der Möglichkeit und am Ende, wenn gar ein Engel vorüber läuft und es tatsächlich singt, in den der traumhaften Imagination. Das lässt sein Gedicht zu einem werden, das den an Lyrik der Moderne zu stellenden Anforderungen zumindest halbwegs gerecht wird.Dass Ullmann sich liedkompositorisch in diesem Opus geistlicher Lieder solchen lyrischen Texten wie diesem zugewandt hat, lässt sich wohl aus seiner tiefreichenden existenziellen Krise erklären, in der ihm, weil er Halt und Orientierung sucht, die Anthroposophie Rudolf Steiners zum wesentlichen Lebensinhalt wird. Wie stark ihn das geprägt haben dürfte, lässt die Musik auf dieses ebenfalls anthroposophischen Geist atmende Gedicht Steffens vernehmen. Dessen eigenartige, im Gewand nüchtern deskriptiver lyrischer Sprachlichkeit auftretende, aber von religiöser Transzendenz angehauchte Metaphorik ist in ihr auf beeindruckende Weise eingefangen und zum Ausdruck gebracht. Dies in Gestalt einer, gleich den Anfang bildenden melodischen, in Moll-Harmonik eingebetteten Fall-Figur, der, weil sie immer wieder in leicht variierter Gestalt aufklingt und darin den Rahmen für andere melodische Figuren bildet, gleichsam leitmotivische Funktion zukommt.
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„O schöne Hand“ (III)
Ein lyrisches Wort taucht auf, das man nach dem Gehalt der vorangehenden lyrischen Aussage eigentlich nicht erwartet. Die „schöne Hand“ wird mit „Dämonische“ angesprochen. Das lyrische Ich empfindet das magische Potential, das ihr aus seiner Sicht eigen ist, als so tiefgreifend und damit so unbegreiflich, dass in der Anrede zu diesem Wort greifen muss. Das schlägt sich, weil Ullmann es offensichtlich so gelesen und verstanden hat, in einem deutlichen Wandel der melodischen Struktur, ja sogar der ganzen Liedmusik nieder. Mit der ruhig gebundenen Entfaltung der Melodik ist es vorbei. Unruhe hat sie erfasst, sie beweget sich nun in einem Auf und Ab von Achtel-Schritten in mittlerer, sogar in untere ausgreifenden Lage, allerdings dabei immer wieder in eine kleine Dehnung in Gestalt eines punktierten Viertels übergehend.
Und auch in den Klaviersatz ist Unruhe eingebrochen. Akkordrepetitionen gibt es nur noch vereinzelt auf, in gar keinem Fall aber mehr Diskant und Bass synchron übergreifend. Der Diskant weist nun, wie auch in der Melodik, Achtelbewegungen auf, die aber alsbald dort, wo die Liedmusik zu gesteigerter Expressivität übergeht, durch ins Staccato übergehende Akkorde unterfüttert werden, wobei im Bass dann lang gehaltene und Achtel-Oktaven erklingen. Am Ende, wenn diese permanent sich steigernde Expressivität der Liedmusik das Fortissimo erreicht hat, ist auch der Klaviersatz auf dem Höhepunkt seiner Komplexität angelangt.
„Poco animando“ lautet die Vortragsanweisung für die Melodik auf den Worten „Dämonische, berühre diesen Leib“. Die melodische Linie beschreibt, in verminderte Cis-Harmonik gebettet, auf diesem die lyrische Aussage einleitenden Wort einen silbengetreuen, in der Mitte gedehnten und durch einen Sechzehntelschritt rhythmisierten Fall über zwei Terzen zur tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage. Und wieder, wenn das lyrische Ich von sich selbst spricht, dieses Mal sogar direkt von seinem „Leib“ und das starke Bild benutzt „Er bebt wie Saiten, wird ein Meer und klingt“ geht die Liedmusik zur Entfaltung großer Expressivität über. Die Melodik beschreibt zwei Mal, und dies nun im Forte und „più animando“ die gleiche, mit einem Terzsprung in eine Dehnung übergehende Fallbewegung, wobei die Harmonik eine Wandlung von verminderter B-Tonalität nach B-Dur beschreibt und das Klavier nun im Diskant eine Achtelakkord-Folge erklingen lässt, deren Oberton einen Sekundanstieg vollzieht. Diesen Gestus setzt die Melodik auf den Worten „Meer und klingt und rauscht empor“ fort, am Ende einen ausdrucksstarken rhythmisierten Terzfall mit vermindertem Quintsprung vollziehend, der in dissonante H-Harmonik gebettet und portamento vorzutragen ist.
Im Klaviersatz sind die vierstimmigen Akkorde mit ansteigendem Oberton angewachsen, und in der nachfolgenden eintaktigen Pause für die Singstimme erklingt ein Staccato-Auf und Ab von drei- und vierstimmigen Akkorden im Diskant, das von dissonanter in a-Moll-Harmonik übergeht. Und nun, bei den Schlussworten „die Sonne zu empfangen“, erreicht die Liedmusik den Höhepunkt ihrer Expressivität. Das den Geist des lyrischen Expressionismus atmende Bild des bebenden, klingenden und zur Sonne empor rauschenden Meeres bewirkt das mit seinem hohen evokativen Potential.
Auf dem Wort „Sonne“ liegt eine mit einem verminderten Sextsprung eingeleitete extrem lange Dehnung, die fortissimo vorgetragen wird und zu der das Klavier einen sechsstimmigen dissonanten Fortissimo-Akkord erklingen lässt, der sich im Diskant in einer Folge von zwei und dreistimmigen Achtelakkorden fortsetzt. Extrem lang ist diese Dehnung auf diesem an sich nur zweisilbigen Wort „Sonne“, weil das stark gedehnte „Es“ in hoher Lage, in der sie einsetzt, auf der zweiten Silbe in eine dreischrittige Bewegung von deklamatorischen Achtelschritten übergeht, zu der das Klavier, wie erwähnt, aus tiefer Basslage ansteigenden Achtelakkord-Folge erklingen lässt.Auf den nachfolgenden Worten „zu empfangen“ beschreibt die Melodik „animando molto“ einen ausdrucksstarken Fall erst über eine Sekunde, dann über eine verminderte Sexte, bei dem die Harmonik eine Wandlung von Fis7-Dur nach Gis-Dur vollzieht. Das Klavier begleitet das im Diskant mit einem Auf und Ab von drei- und vierstimmigen Akkorden im Wechsel mit Einzelachteln, und die Dynamik zieht sich vom Fortissimo ins Forte zurück.
Die Melodik ist an ihr Ende gelangt, die Liedmusik aber noch lange nicht. Ein fünfzehn (!)Takte langes und wieder hohe, sich bis ins dreifache Forte steigernde Expressivität entfaltendes Nachspiel schließt sich an. Es besteht, versehen mit der Vortragsanweisung „Avanti“, aus einer Folge von lebhaft in die Höhe steigenden Fortissimo Oktaven im Diskant, Oktav-Repetitionen und Achtel-Akkordfolgen im Bass, in denen mehrfach die melodische Figur auf den Schlussworten kurz aufklingt, und es endet „lento“ und „dolce“ in einem Akkordanstieg hin zu einem lang gehaltenen, weil mit einer Fermate versehenen H-Dur-Akkord im dreifachen Piano. Aber hochkomplex, wie Ullmanns Liedmusik nun einmal angelegt ist, lässt er im tiefen Bass eine C-Oktave nachklingen.
Warum dieses so ungewöhnlich lange Nachspiel?
Es verrät etwas über die liedkompositorische Grundhaltung Ullmanns. Er will das lyrische Aussage-Potential eines Gedichts mit den Mitteln der Musik voll ausschöpfen. Und wenn dieses so extrem groß ist, wie bei diesem Ricarda Huch-Text, dann ist eben ein Nachspiel von diesen Dimensionen wie hier erforderlich. -
„O schöne Hand“ (II)
Bei den Worten „Und Seelen, die auf Erden sich verirrten“ verlässt die Melodik erstmals den Piano-Bereich, in dem sie sich bislang entfaltete, und geht in den des Forte über. Aber es ist nur ein „Mezzo“, und es hält nur auch kurz vor. Es dient ausschließlich dazu, dem Wort „Seelen“ den ihm gebührenden Nachdruck zu verleihen, und danach geht die Dynamik mit einem Decrescendo wieder ins Piano über. Auf diesem Wort beschreibt die melodische Linie, in as-Moll harmonisiert und mezzoforte, einen in einer Dehnung auf der tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage ansetzende Fallbewegung, erst über eine verminderte Terz, dann über weitere große Terzen und eine Quarte bei „Erden“ bis hinab zur tonalen Ebene eines „Dis“ in tiefer Lage, also über das große Intervall einer Undezime.
Das Klavier lässt zu der Dehnung auf der Silbe „See-“ einen lang gehaltenen und mit der Vortragsanweisung „mfp“ versehenen fünfstimmigen as-Moll-Akkord erklingen, aus dem im Diskant eine bogenförmige Achtel-Bewegung hervorgeht. Im Bass wird sie begleitet mit den üblichen Achtelakkord-Repetitionen. Auf den Worten „sich verirrten“ liegt ein zweimaliger melodischer Fall über eine Terz, wobei der zweite in Viertelschritten erfolgt und mit einer Wandlung der Harmonik nach Ges-Dur einhergeht.
Das ist eine Melodik von hoher Ausdrucksstärke. Offensichtlich hat Ullmann der lyrischen Aussage hohe Bedeutung im Hinblick auf die zentrale poetische Aussage des Gedichts beigemessen, und das wird voll verständlich, wenn man die syntaktisch dem dritten Vers ja zugehörige Aussage des vierten hinzunimmt. Diese „schöne Hand“ vermag, so wie das lyrische Ich sie sieht und preist, mit ihrer Musik verirrte Seelen „hinüberzulocken“ in einen Bereich, „ wo Wunsch und Zweifel enden“, verfügt also über eine Fähigkeit, die für die existenzielle Befindlichkeit von hoher Relevanz ist. Und so lässt denn Ullmann die Melodik noch einmal diese ausdrucksstarke Fallbewegung beschreiben, dieses Mal allerdings auf einer um deine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene ansetzend, sich nur noch über eine das - aber immer noch große - Intervall einer None sich erstreckend und in einer Wandlung von einem verminderten Des- nach As-Dur harmonisiert.
Dieses Melodik-Ende, die reine As-Dur-Harmonik, in die der pianissimo vorzutragende Quartfall auf dem Wort „enden“ gebettet ist, den das Klavier, das Pianissimo der Melodik nicht störenden wollend, mit einer leisen Repetition eines einzelnen As-Achtels im Diskant begleitet, bringt diese für das lyrische Ich so hohe Bedeutsamkeit der lyrischen Aussage auf kompositorisch kunstvolle Weise zum Ausdruck.
Wieder folgt eine, das Strophenende betonende Pause für die Melodik nach. Dieses Mal sogar eine relativ lange, vier Takte umfassende, in der das Klavier die As-Achtelrepetition dergestalt fortsetzt, dass sie sich erst um eine kleine, dann eine große Sekunde zur Terz erweitert und dann das Ganze wieder zurücknimmt. Zweimal folgt ein taktlang gehaltener fünftstimmiger Akkord nach, erst im Bass, dann im Diskant, und dies im Piano-Pianissimo. Natürlich fragt man sich, was Ullmann damit sagen will. Vielleicht, so denke ich, will er damit dazu überleiten, dass das lyrische Ich nun in der nachfolgenden lyrischen Terzine in einen gefühlvoll-schwärmerischen Lobpreis der „schönen Hand“ übergeht.
Auf den Worten „O Hand, Gebieterin der Töne“ entfaltet sich die Melodik wieder in dem gebunden-ruhigen Gestus von partiell gedehnten und Viertelschritten, in dem sie anfänglich bei der Anrede an die „Hand“ antrat, und dies im Pianissimo, vom Klavier mit seinen Staccato-Akkordrepetitionen sogar im dreifachen Piano begleitet und in Wandlung en von g-Moll nach cis-Moll harmonisiert.
Den Worten „Auf diesem Herzen ruhn, das ruhlos schwingt“ im zweiten Vers wohnt dann aber ein so hoher affektiver Gehalt inne, dass sie zu Achtelschritten übergeht, dies in Gestalt einer bogenförmigen Bewegung, die sich bei „das ruhlos schwingt“ auf identische Weise wiederholt, wobei die Harmonik jeweils eine Wandlung von c-Moll nach cis-Moll vollzieht.
Es ist wieder die existenzielle Befindlichkeit des lyrischen Ichs, die in die lyrische Aussage einfließt, deshalb die Nachdrücklichkeit herstellende Wiederholung. Die Vortragsanweisung lautet hier „poco rubando“. Und da sich dieses indirekte, weil in allgemein gehaltener Weise erfolgende Von-sich-selbst-Sprechen im dritten Vers fortsetzt, behält die Melodik den Gestus der Nachdrücklichkeit bei und beschreibt auf den Worten „So wandelst du in Frieden sein Verlangen“ einen Anstieg in partiell repetierenden Sekundschritten zur tonalen Ebene eines „A“ in hoher Lage, um bei „Verlangen“ „poco ritard.“ in einen ausdrucksstarken, in verminderte Cis- und Gis-Harmonik gebetteten, aber bemerkenswerterweise das Pianissimo nicht verlassenden Fall über das große Intervall einer verminderten Septe überzugehen. -
Bei MONO geht bei mir der Hörspass gegen NULL.
Meine wertvolle Zeit zum Musik hören möchte ich mit gut klingenden Aufnahmen füllen und mich nicht mit "Historien Klang" rumärgern müssen.
Wenn man klassische Musik in erster Linie dazu hört, "Hörspaß" zu haben, wogegen natürlich nichts einzuwenden ist, dann ist es verständlich, dass man statt zu älteren Mono-Aufnahmen eher zu hochwertigen in Stereo greift.
Interessiert einen aber, wie klassische Musik interpretiert werden kann und stellt man dazu auch etwa vergleichende Betrachtungen an, dann ist man sogar dankbar, dass es alte Mono-Aufnahmen gibt und hört sie mit großem Interesse und Genuss.
Eben mache ich das gleichsam so nebenbei in meiner leider so geringen Freizeit, ohne dabei allerdings ernsthaft systematisch-analytisch vorzugehen. Die Klaviermusik der Klassik und der Romantik kenne ich und trage sie gleichsam in mir in Gestalt der Interpretation von den großen und inzwischen verstorbenen oder nicht mehr praktizierenden Pianisten der vorigen Generation. Ich habe sie tatsächlich alle live gehört, von Backhaus über Kempff, Arrau, Richter, Gilels, Gelber, Horowitz bis zu Brendel und verfüge über einen großen Bestand an Schallplatten-Aufnahmen von ihnen.
Und nun höre ich mir an, wie die heutige Pianisten-Generation diese Werke interpretiert und komme aus dem Staunen und der Verblüffung gar nicht mehr heraus. Da werden auf einmal strukturelle Elemente hörbar, die ich zuvor nie vernommen hatte, von denen ich gar nicht wusste, dass sie existieren.
Eben höre ich gerade Schumanns "Symphonische Etüden in der Interpretation durch Daniil Trifonov. Ich habe sie im Ohr durch Kempff, und das ist nun eine ganz neue Erfahrung. Ich würde sie gerne näher beschreiben, wenn ich davon ausgehen könnte, dass das hier auf Interesse stoßen könnte.
Ist leider aber nicht der Fall.
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„O schöne Hand“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Wie üblich bei dieser Gruppe der Huch-Vertonungen, gelten die Vorgaben am Anfang, hier ein Dreivierteltakt und ein „Adagio“ nicht durchgängig für die Liedmusik, dazu ist diese infolge ihrer engen Anbindung an die lyrische Aussage strukturell zu komplex. Bemerkenswert als durchgängiges Strukturmerkmal ist aber, dass die Melodik sich auf deklamatorisch gebundene Weise in weit gespannter Phrasierung entfaltet, also nicht in kleine, durch Pausen begrenzte Zeilen untergliedert ist. Zwei kurze Achtelpausen finden sich in der zweiten Strophe, längere Pausen nur zwischen den lyrischen Strophen, und außerdem am Ende, vor dem Ausbruch in extreme Expressivität im letzten Vers. Das bedingt den spezifischen, durch ausgeprägt lyrische Melodik sich auszeichnenden klanglichen Charakter dieses Liedes.
Ein Vorspiel gibt es nicht. Die Melodik setzt im ersten Takt nach dem Erklingen des Klaviersatzes ein. Dieser besteht lange aus Achtel-Akkordrepetitionen im Diskant, und auch im Bass, dort allerdings vereinzelt im Wechsel mit länger oder sehr lang gehaltenen zwei- bis dreistimmigen Akkorden. Erst in der vierten und letzten Strophe weicht er von dieser Struktur ab. Hier hebt sich die Liedmusik, weil Ullmann sich durch die von starken Worten wie „dämonisch“ „beben“ und „rauschen“ geprägte lyrische Aussage leiten lässt, ohnehin von der der vorangehenden Strophen ab.
Die Art und Weise, wie die Melodik auf dem ersten Vers entfaltet, ist typisch für die ganze Liedmusik. Auf „O schöne Hand“ beschreibt sie, in cis-Moll-Harmonik gebettet, nach einem auftaktigen verminderten Terzsprung, piano eine ruhige, anfänglich gedehnte Fallbewegung über erst eine verminderte, dann eine große Sekunde, und bei „ Kelch, dessen Duft Musik“ wiederholt sich diese Fallbewegung, wieder auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage einsetzend und wieder, nun allerdings nach zwei Achtelschritten erst bei „Duft“ in eine lange Dehnung übergehend und, nach einem Quintfall in einem mit einem Sekundschritt aufwärts bei „Musik“ in einer Dehnung auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage endend. Endend aber nicht wirklich, denn sie setzt ja ihre Bewegung ohne Pause aus den Worten des zweiten Verses fort.
Bemerkenswert aber wieder, die Komplexität der Liedmusik betreffend: Der Klaviersatz besteht im Diskant nicht aus einfachen dreistimmigen Akkordrepetitionen, vielmehr vollziehen diese mit ihrem Oberton den Fall der Melodik mit und erweitern sich im Bass zwei Mal von der Terz zur Quarte. Und die Harmonik vollzieht zwei Mal eine Wandlung von g-Moll nach cis-Moll, um bei dem Sekundschritt auf „Musik“ von g-Moll nach G-Dur überzugehen. Beim zweiten Vers beschreibt die Melodik wieder eine, sogar einen Halbton höher ansetzende, nun in G-Dur mit Wandlung über Cis-Dur nach fis-Moll harmonisierte Fallbewegung, die aber am Ende, also bei den Worten „den du führst“, nicht in einen Fall mit Wiederanstieg mündet, vielmehr, den lyrischen Ansprache-Gestus berücksichtigend, in eine aus einem Sekundanstieg hervorgehende Dehnung, wobei die Harmonik eine Wandlung nach fis-Moll vollzieht. Das Klavier begleitet das mit Staccato-Akkordrepetitionen im Pianissimo.
Weil die Worte der nächsten beiden Verse im Ansprache-Gestus gehalten sind, lässt die Melodik von der ruhigen, weil in deklamatorischen Viertelschritten erfolgenden Fallbewegung ab und entfaltet sich im Auf und Ab von Achtelschritten, die aber immer wieder, und deshalb bleibt der ruhige, lyrisch-melodische Geist der Liedmusik erhalten, in kleine Dehnungen in Gestalt eines punktierten Viertels oder einer Viertel-Tonrepetition münden, so bei den Worten „Stein“, der Silbe („be-„) „rührst““. Harmonisiert ist die Melodik hier vorwiegend im Tongeschlecht Moll (c-Moll und fis-Moll), vollzieht vor ihrem Ende sogar eine kurze Wandlung in die Dissonanz. Aber auf diesem Ende, bei den Worten „wird die Luft Musik“ , die von hoher Relevanz für die poetische Aussage des Gedichts sind, geht die Melodik wieder zur stark gedehnten Entfaltung über. Dies in Gestalt einer mit einer Tonrepetition eingeleiteten langen (halbe Note) Dehnung auf „Luft“ auf der tonalen Ebene eines in Fis-Dur gebetteten „Fis“ in hoher Lage und eines silbengetreuen, ausdrucksstarken und wieder in eine lange Dehnung mündenden Pianissimo-Septfalls auf „Musik“, bei dem die Harmonik eine Wandlung von Fis- nach A-Dur vollzieht. Eine Dreiachtelpause folgt nach, dem Strophenende entsprechend.
Das Wort „Wohllaut“ inspiriert Ullmann, die Melodik, die zuvor bei den Worten „du tust dich auf“ einen Sekundanstieg mit Quartfall und Dehnung in mittlerer Lage beschrieben hat, mit einem Quintsprung in eine lange, über das große Intervall einer None sich erstreckende und auf dem Wortteil „Wohl-“ anfänglich gedehnte und in a-Moll gebettete Fallbewegung übergehen zu lasen. Um deren Aussage zu steigern, lässt er - ausnahmsweise einmal - eine Achtelpause nachfolgen. Das geschieht noch einmal bei den Worten „Der ordnet, was Gewalt und Wahn verwirrten“ des zweiten Verses. Auch sie sind von hoher Aussage-Relevanz, das Wirkungspotential der „schönen Hand“ betreffend. Die Melodik beschreibt hier nun einen ruhigen, in tiefer Lage ansetzenden und in g-Moll harmonisierten Anstieg, der aber dann bei „Gewalt und Wahn“, deren Semantik reflektierend, in ein in gis-Moll gebettetes sprunghaftes Ab und Auf in Achtelschritten auf hoher Lage übergeht, dem bei „verwirrten“ ein silbengetreuer Fall in die Tiefe eines „Fis“ in tiefer Lage nachfolgt, der, der Aussage Nachdruck verleihend, mit einer harmonischen Wandlung von gis-Moll nach G-Dur einhergeht. -
Lied 5: „O schöne Hand“
O schöne Hand, Kelch, dessen Duft Musik,
Wie Töne schweben geht der, den du führst,
Melodisch wird der Stein, den du berührst,
Wenn sie dich einhüllt, wird die Luft Musik.
Du tust dich auf, um Wohllaut zu verschwenden,
Der ordnet, was Gewalt und Wahn verwirrten,
Und Seelen, die auf Erden sich verirrten,
Hinüberlockt, wo Wunsch und Zweifel enden.
O Hand, Gebieterin der Töne, bleib
Auf diesem Herzen ruhn, das ruhlos schwingt,
So wandelst du in Frieden sein Verlangen.
Dämonische, berühre diesen Leib,
Er bebt wie Saiten, wird ein Meer und klingt
Und rauscht empor, die Sonne zu empfangen.
Große Lyrik. Eine Ode, die eine Hand besingt, die über den magischen Zauber verfügt, alles in Musik zu verwandeln, was sie berührt. Selbst ein Stein wird melodisch und Luft zu Musik. Aber sie vermag noch mehr, sie vermag das Herz zu rühren des lyrischen Ichs, das sie als Kelch erfährt und erlebt, dem Musik wie ein Duft entströmt. Deren Wohllaut kann ordnen, was Gewalt und Wahn verwirrte und Seelen zu locken, die sich auf Erden verirrten.
Und so bittet denn das lyrische Ich, diese Hand möge auf seinem ruhelosen Herzen ruhen und ihm den Frieden bringen, nach dem es verlangt. Und seinen Leib berühren, auf dass dieser auch zu Musik wird, wie Saiten klingt, singt wie ein Meer und empor rauscht, „die Sonne zu empfangen“.
Ein Liebesgedicht also, so ist es wohl zu verstehen, gerichtet von einem Ich an den, der über eine solche Hand verfügt und damit über die Möglichkeit und Kraft, nicht nur das Herz des Ichs zu rühren, sondern ihm auch seelische Ruhe zu schenken und es so tief zu verwandeln, dass es sich selbst als musikalisch klingendes Wesen erlebt, das fähig wird, die innere Erleuchtung durch die Sonne zu empfangen.
Das ist typische Huch-Lyrik, ihre poetische Aussage noch ganz aus dem metaphorischen Potential der romantischen beziehend, dieses aber im expressionistischen Geist der Moderne handhabend und einsetzend. Und weil sie darin um das Thema Musik kreist, dürfte sie den Musiker und Komponisten Ullmann angesprochen haben. Dies sogar tiefgreifend, wie die Musik, die daraus hervorgegangen ist, auf beeindruckende Weise vernehmen lässt.
Sie atmet anrührend lyrisch-melodischen und sich zu großer Emphase aufschwingenden Geist. Auch hier bricht Ullmann zwar am Ende in die Fortissimo-Expressivität aus, wie sich das bei diesen Huch-Vertonungen immer wieder ereignet. Ullmann scheint sich dabei an einem bestimmten Modell von Liedmusik orientiert zu haben. Glücklicherweise - möchte kann fast sagen - erfolgt dieser Ausbruch dieses Mal erst bei den letzten vier Worten des lyrischen Textes, ansonsten haben ganz offensichtlich die prosodischen Vorgaben der Ode reglementierend, aber auch inspirierend, auf die formale Anlage und den musikalischen Geist der Liedmusik gewirkt. -
„Wenn je ein Schönes mir zu bilden glückte“ (III)
Warum Ullmann bei den Worten „mit Harmonie begnadet“ die Liedmusik ins Fortissimo ausbrechen und die Melodik eine derart expressive Bewegung in hoher Lage beschreiben lässt, ist und bleibt mir unerfindlich. Das Wort „Harmonie“ bietet ja doch von seinem semantischen und affektiven Gehalt her keinerlei Anlass dazu. Vielleicht ist es ja, wie bereits vermutet, das lyrische Bild des letzten Verses, das ihm den Anlass dazu lieferte, aber dessen Aussage steht in keinem syntaktischen Kontext zu dem des vorangehenden, stellt vielmehr eine syntaktisch eigeständige lyrische Aussage dar.
In ihr erreicht die Liedmusik anschließend den Höhepunkt ihrer Fortissimo-Expressivität, klingt darin aber auch am Ende auf angenehme Weise im Piano aus. Bei dem Wort „lebendgen“ vollzieht sie, weiterhin in A-Dur harmonisiert, einen Quintsprung zur tonalen Ebene eines“ Gis“ in hoher Lage, geht nach einer langen, vom Klavier mit einem lang gehaltenen sechsstimmigen Fortissimo-A-Dur-Akkord akzentuierten Dehnung (halbe Note) daselbst auf dem Wortteil „lebend-“ auf der Silbe „-gen“ dann in einen Fall über eine kleine Sekunde über und setzt ihn über eine Quarte fort, um bei „Feuers“ eine silbengebundene Tonrepetition zu beschreiben, zu der das Klavier einen Legato-Anstieg von Akkorden und Achteln in Diskant und Bass erklingen lässt. Es hat also seine triolischen Akkordrepetitionen im Bass aufgegeben, und das bleibt so bis zum Lied-Ende.
Bei „Wogen im Gemüt“ beschreibt die Melodik eine, wieder in hoher Lage, allerdings einen Halbton tiefer ansetzende Fallbewegung, nun aber in Gestalt eines ausdrucksstarken Septfalls, dem in tiefer Lage ein verminderter Sekundanstieg nachfolgt, der auf der zweiten Silbe von „Gemüt“ in eine gedehnte, weil in deklamatorischen Schritten im Wert einer halben Note erfolgende Kombination aus Legato-Terzanstieg mit nachfolgender Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage übergeht. Die Dynamik wechselt dabei über ein rasches Decrescendo vom Forte zum Piano und Pianissimo, und die Harmonik vollzieht eine Wandlung vom vorangehenden A-Dur zu verminderter Gis-Tonalität und anschließend bei der Silbe „-te“, die pianissimo zu deklamieren ist, zu E-Dur.
Das fünftaktige Nachspiel lässt die Melodik auf den Schlussworten in Gestalt der Bewegung von Akkorden und Achteln noch einmal aufklingen und endet pianissimo in einem fünfstimmigen fermatierten E-Dur-Akkord. -
„Wenn je ein Schönes mir zu bilden glückte“ (II)
Der erste Vers der dritten Strophe weist ebenfalls ein vielsagendes lyrisches Bild auf, und Ullmanns Melodik vermag es, wie das von den „Kranken“, wieder auf adäquate Weise musikalisch einzufangen. Auf dem Wort „Geliebter“ liegt ein mit einem Achtel-Sekundschritt eingeleiteter ausdrucksstarker, weil nun in deklamatorischen Viertelschritten erfolgender und in verminderte B-Harmonik gebetteter verminderter Quartfall. Und mit dem gleichen Sekundschritt in tiefer Lage wird dann auch die einen leichten Anflug von klanglicher Lieblichkeit aufweisende, auf der tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage ansetzende und bis zu einem „Ges“ in mittlerer sich erstreckende Fallbewegung in Achtelschritten über jeweils eine Terz auf den Worten „den ein Gott sich ladet“ eingeleitet. Sie ist ganz und gar in dissonante Gis-Harmonik gebettet, und der zugehörige Klaviersatz besteht wieder wie am Ende der vorangehenden Melodiezeile aus einem lang gehaltenen Akkord im Diskant und aus tiefer in hohe Lage aufsteigenden Achteltriolen im Bass.
In der nachfolgenden kleinen Pause erklingt im Diskant ein aus einem vierstimmigen Akkord hervorgehender triolischer Fall von Achteln, der zu dem Klaviersatz überleitet, der der Melodik auf den Worten des zweiten und dritten Verses der dritten Strophe zugrunde liegt: Triolische Akkordrepetitionen im Diskant und lang gehaltene bitonale Akkorde im Bass.
Es sind die Verse, in denen sich der Übergang der Dynamik vom bislang dominierenden Pianissimo ins Fortissimo ereignet, das bis zum Ende der Melodik nun vorherrscht. Ausgelöst wurde dieser Ausbruch in extreme Expressivität wohl durch Ullmanns Verständnis des lyrischen Bildes des letzten Verses, das für mich nicht recht nachvollziehbar ist.
Aber zunächst zu dem, was ihm melodisch vorausgeht. Auf den Worten „Ihm teilt an goldnem Tisch des Nektars Blüte“ verbleibt die Melodik in ihrer Entfaltung noch ganz und gar im Pianissimo, und das ist ja auch angesichts des affektiven Gehalts dieses lyrischen Bild zweifellos angezeigt. Ullmanns Melodik wird diesem wieder voll und ganz gerecht, sie weist melismatischen Gehalt auf. Bei den Worten „ihm teilt an“ beschreibt sie noch einen einfachen, mit einem Terzsprung in unterer Mittellage eingeleiteten und in verminderte A-Harmonik gebetteten gedehnten Terzfall.
Auf den Worten „goldnem Tisch“ voll liegt aber dann ein in eine Dehnung mündender, auf der tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage ansetzender Fall über eine Quarte und eine Terz, wobei die Harmonik eine Wandlung nach B7-Dur vollzieht. Bei den Worten „des Nektars Blüte“ beschreibt die melodische Linie, immer noch pianissimo, aber nun in verminderte B-Harmonik gebettet, nach einem Ab und Auf über das große Intervall einer verminderten Oktave einen reizvollen Legato-Fall über eine große Quarte mit nachfolgender Tonrepetition.
Unmittelbar danach erklingen die dreistimmigen triolischen Achtelakkordrepetition „subito“ im Sforzato, dies in Gestalt von verminderter A-Harmonik, und nach einer Achtelpause setzt die Melodik, versehen mit der Anweisung „f subito animando“ auf den Worten des dritten Verses ein. Das geschieht bei „Zurück mir kam“ wieder in mittlerer Lage mit dieser Figur aus Ab und Auf mit eingelagertem Sechzehntelschritt, nur dieses Mal über ein kleineres Intervall. Bei „mit Harmonie begnadet“ geht sie mit dreischrittigen Terzanstieg in einen Anstieg in hohe Lage über und verharrt in Gestalt einer kleinen Dehnung auf der letzten Silbe von „Harmonie“, und dies im Fortissimo, akzentuiert vom Klavier mit einem sechsstimmigen Fortissimo-A-Dur-Akkord. Auf „begnadet liegt eine Tonrepetition eine keine Sekunde tiefer, der ein Fall über eine verminderte Quinte nachfolgt. Das Klavier begleitet das mit ausdrucksstarkem Fall von Achteln und Sechzehnteln aus hoher in tiefe Diskantlage, und im Bass erklingen weiterhin fortissimo die triolischen Akkordrepetitionen. -
„Wenn je ein Schönes mir zu bilden glückte“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ohne Vorspiel setzt die Liedmusik ein. Ein Dreivierteltakt liegt ihr zugrunde, „Andante amabile“ lautet die Vortragsanweisung. Und in der Tat: Die Melodik auf den Worten des ersten Verses weist die Anmutung von klanglicher, auf gebundene Weise sich entfaltender Lieblichkeit auf. Es ist der Geist des Liedes, der gleich in der ersten, in eine Dreiachtelpause mündenden Melodiezeile aufklingt über alle Strophen vorherrscht, bis er am Ende Opfer der Neigung Ullmanns wird, in Fortissimo-Expressivität auszubrechen. Bei den Worten „Wenn je ein Schönes“ setzt die melodische Linie, in cis-Moll harmonisiert, mit einem verminderten Sextsprung ein, geht, damit das Wort „je“ akzentuierend, in einen gedehnten verminderten Sekundfall in hoher Lage über, um sich danach bei „Schönes“ mit einem nun großen Sextfall in tiefe Lage abzusenken. Auf den Worten „ mir zu bilden“ beschreibt sie einen Sekundanstieg in mittlerer Lage, der am Ende bei „glückte“ über einen Sekundfall in eine Tonrepetition auf der Ebene eines „Gis“ in unterer Mittellage mündet, wobei die Harmonik eine Wandlung nach cis-Moll vollzieht.
Es ist dieser Übergang des emphatischen Aufbruchs in einen sanften Anstieg in mittlerer Lage und des zur Ruhe Kommens in einer Tonrepetition, was dieser Melodik ihren klanglichen Zauber verleiht. Und weil sie darin die innere Verzücktheit des lyrischen Ichs reflektiert, lässt Ullmann sie beim dritten Vers, bei den die lyrische Aussage syntaktisch beschließenden Worten „Mit meiner Seele mich in dich verzückte“ mitsamt dem zugehörigen Klaviersatz in unveränderter Gestalt noch einmal erklingen. Dieser besteht Im Diskant aus einer Folge von partiell länger gehaltenen Akkorden, im Bass beim ersten und dritten Takt hingegen aus einem Anstieg von Achteln aus tiefer in hohe Lage. Weil das lyrische Ich im zweiten Vers die Hingabe an das Wesen des „Du“ zum Ausdruck bringt, geht die melodische Linie mit einem verminderten Sextsprung zur tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage in eine ausdrucksstarke, weil in Gestalt von drei deklamatorisch silbengetreuen Achtel-Fallfiguren erfolgende Abwärtsbewegung über, die bei „Wesen“ in einen wiederum silbengetreuen, und dieses Wort akzentuierenden, weil in Schritten im Wert eines Viertels sich ereignenden verminderten Sekundfall mündet, wobei die Harmonik eine Wandlung von fis-Moll nach H-Dur vollzieht.
In der zweiten Strophe setzt das lyrische Ich mit seiner Vergleichs-Metaphorik ein, den mit „wie“ eingeleiteten Bildern vom „Winzer“ und von „Kranken“. In seine Grundhaltung tritt eine rationale Komponente, es macht keine reinen Ich-Aussagen mehr. Ullmann greift das auf, indem er der Melodik und dem Klaviersatz eine neue Struktur verleiht, und darin zeigt sich, wie eng angebunden an die Aussage des lyrischen Textes seine Liedmusik sich entfaltet. Die Grundstruktur der Melodik ist nun nicht durchgängig mehr der emphatische Fall oder Anstieg, vielmehr teilweise das konstatierende Auf und Ab. Und auch im Klaviersatz tritt an die Stelle der Achtel-Anstiegsfiguren im Bass die triolische Akkordrepetition, im Diskant erklingen taktlang gehaltene Akkorde.
Bei den Worten „Und, wie der Winzer“ beschreibt die Melodik, in Cis-Dur harmonisiert, nach einer Tonrepetition in mittlerer Lage einen verminderten Quintsprung zur tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage, geht dort erneut zu einer Tonrepetition über, um danach einen Fall zurück zur Ausgangsebene zu vollziehen. Nach einer Viertelpause folgt das Bild vom Traubenlesen. Und hier weicht die Melodik von ihrem Grundgestus ab, um dessen Gehalt zu erfassen. Sie beschreibt im Pianissimo nach seinem auftaktigen Sekundsprung auf „nach dem“ einen melismatisch angehauchten Fall in Achtelschritten von einem hohen „Fis“ zu einem tiefen „Gis“, über das große Intervall einer Septe also, um danach zu einem Anstieg in Gestalt eines verminderten Terzschritts überzugehen.
Die Harmonik vollzieht dabei eine Wandlung vom vorangehenden Fis-Dur nach E-Dur. Auf den Worten „erglüht und schwankt“ liegt anschließend ein, den Geist dieses Bildes fortsetzender in eine Dehnung mündender wortgebundener Sekundfall, bei dem die Harmonik in die Dissonanz übergeht. Bei den Worten „in Purpurgeist gebadet“ kehrt sie aber wieder zu ihrem konstatierenden Gestus zurück und beschreibt ein Ab und Auf partiell in Tonrepetitionen zwischen der tonalen Ebene eines „Dis“ in hoher, eines „Fis“ in tiefer und eines „Cis“ in wiederum hoher Lage, um von dort aus auf „gebadet“ dann in einen dieses Wort akzentuierenden lang gedehnten verminderten Sekundfall überzugehen, bei dem die Harmonik wieder eine Wandlung in die Dissonanz in Gestalt verminderter Gis-Tonalität vollzieht.
Das Bild von „Kranken“ weist einen hohen affektiven Gehalt auf. Das hat zur Folge, dass die Melodik nun eine lange, von der tonalen Ebene eines „F“ in hoher bis zu der eines „Des“ in tiefer Lage beschreibt. Dies bemerkenswerterweise aber in silbengebundenem Auf und Ab in kleinen Intervallen. Ihren konstatierenden Grundgestus hat sie also nicht ganz aufgegeben. Der Klaviersatz kehrt aber zu einer Entfaltung in Achtel-Anstiegs-Bewegungen im Bass zurück. Bei den Worten „nach tiefem Schlaf genesen“ beschreibt die melodische Linie eine bogenförmige Linie in diesen Fall-, bzw. Anstiegsfiguren in Achtelschritten, die auf der tonalen Ebene eines „Des“ in tiefer Lage endet, wobei die Harmonik eine ausdrucksstarke Wandlung von C-Dur nach Des-Dur vollzieht. Das Klavier lässt dazu im Diskant einen Legato-Übergang von einem C-Dur-Akkord zu einem lang gehaltenen in Des-Dur erklingen, im Bass aber einen Anstieg von Achtel-Triolen aus tiefer in hohe Lage, gegenläufig also zur Fallbewegung der Melodik und sie auf diese Weise akzentuierend. -
Lied 4: „Wenn je ein Schönes mir zu bilden glückte“
Wenn je ein Schönes mir zu bilden glückte,
War´s, weil ich hingegeben deinem Wesen,
Mit meiner Seele mich in dich verzückte,
Und, wie der Winzer nach dem Traubenlesen
Erglüht und schwankt in Purpurgeist gebadet,
Wie Kranke, die nach tiefem Schlaf genesen,
Wie ein Geliebter, den ein Gott sich ladet,
Ihm teilt an goldnem Tisch des Nektars Blüte,
Zurück mir kam mit Harmonie begnadet,
Lebendgen Feuers Wogen im Gemüte.
In der Syntax ihrer Sprachlichkeit, dem Einsatz ihrer Metaphorik und der prozessualen Genese der lyrischen Aussage ist das poetisch große hohe Liebeslyrik. Schon die erste Strophe lässt die höchst kunstvolle Art erkennen, wie sich hier die lyrische Aussage konstituiert: Sie wird nicht direkt benannt, sondern bildet sich, syntaktisch mit der konditionalen Konjunktion „wenn“ eingeleitet, im Verlauf der Aussagen der einzelnen Verse, so dass sich erst am Ende des dritten konkretisiert, was der erste Vers zu sagen hat. Und die dazu genutzte Metaphorik weist, um die Tiefgründigkeit der Aussage zu erfassen, einen hohen Grad an Komplexität auf. Das lyrische Ich hat sich nicht einfach dem Wesen des Du hingegeben, es hat sich mit seiner Seele in es verzückt. Und das wird ihm zu einer Erfahrung von Schönheit.
Und dieser lyrisch-sprachliche und metaphorische Prozess der Konstitution der lyrischen Aussage ereignet erstreckt sich danach sogar über zwei Strophen, deren Verse eine syntaktische Einheit bilden, die wieder eingeleitet und in Gang gehalten wird durch die Konjunktionen „und“ und ein zweimaliges „wie“. Dabei ist die Metaphorik zwar in ihrem Kern nun zwar eindimensional, ein Winzer, ein Kranker und ein Geliebter, sie erfährt aber durch ihre Einbindung in einen kommentierenden Kontext eine Steigerung ihrer Komplexität, die über ihr evokatives Potential die Aussage tiefgründig werden lässt. Und erst im letzten Vers mündet sie in die lyrische Aussage, die eine Anbindung an die der ersten Strophe herstellt, dies aber nicht explizit, sondern wieder in Gestalt eines durch den sprachlichen Genitiv komplexen lyrischen Bildes vom „Wogen lebendigen Feuers im Gemüte“. Sie lässt die mit dem ersten Vers thematisierte und in Liebe wurzelnde Erfahrung von Schönheit zu einer existenziell und emotional tiefgründigen werden.
Derartige, die übliche in ihrer prosodischen Anlage, komplexen Sprachlichkeit und tiefgründigen Metaphorik weit überragende Liebeslyrik in adäquate Liedmusik zu setzen, dürfte, stelle ich mir vor, für einen Komponisten eine immense Herausforderung darstellen. Mir scheint aber, dass Ullmann diese voll und ganz bewältigt hat, wobei bemerkenswert ist, dass dabei eine durch melodische Schönheit sich auszeichnende Liedmusik herausgekommen ist, die zwar die affektive Dimension der lyrischen Bilder nicht in allen Fällen erfasst, dafür aber die Liebe, aus denen diese hervorgeht, in ihrer Größe und ihrer existenziellen Relevanz auf eindrückliche Weise zum Ausdruck bringt. -
“Sturmlied” (III)
Bei den Schlussworten „ist Leben Glück“ geht die melodische Linie in einen vom bisherigen Gestus der Entfaltung deutlich abweichenden über. Nicht mehr in Gestalt von deklamatorischen Achtelschritten bewegt sie sich, sondern nur in solchen im Wert einer halben Note. Der poetischen Aussage wird auf diese Weise höheres Gewicht verliehen, als sie es im lyrischen Text aufweist. Mit einem auftaktigen verminderten Terzsprung setzt sie ein, beschreibt auf den beiden Silben von „Leben“ einen in As-Dur harmonisierten, auf der tonalen Ebene eines „Ges“ in hoher Lage stark gedehnten Terzfall, um mittels eines Sprungs über das Intervall einer großen Quarte auf den Wort „Glück“ in einer sehr langen, weil den ganzen Text ausfüllenden Dehnung auf der tonalen Ebene eines „A“ in hoher Lage zu enden. Das Wort erfährt so eine starke Akzentuierung. Die Harmonik vollzieht dabei bemerkenswerterweise eine Wandlung von As-Dur nach d-Moll.
Ullmann will damit wohl den affektiven Gehalt dieses Wortes aufgreifen und zum Ausdruck bringen. Das Klavier lässt dazu seine akkordischen Achteltriolen synchron in Diskant und Bass erklingen, versehen mit der Anweisung „martellato“ und einem Crescendo auf der ohnehin großen dynamischen Basis des Fortissimo, auf der sich die Liedmusik bisher entfaltet hat.
Der Klaviersatz geht damit in ein ungewöhnlich langes, elf Takte umfassendes Nachspiel über. Es besteht aus einer Folge der akkordischen Figuren, mit denen das Klavier die melodische Linie begleitet hat, allesamt im Fortissimo erklingend, mit einem Portato-Zeichen versehen und sich im dritten Takt bei dem Martellato der akkordischen Triolenfigur sogar ins Forte-Fortissimo steigernd.
Etwas Bohrend-Nachdrückliches wohnt ihm in seiner extrem hohen Expressivität inne, vernehmlich dort, wo eine bestimmte Figur aus akkordischem Anlauf in Aufwärts-Sekundschritten und repetitivem Auf und Ab in hoher Lage drei Mal hintereinander unverändert erklingt. Das alles mündet in drei „poco rit“ auszuführende acht- bzw. siebenstimmige Akkorde, die ersten beiden in dissonanter Harmonik, der dritte, sffz“ anzuschlagende ein Achtelakkord in B-Dur. Ihm folgt ein vierter nach: Wieder in B-Dur, aber nur noch dreistimmig und lang gehalten im tiefen Bass.
Und natürlich fragt man sich: Was soll´s? Warum dieses so lange, hochexpressive und an die Grenzen der Dynamik vorstoßende Nachspiel?
Ich denke, es lässt sich biographisch erklären. Diese Lebenshaltung und -auffassung, wie sie Ricarda Huch in diesem Gedicht lyrisch artikuliert und zum Ausdruck bringt, war, wie ich den beiden mit vorliegenden Biographien entnehme, seine eigene. Er wollte sie mittels des als Kommentar fungierenden Nachspiels zur Liedmusik in ihrer existenziellen Sinnhaftigkeit und Berechtigung auf nachdrückliche Weise zum Ausdruck bringen. -
“Sturmlied” (II)
Dieses strukturelle Muster behalten Melodik und Klaviersatz beim zweiten Verspaar der zweiten Strophe zunächst bei, bei den Worten „Da war ich reich“ reagiert Ullmann auf deren exponierte Sonderstellung als Schlusswort in Gestalt eines nur zweihebigen jambischen Verses. Er lässt die Melodik, nun in Des-Dur harmonisiert, auf „da war“ mit einer in eine Dehnung übergehenden Tonrepetition in hoher F-Lage einsetzen. Auf „ich“ liegt dann erneut eine lange Dehnung eine verminderte Terz tiefer, also auf der Ebene eines „Des“ in oberer Mittellage. Bei dem Wort „reich“ steigert sich die Liedmusik dann schließlich auf den Höhepunkt ihrer ohnehin schon bislang extremen Expressivität. Es erklingt in Gestalt einer fortissimo und portato ausgeführten sehr langen, weil wieder einen ganzen Takt einnehmenden Dehnung auf der tonalen Ebene eines „B“ in hoher Lage. Begleitet wird das vom Klavier wieder mit der Repetition von triolischen Achtelakkorden im Diskant, und im Bass vollziehen während einer lang gehaltenen Des-Oktave Achtel einen Portato-Anstieg. Für den Klaviersatz gilt hier die Anweisung „ff martellato“.
War es in der zweiten Strophe die energische Bekundung des eigenen Willens, die die lyrische Aussage prägte, so ist es in der dritten die des Jubels über das imaginierte Bild eines hochaktiven, kämpferischen, Lebens. Und dieser lyrische Sachverhalt findet seinen voll adäquaten Niederschlag in Ullmanns Liedmusik. Nun entfaltet sich die Melodik , und dies natürlich erneut durchgängig fortissimo, im lebhaften Auf und Ab von deklamatorischen, im Wechsel von Viertel- und Achtelschritten erfolgenden Sprüngen im ungewöhnlich großen Ambitus einer None. Und das Klavier folgt ihr darin in Gestalt von entsprechenden akkordischen Sprüngen im Diskant und Oktaven im Bass. Gegen Ende, vom dritten Vers an, lässt es aber wieder triolische Akkord-Repetitionen erklingen, und die Melodik geht zu einem gleichsam gemäßigteren, auf der tonalen Ebene verbleibenden und über deutlich kleinere Intervalle erfolgenden Auf und Ab über, mündet dann aber, wie schon am Ende der zweiten Strophe, in eine hochexpressive Aufgipfelung der Expressivität. Melodik und Klaviersatz reflektieren darin den Sachverhalt, dass die lyrische Aussage vom Ausdruck des Jubels auf die Ebene der lebensweisheitlichen Allgemeingültigkeit abhebt.
Bei den Worten „O herrliche Fahrt im Windeshauch“ setzt die melodische Linie mit einem ausdrucksstarken, in einer Wandlung von F- nach B-Dur harmonisierten Fortissimo-Sextsprung zur tonalen Ebene eines „A“ in hoher Lage ein, beschreibt nach einem kurzen Auf und Ab bei den Worten „Fahrt im“ in einen leicht gedehnten, in B-Dur-Harmonik gebetteten Legato-Fall, um dann bei dem Wort „Windeshauch“ mit einem Septsprung zu einem auf der Ebene des „A“ in hoher Lage ansetzenden gedehnten Fall in mittlere Lage überzugehen und sich von dort mit einem verminderter Quartsprung wieder zu erheben. Das Klavier folgt dem mit seinen ebenfalls über große Intervalle sich erstreckenden akkordischen Sprungbewegungen aber keineswegs. Diese erfolgen vielmehr bei der Melodik auf „O herrliche Fahrt“ sogar aus Gründen der Akzentuierung gegenläufig in Gestalt einer Anstiegsbewegung. Erst bei „Windeshauch“ vollzieht es den Fall der melodischen Linie mit. Das „Hinauf und Hinab“ des zweiten Verses bildet die Melodik auf eindrückliche Weise in Gestalt von Fall- und Sprungbewegungen über das große Intervall einer Septe ab, um am Ende auf der zweiten Silbe von „zurück“ auf der tonalen Ebene eines „As“ in hoher Lage aufzugipfeln.
Nun, in der halbtaktigen Pause für die Melodik setzen im Klaviersatz fortissimo und portato die zunächst Diskant und Bass übergreifenden, mit Zweiunddreißigsteln eingeleiteten Repetitionen von Achtelakkord-Triolen ein. Sie bilden in Kombination mit einem Auf und Ab von Oktaven im Bass dann die Begleitung der Melodik bis zu ihrem Ende. Wie bereits angedeutet, hat sie, bedingt durch die Aussage des lyrischen Textes in den beiden Schlussversen, den Gestus ihrer Entfaltung geändert. Bei den Worten des dritten Verses beschreibt sie ein Auf und Ab, das nur das Intervall einer Terz und einer Quarte zwischen der tonalen Ebene eines „E“ in hoher und eines „H“ in mittlerer nicht überschreitet. Auf den Worten „kämpfend“ und „lieg ich“ liegt dabei jeweils, diese akzentuierend, ein gedehnter Legato-Terzfall mit nachfolgendem Sprung über das gleiche Intervall, auf den Worten „ich auch“ ein in eine kleine Dehnung mündender verminderter Sekundfall zur Ebene eines „Es“ in hoher Lage. Die Harmonik bewegt sich in Wandlungen zwischen F- und B-Dur. -
“Sturmlied”. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, „Allegro agitato“, so lautet die Vortragsanweisung. Ein dunkles drängendes Grummeln erklingt piano. Es ist der Klaviersatz, der der Melodik der ersten Strophe als Begleitung zugrunde liegt, genauer: sie vorantreibt. Dunkel klingt er, weil der durchgehend im Bassbereich angesiedelt ist, und drängend, weil er in seinem Oberteil aus Vierergruppen von Zweiunddreißigsteln, besteht, die sich legato in einem Auf und Ab wellenartig entfalten, im unteren Teil aus Sechzehntel-Triolen, die sich ebenfalls legato auf und ab bewegen. In diesem Zusammen-Legato sind die Einzeltöne so miteinander verschlungen, dass sie infolge ihres kleinen Wertes als solche gar nicht mehr wahrnehmbar sind, so dass sie einen dunkel wogenden Klangteppich bilden, der wohl tonmalerisch die Aura des lyrischen Bildes einfangen soll, das die beiden Eingangsverse generieren.
In geradezu schroffem Kontrast dazu ereignet sich der noch im ersten Takt auftaktig erfolgende Einsatz der Singstimme. Durch das Forte und den verminderten Septsprung zur tonalen Ebene eines „Fis“ in hohe Lage, in dem die Melodik auf den Worten „O Brausen des Meers“ einsetzt, mutet sie wie ein klanglich scharfes Einbrechen in das dunkel- unstrukturierte Piano des Klaviersatzes an und weist von Anfang an einen hohen Grad an Expressivität auf. Sie entfaltet sich, ganz dem Geist ihres Auftritts entsprechend, in der ersten Strophe in Gestalt von Sprungbewegungen in großem Ambitus, dabei, nach den Abwärtsbewegungen bis in untere Mittellage, immer wieder mit Sprung über ein großes Intervall in hohe Lage neu ansetzend. Auf den Worten „und Irren“ ist es ein zur tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage führender Sextsprung, bei „in Hafens“ ein zu der eines hohen „Fis“ führender verminderter Septsprung, eine Wiederholung desjenigen vom Liedanfang, und auch bei „im Schutze“ erklingt dieser noch einmal. Auf den Worten „wie eng und arm“ weicht die Melodik von diesem Gestus ab und beschreibt, diese mit einem Akzent versehend, einen lang gedehnten Septfall, der über einen verminderten Terzanstieg in eine lange Dehnung auf der Ebene eines „As“ in mittlerer Lage bei „arm“ mündet.
Das, was da in der ersten Strophe aufklingt, ist in seiner hochgradigen Expressivität eine Liedmusik, die man als vollkommen adäquaten Ausdruck der Aussage und Metaphorik des lyrischen Textes empfindet. Und Gleiches gilt auch für die zweite und die dritte Strophe, wobei bemerkenswert ist, dass diese jeweils ihre je eigene, von der der ersten Strophe sich markant abhebende kompositorische Faktur aufweisen, eben weil auch sie die lyrische Aussage liedmusikalisch voll und ganz reflektieren.
In der zweiten Strophe artikuliert sich das lyrische Ich explizit, und dies auf energische, mit den Worten „ich will“ eingeleitete Weise. Ullmans Liedmusik greift das auf, indem sie ihrerseits einen energischen Ton anschlägt, und dies auf höchst expressive Weise. Im Klaviersatz gibt es keine wellenartigen Zweiunddreißigstel-Figuren mehr, er ist ganz und gar akkordisch angelegt, in Gestalt von mit Portatozeichen versehenen Fortissimo-Achtel- und Sechzehntelakkorden und triolischen Achtelakkord-Repetitionen, die ebenfalls fortissimo auszuführen sind. Die Melodik entfaltet sich auf eine Weise, die ebenfalls Energie ausstrahlt. Ihre Anstiegsbewegungen erfolgen fortissimo in von Achtelpausen unterbrochenen Achtel-und Sechzehntelschritten, die ebenfalls zumeist Portato-Zeichen tragen, und ihnen folgt Und am Strophenende lässt Ullmann seiner Neigung, in dynamische Extreme auszubrechen, freien Lauf.
Um das an repräsentativen Beispielen zu konkretisieren: Hochgradig ausdrucksstark ist der melodische Anstieg auf den Worten „Ich will kein Kissen mir unters Haupt“. Das Wort „ich“ erklingt in Gestalt einer fortissimo und portato ausgeführten kleinen Dehnung auf der tonalen Ebene eines „B“ in mittlerer Lage. Dann ereignet sich ein in es-Moll harmonisierter deklamatorisch silbengetreuer und rhythmisierter Anstieg von einem tiefen „Es“ zu einem hohen „Fes“, der zweimal von Pausen unterbrochen ist und vom Klavier im Bass und im Diskant in Gestalt von synchron in Gestalt von dreistimmigen Akkorden mitvollzogen wird. Er mündet bei dem Wort „Haupt“ in eine lange Dehnung auf der Ebene eines „Ges“ in hoher Lage, bei der das Klavier im Diskant eine taktlange Repetition von dreistimmigen Achtelakkord-Triolen erklingen lässt, ebenfalls im Fortissimo. Auf den Worten „Kein Schreiten auf Teppichen weich“ beschreibt die Melodik ein Auf und Ab auf der hohen „Ges-Lage, die sie mit der Dehnung auf „Haupt“ eingenommen hat. Sie wird vom Klavier mit einer expressiven Folge von Oktaven im Diskant und partiell triolischen Kombination von Zweiunddreißigstel- und Achtelakkorden im Bass begleitet. Au dem Wort „weich“ liegt dann eine sehr lange, den ganzen Takt einnehmende Dehnung auf der tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage, zu der das Klavier nun wieder seine repetitiven Achtelakkord-Triolen erklingen lässt. -
Ein Nachtrag noch zur Interpretation dieses Gedichts, das Ricarda Huch unter dem Titel „Liebesgedichte“ publiziert hat, das aber in seiner lyrischen Aussage der drei Strophen und der zugehörigen Metaphorik keinerlei Bezugnahme auf das Thema „Liebe“ aufweist. Das hat mi beim Versuch, es zu interpretieren, Probleme bereitet, und ich habe deshalb ein wenig nachgeforscht.
Ich denke, dass es in seiner poetischen Aussage stark autobiographisch bedingt ist. Ricarda Huch entbrannte in leidenschaftlicher Liebe zum Mann ihrer Schwester, der zugleich ihr Vetter war. Das stürzte sie in eine tiefe Lebenskrise und prägte ihr Verständnis von „Liebe“ maßgeblich. In ihrem Roman „Erinnerungen von Ludolf Ursleu dem Jüngeren“ heißt es von der Liebe, sie sei „wahrhaftig einem Feuer zu vergleichen, insofern, als sie sich niemals begnügt, sondern stets mehr Nahrung will, sich reckt und riesenhoch anschwillt zu furchtbarer Schönheit und zum Verderben alles dessen, was ihr im Wege steht.“
Daraus wird, so scheint mir jetzt, die um die existenzielle Befindlichkeit eines lyrischen Ichs kreisende poetische Aussage und die dazu verwendete Metaphorik eher verständlich. -
Lied 3: “Sturmlied”
O Brausen des Meers und Stimme des Sturms
Und Irren im Nebelschwarm!
In Hafens Ruhe, im Schutze des Turms,
Wie eng und arm.
Ich will kein Kissen mir unters Haupt,
Kein Schreiten auf Teppichen weich;
Hat mir der Sturm auch die Segel geraubt,
Da war ich reich!
O herrliche Fahrt im Windeshauch
Hinauf und hinab und zurück!
Nur kämpfend, und unterlieg ich auch,
Ist Leben Glück.
Dieses Gedicht gehört, und das ist auf den ersten Blick verwunderlich, in die Gruppe der von Huch unter dem Titel „Liebesgedichte“ publizierten Lyrik. Da die lyrische Aussage der drei Strophen und die zugehörige Metaphorik nicht nur keinerlei Anbindung an das Thema „Liebe“ aufweist, ja sogar weitab davon angesiedelt ist, sieht man sich, will man, um ein Verstehen bemüht, sich ihm interpretierend annähern, geradezu genötigt, dafür nach einem grundlegenden Ansatz- und Ausgangspunkt zu suchen.
Ich sehe nur zwei Möglichkeiten. Dieses Gedicht entwirft lyrisch eine Möglichkeit von Leben, die als solche liebenswert ist und stellt damit eine Liebeserklärung an ein solches dar. Oder:
Es ist als Parabel für das Wesen wahrer Liebe zu lesen und zu verstehen. Diesen zweiten Ansatzpunkt halte ich aber, weil der lyrische Text dafür keinerlei Möglichkeit zu einer Fundierung bietet, für abwegig.
Anders ist das beim ersten. Die beiden letzten Verse machen das Thema „Leben“ sogar explizit: Es ist nur lebens- und damit auch liebenswert, wenn es eines des Kampfes ist, und dies selbst dann, wenn dieser verloren geht. Leben im „Hafen der Ruhe“, gebettet in weiche Kissen und als Schreiten auf Teppichen, ist kein wahres, keines, das man lieben kann. Die Metaphorik der beiden Eingangsverse stellen eine lyrische Evokation des Wesens von wahrem Leben dar.
Für Ullmann war diese Frage der Textinterpretation ganz offensichtlich irrelevant. Er setzt mit seiner Liedmusik an der Semantik des lyrischen Textes und insbesondere am evokativen Potential seiner Metaphorik an. Und so wurde denn daraus eine, die in ihrer hochgradig rasanten Expressivität geradezu überwältigend ist. Man wird als Hörer regelrecht mitgerissen mit der voranstürmenden Melodik und dem sie begleitenden und vorantreibenden Klaviersatz. -
Nun habe ich das mal ›ergoogelt‹ und die Künstliche Intelligenz hat so geantwortet:
Wozu das denn?
Es ist doch alles längst geklärt, diese im Grunde wenig bedeutsame Frage betreffend.
Oder habe ich da etwas nicht kapiert, und du willst, lieber hart, mit diesem deinem Beitrag auf subtil ironische Weise eben diese Unbedeutendheit ins Bewusstsein rufen?
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... also scheint Schumann das doch ganz richtig gemacht zu haben
Diese Schreibweise hat einen guten Sinn. Chamisso ging es in seinem Gedicht-Zyklus nicht primär und hauptsächlich um das Thema "Liebe", sondern um die poetische Darstellung des Lebens einer Frau in der Liebe zu einem Mann. Im letzten Gedicht kommt dies in expliziter Weise zum Ausdruck.
Deshalb mussten die Worte "Liebe" und "Leben" im Titel gleichwertig nebeneinander stehen.
Die heute korrekte Schreibweise "Frauenliebe und -leben" wäre, wenn es sie damals gegeben hätte, was nicht der Fall, war, gar nicht in seinem Sinn gewesen.
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BTW: müsste das L von Leben nicht klein geschrieben werden im Threadtitel?
Auf dem handschriftlichen Originalmanuskript Schumanns lautet der Titel:
"Frauenliebe und Leben"
Und hier das Titelblatt des Erstdrucks:
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„Am Klavier“ (III)
Wieder, nämlich bei den Worten „überglüht mich heiß“ und „überfließt mich ganz“, setzt Ullmann das Prinzip der Wiederholung einer melodischen Figur ein, um eine Intensitätssteigerung der lyrischen Aussage zu bewirken, zugleich aber auch zur nachfolgenden Melodik hinzuführen und ihr ein größeres Gewicht zu verleihen. Denn durch das einleitende Wort „wie“ werden die vier letzten Verse syntaktisch und inhaltlich an die vorangehenden angebunden. Und tatsächlich beschreibt die melodische Linie auf den Worten „Wie von den Bergen Weiß / Des Mondes fließt“ eine eindrückliche, durch die eingelagerten triolischen Figuren auf „wie von den“ und „Weiß des“ lyrisch angehauchte Fallbewegung über das große Intervall einer Dezime, von einem hohen „As“ bis hinab zur tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage bei den kleinen Dehnung auf dem Wort „fließt“. Das Klavier begleitet nun, ganz dem lyrischen Geist dieser Melodik entsprechend, mit einem ein großes Intervall einnehmenden triolischen Auf und Ab von Achteln im Bass und lang gehaltenen Akkorden im Diskant, und die Harmonik vollzieht eine Wandlung von anfänglich verminderter B-Tonalität zu einem gleichsam reinen und klaren B-Dur.
Dieses herrscht auch bei der Melodik der beiden Schlussverse, den Worten „Fern ferner Sonnenglanz, / Durch Nacht versüßt“ also, vor, mit einer nur kurzen Zwischenbewegung nach einem g-Moll bei dem Wort „Sonnenglanz“, um dessen affektiven Gehalt einzufangen. „Tranquillo“ lautet die nun gültige Vortragsanweisung. Die Melodik verbleibt in der tiefen Lage, zu der sie der Fall über eine ganze Oktave auf den Worten „Mondes fließt“ hingeführt hat. Sie sinkt sogar in noch deutlich tiefere Lage ab. Dies in Gestalt einer sich auf identische Weise wiederholenden Figur auf den Worten „Sonnenglanz“ und „Nacht versüßt“. Die melodische Linie beschreibt hier einen gedehnten Quartfall zur tonalen Ebene eines „A“ in tiefer Lage, wobei dieses „A“ im zweiten Fall, also auf der zweiten Silbe von „versüßt“, in eine lange Schlussdehnung übergeht. Das Klavier lässt dazu im Diskant einen lang gehaltenen zweistimmigen B-Dur-Akkord und sein triolisches Achtel-Auf und Ab im Bass erklingen.
Noch einmal zeigt Ullmann hier seine Fähigkeit, eine lyrische Aussage mittels seiner Liedmusik nicht nur in ihrer Semantik voll und ganz zu erfassen, sondern darüber hinaus in ihren poetischen Tiefendimensionen tiefreichend zu erschließen. Huch operiert hier ja auf poetisch kühne Weise mit dem Gegensatz von Tag und Nacht, indem sie das lyrische Ich das Mondlicht als durch die Nacht versüßtem und fernen, weil nur in der Reflexion im Mond gebrochenen Sonnenglanz erfahren lässt. Das lyrische Ich soll damit in seiner außergewöhnlichen Fähigkeit gezeigt werden, in der Liebe die Symbiose alle lebensweltlichen Gegensätze überwinden zu können. Und indem Ullmann auf beide lyrischen Bilder die gleiche Melodik legt, macht der diesen lyrischen Sachverhalt liedmusikalisch sinnfällig.