Der Hinweis von Walter.T auf das Phänomen der "glatten", bzw. "harten Fügung" ist, was die zentrale Frage dieses Threads anbelangt, überaus hilfreich.
Unter "glatter Fügung" versteht man in der Lyrik das ungebrochene rhythmische Fließen der lyrischen Sprache innerhalb des Metrums und die Offenheit der Versenden für diesen Fluss.
Und mit dem Begriff "Ungebrochenheit" sind wir bei Schubert!
Ich darf verweisen auf das, was ich hier bezüglich der Eigenarten der Schubertschen Melodie festgestellt habe.
Schubert hat in seinen Liedern nicht durchweg eine ungebrochene Melodik eingesetzt (siehe etwa Winterreise!), aber er hat sie, wenn irgend möglich, angestrebt.
Und vor allem:
Er hat sie offensichtlich ungern als musikstilistisches Ausdrucksmittel verwendet, wie das dann Schumann immer wieder einmal tat, mehr aber noch Hugo Wolf, und wie es ab Endes des 19. Jahrhunderts selbstverständlich wurde.
Ich bin, nach vielen Jahren der Beschäftigung mit diesem Fragenkomplex, fest davon überzeugt, dass das "Rätsel des Schubertliedes" in der ganz spezifischen Art und Weise gründet, wie Schubert kompositorisch mit dem lyrischen Text umgeht.
Vergleicht man ihn unter diesem Aspekt mit den beiden anderen herausragenden (weil stilprägenden) Exponenten des Kunstliedes, dann stellt man fest:
Schubert ist der einzige, der einen lyrischen Text rein musikalisch liest.
Schumann las Lyrik auch mit einem literarischen Auge. Ihn interessierte, wie weit ein Gedicht ihn in seinem spezifischen literarischen Gehalt ansprach und welche Qualität es aufwies. Die Gedichte Kerners komponierte er z.B., weil er sich in dem dort artikulierten Lebens- und Naturgefühl wiederfand.
Hugo Wolf las ausschließlich mit der literarischen Brille: Ein Gedicht war für ihn eine Herausforderung zu einer Komposition, die den spezifischen dichterischen Gehalt eines Textes musikalisch interpretierte, in Form eines musikalisch evokativen Äquivalents nämlich. ( Alles holzschnittartig vereinfacht!)
Schubert las Gedichte primär als Musiker.
Es spricht (auch nach der Quellenlage!) alles dafür, dass er beim Lesen eines Gedichts schon mit dem ersten Vers der Musik nachspürte, die er in der lyrischen Sprache erklingen hörte.
Und das Lied war in dem Augenblick im Ansatz geboren, wo er die Melodie gefunden hatte, die dem Klang und dem Rhythmus der lyrischen Sprache voll korrespondierte.
In diesem Augenblick konnte er sprachlichen Text in musikalischen verwandeln.
Bei Texten mit glatter Fügung, wie bei denen Goethes etwa, konnte er seinem Leitprinzip der möglichst ungebrochenen melodischen Linie am leichtesten folgen.
Ein kleines BEISPIEL (zur Vergegenständlichung).
"Der du von dem Himmel bist, // Alles Leid und Schmerzen stillst ..." (Goethe: "stillest"!)
Wenn man diese beiden Verse rein metrisch betrachtet, dann liegt ein ungebrochener Trochäus-Versfuß (mit stumpfem Ende) vor:
X x X x X x X // X x X x X x X
Betrachtet man aber den Sprachrhythmus, so sieht das Bild ein wenig anders aus, ohne dass allerdings dieser dem Metrum in die Quere käme (glatte Fügung!).
Das "Der" trägt einen Ton, und das Wort "Himmel" trägt ebenfalls einen, schon allein deshalb, weil es zweisilbig ist und sonore Konsonanten aufweist. Ansonsten wenig betonte Silben:
X x x x x X x x // X x X x X x x
Wer sich jetzt den Verlauf der Schubertschen Melodie anschaut, der sieht sofort:
Die Struktur (Akzentuierung) und die Linienführung der Singstimme folgen so genau dem Sprachrhythmus, dass man denkt, sie wäre aus ihm erwachsen.
Das trochäische Versmaß verwandelt sich, damit das Fließen der Sprache besser hörbar wird, in der Klavierbegleitung in ein daktylisches ( X xx, X xx).
Damit die glatte Fügung im lyrischen Text ( und damit auch die Ungebrochenheit der melodischen Linie ) voll gewahrt bleibt, steigt die Melodie erst bei dem Wort "Himmel" leicht an, verharrt dann kurz, bleibt dabei aber in einen harmonischen Akkord eingebunden, der eine Auflösung verlangt.
Diese Auflösung kommt dann auch prompt mit dem Wort "Alles" zu Beginn des zweiten Verses.
Das ist in Musik verwandelte Sprache!
Hört man im Kontrast dazu die Vertonung dieser beiden Verse durch HUGO WOLF, dann ist der Unterschied unübersehbar.
Da Wolf nicht Sprache als Musik erklingen lassen, sondern sie interpretieren will, komponiert er für die Singstimme zwei langsam ansteigende und danach wieder absteigende Bewegungen.
Bei "Leid und Schmerzen" erfährt diese Bewegung eine emphatische Steigerung über mehrer Tonschritte hinweg. Bei "Schmerzen" kommt dann sogar eine Art Bruch hinein, weil die melodische Linie in einen verminderten Akkord einbezogen wird.
Das ist ein völlig anderes kompositorisches Herangehen an den lyrischen Text!
Ist jetzt die Frage, warum man bei einem Schubertlied häufig das Gefühl hat, so(!) und nur so(!) könne dieses komponierte Gedicht eigentlich klingen, ein wenig mehr geklärt?