Das Gedicht ist die Initialzündung für die Komposition eines Liedes. Sio weit, so gut. Von da an aber wird´s schwierig. Wie der Komponist das Gedicht liest, entscheidet über die musikalische Struktur des Liedes. Das war im Falle von "Jägers Abendlied" deutlich geworden. Es gibt viele Beispiele, an denen man diesen Sachverhalt beobachten kann.
Das Gedicht "TRAUM DURCH DIE DÄMMERUNG" von Julius Bierbaum wurde von Richard Strauss und van Max Reger vertont. Es sind zwei völlig verschiedene Lieder herausgekommen. Richard Strauss macht seine Komposition an der Überschrift fest. Das Wort "Traum" ist offensichtlich das Zentrum seiner Gedichtrezeption. Infolgessen stellt er seine Komposition auf die musikalische Schilderung der Empfindungen ab, die das lyrische Ich beim Gang "zu der schönsten Frau" in sich verspürt und setzt dabei die für ihn typischen Mittel der musikalischen Klangmalerei ein.
Max Reger geht offensichtlich von der Szene aus, die Bierbaum schildert. Für ihn ist der Vorgang des Gehens der Angelpunkt der Komposition. Das zentrale Bild der "Wiesen im Dämmergrau" hat es ihm hörbar angetan, so dass er seine msuikalischen Mittel zur Schilderung der Szenerie einsetzt, in der der Gang zur Geliebten sich ereignet.
Dasselbe Gedicht, in seiner sprachlichen Struktur unverändert, führt zu zwei Liedern, die verschiedener gar nicht sein können. Die Komponiste haben dieses Gedicht unterschiedlich gelesen.
Die Frage, warum ein Komponist jeweils zu einem ganz bestimmten Gedicht greift, um es in ein Lied zu verwandeln, gehört zu den gänzlich rätselhaften Fragen. Manchmal, wie etwa im Falle Robert Schumanns, kann man einige halbwegs gesicherte Aussagen machen. Nahezu im Dunkeln hingegen tappt man bei Schubert. Fischer Dieskau bemerkt zu ihm: "Der literarische Wert besaß für Schubert überhaupt erst in zweiter Linie Relevanz ...".
Auf den ersten Blick kommt es einem so vor, als habe Schubert quer durch den "lyrischen Gemüsegarten" komponiert. Das täuscht aber. Am vierten August 1828 schrieb er an Johann Gabriel Seidl, von dem er immerhin schon einige Gedichte verton hatte: "Geehrtester H. Gabriel! Beiliegend sende ich Ihnen diese Gedichte zurück, an welchen ich durchaus nichts Dichterisches noch für Musik Brauchbares entdecken konnte."
Wie muss man dies lesen? In einem Gedicht, das von Schubert zur Grundlage für ein Lied gemacht werden kann, muss etwas "Dichterisches" sein, das dazu geeignet ist, in Musik verwandelt zu werden. Das "Dichterische" kann nur die spezifische Eigenart der lyrischen Sprache sein. Diese muss von der Art sein, dass Schubert sie in "Sprachmusik" verwandeln kann.
Diese Briefstelle zeigt, dass Schubert beim Umgang mit Lyrik sehr wohl ausgewählt hat. Das dass das Bild vom "lyrischen Gemüsegarten" unzutreffend ist. Allerdings bleibt zutreffend, dass der Aspekt "literarische Qualität" tatsächlich für Schubert sekundär war. Anders ist das bei Schumann. Für diesen war das ein wichtiges Kriterium. Außerdem scheint bei ihm weniger der Aspekt "lyrische Sprache" bei der Auswahl im Vordergrund gestanden haben, als vielmehr der poetische Gehalt, von dem er sich angesprochen fühlte.
Seiner Frau Clara gegenüber bekannte er zum Beispiel einmal, sein Opus 39 sei "das Romantischste", das er je gemacht habe. Bei Kerners Lyrik fand er sich offenbar in den schweren Depressionen, die ihn quälten, dichterisch angesprochen. Und Die Ängste, die ihn in seiner gerade geschlossenen Ehe hinsichtlich ihres Bestandes und der Kommunikation mit dem Ehepartner plagten, bewogen ihn mit großer Wahrscheinlichkeit zur Komposition der "Dichterliebe". Ein Gedicht hätte er vermutlich mit anderen Argumenten zurückgewiesen, als das Schubert tat.
Bei Schubert stellt sich das Problem "Der Komponist und das Gedicht" deshalb so kompliziert dar, weil man nicht einfach sagen kann, er habe ausschließlich mit Blick auf die Sprache ausgewählt, wie der Brief an Seidl nahelegen könnte. Es gibt bei ihm auch den Faktor der persönlichen Betroffenheit, dem Angesprochensein durch den Gehalt eines Gedichts.
Das ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass bestimmte Themen in seinen Liedern wiederkehren. Zum Beispiel spielt das Thema Freundschaft eine große Rolle. Unübersehbar aber ist es bei dem Gedichten von Wilhelm Müller. Dass hier persönliche Betroffenheit eine große Rolle spielte, kann gar nicht bezweifelt werden.
Gleichwohl gilt: Auch die Gedichte Wilhelm Müllers sind, unbeschadet der persönlichen Betroffenheit durch sie, von Schubert von der Sprache her komponiert.