Beiträge von Helmut Hofmann

    Zu meinem letzten Beitrag ist noch ein Nachtrag erforderlich.


    Mir ging es um die Frage der Sinnhaftigkeit solcher Orchestrierungen, vom Lied her gesehen, seiner kompositorischen Struktur und seinem musikalischen Gehalt.


    Es ging mir auf keinen Fall darum, negativ über Menschen zu urteilen, die solche Orchesterfassungen von Liedern schön finden und ihnen gerne lauschen. Das ist eine Sache des persönlichen Geschmacks, über die sich jedes Urteil verbietet. Es hat ja durchaus seinen Reiz, zu verfolgen, wie Hector Berlioz mit der hektischen Klavierbegleitung Schuberts im "Erlkönig" umgegangen ist.


    (Man sieht: Ich habe jetzt doch ein wenig weiter in die CD hineingehört, nachdem ich eine auf die Mütze bekommen habe).

    Es gibt 67 Lieder Schuberts auf Texte von Goethe. Damit ist dieser derjenige unter den Lyrikern, von dem Schubert die meisten Gedichte zu Liedkompompositionen gemacht hat. Allein dieser Sachverhalt provoziert schon die Frage, was Schubert an Goethe so fasziniert haben könnte.


    Es gibt aber noch eine zweite Tatsache, die einem diese Frage regelrecht aufdrängt: Die Begegnung mit der Lyrik Goethes hat in Schubert alle kompositorische Kraft geweckt und zur Entfaltung gebracht. Es ist kein Zufall, dass das Lied, in dem man zu Recht den Beginn der Geschichte des romantischen Sololieds sieht, auf einen Text von Goethe geschrieben wurde: "Gretchen am Spinnrade".


    Leider gibt es keine einzige Äußerung Schuberts, die bei der Beantwortung dieser Frage hilfreich sein könnte. Das Begleitschreiben der Liedsendung, die an Goethe ging, wurde nicht von ihm, sondern von Spaun verfasst. Es enthält nichts außer unterwürfigen Höflichkeitsfloskeln.


    Immerhin kann man aber sehen, dass die Tatsache eine Rolle spielte, dass es sich für Schubert bei Goethe um eine absolute Berühmtheit handelte. Auf diese Tatsache hat hart in seinem letzten Beitrag hier aufmerksam gemacht. Am Schluss des Schreibens heißt es: "Der ich mit gränzenloser Verehrung verharre Euer Exzellenz gehorsamster Diener / Joseph Spaun." Damit ist allerdings immer noch nicht das Problem der Faszination erklärt.


    Wie und auf welchem Wege hat Goethe Schuberts Lyrik kennengelernt?


    Auch darüber weiß man nicht viel. Schuberts schulische Bildung erfolgte auf der damals in Österreich obligatorischen "Institutio ad eloquentiam". Dort ist aber Goethe nur mit einem einzigen Text vertreten. Man vermutet, dass Schubert über seine Freunde in Kontakt mit Goethes Lyrik kam. Es könnte Mayrhofer gewesen sein, der diesbezüglich eine große Rolle gespielt hat.


    Schuberts literarische Interessen wurden vor allem durch den sog. "Linzer Kreis" und die "Beiträge zur Bildung der Jünglinge" maßgeblich gefördert. Seit 1822 kamen dann auch noch die "Lesegesellschaften" hinzu. Da aber war die Begegnung mit Goethes Lyrik schon längst erfolgt.


    All diese Fakten helfen einem in der zentralen Frage, der nämlich nach der Wirkung des Lyrikers Goethe auf den Komponisten Schubert nicht wirklich weiter. Wenn man sich in der Literatur über den Liedkomponisten Schubert umschaut, erfährt man merkwürdigerweise auch nichts zu dieser Frage. Ich habe jedenfalls nichts gefunden.


    Was bleibt jetzt nur noch?


    Man muss sich die Goethe-Lieder Schuberts auf diese Frage hin anschauen und Schlüsse daraus ziehen. Das habe ich getan, kann das aber in diesem Beitrag nicht mehr unterbringen, da er zu lang würde. Es gibt also eine Fortsetzung!

    Ich muss noch einmal nachhaken, weil ich um alles in der Welt nicht möchte, dass ich als der dastehe, der dem Liedkomponisten Strauss am Zeug flickt. Das ist schon deshalb ausgeschlossen, weil ich in die Lieder dieses Mannes einmal regelrecht vernarrt war.


    Mir geht es um etwas anderes. Ich möchte, dass die Vielfalt der Formen und musikalischen Audrucksmittel gesehen wird, die sich in den Liedern von Richard Strauss finden. Diesbezüglich ist er nämlich ein wirklich einzigartiges Phänomen in der Geschichte des Sololieds und des Orchesterlieds.


    Es gibt das höchst intime Lied bei ihm, und es gibt das pathetische, durchaus auf die Theaterbühne gehörende Lied. So - und nur so! - habe ich den Begriff "theatralisch" verwendet. Farinellis Abwehrhaltung gegen diesen Begriff geht an dem vorbei, was ich zeigen wollte.


    Mein Fehler war, dass ich das nicht mit einem Beispiel belegt habe. Wenn ich mich in diesem Thread so umblicke, dann werden immer die Lieder genannt, für die der Begriff "theatralisch" absolut nicht zutrifft. Insofern wehrt ihr euch zurecht, lieber hart und lieber farinelli.


    Aber bitte hört euch mal das Lied "Als mir dein Lied erklang" an (Text: Brentano), Ihr werdet gar nicht anders können, als mir recht zu geben. Das ist ein hochstilisiertes Koloratur-Lied, das mit der Tradition des Schubert- und Schumann-Liedes kaum mehr etwas zu tun hat.


    Schade, dass man hier keine Noten abbilden kann. Die sagen hier nämlich gerade genug. Wenn man genauer hinhört, kann man in diesem Lied Harmonien hören, die an "Ariadne auf Naxos" erinnern. Bitte nur mal die Stelle anhören: "Zur Rose ist mein Drang, seit mir dein Lied erklang". Das genügt schon, und man weiß, was ich mit dem Begriff "Podiumslied" meinte.


    Diese Art von Lieder hat Strauss auch geschrieben. Wenn ihr - zu Recht! - von "Und morgen wird die Sonne wieder scheinen" schwärmt, dann bedenkt bitte: Es gibt auch einen anderen Strauss. Dieses Lied kann man noch in einem Salon singen. "Als mir dein Lied erklang" würde den Salon sprengen. Mal abgesehen davon , dass es dort die Sporanistin gar nicht gäbe, die solche komplizierten Koloraturen hinbekäme.


    Ich hoffe, dass man mich jetzt verstanden hat. Es ist mir wichtig!

    Das Wort vom "leicht theatralischen Geist", den man in Straussens Liedern finden könne, scheint falsch angekommen zu sein. Ich hatte nicht von "Theatralik" gesprochen, und meine Feststellung war auch nicht negativ gemeint.


    Dass Strauss der Schöpfer des Podiumsliedes ist, ist gängige Auffassung in der Literatur.


    Auch diese Bezeichnung muss man nicht negativ sehen. Im Gegenteil! Strauss hat damit auf den Geist der Zeit reagiert. Mit dem langsamen Absterben der häuslichen Salonkultur musste das Lied einen neuen Ort finden, an dem es sich entfalten kann. Das war die Bühne. Richard Strauss hat das begriffen. Schließlich war das die Welt, in der als Komponist leben wollte.


    Es gibt in der Literatur die Auffassung, dass das Lied bei Strauss stets so eine Art von Vorspiel und Zwischenspiel in seinem Opernwerk war. Schaut man sich die biographischen Daten an, spricht einiges dafür. Auch dies ist aber wiederum keine sein Liedwerk abwertende Feststellung.


    Dass es Lieder von Strauss gibt, die von äußerster Intimität sind, kann von keinem Menschen ernsthaft bestritten werden. Die Feststellungen, die ich traf und die nicht allein auf meinem Mist gewachsen ist, bezogen sich auf das Lied-Gesamtwerk von Strauss.

    Goethe hat Schubert seine Liedkompositionen kommentarlos zurückgeschickt. Schubert hat dem Poeten Seidl Gedichte zurückgeschickt, immerhin mit kurzem Kommentar.


    Dichter und Komponisten scheinen offensichtlich ganz eigene Vorstellungen davon zu haben, was der jeweils andere zu leisten und zu erbringen hat.


    Dabei haben sie einander auf wundersame Weise befruchtet und inspiriert.


    Was Goethe von Schubert gehalten hat, das wissen wir.


    Was aber Schubert an Goethes Lyrik so fasziniert hat, das wissen wir nicht. Und dabei gäbe ich einiges dafür, die Antwort auf diese Frage zu wissen.


    Sind das nicht viel interessantere Fragen als die, ob nun der Sänger XY die Winterreise gut oder schlecht, richtig oder falsch singt?

    Lieber Alfred,


    Deine Verwunderung ist berechtigt. Normalerweise sind Sänger und das Thema Interpretation nicht mein Thema hier im Forum. Daran, dass ich es angepackt habe, kannst Du ermessen, wie tief die Verwunderung war, die ich beim Vergleich der verschiedenen Aufnahmen von Silcher-Liedern erlebt habe. Das ist mir bisher noch kaum passiert!


    Du hast natürlich recht. Es gibt nicht "die richtige Interpretation". Es gibt aber die bessere. Und das ist die, in der man den Geist eines Liedes eher wiederfindet. Ich gebe aber zu, dass dies ein subjektives Urteil ist.


    Bewusst wird mir eben, dass unser Forum unter einem großen Mangel leidet, der leider unbehebbar ist. Du kennst die Aufnahme von Hermann Prey nicht, von der ich hier spreche. Würdest Du sie hören, - ich bin sicher, Du würdest mich verstehen und mir zustimmen!

    Nein, lieber Johannes Roehl,


    das ist mir, mit Verlaub, als Antwort nicht ganz zureichend.


    Warum Komponisten wie Reger und Brahms solche Orchestrierungen vornahmen, das lässt sich ahnen. Beide waren in ihrem Wesen orchestral denkende Komponisten. Es ist ohnehin ein schwer erklärliches Phänomen, dass Reger überhaupt Lieder geschrieben hat.


    Aber darum geht es gar nicht. Diese Komponisten waren keine groben Klötze, denen das Feingefühl für die Eigenart des Sololiedes abgegangen wäre, - die wollten ihre Orchestrierungskünste spielen lassen. So etwas ist ganz einfach reizvoll. Womit noch nicht gesagt ist, dass es sinnvoll ist!


    Über die Motive der Sänger maße ich mir kein Urteil an. Die dürften außerordentlich vielfältig sein. Es ist, wie man weiß, nicht immer die musikalische Qualität des Werks.


    Ich frage mich im übrigen, womit ich den ironischen Ton in Deinem Beitrag verdient habe. Meine Verwunderung und die ihr inhärente Frage waren ehrlich gemeint.


    Sollte Dir entgangen sein, dass ich meine Frage von der musikalischen Struktur von "Gretchen am Spinnrade" her begründet habe? Das Lied ist seiner Aussage verlustig gegangen. Gerne würde ich diese Feststellung hier argumentativ widerlegt sehen.

    So reizvoll es für mich wäre, lieber farinelli, in dialogischer Form auf Deine Beiträge einzugehen, - es geht nicht, und das aus drei Gründen:
    Ich möchte nicht unhöflich sein gegenüber den anderen Taminoianern, ich möchte nicht als das dastehen, was Du "Besserwisser" nennst, und ich muss alles, was ich hier sage, daran messen lassen, wieviel es zur Beantwortung der Frage beiträgt, um die es in diesem Thread geht. Diese Frage scheint mir ein wenig außer Betracht geraten zu sein.


    Aber zu Deinen Thesen zu "Gretchen am Spinnrade" ist doch etwas zu sagen, weil es mit eben dieser Grundfrage des Threads zu tun hat.
    Es geht nicht an, die musikalische Gestaltung der Gretchen-Figur durch Schubert an der Rolle zu messen, die Gretchen in Goethes Faust I spielt. Und zwar aus einem ganz einfachen Grund:
    Schubert hat, und das ist typisch für ihn, diesen lyrischen Text absolut genommen. Er hat ihn bei der Komposition nicht im Kontext der Goetheschen Tragödie gelesen. So etwas hat er niemals getan.


    Für die These, dass Schubert "die schlichte Not der Figur verfehlt" haben könnte, gibt es - von der musikalischen Binnenstruktur des Liedes her - nicht den geringsten Anhaltspunkt.
    Ich darf handfest und sachlich werden.
    Die schicksalhafte Not, in der sich Gretchen befindet, wird bei Schubert nicht nur durch die fast schon penetrante Rollfigur in der Begelitung suggerriert, sie wird dem Hörer vor allem auch durch die Harmonik nahegebracht, ja regelrecht aufgedrängt:
    Die fast grobe Wendung von d-Moll nach C-Dur im siebenten Takt, dann die Rückmodulation nach d-Moll ohne Leitton, die leeren Quintklänge, die erst nachträglich durch eine Terz zum Dreiklang ausgefüllt werden, - das alles lässt den Hörer die seelische Bedrängnis nachfühlen, in der sich dieses Mädchen befindet.


    Die Stelle in dem Lied, die Dich zu der - nach meiner Meinung gänzlich unangemessenen - Assoziation mit dieser Hysterie-These gebracht hat, gehört mit zu den großartigen musikstrukturellen Merkmalen, an denen dieses Meisterwerk Schuberts überreich ist.
    Wieder handfest und sachlich:
    Das Drehen des Spinnrades im Klavier setzt aus, in der Begleitung herrscht plötzlich eine überraschende Formlosigkeit, die Stimme bleibt auf einem hohen, von einer Dissonanz getragenen Ton hängen, --- und dann setzt das Spinnrad wieder ein, und zwar - das ist schlicht genial - s t o c k e n d!
    Was fühlt und denkt der Hörer?
    Die Spinnerin wird aus ihren Gedanken, die mit einem bedrückenden Wirrwar aus Glücksgefühlen, bösen Ahnungen und Schicksalsergebenheit bis zur Unerträglichkeit angefüllt sind, zurückgeholt in ihre kleine Lebenswelt, die von Arbeit und der Bewältigung des täglichen Lebens geprägt ist.
    Und prompt beginnt die Reprise.


    Das könnte man noch fortsetzen!
    Was will ich sagen?
    Dieses Meisterwerk ruht musikalisch in sich selbst, und es ist ein genialer Wurf. An Goethes Gretchengestalt im Faust will und darf es nicht gemessen werden, weil man dann seine Autonomie als musikalisches Kunstwerk ignorierte.


    Die Größe Schuberts - und seine Ausnahmestellung, wenn es die denn gibt, was hier noch zu beweisen wäre - gründet ganz wesentlich darin, dass er die sprachliche Struktur eines Gedichtes in eine eigenständige und autonome musikalische Struktur umgewandelt hat.
    Der sprachliche Text geht darin vollkommen auf. Es ist deshalb ein Unding, Schuberts Lieder nachträglich an aus der sprachlichen Ebene hergeleiteten und von außen an sie herangetragenen, also sekundären(!) Kriterien zu messen.

    Wenn ich´s nur begreifen könnte!


    Die oben angezeigte CD mit Schubert-Liedern in Orchesterfassung habe ich beim vierten Take vom Player genommen, weggestellt und nie mehr angerührt.


    Gretchen am Spinnrade in der Orchestrierung von Max Reger. Die Stimme von Anne Sofie von Otter ist in weichen Orchestersound eingebettet, die Geigen säuseln den Spinnrad-Ton, und nach "mein Herz ist schwer" kommt ein dumpfer Bums in den Pauken und Contrabässen.


    Was ist es doch, was dieses Schubert-Lied so einzigartig macht?


    Im Grunde weiß es doch jeder von uns. Es ist die tiefe Anspannung und Unruhe, die in diesem Lied dadurch entsteht, dass sich drei rhythmische Schichten überlagern. Eine maßgebliche Rolle kommt dabei dem Klavier zu. Über fünfzig Takte penetrant ostinate Bewegung erzeugen eine regelrechte Atemlosigkeit, und die Basstöne, die meistens, aber nicht immer, die erste Zählzeit betonen, steigern diese noch.


    Was ist davon zu hören? Nichts! Diese Orchesterfassung ist eine Verunstaltung eines Liedes, das seine ganze Aussagekraft auf dem genial gestalteten Zusammenspiel von Singstimme und Klavier bezieht.


    Warum, um alles in der Welt, hört ein Mensch, der das Sololied der Romantik liebt, sich so etwas an?


    Wenn ich´s nur begreifen könnte!

    Allmählich beginne ich zu verzagen. Da singt ein Taminoianer Silcher-Lieder im Chor, versteht also, im Gegensatz zu mir, etwas von der Kunst des Gesangs, aber er geht nicht auf die Frage ein, wie man die Lieder Silchers singen sollte, um ihnen gerecht zu werden.


    Dabei ist mir das als wirkliches Problem aufgefallen. Ich habe meinen ersten Eindruck, den ich von dem Bass Cornelius Hauptmann hatte, noch einmal genau überprüft, indem ich - neben dem Lied "Zwei Särge" - noch folgende Lieder vergleichend neben die Interpretationen von Hauptmann stellte:


    "Sägers Wanderlied" und "Der Tautropfen und sein Blümelein" - interpretiert von Hermann Prey


    "Alphorn" und "Frage" - interpretiert von dem Tenor Thomas E. Bauer


    Das Ergebnis war eindeutig: Bauers Interpretation weicht durch ihren überaus trockenen, nüchternen und sachlichen Ton deutlich von der der beiden anderen Sänger ab. Es geht dabei nicht um minimale Nuancen und Schattierungen, - es liegen regelrechte Welten zwischen dem Stil, in dem Silcher gesungen und interpretiert wird.


    Ein Beispiel: Das Lied "Der Tautropfen und sein Blümelein". Der Text stammt von Oskar von Redwitz.


    Du Tropfen Tau, seh ich dich an, // kommt mir die Träne süß und still, // weil du so treu dein Blümlein liebst, // wie ich wohl einmal lieben will.


    Und trennt dich auch an jedem Tag // von deinem Lieb der Sonnenschein, // du kehrst am Abend stets zurück, // so muss wohl treue Liebe sein.


    Und stirbt dein Lieb vom Sonnenbrand, // dann stirbst auch du im letzten Kuß! // Ich seh dich an und sinne still, // wie solch ein Tod beglücken muss.


    Dieses Gedicht ist, vorsichtig formuliert, keine große Lyrik. Es ist stark gefühlsgeladen, wenn nicht sogar sentimental. Silcher hat diese Atmosphäre in seiner Vertonung mit einer angemessenen Melodik und Harmonik einzufangen versucht. Das darf man nicht durch eine nüchterne und sachliche Wiedergabe der Noten elimieren. Das genau tut Hauptmann aber. Ich vermute, dass er damit dem Vorwurf der Kitschigkeit entgegenwirken wollte. Damit mag er ja einen gewissen Erfolg gehabt haben, aber das bezahlt er damit, dass das Lied einen ziemlich kalt lässt.


    Ganz anders Hermann Prey. Der Charakter der Ansprache, von dem der lyrische Text ja getragen ist, wird bei ihm deutlich hervorgehoben, und zwar in einem Ton äußerster stimmlicher Zurückhaltung. Am Ende des jeweils zweiten Verses der Strophen verlangsamt er das Tempo, hält einen Augenblick inne. Lyrische Schlüsselwörter bekommen bei ihm einen Akzent: "süß und still", "lieben will". Wenn er "auch du" singt, dann natürlich mit einer dem Text gemäßen Betonung.


    Ein Sachverhalt sagt eigentlich genug: Hauptmann braucht für das Lied nur eine Minute, siebenundfünzig Sekunden, - Hermann Prey nimmt sich drei Minuten und zwei Sekunden.


    Ich bin mir sicher: Silchers Lieder wollen nicht sachlich gesungen werden. Sie benötigen das wohldosierte Maß an Gefühl wie das Blut zum Leben.

    Das ist eine interessante Beobachtung. Ich beschreibe sie einfach mal, weil sie mir von allgemeinem Interesse zu sein scheint.


    Als es in diesem Thread um die Frage der "Subjektivität bei der Kunstbetrachtung" ging, machte hart die lakonische Feststellung: Das Bild Guernica sei soundso breit, Der Säger Zumpe soundso groß, das Ulmer Münster soundso hoch und Kollos Winterreise die kürzeste von allen. Ich schätze mal, er konnte nicht ahnen, was er damit auslöste.


    Was nämlich?


    Es dauerte nicht lange, und in diesem Thread, dessen Gegenstand eigentlich das Verhältnis von Sprache und Musik im Lied ist, tauchten die ersten Beiträge zu der offensichtlich unausrottbaren Frage auf: Wer singt die Winterreise am besten.


    Hätte dieser Vorgang nicht auch einen komischen Aspekt, man möchte sich wie jener Zirkusbesucher in Kafkas Erzählung "Auf der Galerie" verhalten.

    Lieber zweiterbass,


    Du erwartest hoffentlich doch jetzt nicht, dass wir über Logik und Erkenntnistheorie hier diskutieren. Ich hielte das auch nicht für erforderlich, denn wir liegen in unserer Auffassung gar nicht weit auseinander.


    Ich glaube, das Missverständnis beruht darauf, dass Du den Begriff "subjektiv" so verwendest, wie er umgangssprachlich verwendet wird, ich hingegen ihn im philosophischen Sinne gebraucht habe.


    Bleiben wir bei Musik. Wenn Du feststellst: "Schubert arbeitet in seinen Liedern im Bereich der Klavierbegleitung sowohl mit konventionellen Terzverwandtschaften als auch mit Terzückungen in weit entfernte Tonarten", dann ist das eine Aussage, die Du zwar als Subjekt triffst, sie ist aber nicht subjektiv, weil Du sie als objektiv gültige Aussage machst. Und das ist sie ja auch. Bei der Winterreise ist das etwas komplizierter: Dass dieses Werk Schuberts "ein großartiges Werk der Musikgeschichte ist" ist allgemeiner Konsens. Du findest in keinem Werk über Musikgeschichte eine davon fundamental abweichende Meinung. Insofern kann die Äußerung Deines Freundes Allgemeingültigkeit beanspruchen. Auch hier gilt: Sie ist die Äußerung eines Subjekts, besitzt aber übersubjektive Gültigkeit, ist nicht rein subjektiv.


    Das Problem ist: Diese Feststellung ist ein Werturteil. Und als solches unterliegt es einem Wandel, weil Werte sich wandeln. Das ist allerdings auch schon wieder ein philosophisches Problem. Es gibt bedeutende Ethiker, die die Meinung vertreten, dass nicht die Werte sich wandeln, sondern der Blick auf sie. Aber jetzt kommen wir wirklich auf ein Gebiet, das nicht mehr zum Forum gehört.


    Zu Deinem Einwurf, lieber Theophilus.


    Ich nehme ihn einfach mal ernst (weil ich grundsätzlich alles hier ernst nehme). Das "Hojotoho" ist bei Wagner Teil einer sprachlich elaborierten Äußerung. Es ist ja nicht der einzige Laut, der zu hören ist. Wäre er das, dann könnte man sagen, Wagners Oper bestünde außer aus Musik aus einem einzigen "Knurr- und Schnurrlaut" ( so nennen Semantiker Laute, deren Informationsgehalt nahezu Null ist). Aber dann läge noch immer nicht der Fall vor, auf den Wolfram hingewiesen hat, denn es handelt sich hier immer noch um eine Artikulation mit Aussageabsicht.


    Es besteht tasächlich ein großer Unterschied zwischen dem Hojotoho und der Verwendung von sprachlichen Elementen (Phonemen) als Teil der Musiksprache - also gleichgeordnet den Tönen und funktional genauso verwendet - wie man das in moderner Musik, zum Beispiel bei Henze, Schnebel oder Lachenmann finden kann.


    Dass man in der Literatur allerlei Formen des Spiels mit Sprache und Lauten finden kann, wie Du mit Deinem Shakespeare-Zitat bewusst machen willst, das ist sicher richtig. Es wurde ja auch schon auf den Dadaismus hier verwiesen.


    Mit unserem Thema hier, dem komplexen Zusammenspiel von Sprache und Musik im Lied, hat das freilich nichts zu tun.

    Éin Lied gibt es, das ich nun wirklich nicht in der Reihe der Lieder von op.35 inhaltlich unterbringen und einordnen kann.
    Beim ersten Lied, "Lust der Sturmnacht", könnte man noch sagen: Hier wird eine Art von Geborgenheit beschworen, - das "stille Zimmer", vor dem draußen die "Stürme brausen" - eine Geborgenheit, die sich dann aber später als trügerisch erweist.
    Beim zweiten Lied, "Stirb, Lieb´und Freud´", aber geht das nicht mehr: Dieses Lied ist ein wirklicher Solitär in der Liederreihe.


    Ich habe mich immer schon gefragt, warum Schumann diesen Text von Kerner in seine Liederreihe aufgenommen hat. Er passt da einfach nicht rein, höchstens von der Überschrift des Gedichts her.
    Wenn in den Gedichten dieser Reihe neben der seelischen Innenwelt auch die Außenwelt auftaucht, dann in Form von Naturbildern. Bei diesem Gedicht aber geht es um einen Vorgang der spätmittelalterlichen Stadtgeschichte, um den Eintritt eines jungen Mädchens ins Kloster.
    Diese Thematik fällt einfach aus dem Rahmen der Reihe.


    Sollte, habe ich mich schon gefragt, dieses Lied in einem Zusammenhang stehen mit der fast schon mariologischen Verehrung, die Schumann seiner Clara entgegenbrachte?
    "Sie hatte", sagt er von ihr, "das vornehme Wesen, das ich so liebe an ihr,, da man sie kaum zu berühren wagt."
    Eine Angstvision: Diese Frau geht ihm verloren wie jenes Mädchen in Augsburg?
    Ist wohl Spekulation!


    Das Lied ist eine durchaus gelungene Komposition. Es findet sich sogar ein Bezug zu Bachs Johannes-Passion in ihm. Dennoch konnte ich mich nie so recht mit ihm anfreunden.
    Schumann hat die Anmerkung vorangestellt: "Vorzugsweise Tenor". Und das aus gutem Grund: Für einzelne Passagen, den Klageruf des Mädchens nämlich, muss ein Bariton Kopfstimme einsetzen.
    Für mich sind diese Passagen ein wenig störend, sie wirken aufgesetzt. Das Lied hört sich besser an, wenn es von einer Frauenstimme gesungen wird, wie von Maragaret Price zum Beispiel.


    Schumann hat einen epischen Ton in seine Komposition gelegt. In ruhigem Erzählton wird, eingeleitet und getragen von einer an ein Orgelpräludium erinnernden Klavierbegleitung, eine Geschichte erzählt, in der sich etwas, aus theologischer Sicht zwar Gottgefälliges, aber im existentiellen Sinne doch Ungeheuerliches ereignet.
    Deshalb will dieser ruhige Erzählton nicht so recht passen. Er wirkt auf mich in dieser Diskrepanz fast verstörend. Er wird ja auch prompt von diesem Klageruf unterbrochen!
    Die bedrückende Atmosphäre löst sich erst mit den wie eine Befreiung wirkenden Dur-Klängen zu Beginn der letzten Strophe auf.
    Es bleibt aber nicht bei dieser Befreiung: Die letzten Verse fallen wieder in die Moll-Thematik zurück und enden mit einem tief resignativen Klageruf.


    Ein wenig versöhnt mit diesem Lied hat mich die Interpretation von Christoph Prégardien (in: Between Life and Death, Doppel-CD, Challenge Classics, am Flügel Michael Gees).
    Sein Gesang weist einen ausgeprägt nüchternen Gestus auf, der dem Lied sehr gut tut. Das Tempo ist ungewöhnlich flott, irgendwelche Sentimentalität kann dabei nicht aufkommen. Die Geschichte wird fast beiläufig erzählt.
    Vor der letzten Strophe kommt eine ungewöhnlich lange Pause. Das folgende "Gott gib" wirkt dann wirklich wie eine Befreiung

    Beim (von kurzstueckmeister angeregten) Nachdenken über die Frage, ob man ein Musikstück für Singstimme und Klavier, bei dem die Singstimme nur noch Laute von sich gibt, noch als Lied bezeichnen könne (was ich nicht meine), stieß ich auf eine Bemerkung, die Christian Lobe bei einem Gespräch mit Goethe im Jahre 1820 machte. Sie ist in diesem Zusammenhang höchst interessant.


    Lobe meinte, bei den Liedern von Zelter sei die Klavierbegleitung (das "Accopagnement") "selten etwas mehr als die nötige Erfüllung der Harmonie und die Ergänzung und Ausgleichung des harmonischen Flusses. (...) Wenn Exzellenz den Versuch machen wollen, Baß und Mittelstimme manches Zelterschen Liedes ohne die Melodie spielen zu lassen, so werden Sie kaum etwas von einer mit dem Gefühl sympathisierenden Regung vernehmen."


    Er fügt hinzu, dass dies bei Mozart, Weber und Beethoven schon ein wenig anders sei, aber das sei erst "ein Lallen". Und dann fährt er fort: "Die Musik wird hoffentlich dahin gelangen, daß jede Nebenstimme einen Beitrag, sei er auch gering, zu dem Ausdruck des Gefühls liefert."


    Damit hat er den Wesenskern des romantischen Sololieds getroffen. Das Lied mit Klavierbegleitung findet erst dann zu seiner Vollendung, wenn "jede Nebenstimme", das heißt also die Klavierbegleitung in ihrer Multifunktionalität, einen Beitrag liefert zu dem, was der Komponist an "Gefühl" in sein Lied eingebracht hat. Der erste, der das zur damaligen Zeit in vollem Umfang getan hat, war Schubert. Warum Christian Lobe ihn Goethe gegenüber nicht erwähnt, das ist ein wenig verwunderlich. Oder doch nicht?


    Im Jahre 1970 hat Dietrich Fischer-Dieskau zusammen mit Karl Engel ein Solokonzert in Stockholm gegeben. Er sang Goethe-Lieder in verschiedenen Vertonungen (bis H. Wolf und O. Schoeck). Dieses Konzert liegt auf einer CD bei Orfeo vor. Wenn man die ersten Lieder hört, von Anna Amalia, über Reichardt, Zelter und Beethoven bis zu Schubert, dann kann man hören und erleben, was mit dem Auftritt Schuberts auf der Bühne des Sololieds geschehen ist: Das Gefühl hat Einzug in das Lied genommen.


    Die Komposition "GLEICH UND GLEICH" von Carl Friedrich Zelter klingt gefällig. Nach einem tänzerisch leichten Klaviervorspiel entfaltet sich in der Singstimme eine einfach gestaltete melodische Linie. Alle Möglichkeiten, den Text mit musikalischen Mitteln zu illustrieren, werden genutzt: Der "liebliche Flor" löst Melismen aus, wenn das "Bienchen" kommt, um "fein zu naschen", wird das Wort "naschen" zweimal wiederholt, von gebrochenen Klavierakkorden unterstützt. Mit dem Vers "die müssen wohl beide füreinander sein" entfaltet sich eine veritable Arie mit allem was dazugehört: Mehrfache Wiederholung von Versteilen und ausgeprägte Koloratur.


    Ein eigenes, von Zelter in das Lied eingebrachtes "Gefühl", wie Lobe es verstanden hat, sucht man hier vergeblich.


    Schon das Klaviervorspiel von Schuberts Lied "AN DEN MOND" kommt aus einer anderen Welt. Der akkordisch getragene, sich durch mehrere Tonarten chromatisch entfaltende Klavierklang suggeriert nächtliche Ruhe und Stille, in der sich die Singstimme in melodisch weit geschwungenen Bögen bewegt.


    Hier kann man hören, dass der Komponist vom Lesen des Gedichts innerlich bewegt wurde und versucht hat, die in ihm durch die Begegnung mit der lyrischen Sprache geweckten Gefühle und Empfindungen in Musik zu setzen. Die musikalische Faktur folgt ohne Bruch dem Sprachrhytmus. Schaut man aber genauer hin, dann setzt Schubert sich zum Beispiel bei dem Wort "Tal" über das Metrum hinweg. Er setzt zwei Töne auf den Vokal "a". Warum? Es ist die klangliche Suggestion nächtlicher Weite.


    Das ist gefühlte, in Musik verwandelte lyrische Sprache. Es gibt nun einmal viele gute Gründe, in Schubert den Schöpfer des romantischen Sololiedes zu sehen.

    Du fragst nach dem "Krämerspiegel", lieber hart.


    Meine Antwort ist einfach: Ich kann nicht viel damit anfangen.


    Damit soll überhaupt nichts über die Qualiät dieses Werks gesagt sein. Es ist ja eine Ohrfeige an den Verleger von Strauss und muss als solche auch beurteilt werden.


    Wer Spaß an dem Wortwitz von Alfred Kerr ("Einst kam der Bock als Bote zum Rosenkavalier") hat und, Freude daran empfindet, zu sehen, wie Strauus damit kompsitorisch umgegangen ist, dem kann dieses Werk jede Menge Vergnügen bereiten.


    Ich bin (leider) kein Freund von solchen musikalischen Späßchen. Da geht mir wohl was ab!

    Was ich hier zu sagen habe, dürfte all diejenigen interessieren, die es lieben, Zugang zum Lied über seinen Interpreten zu finden.


    Ich hatte von Silchers "Zwei Särge" geschwärmt. Dieses Lied kannte ich schon lange in einer Interpretation durch Hermann Prey. Alfred hatte darauf mit der Bemerkung reagiert, dass ihn dieses Lied beeindruckt habe, dass aber "begeistert" das falsche Wort wäre.


    Erst stutzte ich, dann dachte ich: Nun ja, so etwas ist halt eben "Geschmackssache".


    Gestern begann ich mit dem Einhören in die CD, die Alfred hier angezeigt hatte: "Mit der Stimme Zauberklang", Interpreten: Cornelius Hauptmann, Bass, und Klaus Melber, Klavier.


    Als ich zu meinem Lieblingslied "Zwei Särge" kam, blieb mir beinahe der Mund offenstehen. Ich kannte es kaum wieder! und vor allem: Es ließ mich völlig kalt! Einen solchen Unterschied in der Interpretation ein und desselben Liedes, wie hier zwischen Hermann Prey und Cornelius Hauptmann, habe ich noch selten erlebt.


    Ich frage mich natürlich jetzt, wie man Silcher singen sollte. Ich habe den Verdacht, dass ein solch trockender Ton, wie ihn Cornelius Hauptmann hier sängerisch praktiziert, vielen Silcher-Liedern überhaupt nicht bekommt. Sie leben von ihrer volksliedhaften Sanglichkeit und ihrer bewusst einfach angelegten Melodik und Harmonik. Das verlangt eine Interpretation, in die das jeweils jeweils angemessene Gefühl gelegt wird. Sonst bleibt von dem Lied nicht mehr viel übrig.


    Empfehlenswert ist die CD dennoch. Und zwar deshalb, weil sie einen hervorragenden Einblick in das Liedschaffen Silchers bietet.

    Richard Strauss gehört ohne Zweifel zu den bedeutenden Liedkomponisten. Das nicht nur deshalb, weil er ein Werk von über 150 Liedern hinterlassen hat, sondern auch, weil dieses Werk einen großen Reichtum an vielfältigen Formen aufweist.


    Wenn man Strauss als Liedkomponisten gerecht werden will, dann darf man ihn nicht an der von Schubert und Schumann geprägten Tradition des intimen Sololieds messen. Daran wollte er nicht anknüpfen: Er wollte das Lied für den Konzertsaal. Strauss ist der eigentliche Schöpfer des Podiumsliedes, das auf effektvolle musikalische Mittel setzt, die den Beifall des Publikums herausfordern.


    Viele seiner Lieder atmen einen leicht theatralischen Geist. Sie beeindrucken durch eine enge Verschmelzung von Singstimme und Klaviersatz, durch bestrickende Sinnlichkeit, Reichtum an Melismen und eine außergewöhnliche Tonmalerei.


    Ich möchte auf eine Gruppe von Liedern aufmerksam machen, die nicht so bekannt sind, aber die Genialität des Komponisten Strauss vielleicht besser zeigen als die bekannten "Ohrwürmer". Es sind die sechs Brentano-Lieder Opus achtundsechzig: "An die Nacht", "Lied der Frauen", "Ich wollt´ein Sträußlein binden", "Säusle, liebe Myrte", "Als mir dein Lied erklang", und "Amor".


    Sie gehören zu den Strauss-Liedern, die höchst anspruchsvolle Liedkomposition darstellen und die man sehr ernst nehmen muss. In ihnen kann man alles hören, wozu Strauss als Liedkomponist fähig war: Sowohl das große Pathos mit pastoser Melodik, als auch die hochartifizelle Lied-Miniatur.


    Mein Lieblingslied unter diesen Sechs ist "Säusle, liebe Myrte", - auch weil ich das Gedicht so liebe. Es zeigt den typischen rhythmisch-fließenden Klangzauber und die sprachliche Eleganz der Brentano-Lyrik. Das Gedicht ist ein Schlaflied, überreich an Bildern, die Ruhe suggerieren.


    Wenn man erleben möchte, wozu der Klangmagier Strauss in der Lage ist, dann muss man sich anhören, wie er die Atmosphäre dieser Bilder musikalisch eingefangen hat: "Der Mond, der Sternenhirte / Auf klarem Himmelsfeld", "Still ziehn die Wolkenschafe / Zum Born des Lichtes hin" ...


    Von nahezu unglaublicher Kunstfertigkeit ist die musikalische Gestaltung der Verse: "Schlaf, mein Freund, o schlafe, / Bis ich wieder bei dir bin". Die Melodie ist von beschwörender Eindringlichkeit und wirkt doch zugleich überaus sanft.


    Fast möchte ich behaupten, dass nur Strauss dergleichen hinbringt.

    Lieber zweiterbass,


    Deine Gedanken kreisen unübersehbar um das Problem Emotionalität und Rationalität in der Begegnung mit Kunst und im Urteilen über sie.


    Der Feststellung, die Du fett gedruckt und unterstrichen hast, ist voll zuzustimmen. In jede Interpretation eines Liedes (und damit eines Kunstwerkes) gehen Elemente der Subjektivität ein, und zwar deshalb, weil der Akt der Rezeption immer ein subjektiver ist. Urteile über Kunst können auf dieser subjektiven und emotionalden Ebene bleiben. Das ist dann der Fall, wenn sie reine Gefühlsäußerungen sind. Aber ein Urteil kann auch auf der Ebene der Rationalität und der Objektivität erfolgen.


    Beispiel: Du hast mit Deinem Freund die Winterreise gehört. Hinterher sprecht ihr miteinander darüber, und Dein Freund sagt: "Toll war das. Das ist ein großartiges Werk der Musikgeschichte." Schon mit dem zweiten Teil seines Urteils hat er sich auf die Ebene der Objektivität begeben.


    Jetzt fügt er hinzu: "Zum ersten mal habe ich gespürt, dass "Der Lindenbaum" ein irgendwie unheimliches Lied ist". In diesem Augenblick bewegt sich Dein Freund noch auf der subjektiven und emotionalen Ebene. Dehalb fragst Du nach: "Woran hast Du das gemerkt?"


    Antwort des Freundes: "Anfangs klingt das wie ein Volkslied, aber kann ändert sich plötzlich der Ton. Alles rutscht in Moll ab und das Klavier wollte auch nicht so recht mit der Singstimme übereinstimmen. Und plötzlich habe ich gedacht: Das hat was mit Tod zu tun."


    Alle Anteile dieser Feststellung, bis auf den letzten, wo mit einem Mal wieder das Wort "spüren" ins Spiel kommt, sind auf der Ebene der Rationalität angesiedelt und können objektive Gültigkeit beanspruchen.


    Dein Freund will es aber noch genauer wissen. Es ist ihm wichtig, dass er einen Beweis dafür hat, dass sein Eindruck vom Lindenbaum berechtigt war, dass er sich einfach nur etwas eingebildet hat. Deshalb werft ihr zu Hause einen Blick in die Noten. Und siehe: Diese Strophe wurde von Schubert tatsächlich in Moll gesetzt. Und der Eindruck des Freundes, dass das Klavier sich anders verhält und mit zu diesem Eindruck von Unruhe und Unheimlichkeit beiträgt, hat ebenfalls eine sachliche Berechtigung. Ihr seht nämlich in den Noten, dass das Klavier rhythmisch gegenläufig zur Singstimme agiert, und Deinem Freund fällt sogar auf, dass da ein Motiv aus dem Vorspiel auftaucht.


    Das sind alles objektive Urteile über Musik, die von Rationalität geprägt und getragen sind.


    Und was hat Dein Freund daraus gewonnen? Er verfügt jetzt über eine rationale Erklärung für seinen zunächst rein subjektiven und emotionalen Eindruck. Das bedriedigt ihn, weil ihn jede neu gewonnene Erkenntnis befriedigt. Und außerdem ist sein Staunen über die Großartigkeit des Liedkomponisten Schubert noch gewachsen. Er hat ihm nämlich ins Handwerk geblickt.


    Als ihr euch trennt, meint Dein Freund im Gehen: "Eben, beim Blick in die Noten, habe ich begriffen, dass Komponieren auch ein Handwerk ist. Es ist immer beeindruckend, einem perfekten und genialen Handwerker beim Umgang mit seinem Material zuzuschauen."


    Das war ein rundum gelungenes und tief befriedigendes Konzerterlebnis dür Dich und Deinen Freund. In der Art der Bedriedigung und in ihrer Intensität unterscheidet ihr euch jetzt freilich wieder.

    Lieber zweiterbass,


    Dein Beitrag enthält eine solche Fülle von Aspekten, dass ich in diesem Augenblick, wo ich ihn vorgefunden habe, nicht darauf eingehen kann.


    Ich muss erst einmal gründlich darüber nachdenken, und Du wirst garantiert von mir morgen eine Stellungnahme bekommen.


    Vielen Dank, erst einmal!

    Lieber kurzstueckmeister,


    Ich kenne "Got Lost" von Helmut Lachenmann leider nicht. Deshalb kann ich nichts dazu sagen. Aber ich kenne zum Beispiel das Stück "Zwei Gefühle" in einer Aufnahme mit dem "Ensemble Moderne". Da wird in der typischen Art Lachenmanns mit Sprachlauten und zerhackten Wörtern im Zusammenspiel mit Kammermusik-Partikeln experimentiert. Vermutlich hört sich "Got Lost" ähnlich an, nur halt eben mit Klaviertönen und -klängen.


    Lachenmann arbeitet ja mit der Technik serieller Komposition und orientiert sich an der "Musique Concrète". Ich scheue mich ein wenig, das noch als "Lied" zu bezeichnen. Einfach deshalb, weil die musikalische Gattung "Lied" nun einmal, ob als Volkslied oder als komponiertes Sololied, die Einheit von Musik und Sprache, beinhaltet, wobei letztere als Träger semantischer Inhalte verstanden ist. Sobald die Sinnträger zerstört werden, sind die Inhalte verloren, Damit wird Sprache auf Laute reduziert und wird, wie bei Lachenmann, zu einem rein akustischen Element, das eine Funktion im Rahmen seiner seriellen Musikstrukturen zu erfüllen hat.

    Man muss ja nicht immer dem Liedkomponisten auf die Finger schauen und seine Lieder anbohren, um zu schauen, wie es zwischen den Notenrippen aussieht. Man kann auch einfach mal eine Geschichte erzählen.


    Meine Strauss-Geschichte geht so.


    Vor langer Zeit war ich einmal das, was man heute einen Strauss-Fan nennen würde. Ich war süchtig nach seinen Liedern. Mit einem alten Tonbandgerät vom Flohmarkt, auf dem das Klavier schrecklich eierte, schnorrte ich überall Strauss-Lieder zusammen, wo ich sie kriegen konnte.


    Als das die EMI- Kassette "Richard Strauss. Das Liedschaffen" mit Fischer-Dieskau und G. Moore erschien, kaufte ich die natürlich sofort und hörte mich von vorne bis hinten durch.


    Und dann war´s mit einem Mal vorbei. Ich wollte keine Strauss-Lieder mehr hören. Natürlich fragte ich mich sofort, an wem das liegen mag: An Richard Strauss oder an mir. Auffällig war, dass es mir bei den Schubert-Kassetten nicht genauso gegangen war. Also sprach einiges dafür, dass es an der Eigenart des Straussschen Liedes liegen könnte.


    Natürlich begann ich jetzt mit meiner Leidenschaft: dem analytischen Hören und dem Blick in die Noten. In meinem Verdacht bestärkten mich einige Bemerkungen von Fischer-Dieskau, etwa dieser Art: Seine Fertigkeit des Illustrierens hat er an Liszts und Wagners Partituren geschult. "Alles, was sich im Inhalt (eines Liedes) bildsam zeigt, pinselt der Tonmaler Strauss in detaillierten Strichen aus." Aber das musste ja nicht unbedingt als ein negatives Urteil gelesen werden.


    Ich wurde nicht schlauer. Eines sprach aber dann gegen meinen Verdacht, dass an Straussens Liedern etwas sein könne, woran man sich übersättigen kann: Ein Erlebnis in dieser Sache vor einem Jahr.


    Ich habe damals nämlich - nur so ganz vorsichtig und als Test - eine Platte aus der alten Kassette wieder herausgeholt und aufgelegt. Und siehe: Der Klangzauberer Strauss hatte mich mit seinen verführerischen Melodien wieder voll am Wickel.


    Ich ahne aber: Ich sollte nicht zu viel und nicht zu lange seinen Liedern lauschen!

    Danke, lieber kurzstueckmeister und lieber Wolfram,


    eure Beiträge sind äußerst hilfreich! Ich freue mich darüber, sie hier lesen zu können.


    Das Schöne an diesem Tamino-Forum ist doch, dass einem plötzlich Aspekte zum Thema eines Threads aufleuchten, auf die man ohne die Mitwirkung der Taminoianer(innen) gar nicht gekommen wäre. Dass dieses Wortspiel mit dem Schlager Dadada und dem Dadaismus nur so aus Lust und Laune eingestreut war, musste ja nicht bedeuten, dass dies nicht einen Gedankenblitz auslösen könnte.


    Es ist gut, lieber kurzstueckmeister, dass Du auf Kurt Schwitters hingewiesen hast. Als ich meine Antwort schon geschrieben hatte, fiel mir eine halbe Stunde später ein, dass die Bezeichnung "Ursonate" ja ein schöner Beleg für meine Feststellung war, dass es sich beim Dadaismus ja schon an sich um eine Verbindung von Musik und Sprache in ihrer Urform, den Phonemen nämlich, handelt. Dabei habe ich die Ursonate von Schwitters sogar in einem Mitschnitt seines Auftritts in Frankfurt hier vor mir stehen, auf dem Regalbrett mit riesigen Tonbandspulen für meine uralte Revox. Die Ursonate von Schwitters selbst gesprochen und gesungen, - das ist ein Erlebnis.


    Warum es keine Lieder mit dadaistischer Lyrik gibt (ich kenne jedenfalls keine), das ergibt sich eigentlich aus der inneren Logik dadaistischer Poesie: Sie ist der zusätzlichen Musik nicht bedürftig.


    Etwas anderes ist, und da komme ich auf Deinen Beitrag, lieber Wolfram, dass Musiker heutzutage Sprache als Tonlement einsetzt, gleichgeordnet dem vom Instrument erzeugten Ton. Ein Musikwissenschaftler hat dieses Prinzip einmal "Suspendierung des deklamatorischen Prinzips" genannt. Das trifft den Punkt genau. John Cage, den Du erwähnst, komponiert auch nach diesem Prinzip.


    Dieter Schnebel hat seinen "Motetus I" so kommentiert: "Sprache wird ... selbst Musik". Dieser "Motetus I" ist, nach seinen Angaben "ein Stück in der Tradition mittelalterlicher Motetten", wobei Texte und Melodie kontrapunktisch gegeneinandergesetzt werden. Es wäre interessant darauf einmal näher einzugehen, würde aber den Rahmen dieses Threads sprengen.


    Dass beim geistlichen Lied die Sprache der Musik "nachgeliefert" werden kann, ist ein richtiger und interessanter Hinweis. Aber das ist wieder ein anderes Feld. Hier ist die Musik in ihrer Funktion ja eingeschränkt auf die Trägerschaft für die religiöse Botschaft. Es handelt sich also um eine rein dienende Funktion.

    Johannes Roehl stellt zu Recht fest: "Die Lieder bilden eben keinen Zyklus."
    Schumann hat ja sein Opus 35 deshalb auch ganz bewusst "Liederreihe " genannt.
    Jetzt kommt jedoch mein "Aber".


    Was die innere Einheit anbelangt, ist folgendes zu bedenken: Schumann hat die Gedichte Kerners selbst ausgewählt und in diese Reihenfolge gebracht, wie sie uns, in Lieder verwandelt, in diesem Opus 35 vorliegen.
    Er muss also Gründe dafür gehabt haben, die innere Struktur der Liederreihe eben genau so anzulegen. Es wäre dann also auch unsere Aufgabe, diesen Gründen nachzuspüren, wobei man dabei selbstverständlich zu keinen völlig gesicherten Aussagen kommen kann.


    Ich habe das versucht und bin zu dem Ergebnis gelangt, das ich schon versucht habe darzustellen.
    Es fällt auf, dass nach dem Lied Nr.7 (Wanderung) eine thematische "Verengung" in der Liederfolge stattfindet, die fast mit einer Art Notwendigkeit bei der Aussage landet: "Mich heilt kein Kraut der Flur".
    Alle Lieder nach der "Wanderung" durchweht diese tiefe Wehmut, eine seelische Not, von der letzten Endes nur ein Engel erlösen kann.
    Es gibt also doch so etwas wie einen "inneren Zusammenhang" der Lieder, der freilich anfangs schwerlich auszumachen ist, sich aber in der Abfolge der Liederreihe immer deutlicher herausschält.


    Ich habe versucht, sozusagen in einer Art Rückprojektion, die Lieder 1 bis 7 auch in diesen inneren Zusammenhang einzubeziehen.
    Meine These war und ist weiterhin:
    Die Fröhlichkeit, die in einzelnen Lieder durchklingt, besonders in Lied 3 und Lied 7, ist eine aufgesetzte.
    Ich habe herausgehört:
    Da macht sich einer Mut, da will einer mit Gewalt über die tiefe Trauer, die sich in ihm eingenistet hat, hinwegsingen.
    Sollte es nicht nachdenklich machen, dass beide Lieder mit einem lauten und regelrecht appellativen "Wohlauf!" beginnen?


    Bleibt noch die andere Frage:
    Warum schreibt einer ein Vierteljahr nach der Hochzeit mit der Frau, die sein Ein und Alles ist und um die er im wahrsten Sinne des Wortes gekämpft hat, eine solche Liederreihe?
    Diese Frage stellt sich übrigens auch bezüglich der "Dichterliebe", die ja auch alles andere ist als ein Loblied auf das Glück einer in Liebe gründenden Zweierbeziehung!


    Schumann, ich sag´s ganz offen, war mir immer schon ein wenig unheimlich!

    Das Gedicht ist die Initialzündung für die Komposition eines Liedes. Sio weit, so gut. Von da an aber wird´s schwierig. Wie der Komponist das Gedicht liest, entscheidet über die musikalische Struktur des Liedes. Das war im Falle von "Jägers Abendlied" deutlich geworden. Es gibt viele Beispiele, an denen man diesen Sachverhalt beobachten kann.


    Das Gedicht "TRAUM DURCH DIE DÄMMERUNG" von Julius Bierbaum wurde von Richard Strauss und van Max Reger vertont. Es sind zwei völlig verschiedene Lieder herausgekommen. Richard Strauss macht seine Komposition an der Überschrift fest. Das Wort "Traum" ist offensichtlich das Zentrum seiner Gedichtrezeption. Infolgessen stellt er seine Komposition auf die musikalische Schilderung der Empfindungen ab, die das lyrische Ich beim Gang "zu der schönsten Frau" in sich verspürt und setzt dabei die für ihn typischen Mittel der musikalischen Klangmalerei ein.


    Max Reger geht offensichtlich von der Szene aus, die Bierbaum schildert. Für ihn ist der Vorgang des Gehens der Angelpunkt der Komposition. Das zentrale Bild der "Wiesen im Dämmergrau" hat es ihm hörbar angetan, so dass er seine msuikalischen Mittel zur Schilderung der Szenerie einsetzt, in der der Gang zur Geliebten sich ereignet.


    Dasselbe Gedicht, in seiner sprachlichen Struktur unverändert, führt zu zwei Liedern, die verschiedener gar nicht sein können. Die Komponiste haben dieses Gedicht unterschiedlich gelesen.


    Die Frage, warum ein Komponist jeweils zu einem ganz bestimmten Gedicht greift, um es in ein Lied zu verwandeln, gehört zu den gänzlich rätselhaften Fragen. Manchmal, wie etwa im Falle Robert Schumanns, kann man einige halbwegs gesicherte Aussagen machen. Nahezu im Dunkeln hingegen tappt man bei Schubert. Fischer Dieskau bemerkt zu ihm: "Der literarische Wert besaß für Schubert überhaupt erst in zweiter Linie Relevanz ...".


    Auf den ersten Blick kommt es einem so vor, als habe Schubert quer durch den "lyrischen Gemüsegarten" komponiert. Das täuscht aber. Am vierten August 1828 schrieb er an Johann Gabriel Seidl, von dem er immerhin schon einige Gedichte verton hatte: "Geehrtester H. Gabriel! Beiliegend sende ich Ihnen diese Gedichte zurück, an welchen ich durchaus nichts Dichterisches noch für Musik Brauchbares entdecken konnte."


    Wie muss man dies lesen? In einem Gedicht, das von Schubert zur Grundlage für ein Lied gemacht werden kann, muss etwas "Dichterisches" sein, das dazu geeignet ist, in Musik verwandelt zu werden. Das "Dichterische" kann nur die spezifische Eigenart der lyrischen Sprache sein. Diese muss von der Art sein, dass Schubert sie in "Sprachmusik" verwandeln kann.


    Diese Briefstelle zeigt, dass Schubert beim Umgang mit Lyrik sehr wohl ausgewählt hat. Das dass das Bild vom "lyrischen Gemüsegarten" unzutreffend ist. Allerdings bleibt zutreffend, dass der Aspekt "literarische Qualität" tatsächlich für Schubert sekundär war. Anders ist das bei Schumann. Für diesen war das ein wichtiges Kriterium. Außerdem scheint bei ihm weniger der Aspekt "lyrische Sprache" bei der Auswahl im Vordergrund gestanden haben, als vielmehr der poetische Gehalt, von dem er sich angesprochen fühlte.


    Seiner Frau Clara gegenüber bekannte er zum Beispiel einmal, sein Opus 39 sei "das Romantischste", das er je gemacht habe. Bei Kerners Lyrik fand er sich offenbar in den schweren Depressionen, die ihn quälten, dichterisch angesprochen. Und Die Ängste, die ihn in seiner gerade geschlossenen Ehe hinsichtlich ihres Bestandes und der Kommunikation mit dem Ehepartner plagten, bewogen ihn mit großer Wahrscheinlichkeit zur Komposition der "Dichterliebe". Ein Gedicht hätte er vermutlich mit anderen Argumenten zurückgewiesen, als das Schubert tat.


    Bei Schubert stellt sich das Problem "Der Komponist und das Gedicht" deshalb so kompliziert dar, weil man nicht einfach sagen kann, er habe ausschließlich mit Blick auf die Sprache ausgewählt, wie der Brief an Seidl nahelegen könnte. Es gibt bei ihm auch den Faktor der persönlichen Betroffenheit, dem Angesprochensein durch den Gehalt eines Gedichts.


    Das ist zum Beispiel daran zu erkennen, dass bestimmte Themen in seinen Liedern wiederkehren. Zum Beispiel spielt das Thema Freundschaft eine große Rolle. Unübersehbar aber ist es bei dem Gedichten von Wilhelm Müller. Dass hier persönliche Betroffenheit eine große Rolle spielte, kann gar nicht bezweifelt werden.


    Gleichwohl gilt: Auch die Gedichte Wilhelm Müllers sind, unbeschadet der persönlichen Betroffenheit durch sie, von Schubert von der Sprache her komponiert.

    Ich kann leider immer noch nicht diese Zitatkästchen-Technik (will auch nicht). Deshalb muss ich tippen.


    Kurzstueckmeister wirft da einfach mal so locker ein Wort auf das Forum und fügt hinzu: "Wollte den Thread damit nicht stören".


    Er hat aber gestört!!


    Und zwar auf eine sehr wirksame Art. Das Wort war "Dadaismus". Für diejenigen, die nicht wissen, worum es da geht: In den zwanziger Jahren trat zum Beispiel ein Mann namens Hugo Ball, in einen merkwürdigen Karton-Mantel gehüllt, auf die Bühne und gab Laute dieser Art von sich: "Hrumdiglü, Gligli, Hrumsdiglü, Gagadarumdiglü ..." So etwas nannte sich Dadaismus und war damals der neueste Schrei in Sachen Lyrik.


    Und jetzt ist mir, kurzstueckmeister sei Dank (ehrlich gemeint!), etwas bewusst geworden. Kein einziges dadaistisches Poem ist je in ein Lied umgewandelt worden.


    Warum? Das ist an sich schon Musik. Lautmusik nämlich.


    Und was lernt der Mensch daraus, der sich mit dem Zusammenhang von Sprache und Musik im Lied beschäftigt?


    Lyrik ist nur dann in ein Lied zu verwandeln, wenn die Sprache eine semantische Botschaft hat. Wenn Worte wirklich etwas zu sagen haben, das der Komponist in sich aufnimmt und in Musik verwandeln kann.


    Reines Lautgestammel hat keine Botschaft an einen Musiker. Er kann darin nichts finden, aus dem er Musik machen kann. Schubert hätte nur den Kopf geschüttelt und das sogenannte "Gedicht" zurückgeschickt.


    Danke, kurzstueckmeister!

    Gleich die Antwort, lieber kurzstueckmeister (damit es hier flott vorangeht),


    ja, Georgiades versteht den Begriff Gehäuse so. Er hat das aus einer vergleichenden Analyse von "Über allen Gipfeln" heraus entwickelt. Das kann man hier nicht wiedergeben, weil es eine höchst diffizile musikwissenschaftliche Untersuchung ist.


    Vielleicht aber dieses Zitat (sozusagen die Quintessenz der seitenlangen Ausführungen): ... (Das Ziel Zelters ist) "der musikalische Vortrag des Gedichts. Was hier geboten werden soll, ist Goethes Dichtung. Und Zelter schafft ihr lediglich ein musikalisches Gehäuse; Lediglich vortragen läßt er sie musikalisch, so wie es seit jeher üblich war, Lyrik vorzutragen und wie sich Goethe selbst es wünschte." (Schubert, Musik und Lyrik, Göttingen 1957, S.33)


    Ich möchte hinzufügen, dass Georgiades ausdrücklich darauf hinweist, dass man Zelters Vertonung von Wanderers Nachtlied mit Schuberts Lied nicht unter dem Aspekt Qualität vergleichen dürfe. Beide Kompositionen sind für ihn gleichwertige Lieder.


    Ich weise deshalb darauf hin, weil ich ebenfalls alles, was ich hier vergleichend schreibe, nicht als Wertung verstanden wissen möchte.


    Über die letzte Zeile Deines Beitrags habe ich mich übrigens sehr gefreut.

    Lieber kurzstueckmeister,


    ich weiß nicht, wie ich Deine Bemerkung nehmen soll, die sogar mit dem Warnruf "Vorsicht" eingeleitet wird. Ist die ernst gemeint? Das könnte sie nur sein, wenn Du damit den Dadaismus meintest. Den meinte aber hart nicht, auf den ich mich bezog. Da muss es einen Schlager geben mit dem Text "Da da da". Ob der Dadaismus eine bedeutende Gattung von Lyrik ist, drüber ließe sich trefflich streiten. Ist aber nicht der Ort dafür.


    Sehr hilfreich ist hier Dein Hinweis darauf, dass die Romantiker eher in Ausrichtung auf "die Bedeutung des Textes" komponieren. Ich habe das so verstanden, dass sie bei der Komposition eines Liedes nicht primär von der Sprache ausgehen, wie das bei Schubert der Fall ist, sondern vom poetischen Gehalt eines Gedichts, von seiner "Aussage" sozusagen. Man kann dies bei Schumanns op.39 zum Beispiel sehr schön nachweisen.


    Bei Kreutzer, Franz und den anderen Komponisten, die Du angeführt hast, ist es tatsächlich so, dass der Aspekt "Musikalische Illustration" eine große Rolle spielt. Aber da sind wir ja bei meinem Thema hier. Ausschlaggebend ist immer die Intention, mit der ein Komponist an ein Gedicht herangeht.


    Wenn man zum Beispiel Kreutzers Vertonung von Goethes "Nähe des Geliebten" neben das Lied von Schubert stellt, fällt das schon beim ersten Hören auf. Ich habe das ansatzweise schon in dem Thread "Schuberts Ausnahmerang" zu zeigen versucht. Aber den hast Du ja nicht gelesen. Ich habe übrigens dafür volles Verständnis, hast Du doch schließlich ein viel weiteres Feld im Forum zu bedienen. Es ist nur schade, weil man dann so vieles hier als bekannt voraussetzt und dann feststellt, dass man nicht verstanden wird, weil die gemeinsame Basis fehlt.


    Was Goethe betrifft, so ist es nicht nur das Alter, was ihn vor Schubert zurückschrecken lässt. Wenn ich im Zusammenhang mit Reichardt und Zelter den Begriff "Gehäuse" verwendet habe, so wollte ich damit die Funktion beschreiben , die die Musik für diese Komponisten - und auch für Goethe! - in bezug auf den lyrischen Text hat. Goethe wehrt sich dagegen, dass durch die Musik seinen Gedichten etwas hinzugefügt wird, was nach seiner Meinung in ihnen nicht enthalten ist. Er möchte sie sozusagen unversehrt durch die Musik präsentiert sehen. Jeglich Form von eigener Interpretation durch den Komponisten ist ihm zuwider.


    An Humboldt schrieb er am 14. März 1803: "Er (Zelter) trifft den Charakter eines solchen, in gleichen Strophen, wiederkehrenden Ganzen trefflich, so daß es in jedem einzelnen Teile wieder gefühlet wird, da wo andere, durch ein sogenanntes Durchkomponieren, den Eindruck des Ganzen durch vordringende Einzelheiten zerstören."


    Wichtig ist hier die Formulierung "vordringende Einzelheiten". Das ist genau das, was er Schubert vorhält. Diese "Einzelheiten" entspringen dem kompositorischen Ausdruckswillen des Komponisten, der mit dem Gedicht das ausdrücken will, was er darin liest. Und die drängen sich aus Goethes Sicht auch noch vor den lyrischen Text, wie er ihn gestaltet hat. Das meinte ich mit dem Begriff Interpretation, der Dir einmal anrüchig schien, wie ich mich erinnere.


    Der Begriff "Gehäuse" ist also völlig neutral gebraucht. Er enthält keinerlei Wertung, was die musikalische Qualität der Lieder betrifft. Er stammt in dieser Verwendung übrigens nicht von mir, sondern von Thr. Georgiades.


    Ich möchte versuchen, an einigen weiteren Beispiel zu zeigen, welche Folgen die Intention im Umgang mit dem lyrischen Text für die Struktur eines Liedes hat. Das ist der Sinn dieses Threads.

    Lieber hart,


    wir sind gar nicht so weit auseinander, wie Dein letzter Beitrag hier nahelegen könnte.


    In einem hast Du völlig recht: Kunstbetrachtung ist immer subjektiv.- Was sich in einem Hörer ereignet, wenn er ein Schubertlied hört, das ist von Individuum zu Individuum sehr verschieden. Es ist aber nicht absolut verschieden. Es gibt eine gewisse Bandbreite innerhalb derer die jeweils spezifische Form der Rezeption schwankt. Ich bitte zu bedenken: Niemand wird beim Hören des "Leiermann" aus der Winterreise die Assoziation "Jahrmarkt mit Würstchenbude und Stehgeiger" haben. Auf jeden Menschen, der dieses Lied aufmerksam hört, wird die tiefe Depression, die Schubert in diesem Lied gestaltet hat, eine Wirkung ausüben, die freilich individuell verschieden ausfällt, z.B im Grad der Betroffenheit.


    Wir könnten ja gar nicht, wenn wir beide die "Vier letzten Lieder" von Strauss gehört haben, anschließend darüber sprechen, gabe es im Erlebnis bei uns beiden nicht ein gewisses Maß der Übereinstimmung und der Deckungsgleichheit.


    Und nur darum geht es mir. Es geht mir nicht umd die Frage: Was ist das größte Schubertlied? Eine solche Frage ist, wie Du zu Recht feststellst, unsinnig. Es geht mir um die Frage: Was macht ein Schubertlied, das wir alle als ein bedeutendes einstufen, eben zu diesem, - zu einem bedeutenden.


    Ein Beispiel: Im gleichen Monat, nämlich im Juli 1815, hat Schubert u.a. die Lieder "Von Ida" (Text: Kosegarten) und "Erster Verlust" (Text: Goethe) geschrieben. Das erste ist eines der vielen Schubertlieder, die heute kaum ein Mensch kennt. "Der Morgen Blüht / Der Osten glüht...", - das ist ein hübsches, aber ein unbedeutendes Schubertlied. "Erster Verlust" hingegen gehört zu den bedeutenden Liedern Schuberts, die man auch heute noch hören kann, weil sie einem etwas zu sagen haben.


    Neben der Subjektivität der Rezeption gibt es das Phänomen "bedeutendes Kunstwerk". Der Aspekt "Bedeutsamkeit" unterliegt sicher einem zeitlichen Wandel. Auffällig ist doch aber, dass dieser zeitliche Wandel des Gesschmacks und des Urteilens bei bestimmten Kunstwerken keinerlei Wirkung zeigt. Ich lasse jetzt mal Rembrandt, Michelangelo, die Hammerklaviersonate, die Matthäuspassion usw. beiseite und nehme unsere Lieder.


    Du sagst es selbst: Die Winterreise ist ein bedeutenderes musikalisches Werk als "Da da da" (das ich, wie Du zu Recht vermutest, nicht kenne). Die Gründe dafür findet man in der Komposition. Sie sind objektiver Natur: Man kann sie sehen und benennen. Sie sind kein Produkt rein subjektiven Urteilens, nach dem Muster "O Klasse!"


    Ich glaube, dass man solche Fragen stellen darf und dass es auch eine Antwort darauf gibt, auch wenn diese immer unzureichend bleiben mag.


    Für die These der absoluten Subjektivität des Urteilens über Kunst gibt es keine hinreichende argumentative Grundlage.

    Lieber hart,


    Du wirst es mir nicht glauben, aber es ist die Wahrheit. Dein Beitrag heute hat mich dazu gebracht, mir alle Interpretationen von "Jägers Abendlied", die ich hier zur Verfügung habe, vergleichend anzuhören. Ich erspare mir hier die Namen, es waren sechs. Bei Gelegenheit können wir ja mal über das Ergebnis sprechen.


    Aber das war nicht der Grund, warum ich meinen Computer so spät noch einmal eingeschaltet habe. Mir ist plötzlich bewusst geworden, dass Du eine ganz allgenmeine, wichtige Frage aufgeworfen hast. Eine Frage, die vielleicht auch andere Forianer interessiert:


    Woran erkennt man eigentlich, dass ein Lied ein bedeutendes Lied ist? Kann man das überhaupt an objektiven Merkmalen festmachen? Oder ist das eine Sache des ganz subjektiven Dafürhaltens?


    Ich vermute mal, wie ich Dich inzwischen kenne, dass Du zu letzterer Auffassung neigst.


    Ich hingegen, das dürftest Du auch ahnen, neige zu der Auffassung, dass es dafür sehr wohl Kriterien gibt.


    Und jetzt stelle ich mir vor, dass jede Menge Forianer sich an einem Gespräch über diese Frage beteiligen.


    Und so etwas kommt mir spät in der Nacht noch in den Sinn. Ich führe inzwischen ein Forianer-Leben!

    Zugegeben, lieber Kurzstueckmeister,
    und ich nehme das auch sofort wieder zurück.
    Die Begeisterung hat mich davongetragen.


    Es ist auch noch ein Nachtrag zu machen:
    "Neu" heißt natürlich nicht automatisch "gut" und auch nicht "wohlklingend".
    Die Hölderlin-Vertonungen von Hermann Reutter (op.56) sind, verglichen mit Richard Straus, von regelrecht bitterer Herbheit!


    Mir ging es um mein "Lieblingsthema", die Frage nämlich, wie Liedkomponisten mit dem lyrischen Text umgehen und welche Folgen das für die musikalische Struktur ihrer Lieder hat.


    Ich halte diese Frage nun einmal, und wie ich glaube mit gutem Grund, für die zentrale Frage beim Kunstlied.
    In diesem Bereich gibt es im zwanzigsten Jahrhundert interessante Entwicklungen.
    Meine Äußerung über Richard Strauss ist nur in diesem Zusammenhang zu nehmen.
    Dass dieser Komponist faszinierende Lieder geschrieben hat, braucht nicht eigens betont zu werden.


    Der Gedanke, dass wir hier darüber reden könnten, hat mich so beflügelt, dass ich sogar bei Aribert Reimann und Henze gelandet bin.
    Tut mir leid!