Beiträge von Helmut Hofmann

    Justinus Kerner ist, daran soll einmal erinnert werden, der erste Lyriker, mit dem sich Schumann ernsthaft kompositorisch auseinandergesetzt hat.
    1828, mit 18 Jahren also, vertonte er drei Gedichte Kerners und schickte sie mit einem unterwürfigen Begleitschreiben zur Begutachtung an den Komponisten Gottlob Wiedebein. Das Manuskript trägt die Bezeichung Op. II. Es handelt sich dabei um die Lieder
    GESANGES ERWACHEN
    KURZES ERWACHEN und
    ANNA


    Angesichts dieses Sachverhalts stellt sich für mich die Frage:
    Was hat Schumann zu diesem Dichter Justinus Kerner hingezogen?
    Er hat ja, neben diesen drei frühen Liedern und denen von op. 35, noch fünf weitere Gedichte von Kerner vertont:
    Anna II, Der Wassermann, Im Herbste, Sängers Trost (op.127, 1851) und Trost im Gesang (op. 142, 1852).


    Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, wie er in dem Begleitschreiben an Wiedebein seinen Rückgriff auf Kerners Lyrik begründet.
    Er schreibt, dieser Dichter habe ihn "durch jene geheimnisvolle überirdische Kraft, die man oft in den Dichtungen Goethes und Jean Pauls findet, am meisten angezogen".
    Was meint er mit dieser sprachlichen Wendung "geheimnisvolle überirdische Kraft"?


    Schaut man sich die Texte der ersten drei Lieder genauer an, dann stößt man sehr rasch auf viele Motive, die man von den Liedern des späteren Opus 35 kennt:
    Das innerlich kranke, in tiefe Trauer versunkene Ich begegnet einer heilen Natur und erhofft sich von dieser Begegnung eine Errettung aus seiner seelischen Not.
    Hier, weil ihn vermutlich nicht jeder zur Verfügung hat, der Text von


    KURZES ERWACHEN


    Ich bin im Mai gegangen
    Und hab´es nicht gewußt.
    Also vom Schmerz befangen
    Ist die kranke Brust.


    Ein Vogel hat gesungen
    Im jungbelaubten Wald;
    Da ist ins Herz gedrungen
    Mir seine Stimme bald.


    Vom Aug´ist mir gefallen
    Ein schwerer Tränentau,
    Drauf sah ich den Mai wallen
    Durch Erd´und Himmel blau.


    Als Vogel ausgesungen,
    Flog er ins weite Land;
    Und wie sein Lied verklungen,
    Um mich der Mai entschwand
    .


    Keine große Lyrik, - das nebenbei. Der Lyriker Kerner wirkt da und dort sprachlich ein wenig unbeholfen. Darum geht es jedoch nicht. Es geht um die Aussagekraft der Bilder. Sie weist in eine deutlich fassbare Richtung!


    Und wie klingt Schumanns Lied?
    Die Komposition wirkt, neben den Liedern von op. 35, vergleichsweise schlicht, weniger komplex, ist aber weit entfernt von volksliedhafter Einfachheit.
    Die melodische Linie durchläuft in jeder Strophe verschiedene Tonarten und wirkt, vor allem am Ende des jeweiligen ersten Strophenverses, bewusst kunstvoll gestaltet.
    Das Klavier folgt ihr mit weitgehend akkordischer Begleitung, greift aber vor Strophenbeginn das Motiv der Gesangsmelodie einleitend auf. Sie ist noch weit entfernt von der kompositorischen Raffinesse der Lieder von 1840. Vor allem der Schluss zeigt, dass da noch ein Anfänger am Werk war.
    Dennoch! Bei Hören begegnet einem ein eingängiges, von einem leicht wehmütigen Ton geprägtes Lied, das einen beeindruckt.


    Man kann wohl mit guten Gründen davon ausgehen, dass mit den "geheimnisvollen überirdischen Kräften" die Botschaft der Naturbilder in Kerners Lyrik gemeint war. Sie war es, die ihn zu diesen Gedichten hinzog.
    Die Beschwörung der heilenden Kraft einer "gesunden", vollkommen in sich ruhenden Natur bei Kerner musste auf den schon in seiner Jugend unter der inneren Zerrissenheit seiner "Doppelnatur" leidenden Schumann eine fast magische Anziehungskraft entfaltet haben.

    Jeder von uns kennt Lieder, bei denen man denkt: So und nur so können sie klingen; der Komponist hat hier ins Schwarze getroffen.


    Schon 1811 stellte der Schweizer Musikpädagoge Hans Georg Nägeli über den "Vocal-Künstler", den Lied-Komponisten also, fest, er sei bestrebt, "von jedem Gedicht ... ein neues Kunstganzes" hervorzubringen, "als es nie zwey Gedichte geben kann, wozu eben dieselbe Musik passen würde. "


    Der Maßstab dafür, ob eine Musik in Nägelis Sinne zu einem Gedicht "passt", kann eigentlich nur von diesem hergeleitet werden. Die literarische Qualität desselben kann es aber nicht allein sein, denn dann gäbe es nicht den Fall, dass ein mittelmäßiges Gedicht zu einem großen Lied wird. Diesen Fall gibt es aber häufig, und er ist eines der Rätsel, mit denen sich dieser Thread beschäftigt.


    Das Lied "FELDEINSAMKEIT" (op.86, Nr.2) von Johannes Brahms ist ein solcher Fall.


    Ich ruhe still im hohen grünen Gras // Und sende lange meinen Blick nach oben, // Von Grillen rings umschwirrt ohn Unterlass, // Von Himmelsbläue wundersam umwoben.


    Die schönen weißen Wolken ziehn dahin // Durchs tiefe Blau, wie schöne stille Träume; // Mir ist, als ob ich längst gestorben bin // Und ziehe selig mit durch ewge Räume.


    Bei diesem Gedicht von Hermann Allmers handelt es sich nicht um Lyrik erster Güte. Es werden einfach Naturbilder aneinandergereiht, die vom lyrischen Ich wahrgenommen und reflektiert werden. Diese Reflexion mündet in das "Als ob" des Gestorben-Seins. Mit diesem fiktionalistischen "Als ob" (für den Lyriker immer ein heikles Unterfangen!) wird, - und das ist wohl eine Schwäche des Gedichts - die Ebene des lyrischen Naturbildes verlassen. Gleichwohl kann man sagen, dass es Allmers gelungen ist, die Atmosphäre eines mittäglichen Aufenhalts in der Einsamkeit einer Feldlandschaft sprachlich einzufangen.


    Das Lied von Johannes Brahms ist ganz ohne Zweifel eine großartige Komposition (es ist mein Lieblingslied von Brahms). Spontan denkt man beim Hören: Die Atmosphäre dieses lyrischen Bildes ist auf vollkommene Weise musikalisch eingefangen. Man kann sich nicht vorstellen, wie ein Lied auf dieses Gedicht anders klingen könnte.


    Mit diesem Urteil dürfte man aber gründlich danebenliegen. Ich zitiere den Autor Hermann Allmers:


    "Übrigens hat Brahms meine Dichtung nicht recht verstanden, seine Komposition ist zu gekünstelt und nicht einfach genug für den Gedanken; ich wollte, er hätte es gelassen, und drum wurde mir auch schwer, mich bei ihm zu bedanken."


    Wer jetzt auf die Idee kommen könnte, diesem Hermann Allmers ( 1821-1902) ginge das künstlerische Urteilsvermögen ab: Er war zwar Landwirt, trieb aber daneben intensive wissenschaftliche und künstlerische Studien, reiste viel und hatte Kontakte zu Haeckel, Geibel, Heyse und Vischer. Seinen Marschenhof in Rechtenfleth (bei Bremen) baute er zum Künstlerheim aus.


    WAS NUN?

    Dein Einwand, lieber farinelli, hinsichtlich meines Gebrauchs des Wortes "novellistisch" in meinem letzten Beitrag ist berechtigt.
    Ich könnte mich jetzt rechtfertigen und behaupten, ich hätte es nicht im Kleistschen Sinn verwendet, sondern in dem Verständnis von Novelle, wie es Friedrich Schlegel entwickelt hat ("Nachricht von den poetischen Werken des J. Boccaccio, 1801), aber das wäre die fragwürdige Ausrede eines Menschen, der sich in diesem Terrain auskennt.
    Mir ging es um etwas anderes.


    Bei den Liederzyklen Schuberts steht am Anfang etwas, das ich einmal eine epische Exposition nennen möchte: "Fremd bin ich eingezogen,/ Fremd zieh ich wieder aus", "Eine Mühle seh ich blinken/ aus den Erlen heraus".
    Diese epische Exposition strahlt auf die Abfolge der Lieder aus und konstituiert auf diese Weise die innere Einheit der Zyklen. Insofern müsste man korrekterweise von einer "epischen Grundstruktur" sprechen.


    Was sich in der Aufeinanderfolge der Lieder musikalisch ereignet, ist in seiner Substanz ein "Abwandern" einer seelischen Landschaft. In diese ragen allerdings, symbolisch stark aufgeladen, Elemente jener epischen Grundstruktur hinein, die einen Realitätsbezig aufweisen: der Bach, das Mühlrad, die Laute, die Krähe, die Wetterfahne, die Eisblumen am Fenster, die bellenden Hunde an ihren Ketten ...(ich habe immer schon größten Respekt vor der poetischen Kraft des Wilhelm Müller!).


    Eine so geartete epische Grundstruktur findet sich bei Schumann nicht. Elemente mit einem Realitätsbezug im Müllerschen Sinne fehlen in den Texten seiner Lied-Opera.
    Bei der Hochzeit, die den Berg entlang zieht, handelt es sich ja nicht um eine Abbildung von Wirklichkeit, sondern um eine für Eichendorff typische Montage aus evokativen Aäquivalenten romantischen Lebensgefühls.
    Die innere Einheit von Schumanns Liederzyklen und -reihen gründet also letztlich, wenn man von einigen musikstrukturellen Faktoren einmal absieht, in dem, was er selbst "Seelenzustände" nennt.
    In seinem "Denk- und Dichtbüchlein" findet sich die Notiz:
    "Das wäre eine kleine Kunst, die nur klänge und keine Sprache noch Zeichen für Seelenzustände hätte."


    Zu Deiner "Behauptung" (den Aspekt "Modernität" betreffend):
    Vieles spricht für diese These!
    Novalis fordert in seinen Fragmenten:
    "Erzählungen, ohne Zusammenhang, jedoch mit Assoziation, wie Träume. Gedichte - bloß wohlklingend und voll schöner Worte - aber auch ohne allen Sinn und Zusammenhang - höchstens einzelne Stropen verständlich - sie müssen wie lauter Bruchstücke aus den verschiedenartigsten Dingen sein."


    Eingelöst wurde diese Forderung frühestens im lyrischen Expressionismus. Hört man aber unter diesem Aspekt die zwischen Eusebius und Florestan irrlichternde Chromatik des Schumannschen Klavierwerks, dann geht einem förmlich unter die Haut, wie sehr er "Romantiker" im Sinne des Novalis war.


    Eben kommt mir gerade ""DAS IST EIN FLÖTEN UND GEIGEN" ins Ohr.
    Die Radikalität, mit der sich hier das Klavier vom Sprachtext emanzipiert, diesen aber zugleich mit im Walzertakt kreisenden, hektischen Sechzehntelbewegungen umspielt und interpretiert, - das ist von nahezu unglaublicher Modernität!

    Ja, lieber hart, - allmählich begreife ich die Achtung - oder vielleicht gar Bewunderung - die Du Karl Erb entgegenbringst. Diese Charakterisierung "ohne Kunstgepräng" trifft wohl haargenau seine Art des Liedgesangs.


    Manchmal kommt es mir vor, als läge - gemessen an der intellektuellen Durchdringung der Lieder bei einem Fischer-Dieskau - bei Karl Erb so etwas wie Naivität vor. Ich meine mit diesem Begriff etwas Positives: In diesem Fall ein wenig reflektiertes, sozusagen unmittelbares Singen aus den Noten und dem Geist des Liedes heraus.


    Aufgefallen ist mir das besonders bei dem Lied "Das Wirtshaus" aus der Winterreise. Wenn er singt: "Hab ich bei mir gedacht", hört man richtig, wie er mit sich selbst spricht. Die Frage "Sind den in diesem Hause...?" wird als Frage an den Friedhof artikuliert - nicht etwa als in sich hinein gerichtete Frage, wie Goerne oder Fischer-Dieskau das etwa singen - , und das "Du treuer Wanderstab" ist hörbar ein Appell an seinen Stock, ihn nun weiterhin in seinem mühsamen Wandern zu stützen.


    Ja, das ist wirklich "ohne Kunstgepräng". Und ich würde hinfügen: Es ist ein Liedgesang, der auf erfrischende Weise frei von gedankenschwerer Reflexion ist.

    Lieber hart,


    warum so förmlich? Du sprichst mich als "Erb-Kritiker" an. Erstens bin ich das nicht, und zweitens klingt das für mich so, als hätte ich Dir, - was ich ja insgeheim fürchtete - doch auf den Fuß getreten. Täte mir leid!


    Aber zurück zum Thema. Ich weiß natürlich, dass Karl Erb allgemein als "überragender Lied- und Oratorieninterpret" gilt (so mein Musiklexikon), und ich werde mich allein schon deshalb hüten, mich hier als "Kritiker" aufzuspielen. Mein Problem ist ein ganz anderes.


    Kann man, anders als im Lied selbst, heute im Liedgesang von einem "Fortschritt" sprechen? Wenn ja? worin besteht er? Und ferner: Welchen Wert haben für uns dann die "alten Interpreten" der Generation Karl Erb?


    Ist deren Leistung im Liedgesang nur noch von historischem Wert oder haben sie uns heute noch etwas zu sagen? Auf dieses Problem bin ich beim Hören der CD mit Erb viel stärker gestoßen als beispielsweise bei Hans Hotter.


    Ich gebe ein Beispiel:


    Wanderers Nachtlied singt Erb mit wunderbar verhaltener Stimme und sein Gesang strömt die Ruhe aus, die Schubert in diesem Lied hören lassen wollte. Aber er arbeitet bei seiner Interpretation mit leichten Portamenti. Die sind heute zu Recht im Liedgesang verpönt, und das nicht nur aus modischen Gründen. Bei dem Wort "balde" (..."ruhest du auch") verschleppt der das Tempo massiv und legt ein lange Pause ein. Das ist vom Notentext her nicht gedeckt. Er macht das, weil er meint, vom Wort her singen zu müssen, also vom semantischen Gehalt des "balde".


    Die Frage ist:


    Wird man dem Lied gerecht, wenn man sehr stark vom Wort her interpretiert und sich dann über den Notentext hinwegsetzt? Anrührend ist das ohne Frage. Man meint, der Sänger rezitiere das Gedicht und lege die Schubertsche Melodie dabei unter.


    Ich sage es noch einmal: Ich bin kein Erb-Kritiker. Ich frage mich, ob man "Wanderers Nachtlied" so singen sollte. Diese Frage drängt sich mir auf, wiel ich das Lied noch nie so gesungen gehört und mit höchstem Interesse gelauscht habe.

    O nein, lieber farinelli, Deine Bemerkungen sind nicht "müßig", die sind überaus hilfreich.


    Die Sache mit dem Wort "einfach" ist schnell geklärt. Wenn Du noch einmal genau zurückblickst, wirst Du sehen, dass ich dieses Wort genau in dem Sinne verwendet habe, wie Du auch die kompositorischen Mittel Schuberts in der Winterreise beurteilst:


    Im Sinne einer Reduktion auf das wesentliche. Insofern habe ich mir durchaus nicht widersprochen. Das ist es ja, was, wie ich vermute, die Hörer der Winterreise so sehr erschreckt haben mag. Es ist allerdings wirklich nur eine Vermutung, denn wir haben keinen Quellenbeleg dafür.


    Was die Assoziation "Hölderlin" betrifft: Sie hat sich bei mir eingestellt, weil ich mich mit diesem Dichter sehr lange und intensiv beschäftigt habe. Hölderlin lässt die Wetterfahne klirren. Dieses "klirren" ist von ihm ganz bewusst in den Vers gesetzt. Es ist für mich, ähnlich wie das Blitzen des Eisens in Mörikes "Ein Tännlein grünet wo", das Musterbeispiel eines Falles von "evokativem Äquivalent" in der Lyrik.


    Mit der Wetterfahne bei Müller hat es nur vordergründig etwas zu tun. Zu beachten ist nämlich, dass hier der Wind mit der Wetterfahne "spielt". Heißt: In diesem Haus darunter, unter dieser Wetterfahne, wird nichts ernst genommen, ist alles wankelmütiges Spiel. Mit dem bedohlichen, ja schmerzhaften Klirren der Wetterfahne bei Hölderlin hat das nichts gemein.


    Dennoch: Es ist aus meiner Sicht ein gelungenes lyrisches Bild. Und weil es gelungen ist, auf seine ganz spezifische Weise, stellt sich bei mir diese Assoziation ein.


    Wie gesagt: "Müßig" sind Deine Bemerkungen keineswegs!


    (Ach ja, - mit germanistischen Seminaren hat jeder so seine eigenen Erfahrungen!)

    Die "Schöne Müllerin" hat es hier im Forum auf drei Seiten gebracht, die "Winterreise" inzwischen auf zehn. Die Zahl der Aufnahmen der "Winterreise" wurde hier feinsäuberlich aufgelistet - dankenswerterweise - , sie dürfte die der "Müllerin" bei weitem übersteigen.


    Ich möchte eine Frage hier zur Diskussion stellen, die dieses "Rätsel Winterreise" von einem weiteren Aspekt her beleuchtet.


    Als Schubert seinen Freunden diesen Zyklus vorsang, und zwar "mit bewegter Stimme", wie berichtet wird, waren alle "über die düstere Stimmung dieser Lieder ganz verblüfft". Franz Schober, der doch sonst fast alles wunderbar fand, was sein Freund komponierte, fand nach seinem eigenen Geständnis nur den "Lindenbaum" akzeptabel.


    Ich habe mir das bisher immer, so wie wir alle vermutlich, von der düsteren Stimmung und der abgrundtiefen Hofnungslosigkeit her erklärt, die über dem ganzen Zyklus liegen, und zwar vom ersten Lied bin hin zum schlechterdings trostlosen "Leiermann".


    Meine Frage ist nun:


    Könnte die Reaktion der Freunde nicht auch damit zusammenhängen, dass diese Lieder von ihrer Komposition, von ihrer musikalischen Struktur her, gänzlich ungewohnt und neu waren? Dass sie sich also nicht nur vom Inhalt der Lieder bedrückt fühlten, sondern sich fragten, ob das überhaupt noch Liedkompositionen sind, wie sie bisher von ihrem großen Schubert kannten?


    Kamen ihnen die Lieder vielleicht auch einfach von ihrem Klang her unheimlich vor, so dass sie sich fragten, ob man so etwas überhaupt noch "Lied" nennen kann?


    Ich hatte im Thread "Sprache und Musik" darauf hingewiesen, dass die Lieder der Winterreise von ihrer musikalischen Faktur her verblüffend einfach sind. Ich würde von einer für die Freunde befremdlichen Radikalität der Komposition sprechen. Mehr als man das bisher gewohnt war, hat sich der Klaviersatz von der Singstimme völlig emanzipiert. Er ist ein autonomes Element der musikalischen Faktur.


    Schubert arbeitet mehr als früher mit Chromatik, leeren Oktaven und Quintklängen. Auch wo es in der Musik, vom Text her, ein wenig flotter zugeht, wie etwa in "DER STÜRMISCHE MORGEN", verbelibt die Harmonik in Moll.


    Ich wage einfach mal die Behauptung:


    Schubert hat mit der Winterreise den Verständnishorizont seiner Zeitgenossen überschritten. Das ist mit ein Grund für ihre historische Größe und die Tatsache, dass wir uns auch heute noch endlos lange mit ihr auseinandersetzen können, - als Hörer und als Interpreten.

    Lieber farinelli,


    biite sei mir nicht böse, aber ich möchte mich auf das Thema Wilhelm Müller jetzt nicht mehr näher einlassen. Es geht hier ja nicht um Literaturkritik, sondern um den Zusammenhang zwischen Sprache und Musik im Lied. Und der ist kompliziert genug und mir nach wie vor ein Rätsel, dem ich mich jetzt noch ein wenig mehr widmen will.


    Bei Wilhelm Müller interessierte mich letzten Endes auch nur dieser Aspekt. Die Frage der literarischen Qualität seiner Winterreise-Gedichte habe ich nur angepackt, weil ich ein gängiges Vorurteil unter die Lupe nehmen wollte.


    Die Quintessenz meiner Überlegungen zum Thema "Müller - Schubert" meine ich in meinem letzten Beitrag formuliert zu haben: Die vergleichsweise "einfache" musikalische Faktur der Lieder der "Winterreise sehe ich als kompositorischen Niederschlag der prosaisch einfach strukturierten Lyrik Müllers.


    Ich glaube, dass es zwischen den Gedichten der Winterreise und der inneren "Disposition" des Menschen und Komponisten Schubert zu damaligen Zeit eine starke Korrespondenz gab.


    Dass in dieser These wieder vieles "glattgebügelt" werden musste, um die hier gebotene "Handlichkeit" zu erreichen, das ist mir wohl bewusst.

    Im Unterschied zur "Winterreise" oder zur "Schönen Müllerin" gibt es bei Schumanns Liederzyklen und -reihen keine vom Textautor vorgegebene einheitsstiftende novellistische Grundstruktur.
    Zur inneren Einheit der Schumannschen Lied-Opera kann man nur wenige gesicherte Aussagen machen.
    Hinsichtlich der Motive, von denen er sich bei der Auswahl der Gedichte und ihrer Positionerung im jeweilgen Werk leiten ließ, sind nur Vermutungen möglich, bei denen man auf die Ebene der Biographie zurückgreifen kann.


    Hiervor warnt nun Johannes Roehl ausdrücklich. Er hält es für "voreilig", "auf einer Einheitlichkeit zu bestehen, die in dieser Stärke gar nicht gegeben ist und dann zu seltsamen Hilfskonstruktionen zu greifen ( oder zum Biographischen)".
    Aber ist es bei Robert Schumann wirklich nicht erlaubt, auf dieses "Biographische" zurückzugreifen, wenn man sich um das Verständnis seiner Werke bemüht?


    An Moscheles schreibt Schumann (über seinen "Carnaval"):
    "Mensch und Musiker suchten sich immer gleichzeitig bei mir auszusprechen."
    Der Biograph Martin Geck stellt in bezug auf Schumann fest:
    "(Schumann) schafft aus dem Geist, aus dem er lebt - und lebt aus dem Geist, aus dem er schafft. Natürlich kann man jeden der beiden Diskurse für sich betrachten, doch produktiver ist es, sie als nachschaffender Hörer zusammenzuführen." (Robert Schumann, München 2010, S.122).
    Man beachte besonders den letzten Satzteil!


    Nehmen wir doch einmal als Beispiel die Eichendorff-Lieder op.39.
    Die innere Einheit dieses Liederzyklus gründet ganz wesentlich darin, dass er eine Art synästhetisches Kompendium romantischen Lebensgefühls ist.
    Darüberhinaus hat man Tonartenverwandtschaften zwischen den Liedern festgestellt (Kreuztonarten werden bevorzugt, der Takt wechselt zwischen geraden und ungeraden Metren, u.a.).
    Schumann selbst schreibt über op.39 an Clara:
    "Der Zyklus ist mein Romantischstes. Es steht viel von Dir drin."


    Warum sollte Schumann zum Beispiel das Lied "Intermezzo" ("Dein Bildnis wunderselig") nicht mit Blick auf Clara ausgewählt und komponiert haben? Spekulation? Gewiss!
    Aber dabei ist zu bedenken: Das Thema dieses Liedes taucht im ersten Satz des Klaviertrios op.80 wieder auf. Es muss also für Schumann eine besondere Bedeutung gehabt haben.
    Ohnehin weist sein Werk an unzähligen Stellen musikalische Figuren auf, die in Beziehung zu Clara stehen. Im Mittelsatz der f-moll-Sonate variiert er zum Beispiel das Thema eines von ihr komponierten Andantino.
    Den ersten Satz der C-Dur-Fantasie bezeichnet er als das wohl "Passionirteste", das er komponiert habe, und fährt fort, es sei "eine tiefe Klage um dich."
    Das könnte man ellenlang fortsetzen!


    Warum also sollte man sich bei Schumann hüten, bei der Suche nach Motiven für die Gestaltung seiner Lied-Opera auch nach "dem Biographischen" zu greifen?
    Selbst ein Fischer-Dieskau (der diesbezüglich überaus vorsichtig ist) tut das, wenn er zur "Dichterliebe" anmerkt, dass dieses Werk "aus der Sphäre der Angst" komme, "der Angst auch um das Glück mit der geliebten Frau" (Robert Schumann, Stuttgart 1981, S.80).


    Über die Lieder von Opus 24 schreibt Schumann an Clara:
    "Wie ich sie komponierte, war ich ganz in Dir. Ohne solche Braut kann man keine solche Musik machen."
    Darin, genau in dieser Haltung Clara gegenüber, gründet die innere Einheit dieses Liederzyklus op.24.


    Natürlich kann man diese Lieder auch hören und genießen, wenn man keine einschlägigen biographischen Kenntnisse hat.
    Aber könnte es nicht sein, dass das Hören eine zusätzliche Dimension bekommt, wenn man um den biographischen "Quellgrund" einer solchen Komposition weiß?

    Lieber hart,


    Du scheinst Karl Erb als Lied-Sänger sehr hochzuschätzen. Ich habe mir deshalb diese CD 6 aus der Kassette etwas genauer angehört. Auch auf die Gefahr hin, dass Du mir das verübelst: Ich finde keinen Zugang zu dieser Art von Liedinterpretation. Sie scheint mir im vollgültigen Sinne des Wortes historisch zu sein.


    Eines meiner Probleme ist das Timbre dieser Stimme. Sie klingt metallisch hart und oft wie gepresst. Nun kann man sagen, das ist eine Frage des Geschmacks. Es kommt aber hinzu, dass Erb sie auch irgendwie ungelenk führt. Ich weiß keine rechtes Wort dafür, aber immer wieder meine ich, er ginge eine wenig unbeholfen mit seiner Stimme um. Die Charakterisierung seiner Stimme als "von seltener Reizlosigkeit" scheint mir jedenfalls den Kern zu treffen.


    Das Lied LITANEI, das Du erwähnt hast, habe ich mir mehrmals angehört. Da bestätigt sich das, was ich eben sagte.


    Er bemüht sich zwar um das Herausarbeiten der melodischen Bögen, aber wenn er einen gesungen hat, legt er eine Pause ein und setzt neu an. Das meinte ich mit dem Wort "unbeholfen".


    Beispiel: Das Wort "Seelen" spricht er ganz kurz aus, und dann kommt eine abrupte Pause, die da gar nicht hinpasst. Kein anderer Sänger singt diesen Vers so. Man versucht, beim Übergang zum zweiten Vers den Fluss der Melodie zu erhalten und möglichst viel Legato zu singen. Das ist beim Thema dieses Liedes und dem ruhigen Strömen der Musik, das Schubert wollte, ja auch angebracht. Richtiggehend gepresst wirkt die Höhenlage bei "Aus der Welt hinüberschieden". Durchgehend gilt: Das versübergreifende Strömen der Melodik, das ich von allen anderen Interpretationen kenne, ist bei Erb kaum zu hören.


    Mir fehlt bei Erb jedenfalls die Geschmeidigkeit und Flexibilität einer tenoralen Stimme, wie sich sie von Fritz Wunderlich oder von Chr. Prégardien kenne. Den Aspekt Wärme des Timbres lasse ich jetzt mal außen vor. Was diese beiden Liedinterpreten aber wesentlich besser können, das ist Legatogesang. Wenn ich auch nichts vom Singen verstehe, - so viel kann ich hören.


    Nichts für ungut. Ich hätte das nicht geschrieben, wenn ich nicht wirklich Probleme mit dem Lied-Sänger Karl Erb hätte.

    Lieber farinelli,


    es war das "heiße Weh", das mich zu dieser Feststellung gebracht hat, die Dich nun wiederum zu heftigem Widerspruch animierte.


    Gegen das "durstige Aufsaugen" habe ich gar nichts. Das ist, wie Du zu Recht feststellst, ein höchst konkreter Akt. Aber wenn man es mit diesem "heißen Weh" zusammenmontiert, dann reibt sich da was.


    Es ist so arg gefühlvoll an den Haaren herbeigezogen, dieses "h e i ße W e h" , und bleibt dennoch in der Abstraktion hängen, will sich mit dem konkreten Aufsaugen gar nicht vertragen.


    So etwas schmerzt mich, wenn ich es lese.. Manchmal gleitet Müller auch in der "Winterreise" noch in seine alten sprachlichen Untugenden ab. Aber wirklich nur manchmal!


    Es ist interessant, wie sehr man, was Sprachgefühl betrifft, aneinander vorbeilaufen kann.


    Andererseits macht so etwas den Dialog ja vielleicht erst gerade interessant.

    Ich habe mich auf das Thema "Müller - Schubert" hier eingelassen, weil es unmittelbar mit der Fragestellung dieses Threads zu tun hat. Meine These war (und ist): Die starke Expressivität und die Eindringlichkeit der sprachlichen Bilder bei Müllers Gedichten der "Winterreise" sind bei dem Menschen und Musiker Schubert auf eine unmittelbare Resonanz gestoßen.


    - Nach Schuberts eigenem Zeugnis wurde er als Mensch von diesen Gedichten und der Musik, die er daraus machte, "mehr angesprochen, als dieses je bei anderen Liedern der Fall war". In sein Tagebuch notierte er 1824: "Keiner, der den Schmerz des Andern, und keiner, der die Freude des Andern versteht." Es liegt nahe, dass Schubert sich als Mensch in diesem einsamen, in seiner Hoffnungslosigkeit auf sich selbst zurückgeworfenen Wanderer ("Flüchtling") der Winterreise wiederfand.


    Wenn er in "DER WEGWEISER" die beiden letzten Verse "Eine Straße muß ich gehen, / Die noch keiner gring zurück" drei Mal (!) in derselben Tonhöhe mehr sprechend als singend wiederholt, dann sagt das gerade genug.


    - Die erstaunlich karge, von prosaischer Schlichtheit geprägte lyrische Sprache Müllers korrespondierte mit Schuberts damaligem Willen, eine auf das Wesentliche beschränkte und konzentrierte musikalische Sprache zu sprechen.


    Mehrfach wurde in der Schubert-Literatur darauf hingewiesen, dass die Lieder der Winterreise von einer erstaunlich einfachen musikalischen Faktur sind. Ich glaube, und bin überzeugt:


    Dies ist der kompositorische Reflex auf die prosaisch einfache lyrische Sprache Müllers.


    Der Musikwissenschaftler Hans J. Fröhlich sprach sogar einmal mit Blick auf die "Winterreise"von "Schuberts genialen Unbeholfenheiten, mit denen er das kompositorische Material organisiert." Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Tonrepetitionen, die schlichten Dreiklangbrechungen, die Oktav-Tremoli und das Arbeiten mit Elementen der Monodie.


    Ich bitte, recht verstanden zu werden. Müllers lyrische Sprache wirkt, gemessen an dem, was er ansonsten als Dichter produzierte, überraschend kunstlos. Kunstlos im Sinne des Fehlens von emotional aufgeladenen und komplexen sprachlich-lyrischen Figuren. Man weiß nicht, ob er diese "Kunstlosigkeit", die ansonsten gar nicht sein Stil war, bei der "Winterreise" bewusst anstrebte, oder ob er einfach nur eine glückliche dichterische Hand hatte. Dier Sache bleibt rätselhaft.


    Unübersehbar ist aber, dass Schubert auf diese sprachliche Ungekünsteltheit mit einer entsprechend klar und ungekünstelt strukturierten Musik antwortet. Diese Musik Schuberts weist dieselbe Direktheit, dieselbe Expressivität und Deutlichkeit auf wie die Bilder Müllers. Es werden zum Beispiel kaum klangmalerische Mittel im Klavierpart eingesetzt. Und wenn doch, wie in "DIE WETTERFAHNE" oder "IM DORFE", dann sind es ganz einfache Mittel: Tremoli, Triller oder Akkordrepetitionen. In der Regel arbeitet Schubert aber, wenn er Gefühlsregungen musikalisch zum Ausdruck bringen will, "nur" mit Mitteln der Dynamik: Crescendi, Decrescendi, aber auch in die musikalische Faktur eingefügte Tempowechsel. Ein gutes Beispiel dafür ist das Lied "FRÜHLINGSTRAUM".


    Die Beispiele für diese relative Einfachheit der musikalischen Faktur der Lieder, die natürlich eine mit höchster kompositorischer Kunstfertigkeit hergestellte "Kunstlosigkeit" ist, ließen sich beliebig vermehren. Im Lied "IRRLICHT" zum Beispiel greift er das "Irregehen" und die damit sich verstärkende Stimmung der Hoffnungslosigkeit mit leeren Oktaven, Quart- und Quintklängen auf. Das ist ein kompositorisch "einfaches" Mittel, das aber mit höchster Kunstfertigkeit in diesem Lied eingesetzt wird.

    Vielen Dank, lieber hart, dass Du hier das Zitat von Heinrich Heine eingebracht hast. Ich habe mich davor gedrückt, weil meine Beiträge in der Regel ohnehin zu lang sind. Interessant ist hier, dass das spätromantische Fasziniertsein von der Einfachheit des Volksliedtons offensichtlich noch wirksam ist, - auch bei dem Lyriker, der ihm später mit Ironie an den Kragen geht.


    So anregend und bereichernd Deine gedanklichen Ausflüge über Shakespeare bis hin zu Homer auch sind, - und das meine ich ehrlich, lieber farinelli, - Du wirst Verständnis dafür haben, dass ich mich nicht weiter auf sie einlassen oder sie sogar fortsetzen möchte. Das täte ich zwar höchst gerne, befürchte aber, dass wir dann bald so weit vom Boden dieses Threads und des Forums allgemein abgehoben haben, dass wir ihn nicht einmal mehr in Gedanken küssen können ( um wenigstens ein klitzekleines Bisschen in der von Dir angesprochenen Thematik zu bleiben).


    Ich möchte aber noch einmal auf das Thema "Müller und Schubert" - eingehen, weil aus meiner Sicht noch etwas dazu zu ergänzen ist.

    Die Frage müsste lauten:
    WAS BEDEUTET EUCH DAS TAMINO-LIED-FORUM?
    Das habe ich nämlich jetzt gespürt!


    Dreieinhalb Tage lang lief ich mit dem bedrückenden Gedanken herum, dass es das Tamino-Liedforum nun auf absehbare Zeit - oder vielleicht sogar für immer? - nicht mehr gibt.


    Ein alter Mensch wie ich ist es gewohnt, seine Gedanken mit den Händen aufs Papier zu bringen. In ihm steckt ein tiefes Misstrauen gegen die virtuelle Internet-Welt. Nichts ist da wirklich zu greifen, und alles kann sich, wie eben gerade erlebt, in Nichts auflösen.
    Jetzt hatte es sich bestätigt.


    Vor dreieinhalb Tagen lag vor mir ein Manuskript, das ich gerade eintragen wollte. Aber der Ort dafür existierte nicht mehr.
    In Goethes Faust steht der berühmte Satz von dem Schwarz auf Weiß, das man getrost nach Hause tragen könne. Der ist da zwar ironisch gemeint, denn Mephisto ist ein ausgekochter Bösewicht.
    Aber jeder Faustleser weiß: Er spricht oft tiefe Wahrheiten über den Menschen und seine Welt aus.
    Hätte Goethe das auch so formuliert, wenn er die virtuellen Welten des Internet gekannt hätte?


    Tief aufgeatmet habe ich heute, als ich - ohne jede Hoffnung!! - das Tamino-Forum angeklickt hatte. Ich erwartete die mir schon sattsam bekannte und regelrecht schmerzende Meldung: "Konnte nicht gefunden werden!"


    Und siehe! Da war´s wieder!
    Ich habe sofort mit dem Schreiben begonnen. Mein Manuskript lag ja - Gott sei Dank! - noch im Papierkorb.

    Ich habe die Interpretationen von Hans Hotter (M. Raucheisen) und Gerhard Hüsch (Udo Müller) miteinander verglichen. Anschließend habe ich, um die Eigenart dieses Schubertgesangs der dreißiger und vierziger Jahre zu erfassen, mir die Interpretation von Matthias Goerne (A. Brendel) angehört und bin danach wieder zu den beiden anderen zurückgekehrt.


    Wenn man das Ergebnis auf einen Nenner bringen soll, dann kann man feststellen:


    Das Lied wurde damals stärker von einem Sich-Einfühlen in die Situation des Protagonisten und der daraus resultierenden Haltung gesungen, während man heute in der Interpretation ganz bewusst von Schuberts Musiksprache ausgeht und infolgedessen stärker auf angemessene gesangliche Binnendifferenzierung achtet.


    HANS HOTTER: Das Lied wird in einem ungewöhnlich langsamen Tempo gesungen. Schubert gibt "Etwas bewegt" vor. Mir scheint, dass Hotter es zu langsam singt. Ich vermute, dass er es aus der Haltung des Sich-Einfühlens in die Situation des Protagnisten tut. Diese Vermutung bestätigt sich spätestens am Ende seiner Interpretation. Auffallend ist, dass die Dynamik-Unterschiede, die in Schuberts Faktur angelegt sind, von Hotter weniger stark ausgeschöpft werden, als man das heute tut. Die zweite und die fünfte Strophe sollen "schnell" gesungen werden, deutlich von "Etwas bewegt" und "Langsam" abgesetzt. Hotter tut das auch, aber er hält sich zurück. Die ganze Interpretation wirkt im vergleich zu einer modernen recht verhalten und zurückgenommen. An der Artikulation ist freilich nichts auzusetzen, und an keiner Stelle lässt sich feststellen, das der Notentext nicht sorgfältig beachtet wäre.


    Wenn man die Interpretation der Schlussverse hört ("Wann grünt ihr Blätter am Fenster? ..."), dann wird deutlich, aus welcher Haltung heraus gesungen wird: Die Stimme wird nicht nur deutlich leiser, es wird sogar mehr und mehr die Substanz aus ihr herausgenommen. Bei "Arm" bekommt sie sogar einen leicht weinerlichen Ton.


    Hotter singt aus einer starken Identikation mit dem Protagonisten heraus. Er überträgt die daraus abgeleitete sängerische Haltung auf das ganze Lied. Die Folge ist, dass die sängerische Binnendifferenzierung weniger stark erfolgt, als dies vom Notentext her möglich wäre. Dort aber, wo vom Text her diese Grundhaltung deutlich angesprochen wird, also vor allem in der letzten Strophe, kommt sehr viel Gefühlsausdruck in den Gesang.


    GERHARD HÜSCH: Er wählt ein deutlich flotteres Tempo. Von Anfang an hat man den Eindruck einer gewissen Flüchtigkeit der Interpretation. Der Grad an Identifikation mit dem Protagonisten, wie er bei Hotter zu beobachten ist, ist hier nicht gegeben. Das hat Folgen: Überall dort, wo vom Text her gefühlvolle Interpretation gefordert wird, arbeitet Hüsch mit einem Pathos, das aufgesetzt wirkt. Ganz deutlich zu hören ist das bei der letzten Strophe: "Die Augen schließ ich wieder..." singt er mit einer Gefühligkeit, die man ihm nicht abnimmt, weil er sich das ganze Lied über nicht wirklich mit dem lyrischen Ich des Liedes identifiziert hat. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das viel zu starke Diminuendo am Schluss. Es wirkt aufgesetzt, nicht überzeugend.


    Meine Vermutung ist: Gerhard Hüsch singt das Lied noch sehr stark aus der gestischen Haltung der Opernbühne heraus. Man will der Musik dort, wo der Text es verlangt, Pathos und angemessenen Gefühlsausdruck verleihen. Hans Hotter hat sich von dieser sängerischen Grundhaltung deutlich weiter abgelöst und emanzipiert. Er singt mit stärkerer Orientierung am Notentext und gerät dadurch weniger leicht in Gefahr, mit aufgesetztem Pathos zu arbeiten. Die Art, wie er die letzte Strophe singt und seine Stimme am Ende beinahe erlöschen lässt, wirkt jedenfalls höchst eindrucksvoll.

    Das trifft zu, lieber hart:


    Die Liedinterpreten sangen damals "in einem anderen Umfeld", wie Du sagst. Ich würde es erweitern und sagen: Sie standen in einer anderen Tradition, - einer, die noch sehr von der Opernbühne geprägt war. Von dieser Tradition mussten sie sich erst einmal emanzipieren.


    Eine andere Bemerkung von Dir verweist mich auf das Problem einer solchen Fragestellung, wie sie diesem Thread zugrundeliegt: Du sagst: Ich finde das "ganz vorzüglich gesungen".


    Was willst Du damit sagen?


    Das soll keine Frage sein, in der ein Vorwurf steckt. Ich stoße in dieser Feststellung, die sicher aus voller Überzeugung kommt, auf eine Grundfrage:


    Wie soll man das einem anderen gegenüber begründen?


    Man müsste im Grunde selbst Sänger sein, um eine solche Begründung leisten zu können. Und da haben wir das Problem!

    Ich sehe mich angesprochen, lieber Alfred, und gleich mit der Anmerkung versehen, dass ich kein großer Freund von "Stimmvergleichen" sei. Das ist richtig, aber das heißt nicht, dass die Frage der gesanglichen Interpretation eines Liedes für mich kein wichtiges Thema wäre.


    Mein etwas distanziertes Verhältnis zu diesem Aspekt des Umgangs mit dem Lied hat sich einfach daraus ergeben, dass er sehr häufig zu stark in den Vordergrund tritt, - und zwar auf Kosten des Liedes selbst.


    Ich werde aber, eben weil ich mich angesprochen fühle, mir die Interpretationen der "Winterreise" einmal vornehmen, die in der von Dir angezeigten CD-Kassette zu finden sind. Die "Winterreise" deshalb, weil ich mich im Rahmen des zugehörigen Threads eben gerade wieder einmal mit ihr beschäftige.


    Damit das alles aber nicht so allgemein bleibt, was ich von mir gebe, konzentriere ich mich auf das Lied "Frühlingstraum". Das ist, wie ich denke, eines der Lieder aus der Winterreise, bei dem der Sänger ganz besonders gefordert ist.

    Wilhelm Müller hatte darunter zu leiden, dass er als Dichter sozusagen "zwischen den Stühlen saß", zwischen der letzten Generation der bedeutenden spätromantischen Dichtern und Heinrich Heine, der die Romantik sozusagen "liquidierte". Zu dessen ironischem Ton war Müller unfähig, also versuchte er es mit dem bei den Spätromantikern beliebten, aber inzwischen längst abgelebten Volksliedton. Er konnte nicht mit der Romantik brechen, fand aber auch nicht einen wirklich neuen lyrischen Stil.


    Seine Gedichte sind aus heutiger Sicht völlig unbedeutend. Es gibt aber eine große Ausnahme. Immer dann, wenn er als Lyriker in eine Rolle schlüpfen konnte, wie in der "Schönen Müllerin" und in der "Winterreise", wuchs er auf eine unbegreifliche Weise über sich hinaus.


    Die Gedichte der "Schönen Müllerin" sind übrigens unter einem anderen Aspekt zu beurteilen als die der "Winterreise". Sie sind aus dem spielerisch-ironischen Geist der Berliner Salons hervorgegangen, in denen Müller verkehrte und ein gern gesehener Gast war. Dichten war dort eine Art geistvoller Zeitvertreib.


    Ich gebe einmal ein repräsentatives Beispiel dafür, was Wilhelm Müller in seiner "normalen" Lyrik leistete:


    MORGENLIED


    Wer schlägt so rasch an die Fenster mir / Mit schwanken grünen Zweigen? / Der junge Morgenwind ist hier / Und will sich lustig zeigen.


    Heraus, heraus, du Menschensohn, / So ruft der kecke Geselle, / Es schwärmt von Frühlingswonnen schon / Vor deiner Kammerschwelle.


    Hörst du die Käfer summen nicht? / Hörst du das Glas nicht klirren, / Wenn sie, betäubt von Duft und Licht, / Hart an die Scheiben schwirren?


    Die Sonnenstrahlen stehlen sich / Behende durch Blätter und Ranken, / Und necken auf deinem Lager dich / Mit blendendem Schweben und Schwanken.


    Die Nachtigall ist heiser fast, / So lang hat sie gesungen, / Und weil du sie gehört nicht hast, / Ist sie vom Baum gesprungen.


    Da schlug ich mit dem leeren Zweig / An deine Fensterscheiben. / Heraus, heraus in des Frühlings Reich! / Es wird nicht lange mehr bleiben.


    Übrigens:


    Heinrich Heine hatte Wilhelm Müller zunächst als einen im Geist verwandten Dichter begrüßt. Es dauerte aber nicht lange, da ließ er ihn links liegen.

    Zwischen 1897 und 1933 hat Arnold Schönberg 42 Lieder mit Klavierbegleitung geschrieben.
    Was bewog ihn dazu, sich kompositorisch dem Kunstlied zu widmen?


    Man kommt der Antwort wohl am ehesten auf die Spur, wenn man ihn selbst zu diesem Thema hört. Über den kompositorischen Umgang mit lyrischen Texten sagt er:
    "Wobei sich ... zu meinem größten Erstaunen herausstellte, daß ich niemals dem Dichter voller gerecht geworden bin, als wenn ich, geführt von der ersten unmittelbaren Berührung mit dem Anfangsklang alles erriet, was diesem Anfangsklang eben offenbar mit Notwendigkeit folgen musste."


    Schönberg wird also offensichtlich dadurch zum Komponieren von Liedern motiviert, dass die Begegnung mit Lyrik bei ihm einen "Anfangsklang" auslöst.
    Das kann eigentlich nur so verstanden werden, dass sich der Gehalt eines Gedichts, seine dichterische Aussage also und all die emotionalen Regungen, die von ihr ausgelöst werden, für ihn in einer musikalischen Figur verdichtet, die in ihrem Klang und ihren melodischen Komponenten den Empfindungen adäquat ist, die das Gedicht ausgelöst hat.


    Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er anscheinend davon überzeugt ist, diesen "Anfangsklang" kompositorisch entfalten zu können, ohne dabei im einzelnen auf die spezifische lyrische Textstruktur achten zu müssen.
    Er sagt:
    "Wenn man einen Vers von einem Gedicht, einen Takt von einem Tonstück hört, ist man imstande, das Ganze zu erfassen."


    Das ist neu!
    Das ist eine andere Art und Weise, kompositorisch mit dem lyrischen Text umzugehen, als wir sie von den Komponisten der Romantik und der Spätromantik kennen.
    Der Komponist Dieter Schnebel hat den Komponierduktus Schönbergs als "gestisch" bezeichnet. Was wohl heißen soll: Der musikalische Einfall, die "Geste", hat Vorrang gegenüber der systematisch-satztechnischen Realisierung.
    Es kommt mehr auf die Dynamik der Klangentfaltung an als auf den Stellenwert der einzelnen Töne in ihrer Bindung an Textelemente.


    Schönbergs musikalischer Ausdruckswille löst sich radikal von allen Konventionen, und es ist daher nicht verwunderlich, dass seine Liedkompositionen spätestens mit seinem Opus 15, dem "Buch der hängenden Gärten", in der Atonalität angekommen sind.
    Die Entwicklung und den Weg dorthin kann man in den vorangehenden Liedern deutlich erkennen.


    Schönberg hat Texte ganz verschiedener Dichter vertont. Stefan George hat ihn besonders in Bann geschlagen, aber auch zu Richard Dehmel fühlte er sich hingezogen.
    An ihn schrieb er am 13.12.1912:
    "Ihre Gedichte haben auf meine musikalische Entwicklung entscheidenden Einfluß ausgeübt. Durch sie war ich zum ersten Mal genötigt, einen neuen Ton in der Lyrik zu suchen. Das heißt, ich fand ihn ungesucht, indem ich musikalisch widerspiegelte, was Ihre Verse in mir aufwühlten."


    Auch in diesem Brief wird wieder sein kompositorischer Ansatz bei der Liedkomposition deutlich.
    Was dabei herausgekommen ist, kann man sehr schön an dem Lied "ERWARTUNG" (Text: R. Dehmel) hören.
    Dieses Gedicht Dehmels atmet die gespenstische Atmosphäre einer nächtlichen Vision:
    "Aus dem meergrünen Teich neben der roten Villa
    Unter der toten Eiche scheint der Mond. ..."


    Die Vertonung durch Schönberg erfasst diese Atmosphäre meisterhaft.
    In zwei identischen Klangfiguren am Anfang zeichnet sich der "Anfangsklang" ab, von dem Schönberg spricht. Es ist ein Fünfklang: ES - A - D - Ges - Ces.
    Ihm folgt ein Es-Dur Dreiklang mit einer arabeskenhaften Figur in der Klavierbegleitung.
    Diese Klangfigur prägt das ganze Lied, sie wird in der zweiten Strophe aber modifiziert.
    Über ihr erhebt sich eine Singstimme, deren melodische Bewegung überaus fragil wirkt, als wolle sie den Klavierklängen entweichen und würde doch immer wieder von ihnen eingeholt und in sie einbezogen.


    Wenn man mit den Ohren, die auf Schubert und Schumann geprägt sind, dieses Lied zum ersten Mal hört, wirkt es sehr befremdlich.
    Man muss ganz neu "Lieder hören" lernen.
    Und das Erstaunliche ist: Hat man sich eingehört und dieses Lied mehrmals auf sich wirken lassen, dann entfaltet es eine ganz eigene Faszination.
    Die das Lied durchziehende und tragende arabeskenhafte Klangfigur will einen nicht mehr loslassen.

    Jetzt kann ich nicht anders, - nach dieser gescheiten Deutung des Liedes "Die Post" durch farinelli:


    Ich muss empfehlen, sich die Vertonung dieses Gedichts von Müller durch Conradin Kreutzer anzuhören.


    Die ist nicht "schlechter" als die Schuberts, aber sie ist in ihrer musikalischen Faktur gänzlich anders angelegt, weil es Kreutzer nicht um innerseelische Vorgänge geht (wie Schubert), sondern um die musikalische Beschreibung der Ankunft der Post und ihrer Bedeutung im menschlichen Leben ganz allgemein.


    Warum ich das muss?


    Weil meine Lieblingspredigt hier ist: Wie der Komponist ein Gedicht liest und welche Haltung er dazu einnimmt, das ist entscheidend für das, was als Lied "hinten herauskommt". Klingt banal, ich weiß, aber es ist immer wieder aufs Neue interessant, wenn ´man´s erlebt. So wie hier bei der "Post" von Schubert und Kreutzer.

    Lieber farinelli,


    Du hast recht: Das Pathos habe ich bei meinen Betrachtungen zu den Gedichten der Winterreise ausgeklammert, denn es ging mir zunächst einmal einfach nur um die lyrische Sprache. Ich wollte zeigen, dass ihr alle Elemente des lyrischen Kitschs abgehen. Was ich nicht sagen wollte, ist, dass Wilhelm Müller einer der großen deutschen Lyriker gewesen sei. Das war er natütlich nicht, vor allem wenn man sich seine Gedichte außerhalb der "Winterreise" und der "Schönen Müllerin" anschaut. Man wundert sich dann nämlich und möchte gar nicht glauben, dass die Winterreise-Gedichte wirklich von Müller stammen. Hier ist der gute Mann über sich selbst hinausgewachsen.


    Natürlich gibt es Pathos in diesen Gedichten. Gäbe es dieses nicht, ich bin sicher, Schubert hätte sich gar nicht von ihnen angesprochen gefühlt. Das von Dir erwähnte Gedicht WASSERFLUT weist ein hohes Maß von Pathos auf. Aber die einzige Stelle, bei der Müller die Sprache ein wenig in lyrische Gefühligkeit abgleitet, ist die Stelle: "saugen / Durstig auf das heiße Weh". Nur an dieser Stelle wirkt die Bildlichkeit abstrakt konstruiert. Überall sonst bleibt er in der für ihn typischen Weise konkret.


    Gerade dieses - aus meiner Sicht kontrollierte! - Pathos beflügelt ja Schubert zu einem Lied, das wie kaum ein anderes der "Winterreise" ( vielleicht noch der "Frühlingstraum" ) von Extremen geprägt ist: Ruhige, fast schleppende Bewegung zunächst, und dann ein so heftiger Aufschrei bei "Weh", dass man als Hörer erschrickt.


    Ich weiß nicht, ob es angebracht ist, mit den Mitteln der Logik an die Verse Müllers heranzugehen, wie Du es bei ERSTARRUNG tust. Bei diesem Wanderer wird der Realitatsbezug mehr und mehr von den Regungen des seelischen Innenraums überlagert. Den Regeln der Logik sind die bekanntlich nicht unterworfen.


    Der Schnee verdeckt für ihn alle Spuren früheren, noch glückserfüllten Lebens. Er will zu ihnen zurück, und da überkommt ihn die Vision, er könne mit seinem großen Schmerz und den Tränen, die dieser hervorbringt, den Schnee wegschmelzen. Dass darunter nichts mehr zu sehen ist vom früheren Leben, ist ein Gedanke, der in seinem Realitätsbezug einer andere Ebene angehört als der hier in diesem Gedicht. Auf dieser Ebene können sich Visionen frei entfalten und ungehindert von Realität und Logik ihren Lauf nehmen.

    Dieses Mal korrigiere ich mich gleich, bevor mir wieder einer einen Fehler um die Ohren haut:


    In "Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten", 2. Bändchen. Deßau 1824" habe ich eben gefunden:


    Es heißt bei Müller: "Barfuß auf dem Eise / Schwankt er hin und her" - Das "wankt" stammt von Schubert.


    Und: "Und die Hunde brummen / Um den alten Mann" - Schubert: "knurren" (was ich besser finde!)


    An meinem Urteil über die Gedichte Müllers ändert das freilich nichts.

    In der Literatur über Schuberts "Winterreise" konnte und kann man immer wieder einmal lesen, dieser Liederzyklus sei zwar unter musikalischen Gesichtspunkten ein singuläres Meisterwerk, aber die zugrundeliegenden Gedichte seien von geringer literarischer Qualität. Allein die Tatsache, dass bei Liedern die lyrischen Texte immer mehr oder weniger stark auf die musikalische Qualität ausstrahlen, hätte schon nachdenklich machen sollen. Noch nachdenklicher wird man aber, wenn man die Gedichte losgelöst von der Musik einmal etwas näher in Augenschein nimmt. Für den eingefleischten Winterreise-Hörer ist das zwar schwierig, aber es geht.


    Geht man einmal mit den Kriterien an die Gedichte heran, die Walther Killy 1961 in einem Buch über den literarischen Kitsch aufgelistet hat (und die allgemein anerkannt sind), dann stellt man fest: Kein einziges dieser Gedichte weist Elemente eines literarischen Kitschs auf. Es finden sich also keine Bilder, die übermäßig gefühlsgeladen sind und eine Kumulation reizauslösender Elemente enthalten. Dabei hätte es bei diesem Thema nahegelegen, in einer lyrischen Sprache zu schreiben, die von Gefühlen trieft und Larmoyanz und Selbstmitleid artikuliert.


    Für diejenigen, die nicht genau wissen, was ich mit literarischem Kitsch im Sinne Killys meine, ein Beispiel: "Der Mond goß silbernes Licht über dein Angesicht / wie auf Goldgrund ruhte dein schönes Haupt" (Otto Julius Bierbaum, übrigens von Richard Strauss vertont).


    Jedem, der ein wenig Leseerfahrung mit Gedichten hat und weiß, worin sich lyrische Sprache von der der Prosa unterscheidet, dem muss an den Gedichten der Winterreise etwas auffallen:


    Die Sprache der Gedichte ist von einer erstaunlichen, einer geradezu prosaischen Trockenheit und Direktheit. Es ist, als hätte da einer mit kindlichen Augen in die Welt geblickt und mit einfachen Bildern beschrieben, was er gesehen und erlebt hat.


    Hierfür beliebig herausgegriffene BEISPIELE: Schon der erste Vers ist ein solches: "Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh´ich wieder aus." Punktum! Banaler und kürzer angebunden kann einer ein Ereignis nicht formulieren, das er als Schicksalsschlag empfindet, der ihm seelisch das Genick bricht.


    Ein weiteres Beipiel: "Der Wind spielt mit der Wetterfahne / Auf meines schönen Liebchens Haus." Mir fallen bei der distanzierten Kühle dieses Bildes sofort die - allerdings noch trockener klingenden! - Verse aus Hölderlins Gedicht "Hälfte des Lebens" ein: "Sprachlos und kalt, im Winde / Klirren die Fahnen" ( heißt: Wetterfahnen).


    Und: "Liegst kalt und unbeweglich / Im Sande ausgestreckt." Das ist es, was ich mit dem kindlich-naiven Blick und der zugehörigen Sprache meine. Wilhelm Müller macht kein großes sprachlich-llyrisches Brimborium um das Erlebnis eines zugefrorenen Flusses, der früher einmal lebendiges Strömen verkörperte, an dem dieser Wanderer an besseren Tagen seines Lebens teilhaben durfte. So etwas kann ja allerlei Gefühlsaufwallungen auslösen. Nein, er lässt sein lyrisches Ich den Fluss wie ein im Sand ausgestrecktes unbewegliches Wesen sehen. Mehr erlaubt er sich nicht an sprachlichem Aufwand.


    Und noch ein Beispiel: "Barfuß auf dem Eise schwankt er hin und her". Man muss dieses Bild einmal auf sich wirken lassen, damit man es in seiner Eindringlichkeit erfasst. Keine Spur von sprachlich- sentimentalem Kitsch. Ein Bild, das in der Sachlichkeit seines Entwurfs regelrecht betroffen macht, weil da eine Ungeheuerlichkeit beschrieben wird, etwas, das als Vorgang nicht mehr"geheuer" ist. Die beiden ersten Strophen weisen die Qualitäten eines Gedichts aus der Zeit des Expressionismus auf: "Und die Hunde knurren um den alten Mann".


    Es ist nicht nötig, weitere Beispiele für diese auffallend prosaische lyrische Sprache Wilhelm Müllers aufzulisten. Dem Kenner der Winterreise werden sofort weitere in den Sinn kommen. Von schlechter Lyrik kann jedenfalls bei der Winterreise keine Rede sein. Mir ist unbegreiflich, wie man zu einem solchen Urteil kommen konnte.

    Einige Reaktionen auf die letzten Beiträge (ungeordnet, spontan):


    Du hast völlig recht, lieber Wolfram: Ich fühlte mich keine Spur von gekränkt, sondern habe mich darüber gefreut, dass Du, sozusagen in Sekundenschnelle, mit einem Beitrag reagiert hast, den ich keineswegs aus purer Höflichkeit, sondern aus guten, sachlichen Gründen als "hilfreich" bezeichnet habe.


    Was Du zum "Schwanengesang" anmerkst, lieber Johannes Roehl, ist zutreffend: Er ist eine "Kreation des Verlegers", und deshalb fühlen sich viele Interpreten im Recht, wenn sie bei Konzerten die "Taubenpost" weglassen. Die ist aus rein geschäftlichen Gründen hintendrangeklebt und macht sich dort nicht gut.


    Gefreut habe ich mich über Deinen Hinweis auf Adornos Ausführungen zu op.39 (ich hatte selbst schon einmal darauf aufmerksam gemacht). Sie finden sich als Anhang (er nennt das "Coda") in seinem Aufsatz mit dem Titel "Zum Gedächtnis Eichendorffs" (ursprünglich erschienen in den "Akzenten" 1957, später veröffentlicht in "Noten zur Literatur I", Suhrkamp 1969).
    Ich darf den Anfang zitieren, weil er für uns hier interessant ist:


    "Schumanns Liederkreis nach Eichendorff-Gedichten op.39 ist einer der großen lyrischen Zyklen der Musik. Diese bilden, seit Schuberts Müllerliedern und der Winterreise bis zu den Georgeliedern op.15 von Schönberg, eine eigentümliche Form, welche die Gefahr allen Liedwesens, die Verniedlichung der Musik in genrehafte Kleinformate, bannt durch Konstruktion: das Ganze steigt aus dem Zusammenhang miniaturhafter Elemente auf." (S.134/35)


    Die letzte Feststellung ist hier besonders interessant!
    (Schönbergs Georgelieder könnte man übrigens hier mal besprechen!)


    Opus 39 ist keineswegs ein "ähnlich loser Zyklus", wie Du, nach eigener Aussage, ihn lange Zeit gesehen hattest.
    Es gibt zum inneren Zussamenhang einige wichtige Untersuchungen, u.a. von Hans Joachim Moser und K. H. Wörner, mit deren Ergebnissen ich aber hier jetzt nicht langweilen möchte.
    Es nützt auch herzlich wenig für das Verständnis dieses Zyklus, wenn man von diesen inneren strukturellen Zusammenhängen von op.39 weiß.
    Ich höre, wie mir hart spontan zustimmt!


    Womit ich bei ihm wäre, bei hart nämlich.
    Ich finde Deinen Vergleich mit dem Streit zwischen Newton und Goethe amüsant, lieber hart, weiß freilich nicht, auf was Du da jetzt ganz genau anspielst.
    Meinst Du etwa, ich würde im Umgang mit dem Kunstlied die Position Newtons vertreten?
    Du lägst völlig daneben damit! Dieser Mann hatte, so genial er auch war, mit Musik "nichts am Hut".
    Da ich diesbezüglich nicht ganz sicher war, habe ich eben noch einmal einen flüchtigen Blick in die "Philosophiae naturalis principia mathematica" geworfen. Nichts über Musik dort zu finden!


    Wären wir hier nicht in einem Forum zum Thema Kunstlied würde ich dich anhalten, mir mal zu erklären, worin aus heutiger Sicht die spezifische Leistung von Goethes Farbenlehre besteht.
    Ich habe dieses Werk als Schüler von vorne bis hinten gelesen, weil mein Physiklehrer mir ein Referat darüber angeboten hatte (so ging es in einem Gymnasium 1958 zu!).
    Ich fand dieses Werk damals beeindruckend und weiß natürlich auch, dass Goethe es für sein wichtigstes Werk hielt.
    Dennoch! Goethes Farbenlehre ist als Bestandteil seiner ganzheitlich-organischen Weltsicht bedeutsam, aus naturwissenschaftlicher Sicht aber nur von historischem Interesse.
    (Es gibt übrigens eine Ausstellung in Frankfurt dazu, wo man die "Experimente" Goethes nachvollziehen kann. Die ist großartig gemacht. Ich weiß allerdings nicht, ob sie noch läuft).

    Ein unbedachtes und vorschnelles Urteil ist immer von Übel, auch wenn es in einem Internet-Forum geäußert wird. Vielleicht dort sogar ganz besonders, denn dieses Medium scheint dergleichen ja besonders leicht zu machen.


    In meinem ersten Beitrag zu diesem Thread meinte ich, Kreutzers Lieder seien von einer "leeren Schönheit".
    Das war so ein unbedachtes und vorschnelles Urteil. Vorschnell war es, weil ich zwar einige Lieder von Conradin Kreutzer kannte, aber längst nicht so viele, wie das jetzt der Fall ist.


    Mit dem Wort "leer" meinte ich damals eine Schönheit, die nicht vom Text der Lieder getragen wird, sondern zum Selbstzweck geworden ist, sozusagen um sich selbst kreist.
    Solche Lieder gibt es tatsächlich bei Kreutzer, aber es gibt auch viele andere, auf die dieses Verdikt überhaupt nicht zutrifft, sondern die Schönheit der Melodie Substanz hat und in gar keiner Weise "leer" wirkt.
    Ich hatte ein solches Lied ja schon gepriesen, das mich tatsächlich begeistert hat: "Wohin".


    Ich versuche, ein paar Höreindrücke zu vermitteln, die selbstverständlich sehr subjektiv sind:
    Das Lied "SCHEIDEN UND MEIDEN" (Text: Uhland) klingt ein wenig arienhaft. Man hört Mozart im Hintergrund und denkt, der hätte das besser gemacht. Es gehört eigentlich auf die Opernbühne und hat auch einen ganz bühnengemäßen Schluss: Die letzte Zeile wird wiederholt und dann ein ordentlicher Punkt gesetzt.
    Ähnlich arienhaft wirkt "SELIGER TOD" (Text Uhland). Das ist schöner, aber letztlich leerer Wohklang. Typisch, dass die Gesangsmelodie von Melismen fast überladen ist.


    "RUHETAL" (Text Uhland) ist als Kunstlied hingegen ein großer Wurf. Keine Spur von arienhaftem Firlefanz. Mit den "goldenen Wolkenbergen" steigt auch die melodische Linie an und senkt sich dann wieder zu den "Tränen" hin ab. Wäre die Klavierbegleitung nicht so schlicht, das Lied hätte großes Schubertsches Niveau.
    Typisch für das Kreutzersche Lied ist aber, dass bei "Abendstrahl", weil dieses Wort es verlangt, eine barocke Kunstfigur in die melodische Linie eingeflochten wird (hierzu unten noch eine Anmerkung).


    "IN DER FERNE" (Text Uhland): Eine überaus hübsche, volksliedhaft eingängige Melodie. Das ist ein echtes Lied, ohne jegliche Arienanklänge. Man möchte die Laute nehmen und mitsingen.
    "MORGENLIED" (Text Uhland): Ein vollkommen gelungenes Kunstlied. Der Text ist zu Musik geworden. Äußert kunstvoll die dramatischen Akzente in der Klavierbegleitung.
    "NACHTREISE" (Text Uhland): Hier zeigt sich Kreutzers Sensibilität für lyrische Sprache. "Die kalten Winde tosen" - dieser Vers hat ihn hörbar musikalisch in Bann geschlagen. Die innere Dramatik dieser "Nachtreise" ist kompositorisch in vollem Umfang eingefangen. Hie und da könnte man sogar meinen, er habe etwas "zu dick" aufgetragen.


    Ich möchte das nicht fortsetzen, sondern nur noch eine zusammenfassende Wertung anfügen.
    Einige Stunden habe ich jetzt Conradin Kreutzer gehört. Ich habe keine Minute davon bereut. Dass mein Urteil "leere Schönheit" in der ursprünglich gemeinten Allgemeingültigkeit nicht haltbar ist, dürfte deutlich geworden sein.
    Beim Hören der Lieder habe ich nicht nur Freude empfunden, sondern ich glaube, dabei auch etwas über die Entwicklung des Kunstlieds gelernt zu haben.


    Kreutzer stand ganz offensichtlich noch in einer Tradition, nach der die Musik im Lied ausschließlich eine denText tragende und mit ihren Mitteln illustrierende Funktion hat. Daher die vielen Melismen und Anklänge an die Arie in seinen Liedern.
    Er scheint sich aber immer mehr davon emanzipiert zu haben und in vielen Liedern dem ganz nahe gekomen zu sein, was wir in Schubert dann vollendet vorfinden: Das Kunstlied als Synthese von lyrischem Text und Musik in Form einer komponierten musikalischen Struktur.


    Dann wäre, um den Gedanken weiterzuspinnen, das Schubertsche Lied, musikhistorisch gesehen, das Ergebnis eines radikalen Emanzipationsprozesses.

    Es gibt ja von vielen Komponisten Lieder, deren Größe und innere Schönheit sich einem erst nach einiger Zeit erschließt. Und dann gibt es andere, bei denen zündet es sofort.
    Ein solches Lied ist "WOHIN" von Conradin Kreutzer.
    Es ist ein Lied zum Liebgewinnen, schon beim ersten Hören.


    WOHIN (Text von H.W. Stieglitz)
    Bächlein, wohin eilest du?
    Dem Strome zu!
    Strom! Wohin entrollest du?
    Dem Meere zu!
    Meer, wohin aufsteigest du?
    Dem Himmel zu!
    und der Himmel sendet liebend
    Wolkentränen mir zu.


    Herz, mein Herz, du Bach im Frieden,
    du in Aufruhr Strom und Meer!
    ach, wohin drängt deine Woge
    gar so heiß und bang und schwer.


    Sieh, dir öffnet seine Arme
    ja des Weltalls Riesendom!
    und es wölbt sich Liebe blickend
    über dir der Himmelsdom!


    Schon das präludierende Klavier, Akkorde mit eingelagerten Trillern dazwischen, zieht einen in Bann. Die Gesangsmelodie, die sich dann entfaltet, kann man ohne jegliche Einschränkung als einschmeichelnd lieblich bezeichnen. Sie wird von akkordischen, aber eine eigene Melodie tragenden Klavierklängen umspielt.
    Sehr eindrucksvoll ist die musikalische Gestaltung der Verse, die in der ersten Strophe eine herausgehobene Rolle spielen und jeweils auf "zu" enden.


    Das Lied ist durchkomponiert. Bemerkenswert sein melodischer und akkordischer Reichtum. Dort, wo es um die "Woge des drängenden Herzens" geht, werden sogar leicht dramatische Töne angeschlagen, die dann allerdings in großen melodischen Bögen am Ende wieder ausklingen.


    Das Lied findet sich als erstes auf der Orfeo-Cd mit Christian Elsner und Eugen Wangler (Piano), die Alfred oben vorgestellt hat.
    Die Interpretation ist makellos.
    Im ersten Augenblick hätte ich mir bei Christian Elsner gerne noch etwas mehr Schmelz in der Stimme gewünscht, habe dann aber sehr schnell begriffen, dass das ein wenig zuviel des Guten wäre.


    Über meine Hörerfahrungen in Sachen Conradin Kreutzer werde ich - in Zusammenfassung natürlich - noch berichten.
    Ich kann aber jetzt schon sagen:
    Ein Sich-Einhören in eine der von Alfred angezeigten CDs ist unbedingt empfehlenswert.

    Ich habe den Begriff "Chiffre" verwendet, und jetzt - ein wenig spät! - denke ich, dass ich denjenigen, die sich mit Lyrik vielleicht nicht so auskennen, kurz erläutern muss, was unter diesem Begriff zu verstehen ist.


    Bitte das nicht als Belehrung auffassen! Ich fühle mich als jemand, der eine Schuld einzulösen hat.


    In der Lyrik versteht man unter Chiffre ein Wort oder ein Bild, das im Zusammenhang des Textes gleichsam zeichenartig über sich hinaus in einen allgemeinen Bereich weist.


    Hier in der Winterreise wäre das zum Beispiel das Bild des zugefrorenen Flusses, bei dem das fließende Wasser von einer harten, starren Rinde überdeckt ist, deren Anblick den Wanderer erschrecken lässt.


    Dieses Bild weist über sich hinaus auf die seelische Eiseskälte, in der das lyrische Ich sich bewegt und die ihm wie der Vorbote des Todes vorkommt. Die vielen Einzelszenen, die in den Liedern der Winterreise geschildert werden, haben für mich Chiffrencharakter in diesem Sinne.


    Man muss das nicht so sehen. Ich muss zugeben, dass ich hier einen Begriff aus der modernen Lyrik auf die Gedichte des Wilhelm Müller übertragen habe. Allerdings glaube ich, dass dies zulässig ist.


    Ich werde auf die Eigenart der Lyrik Wilhelm Müllers in der "Winterreise" im Thread "Sprache und Musik in der Lyrik" näher eingehen. Da gehört dieses Thema nämlich hin.

    Man kann, wie ich schon darstellte, das Lied "Das Wirtshaus" als Höhepunkt in der Reihe der existentiellen Grenzerfahrungen sehen, aus denen der Liederzyklus in seiner Gesamtheit besteht. Es steht in der Tonart F-Dur und ist, als einziges der Lieder, mit dem Tempoangabe "Sehr langsam" versehen.


    Das Klaviervorspiel, ruhige Legato-Klänge, setzt im Pianissimo ein. Es löst beim Hörer die Assoziation einer Prozession aus. Der Musikwissenschaftler Georgiades stieß bei seinen Analysen auf Entsprechungen zwischen der Gesangsmelodie dieses Liedes und dem "Kyrie" aus dem gregorianischen Requiem. Er stellt fest: "Die F-Tonart ist hier nicht das uns gewohnte Dur. Sie spiegelt das Abgeklärte, ... Friedliche , ...Ergeben-Weihevolle."


    Das Erstaunliche an diesem Lied ist u.a., dass der Grundton im Vordersatz nicht vorkommt. Darin unterscheidet es sich von den meisten anderen Schubertliedern. Dreiklangbrechungen fehlen, und die Terz dominiert. All diese Merkmale der musikalischen Faktur lassen die melodische Linie feierlich wirken, wie schwebend.


    Die Akkorde im Klaviersatz tragen die Singstimme in einem ernst wirkenden Pavanen-Rhythmus. Über dem ganzen Lied liegt eine Müdigkeit, die wohl in diesem Zusammenspiel zwischen Singstimme und Klavier ihre Wurzeln hat. Die Singstimme bleibt über weite Passagen im Pianissimo. Erst bei der Schlusszeile macht Schubert zwei Crescendo-Angaben und greift damit den Gehalt des letzten Verses auf. Der melismenartige hohe Bogen in der melodischen Lieder über "nur weiter" macht dieses letzte Sich-Aufbäumen des Wanderers gegen das endgültige Niedersinken hörbar.


    Schubert greift damit den Grundton auf, der auch die Verse Müllers prägt. Sie sind ungewöhnlich lang: Ein sechshebiger Jambus, mit einer Zäsur in der Mitte, erweckt den Eindruck eines ruhigen, wenn nicht sogar matten Dahinschreitens, dem weitgehend die Kraft fehlen zu scheint.


    Diese Eigenart des lyrischen Textes hat Schubert in seiner Musik voll aufgegriffen. Das geschieht nicht nur mit dem choralartigen akkordischen Satz, sondern auch mit häufigen Abweichungen von der Haupttonart, die Dur-Klänge immer wieder in den Mollbereich zu drücken scheinen.