Beiträge von Helmut Hofmann

    Es ist schon erstaunlich, was man hier im Forum zuweilen lesen kann. Manches verschlägt einem die Sprache, manches ist schlicht unzutreffend und manches wirkt wie ein äußerst heftiger Stoß, mal gefälligst nachzudenken.
    Gut so!


    Ein paar Anmerkungen und Fragen zum Beitrag farinellis:
    Goethe hat seine Meinung zu Schubert nicht geändert. Es gibt dafür keinerlei Belege in seinen Briefen und den sonstigen Quellen, über die wir verfügen.
    Beim Vortrag des "Erkönig" durch Schröder-Devrient war er, da ist der Quellenbeleg eindeutig, von dem beeindruckt, was diese große Sängerin konnte (und da war er bekanntlich nicht der einzige).
    Wir erfahren, dass er sie danach auf die Stirn küsste und sagte, so(!) vorgetragen, gestalte sich das ganze zu einem sichtbaren Bilde. Mehr sagte er nicht.
    Goethe ist seiner Auffassung über das durchkomponierte Lied sein Leben lang treu geblieben.
    1803 schreibt er an Wilhelm von Humboldt:
    "Er (gemeint ist Zelter) trifft den Charakter eines solchen, in gleichen Strophen wiederkehrenden Ganzen trefflich, so dass es in jedem einzelnen Teile wieder gefühlet wird, da wo andere, durch ein sogenanntes Durchkomponieren, den Eindruck des Ganzen durch vordringende Einzelheiten zerstören."


    Dass Schuberts Freunde nur den "Lindenbaum" goutiert hätten, ist in dieser Formulierung schlicht falsch. Das gilt nur(!!) für die Lieder der Winterreise. Es gibt gar nicht so viel Platz hier, dass ich alle überlieferten Belege für die Hochschätzung der Lieder Schuberts durch seine Freunde abdrucken könnte.
    Nur eine Anmerkung dazu.
    Josef von Spaun schreibt in seinen Erinnerungen, dass Schubert "im Lied unübertroffen" dastehe. Und er fährt fort: "In dieser Art von Kompositionen hat er seinen Ruhm erreicht, den er mit niemandem teilt."


    Zu der Feststellung, Schubert habe aus "Gretchen am Spinnrad" "ein Stück purer Hysterie gemacht" kann ich nichts sagen. Das hat mir die Sprache verschlagen.
    Vielleicht, wenn man sich schon nicht die Mühe macht, die Komposition genauzu studieren, ein Tip:
    Das Lied nicht in der Interpretation von Elisabeth Schwarzkopf hören , sondern in der von Kathleen Ferrier.
    Von Hysterie ist da nichts zu spüren. Nur sehr viel von einer Erschütterung durch eine Liebe, die wie das Ungeheuerliche schlechthin in die kleine, geordnete Lebenswelt eines einfachen Mädchens hereinbricht.
    Ich kenne insgesamt sieben Vertonungen dieses Gedichts. Die von Schubert steht in einsamer Höhe über allen!


    Frage:
    Was ist eigentlich der "Schubert-Stil"?
    Daran rätsele ich schon so lange herum, wie ich Schubertlieder höre.
    Und was heißt "selbstverständlich" in diesem Zusammenhang?
    Ich sitze eben gerade an einem Vergleich von Schuberts "Vertonung" von Goethes "Nähe des Geliebten" mit der von Conradin Kreutzer. Wenn mir einer mal sagen könnte, was in diesem Fall der "Schubert-Stil" ist, würde ich ihm vor Dankbarkeit um den Hals fallen. Ich weiß es nämlich nicht.
    Ich weiß nur:
    Schuberts "Nähe des Geliebten" geht mir unter die Haut. Kreutzers "Nähe des Geliebten" ist ein äußerst kunstvolles Lied, das man sogar schön findet. Aber es geht mir eben nicht unter die Haut.
    Bin ich etwa einer von den völlig verkorksten Lied-Hörern, die, weil Schubert ihnen "selbstverständlich" geworden ist, die Qualität der Lieder anderer Komponisten nicht mehr objektiv einschätzen können?


    Was - und dies als letzte Frage - ist "die tödlich besonnene Note" der Prosa Goethes?
    Der Roman "Die Wahlverwandtschaften", um nur ein einziges Beispiel zu nehmen, wird von Walter Benjamin(!) als "beispielhaft für eine moderne Kunst" eingeschätzt, die sich in wachsendem Maße von der subjektiven Erlebnisaussprache entfernt."
    Goethes Sprache ist in ihrer kontrollierten "Besonnenheit" die Basis für die Großartigkeit dieses Werkes.


    Farinellis Beitrag hat mich verblüfft und in Staunen versetzt, obwohl er ja nur aus wenigen Bemerkungen besteht.
    Ich habe versucht, wortreich (und vielleicht ein wenig zu spontan) dazu Stellung zu nehmen.
    Schubert als Wegbereiter Wagners? Wieder so eine wundersame Feststellung. Im Augenblick ahne ich nicht, wieso er das sein könnte. Ich denke aber nach!
    Versprochen, lieber farinelli!

    Lieber hart,


    diesen Satz kenne ich schon von Dir: "Wir werden dies nicht erfahren können". Und ich reagiere immer in gleicher Weise darauf: Wir können eine ganze Menge erfahren. Wir müssen nur suchen!


    Du glaubt es nicht? Pass auf!


    Schubert nahm die Komposition von"Jägers Abendlied" im Juni 1815 zum ersten Mal in Angriff. Diese Fassung registriert Deutsch unter der Nummer 215. Schubert kannte die Fassung von Reichardt, fand sie aber offensichtlich zu lakonisch. Anders ist nicht zu erklären, dass er zwei der Strophen Goethes zu einer musikalischen Einheit zusammenfasste. Als er damit fertig war, stolperte er über ein Problem: Die erste und die dritte Strophe stießen nun unmittelbar aufeinander. Sie sind aber in ihrem Inhalt und dem sprachlichen Ton so sehr verschieden, dass sie nach seinem musikalischen Empfinden die Einheit des Liedes störten.


    Schubert legte daraufhin das Gedicht erst einmal beiseite und nahm es sich - vermutlich ein Jahr später - noch einmal vor. Jetzt entschloss er sich, aus den oben genannten Gründen, die Komposition als Strophenlied anzulegen und die dritte Strophe einfach rauszuwerfen, eben weil sie den musikalischen Gehalt der Komposition störte ( wie ich zu zeigen versucht habe). Das ist übrigens ein schöner Beleg dafür, wie sorgfältig und überlegt Schubert bei seiner Liedkomposition umging.


    Deine Frage, welche der beiden Fassungen das bessere Lied sei, hat Schubert selbst beantwortet. Du hörst es aber auch selber. Allein die Simplizität der Klavierbegleitung in den Einleitungstakten (schlichte Akkorde im Vergleich zu den aufsteigende Sechzehnteln in der rechten Hand bei der zweiten Fassung) ist ein eindeutiges Indiz für die kompositorisch höhere Qualität der Fassung D 368. Schubert wusste genau, was er tat, als er die Erstfassung verwarf.


    Die zweite Fassung wurde dann 5 Jahre später, zusammen mit dem "Heidenröslein", "Schäfers Klagelied" und "Meeres Stille" veröffentlicht.


    Vielen Dank für Deine Nachfrage! Ich ging übrigens von der zweiten Fassung aus (D dreihundertachtundsechzig - musste ich ausschreiben, weil bei der Acht ein gelbes Wackelgesicht erscheint).


    Aber wenn ich schon Gelegenheit habe, noch einmal auf dieses Lied einzugehen (das übrigens neben Schubert und Reichardt auch von Zelter, Tomaschek und Weber vertont wurde):


    Goethe hatte 1814 Eduard Genast folgende Anweisung gegeben: "Der erste Satz sowie der dritte müssen markig, mit einer Art Wildheit vorgetragen werden, der zweite und vierte weicher, denn da tritt eine andere Empfindung ein."


    Auch diese Anweisung des Dichterfürsten ignorierte Schubert souverän. Er hatte eben tatsächlich seine ganz eigenen Vorstellungen davon, wie dieses Gedicht in Musik zu verwandeln ist (sehr zum vermutlichen Ärger Goethes).

    Die Frage lautete: Warum geht Schubert in dieser eigensinnigen Form mit Goethes Gedicht "Jägers Abendlied" um? Kan man Gründe für die Haltung finden, die er hier - und generell - dem lyrischen Text gegenüber einnimmt? Das ist ja schließlich hier kein Einzelfall. Schubert greift häufig in die sprachliche Struktur der Gedichte ein, wenn auch selten so rabiat wie hier. In der Regel begnügt er sich mit dem Ersetzen einzelner Wörter und der Wiederholung von ganzen oder halben Verszeilen.


    Das Problem ist: Schubert hat sich zu dieser Frage nicht direkt geäußert. Man muss also aus der gegebenen Quellenlage schlussfolgern. Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung von D. Fischer-Dieskau zu dem frühen Schubertlied "Klaglied" (D 23), Text von Johann Friedrich Rochlitz: "Da, wo es ihm (Schubert) nützlich erscheint, scheut er sich nicht, unbedenklich zu ändern, einzelne Zeilen und Teile zu wiederholen, die im Text nicht direkt aufeinanderfolgen." (Franz Schubert und seine Lieder, S.44). Fischer-Dieskau führt diesen Sachverhalt darauf zurück, dass Schubert damals "ein noch Lernender" war. Ich hingegen denke, dass hier schon, ganz am Anfang der Liedkomposition, bei Schubert die Haltung zutage tritt, die er gegenerell dem lyrischen Text gegenüber einnimmt, bis ans Ende.


    Es ist auffällig: Schuberts Haltung als Komponist ist die einer ausgeprägten Sprachfixiertheit. Darin unterschiedet er sich fundamental etwa von Reichardt und Zelter und den anderen Lied-Komponisten vor ihm und den zeitgenössischen.


    Für Zelter wie für Reichardt war die Musik, die sie als als Liedkomponisten schufen, im Grunde das Gehäuse für den lyrischen Text. Sie diente dazu, das Gedicht in musikalischer Umrahmung und Einhüllung zu präsentieren. Bezeichnend ist das Lob Goethes: Er findet Zelters Lieder deshalb so großartig, weil sie "den Hörer in die Stimmung versetzen, welche das Gedicht angibt" (Brief vom 2.5.1820). Diese Funktion erfüllen Reichardts, Zelters und Zumsteegs Lieder auch tatsächlich. Das dürfte am Beispiel von Reichardts "Jägers Abendlied" deutlich geworden sein.


    Schubert will etwas gänzlich anderes: Er will mit Sprache Musik komponieren. Man kann das gut an einem frühen Lied wie "Hagars Klage" nachweisen, wenn man Zumsteegs Vertonung neben Schuberts Komposition stellt. Bei Schubert ist die Orientierung am Text unübersehbar ausgeprägter: Es wird deutlich mehr deklamiert und skandiert, weil die Sprache in die Musik eingegangen ist.


    Vermutlich hängt die ausgeprägte Sprachfixierung mit dem Aufwachsen Schuberts in der Tradition der Wiener Klassik zusammen. Manfred Wagner hat darauf hingewiesen, dass dort das Wort immer der Szene untergeordnet sei. Auf Schuberts Liedkomposition übertragen, wäre dann "Szene" der musikalische Entwurf, die Melodie und das kompositorische Konzept, das die Begegnung mit einem lyrischen Text bei ihm hervorbringt. Ein beliebiges Beispiel: Die Zeile "Ach, daß die Luft so ruhig, ach, daß die Welt so licht", in dem Lied "Einsamkeit" aus der Winterreise. Das Tremolo im Klavier erzeugt eine bohrende Dramatik. Sie ist das Ergebnis eines szenischen Denkens bei der Rezeption dieser Gedichtzeile!


    Ich möchte eine These aufstellen: Der Eigensinn Schuberts im Umgang mit dem lyrischen Text, in dem er deutlich über Schumann und erst recht über Wolf hinausgeht, entspringt unmittelbar seinem Willen, Sprache in Musik zu verwandeln, Sprachmusik zu komponieren.


    Es ist doch bemerkenswert. Man sollte eigentlich erwarten, dass ein Komponist, der in die Textvorlage eingreift, sich danach - beim Komponieren - willkürlich über den Text hinwegsetzt, dessen sprachliche Struktur nur nach Belieben berücksichtigt. Das genau tut aber Schubert nicht. Das Gegenteil ist der Fall: Die musikalische Faktur ist bei ihm grundsätzlich eine minutiöse Spiegelung der Textstruktur. Ich darf erinnern an die ersten Takte von "Jägers Abendlied": Die innere Erregung des Jägers ist in den Noten ablesbar. Bei Schubert! Bei Reichardt nicht!

    Lieber zweiterbass,


    ich schreibe so viel (zu viel?), dass mir offensichtlich auch unsinnige Formulierungen unterlaufen. Natürlich muss in dieser von Dir zitierten Stelle das Wort "Musik" durch "Sprache" ersetzt werden.


    Aber jetzt zu Deinem Vorschlag. Er ist für mich voll akzeptabel. Natürlich erfolgt die Kompositiion auf der Basis des Textverständnisses des jeweiligen Komponisten. Das Problem ist aber doch, dass jeder Komponist mit einer jeweils ganz spezifischen Haltung an den Textr herangeht. Diese Haltung dem Text gegenüber ist der entscheidende Faktor, der darüber entscheidet, wie das Lied am Ende aussieht. Ein lyrischer Text ist ein polyfunktionales semantisches Gebilde. Heißt: Es gibt eine gewisse Bandbreite der Interpretation. Und da liegt der Hund begraben. Was ein Komponist aus einem lyrischen Text herausliest, das kann etwas ganz anderes sein als das, was einer seiner Vorgänger oder auch seiner Zeitgenossen darin als musikalisch ausdrückenswert empfindet.


    Darf ich Dich noch ein wenig vertrösten? Vielleicht wird´s ja im weiteren Verlauf deutlich, was ich meine.


    Du kannst es aber auch hier schon sehen: Reichardt hat Jägers Abendlied anders gelesen als Schubert. Er ging als Komponist mit einer anderen Haltúng an das Gedicht heran. Heraus kamen zwei völlig verschiedene Lieder. Das genau möchte ich zeigen!

    Da ist wohl wirklich etwas schief gelaufen, - unter dem Gesichtspunkt "Überschneidungen".


    Nehmen wir´s positiv.


    Unser neues Mitglied nele hat gleich einen recht guten Eindruck davon bekommen, wie lebhaft es hier im Forum zugeht. Da will einer einfach nur mal eine Frage stellen, damit er hier in einen Dialog eintreten kann, und glaubt dann, der andere wittere darin gleich eine Infragestellung des Konservativismus, sowohl als Lebenshaltung als auch - möglicherweise - als kompositorische Grundeinstellung, nur, weil er nicht weiß, dass der seinen Beitrag noch gar nicht gelesen hat.. Lustig, nicht wahr?


    Dabei wollte ich nele wirklich nur ganz einfach nur ermuntern, sofort hier voll einzusteigen. Es war ein indirektes Willkommen und Ausdruck der Freude darüber, dass wir hier in neues Mitglied haben.


    Es ist wirklich was los, hier im Forum. Verschiedentlicher Ärger eingeschlossen!

    Ich komme da nicht ganz mit!


    Bezieht sich die Feststellung von hart, die mit einem emphatischen "Ja" eingeleitet wird, etwa auf meine Frage, ob Strauss als konservativer Lied-Komponist gesehen werden kann?


    Wer hat denn gesagt, dass das Wort "konservativ" "fast zu einem Schimpfwort geworden" sei? Ich stufe mich selbst als einen konservativen Menschen ein und würde mich hüten, diesen Begriff zu disqualifizieren


    Das war eine völlig neutrale Frage. Eine Frage übrigens, die als Anregung gemeint war, hier in diesem Thread mal ein wenig über Richard Strauss als Liedkomponisten nachzudenken.


    Mir ist unbegreiflich, wie man eine solche Anregung so verstehen und auslegen kann, wie hart das anscheinend tut.


    Ist man als Mensch, der zum kritischen Nachdenken über Musik anregt, hier schon verdächtig?


    Es sieht so aus, als hätte ich einen Fehler gemacht, als ich meinte, zu diesem Thread einen Beitrag leisten zu können.




    Übrigens, liebe Helene, als mir einfiel, dass ich vergessen hatte, Dich hier zu begrüßen, - war ich doch der erste, der hier auf Deinen Beitrag reagierte - ,da war das Antwortsymbol unten nicht zu sehen.


    Wollte sagen: Ich hatte das nicht wirklich vergessen!

    Du kannst, liebe Helene (oder nele?), nach Deinem ersten Beitrag hier im Forum gleich weitermachen.


    Was heißt denn: "Mein Musikverständnis ist sehr konservativ"?


    Bezieht sich das auf die Komponisten, deren Lieder Du hörst? Oder vielleicht auf die Sänger und die ganz spezifische Art, wie sie Lieder interpretieren?


    Mindestens mich würde das sehr interessieren.


    Man könnte hier ja mal darüber diskutieren, ob Richard Strauss im Vergleich zu seinen Zeitgenossen ein konservativer Liedkomponist ist. Auf diese Idee hat mich Dein erster Beitrag hier eben gebracht.


    Übrigens: Die Aufnahme der "Vier letzten Lieder" mit Elisabeth Schwarzkopf ist für mich auch das Nonplusultra. Sie hat damals nicht ohne Grund einen "Grand Prix du Disque" bekommen. Was aber fasziniert Dich denn so an den Liedern selbst?

    Völlig richtig, lieber hart,


    Lieder ohne ihre Sänger sind Noten ohne Leben. Es ist aber nicht ganz so, wie Du vielleicht meinst. Ich jedenfalls kann, wenn ich in die Noten etwa der Winterreise blicke, die Lieder hören, und zwar ganz und gar. Ich gebe aber gerne zu, dass ich vermutlich nur deshalb so viel höre, weil ich die Lieder viele Male gesungen erlebt habe, live und vom Tonträger.


    Wie wichtig - auch für mich - Sänger sind, das habe ich einmal im Thread "Hugo Wolf" gezeigt. Ich habe erlebt, dass ein Lied, das ich schon viele Male gehört hatte, erst in der Interpretation durch Elisabeth Schwarzkopf in seiner ganzen Großartigkeit vor mir auftauchte.


    Hier, in diesem Fall, habe ich Dir gestanden, dass ich das Lied "Zwei Särger" besonders in der Interpretation von Hermann Prey schätze. Ich könnte Dir jede Menge Beispiele liefern, bei denen ich ein bestimmtes Lied nur von einem ganz bestimmten Sänger als richtig und treffend und eingängig interpretiert empfinde.


    Wenigstens ein Beispiel: Den "Graf Eberstein" von Loewe (ein Balladen-Meisterwerk!) höre ich nicht(!) mit Fischer-Dieskau, sondern mit Hermann Prey. Der bringt den fröhlich schmetternden Ton, der in dieser Ballade herrscht, viel besser hin.


    Mein Anliegen, hier im Forum, ist, um das einmal ganz klar zu formulieren, dass das Lied auch einmal aus einer anderen Perspektive als aus der seiner Interpretation gesehen wird, nämlich als ein musikalisches Kunstwerk, das aus einer höchst kunstvoll gestalteten Synthese von Sprache und Musik besteht. Das ist das für mich eigentlich Faszinierende daran. Dass diese Synthese auch meistens wunderbar klingt, vor allem wenn ein begnadeter Sänger oder eine Sängerin sie zum Leben erweckt, das nehme ich dankbar an und freue mich darüber genauso wie Du.


    Am Beispiel Friedrich Silcher kann man doch sehen, was das Herangehen an das Lied aus dieser Perspektive bringen kann, und warum es seine ganz eigene Berechtigung hat. Silcher gilt allgemein als wenig bedeutender Liedkomponist. Als solcher steht er ganz im Schatten seiner Chormusik-Schöpfungen. Schaut man aber einmal etwas genauer hin und geht auf die musikalische Struktur seiner Lieder ein, dann erkennt man, dass deren Einfachheit gewollt ist.


    Silcher sah seine Lebensaufgabe in der Sammlung und Bearbeitung von Volksliedern. Warum? Weil er ihnen einen enormen Bildungswert zutraute. Er glaubte, dass diese Lieder - und auch seine eigenen! - dem einfachen, noch relativ wenig gebildeten Menschen einen Zugang zur Welt des Liedes verschaffen könnten. Die Begegnung mit dem Lied hat für ihn eine große seelische Bereicherung und eine Weitung des Bildungshorizontes zur Folge. Im Glauben an die Ursprünglichkeit, Echtheit und Unverbildetheit aller Elemente volkstümlicher Kultur war er ein später Romantiker.


    Sogar einen geistigen Bildungswert schrieb er seinen Liedern zu. Man kann ihn beispielsweise bei dem Lied "Zwei Särger" sogar benennen: Die Welt der Kaiser und ihrer Reiche ist - trotz all ihrer Pracht - vergänglich. Der tote Sänger aber, der neben dem mächtigen Kaiser liegt in der Gruft liegt, lebt in seinen Liedern weiter. Was lernt der Hörer und Sänger aus diesem Lied? Das, was wir wissen! Unsere Lieder sind in ihrer Schönheit ein großer und unvergänglicher Schatz!


    Übrigens: Die Auseinandersetzung um das Thema "Kunstlied" wollte ich nicht. Ich habe sie nicht "losgetreten" und war völlig verblüfft, dass daraus ein eigener Thread gemacht wurde. Solche Grundsatz-Debatten gehören eigentlich in ein musikwissenschaftliches Seminar. Wenn Forianer sich davon gelangweilt fühlen, dann kann ich sie voll verstehen. Ich konnte der offensichtlich notwendigen Klärung der Sache aber nicht ausweichen.


    Es ist für mich sekundär, ob man den Gegenstand dieses Forums hier "Kunstlied" oder "Sololied" nennt. Wichtig ist für mich nur, dass uns allen bewusst ist, dass mit Schubert und den anderen Komponisten der Romantik und Spätromantik das Sololied einen ganz neuen Charakter bekommt, den man mit dem Begriff "romantisches Kunstlied" begrifflich zu erfassen versucht hat. Viel wichtiger aber dieser Begriff ist das Wissen um das Wesen dessen, was er benennt.


    Und das, lieber hart, gehört nach meiner Überzeugung schon in dieses Forum. Oder sagen wir so: Ich hätte es gerne!

    Lieber zweiterbass,


    ich freue mich, hier im Forum von Dir wieder zu lesen. Was Schuberts "Pometheus" betrifft, so habe ich nicht die Auffassung vertreten, dass dies eine misslungene Komposition sei. Sie ist noch nicht einmal eine von den weniger gelungenen, die es von Schubert ja auch gibt. Sie ist ein großartiges Lied. Reichardt und Hugo Wolf haben dieses Gedicht Goethes ja auch vertont. Für mich ist Schuberts Lied aber dasjenige, das dem Gedicht noch am ehesten gerecht wird.


    Was ich meinte, war dieses: Ich habe Zweifel daran, ob man den Geist des Sturm und Drang, den dieses Gedicht bis in seine innersten sprachlichen Fasern atmet, wirklich in Musik setzen kann. Gleichgültig, wie groß das kompositorische Genie auch immer sein möge!

    Ich hatte in meinem Beitrag zu Schubert die These vertreten, Schubert wolle Musik nicht "vertonen", sondern er wolle lyrische Sprache in Musik verwandeln. Diese These habe ich auch in dem Thread "Schuberts Ausnahmerang" vertreten. Ich stütze mich dabei auf die Untersuchungen von Thr. Georgiades, ohne dass ich allerdings dessen Auffassung übernehmen möchte, dass dies sozusagen ein "Alleinstellungsmerkmal" Schuberts sei. Jedenfalls nicht nicht in der Radikalität, mit der er sie vertritt.


    Alles, was ich schreibe sind zwar meine eigenen Gedanken, diese sind aber natürlich Ausfluss all dessen, was ich zum Thema Sololied gelesen habe. Ich kann nicht immer genau angeben, auf welchen Autor ich mich bei diesen oder jenen Ausführungen stütze. Das würde meine Beiträge, die ohnehin für einige hartes Brot sein dürften, noch schwerer lesbar machen. Einige Autoren möchte ich aber nennen, weil ich von deren Publikationen besonders viel gelernt habe: D. Fischer-Dieskau, Thr. Georgiades, Walther Dürr, Hans Gal und Arnold Feil.


    Die These von der Verwandlung von Sprache in Musik, - ich nannte das Ergebnis "Musiksprache" - kann ich hier nicht noch einmal ausführlich konkretsieren. Der Thread "Schuberts Ausnahmerang" wird ja glücklicherweise wieder restituiert. In Einzelfällen werde ich aber noch nähere Ausführungen zu dieser These machen.

    Alfred weist auf die Nähe zu Loewe hin, die besonders in dem Lied "Zwei Särge" zu hören sei. Das sehe ich ganz genauso. Der epische "Erzählton", der in den ersten Strophen angeschlagen wird, ist dem von Loewes Balladen sehr nahe. Und bei der letzten Strophe habe ich mich sofort an die Loeweschen Zauberklänge in "Der Nöck" erinnert. Die sind zwar in ihrer musikalischen Struktur ein wenig anders angelegt, aber die Wirkung ist doch sehr ähnlich wie hier in den "Zwei Särgen".


    Der Texte von Justinus Kerner hat ein klassisches Thema zum Gegenstand: Die Vergänglichkeit aller glänzenden weltlichen Macht und die Ewigkeit und Unvergänglichkeit von Kunst und Musik


    Den Vergleich zwischen Kreutzer und Silcher finde ich auch interessant. Ich werde versuchen, darauf noch einmal einzugehen. Schon jetzt aber ist klar: Das Notenbild bei Kreutzer ist ungleich komplexer als das der Lieder von Silcher. Was noch gar nichts heißt, sondern nur eine vordergründige Feststellung ist.

    In meinem ersten Beitrag zum Thema "Friedrich Silcher" sprach ich ganz bewusst von den "zwei Ebenen", auf denen man sich Friedrich Silcher nähern kann. Im Hintergrund hatte ich dabei einen Gedanken, den ich jetzt gleichsam als Bekenntnis wiedergebe.


    Im Thread "Schumanns Kerner-Lieder op.35" (wird wiederhergestellt), hatte ich Liedfreund hart gestanden, dass ich in Silchers Lied "Zwei Särge" regelrecht verliebt sei. Ich wisse zwar, dass dieses Lied - mit den kompositorischen Maßstäben eines Schubert oder Schumann gemessen - keine große und bedeutende Komposition sei, aber ich könne nicht anders: Es sei für mich ein regelrechter Ohrwurm.


    Justinus Kerner: ZWEI SÄRGE


    Zwei Särge einsam stehen // in des alten Domes Hut, // König Ottmar liegt in dem einen, // in dem anderen der Sänger ruht.


    Der König saß einst mächtig // hoch auf der Väter Thron, // ihm liegt das Schwert in der Rechten, // und auf dem Haupt die Kron.


    Doch neben dem stolzen König, // da liegt der Sänger traut, // man noch in seinen Händen // die fromme Harfe schaut.


    Die Burgen rings zerfallen, // Schlachtruf tönt durch das Land, // das Schwert, das regt sich nimmer, // da in des Königs Hand.


    Blüten und milde Lüfte // wehen das Tal entlang, // des Sängers Harfe tönet // in ewigem Gesang.


    Die Stimme des Sängers steigt zu Beginn des Liedes aus tiefen Lagen auf, von schweren Klängen im Klavier begleitet. Sie ist weiträumig angelegt, greift in großem Bogen aus und findet erst am Ende der Strophe den Ruhepunkt. Das ist typisch für den volksliedhaften Stil von Silchers Liedkomposition. Sie entfaltet sich in harmonisch einfachem Raum, zwischen Tonika, Dominante und Subdominante also, und endet in der Kadenz auf der Tonika. Der Sänger skandiert dem Metrum entsprechend. Auch das zeigt die Orientierung Silchers am Volksliedton.


    Aber, und das ist wichtig, er beachtet durchaus die semantische Ebene des Textes. Auch daran kann man den bewusst verfahrenden Komponisten erkennen, der eben kein Volkslied schaffen will. Bei "hoch auf der Väter Thron" steigt die melodische Linie auf ihren Gipfel, um danach wieder abzusinken. Wenn der "Sänger" auftaucht (dritte Strophe) nimmt die Melodie zum ersten Mal einen deutlich lieblichen Ton an. Dann aber wiederum, wenn es um "Burgen" und "Schlachtruf" geht, wird die Harmonik dumpf und schwer. So weit, so gut!


    Mit der letzten Strophe ereignet sich ein Wunder. Da geschieht das, was mir dieses Lied fast unwiderstehlich macht. Mit den Worten "Blüten und milde Lüfte" entfaltet sich eine Melodie von zauberhaftem Wohklang. Die Stimme des Sängers wird von harfenartigen Klavierklängen umschmeichelt und bewegt sich aus tieferen Lagen in einem einzigen großen Bogen hin zu dem Wort "tönet", um sich darauf wieder behutsam in die Sphären des "ewigen Gesangs" herabzubewegen.


    Diese Strophe wird noch einmal in variierter Forrm wiederholt. Aber Silcher hätte sie ohne weiteres noch ein zweites Mal wiederholen können. Man kann von dieser lieblichen Musik einfach nicht genug bekommen.

    Zunächst eine Vorbemerkung, die sich nach dem Beitrag von kurzstueckmeister als erforderlich gezeigt hat:


    Der Begriff "Interpretation" wird hier im germanistisch definierten Sinne verwendet. Interpretation bedeutet bei einem dichterischen Text, hier also einem Gedicht, die bewusste und methodisch regulierte Auslegung des jeweiligen dichterischen Gehalts. Die methodische Regulierung bezieht sich dabei auf die Beachtung der Textvorlage in allen ihren sprachlich-strukturellen und semantischen Ebenen. Sie sorgt dafür, dass die Anbindung der Auslegung an den Text gewahrt bleibt und keine Willkür herrscht. Die Partikel "bewusst" ist hier eingefügt, weil es auch eine mehr oder weniger unbewusste Interpretation gibt: Sie ereignet sich bei jedem Lesen eines dichterischen Textes, bei seiner einfachen Rezeption durch den "normalen" Leser also.


    Und damit kann ich zu dem Punkt kommen, um den es hier geht: Den Vergleich zwischen Reichardt und Schubert. Reichardt verhält sich als Komponist wie ein ganz normaler Leser des Goethe-Gedichts. Er interpretiert dieses Gedicht natürlich auch, und zwar auf die Weise, dass er es liest und sich überlegt, wie man diesen Text in Musik setzen kann. Aber er bleibt dabei ganz nahe am Text und liest diesen mit nur wenig bewusster Interpretation.


    Das zeigt seine Komposition. Die Hörnerklänge in der melodischen Linie seines Liedes lassen erkennen: Reichardt sieht hier den Jäger, der sich durch sein Revier bewegt und dabei an seine ferne Geliebte denkt. Dass es in diesem Jäger "still" und "wild" zugleich zugeht, interessiert ihn nicht, sonst müsste sich das in seiner Komposition musikalisch niederschlagen.


    In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu wissen, was Reichardt über das Komponieren von Liedern selbst sagt:


    "Meine Melodien entstehen jederzeit aus wiederholtem Lesen des Gedichts von selbst, ohne daß ich darnach suche, und alles was ich weiter daran thue, ist dieses, daß ich sie so lang mit kleinen Abänderungen wiederhole, und sie nicht eh´aufschreibe, als bis ich fühle und erkenne, daß der grammatische, logische, pathetische und musikalische Akzent so gut miteinander verbunden sind, daß die Melodie richtig und angenehm singt, und das nicht nur für eine Strophe, sondern für alle." (zitiert nach H.W. Schwab, Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied, Regensburg 1965).


    Man sieht: Reichardt liest das Gedicht zwar als Komponist, aber er liest es mit den Augen des normalen, nicht mit denen des bewusst interpretierenden Lesers. Bitte in diesem Zusammenhang die Wendung "ohne dass ich darnach suche" beachten! Er liest so lange, bis ihm die zu dem Gedicht passende Melodie einfällt. Ist das geschehen, hat er, was er möchte. Mehr als dieses will er nicht!


    Schubert geht im Umgang mit Goethes Gedicht weit über Reichardt hinaus. Er interpretiert nicht nur in viel größerem Umfang, als Reichardt dies tut, er interpretiert sogar exzessiv. Als Germanist würde ich ihm auf die Finger klopfen. Warum?


    In der dritten Strophe von Goethes Gedicht, die Schubert souverän übergeht, wird eine wichtige Aussage über das Wesen des Menschen gemacht: Der Mensch, dessen ganzer Lebenshinhalt aus aktivem "Durchstreifen" der Welt besteht, bezahlt dies mit Entfremdung von sich selbst (und damit auch von seiner Liebe) und muss darüber "Unmut" und "Verdruß" empfinden. Dieser gehaltliche Aspekt des Gedichts interessiert Schubert aber überhaupt nicht!


    Was Schubert mit diesem Gedicht tut, musste Goethe zu Recht empören. Er verkürzt als interpretierender Leser und als komponierender Musiker ohne Hemmungen die Aussage des lyrischen Textes. Er gibt ihr, wenn man so will, einen einseitigen Akzent.


    Ich hätte also oben präziser formulieren und sagen müssen: Schubert interpretiert das Gedicht "Jägers Abendlied" exzessiv, gleichsam über die Stränge schlagend, und eben nicht, wie sich das eigentlich aus Achtung vor dem Text gehört, "methodisch reguliert" (s. meine obige Definition!). Er tut dem Werk des Dichters Gewalt an. Er "achtet" es nicht, wie Reichardt das tut.


    Die Frage ist: Warum verhält er sich so? Dazu braucht es einen neuen Anlauf.

    Ich habe gejubelt, als ich diesen Thread hier vorgefunden habe!


    Immer schon, solange ich jetzt hier bin, bedauerte ich, dass die ganze Formenfülle der Weiterentwicklung des Kunstliedes im zwanzigsten Jahrhundert hier im Forum zu kurz kommt. Ich habe aber nicht gewagt, dies öffentlich zu äußern.
    Nun denn, es ist nicht mehr nötig!


    Jetzt also gibt es hier Raum, einmal auf die Impulse einzugehen, die zum Beispiel die Neue Wiener Schule dem Kunstlied gegeben hat.
    Richard Strauss in allen Ehren, aber von der musikalischen Struktur seiner Lieder her ist das nichts wirklich Innovatives.
    Wir müssen doch nicht immer bei den Namen bleiben, die hier schon sattsam abgehandelt wurden.


    Schönberg ist neu, Alban Berg und Anton von Webern sind neu, Othmar Schoeck ist neu - und über Namen wie Hermann Reutter, Aribert Reimann und Werner Henze wäre auch noch zu reden.


    In dem Thread findet sich ja ein "etc.".
    Und das ist gut so!

    Mit Conradin Kreutzer, auf den Alfred hier dankenswerterweise aufmerksam macht, hatte ich immer schon ein Problem:
    Viele seiner Lieder hörten sich hübsch an, aber sie sagten mir einfach nichts. Kreutzer war für mich von nur musikhistorischem Interesse (frühromantisches Lied).


    Da ich nun aber jeden Thread hier ernst nehme (was mir zuweilen ein gewisse Atemlosigkeit beschert), habe ich mich noch einmal auf einige Lieder Kreutzers ernsthaft und konzentriert eingelassen. Mir saß Alfreds Bemerkung im Nacken, Kreutzer sei auch einer von denen, die Schuberts sozusagen auf dem Gewissen habe, was seinen Bekanntheitsgrad anbelangt.


    Es hat nichts gebracht.
    Ich höre schöne, eingängige, ja zuweilen einschmeichelnde Melodien, aber sie sagen mir nach wie vor nichts.
    Niemals käme ich auf die Idee, eines von den Liedern mehrfach zu hören, weil es mich beeindruckt hat und ich das Bedürfnis verspürte, der substantiellen Quelle dieses Eindrucks hörend nachzugehen.


    Eines der bekannteren Lieder Kreutzers ist "DIE KAPELLE" ( Text: Uhland).
    In der "Allgemeinen musikalischen Zeitung" (Leipzig) heißt es dazu 1826:
    "Wer sänge nicht, und oftmals, mit wahrem Genuss ... die Kapelle, wo die weislich gewählte Begleitung so wesentlich und schön mitwirkt."
    Nun denn! Und was höre ich?
    Eine volksliedhaft schlichte, recht eingängige Melodie und eine Klavierbegleitung, die aus einfachen gebrochenen Akkorden besteht. Sie ist so simpel, dass ich sie problemlos auf meiner Gitarre nachspielen könnte.
    Uhlands "FRÜHLINGSGLAUBE" nimmt Kreutzer wie ein Libretto für eine Arie. Er macht sogar eine daraus, mit eingelagerten rezitativischen Passagen. Die Schlichtheit der Verse Uhlands wird aus meiner Sicht regelrecht pervertiert.


    Alfred vermutet, die Lieder Kreutzers könnten ein wenig unter ihrer "stereotypen Schönheit" leiden.
    Als ich das las, ging mir ein Licht auf. Ich würde Alfreds Formulierung jedoch deutlich zuspitzen und abwandeln, - möglicherweise nicht mehr in seinem Sinne.
    Ich würde von einer sterilen Schönheit sprechen.
    Die melodische Schönheit vieler Kreutzer-Lieder wirkt auf mich auf merkwürdige Weise leer.


    Vielleicht fehlt mir da ja eine Antenne. Möglicherweise bin ich ein von Schubert, Schumann und Wolf völlig verdorbener "Problemhörer". Einer, der nur die richtig "schweren" Kunstlieder mag, Lieder, die eine möglichst geballte Ladung an genial-kompositorischer Substanz aufweisen.


    Das muss ja nicht gleich die Winterreise sein!
    Das Wunderliche ist ja doch - und jetzt stelle ich vielleicht wieder eine Problemfrage auf das Forum - dass eine volksliedhaft-schlichte Melodie bei Schubert meistens nicht im Kreutzerschen Sinne "leer" ist.
    Sie hat uns auch heute noch etwas zu sagen.
    Was ist das aber?
    Und woher kommt das?


    Wer möchte einmal die Probe machen?
    Bitte einmal nacheinander hören:
    a) Kreutzers Lied "DIE KAPELLE",
    b) Schuberts themenverwandtes Lied "DAS ZÜGENGLÖCKLEIN"


    Ich warte gespannt und lasse mich liebend gerne eines Besseren belehren

    Über den Einwand von kurzstueckmeister freue ich mich. Ich werde auf den Begriff "Interpretation", so wie ich ihn hier verwende, noch ganz genau eingehen, und zwar im übernächsten Beitrag, wenn es um die Auswertung des Liedvergleichs "Jägers Abendlied" geht. Aber schon jetzt, bei der Beschreibung von Schuberts Kompositionsweise, dürfte vieles deutlich werden. Schubert interpretiert Goethes Gedicht musikalisch. Und das kann man zeigen.


    Schubert geht mit einer ganz anderen Grundhaltung an Goethes Lyrik heran. Er will sie nicht vertonen, sondern er will sie in Musik verwandeln, in Sprachmusik. Wie stellt sich das in diesem Falle dar?


    Ins Auge fällt schon beim ersten Draufblick: Es fehlt eine Strophe, und zwar die dritte. Das ist ein massiver Eingriff in Goethes Gedicht, den Reichardt sich nicht erlaubt hätte. Bei Schubert bleibt nämlich völlig unklar, warum der Jäger die Visionen hat, die Goethe in so meisterhafter lyrischer Sprache gestaltet. Die erste Vermutung: Schubert geht es - im Gegensatz zu Reichardt - gar nicht so sehr um den Jäger und seine reale Situation (das "Durchstreifen" seiner Jägerwelt), - ihm geht es um sie seelischen Empfindungen dieses Mannes. Sollte sich das in der musikalischen Struktur seines Liedes bestätigen, dann hätte er das Gedicht Goethes auf seine eigene Weise gelesen. Er hätte es interpretiert, indem er einen ganz bestimmten Aspekt des lyrischen Textes in den Vordergrund gestellt und einen anderen (die reale Jägersituation) vernachlässigt hätte.


    Diese Vermutung lässt sich mittels einer Analyse der musikalischen Struktur ganz einwandfrei belegen. Das Lied ist überschrieben: "Sehr langsam, leise". Vom semantischen Gehalt des lyrischen Textes her, den Schubert in den Mittelpunkt seiner Komposition stellen will - der Jäger schleicht still dahin und erfährt eine visionäre Begegnung mit seiner Geliebten - ist das die genau angemessene Tempoangabe. Nun heißt es aber auch: Er schleicht nicht nur "still", sondern auch "wild". Ein Blick in die Noten, - und man sieht, wie Schubert auf Goethes Text musikalisch reagiert.


    Sofort wird klar: Hier liegt eine ungleich komplexere Komposition vor als die Reichardts. Ist dort die musikalische Faktur recht einfach, so ist sie hier ein kompliziertes Gefüge von Notenbewegungen im Bereich von Singstimme und Klavier. Zwar deklamiert die Singstimme anfänglich so wie bei Reichardt. Aber im Klavier herrscht eine Unruhe von aufsteigenden Sechzehnteln. Warum? Der Jäger schleicht eben nicht nur still, - es ist eine Unruhe in ihm, eine seelische Erregnung ("wild" ! ).


    Das ist typischer Schubert! Die Klavierstimme begleitet nicht einfach (wei bei Reichardt!), sie wird hier zum Gegenspieler der Singstimme. Diese will eigentlich ruhig voranschreiten (Text: "schleich ich"), aber das unruhige Klavier zwingt ihr Melismen ab: Über "ich" und über "und wild". Es herrscht - unübersehbar und unüberhörbar! - eine leichte Erregung in der Musik, die die beiden ersten Verse umfasst.


    Dann aber ändert sich alles. Und auch das ist wieder ganz vom Text her begründet. Die Vision des "lieben Bildes" erfordert eine gänzlich andere musikalische Struktur: Die Antithese von Singstimme und Klavier, die die Musik der ersten beiden Verse prägte, ist verschwunden. Die melodische Linie der Singstimme wird von Akkorden getragen und schmeichelnd umspielt. Die rechte Hand des Klaviers wirkt fast wie eine Verdoppelung der Singstimme.


    Spätestens hier ist klar: Schubert ist an den realen Lebensumständen des Jägers gar nicht interessiert. Ihm geht es um seelische Regungen. Das seelische Innenleben dieses Mannes rückt in seiner Komposition ganz in den Vordergrund. Die dritte Strophe braucht er nicht. Sie würde in ihrem semantischen Gehalt auch gar nicht zu der lieblichen Melodie passen, mit der die Vision der Geliebten musikalisch gestaltet wird. Diese Vision spiegelt sich - musikstrukturell gesehen - in den Portato-Figuren des Klaviers und der Bewegung der melodischen Linie in hohen Lagen.


    Damit ist das Wichtigste gesagt. Eine weitere Analyse scheint mir nicht erforderlich, zumal es sich hier ja um ein Stropenhlied handelt. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Schubert mit einer ganz anderen Haltung an das Gedicht Goethes herangeht: Er will es in Sprachmusik verwandeln. Dazu liest er es auf seine Weise: Er setzt als Komponist einen unüberhörbaren Akzent auf die seelischen Regungen, die in diesem Gedicht sprachlich gestaltet sind. Das heißt: Der Komponist Schubert interpretiert die textliche Vorlage für seine Musik auf seine ganz indivduelle Weise.

    Lieber kurzstueckmeister,


    ich weiß nicht, warum Du so sehr darauf bestehst, alles, was irgendwie mit der Kombination von Sprache und Musik zu tun hat, über einen Kamm zu scheren. Ich verstehe es beim besten Willen nicht. Ich meine immer, wir sollten uns um eine angemessene Differenzierung bemühen, um die verschiedenen Formen, in denen uns dsie musikalische Einheit von Sprache und Musik begegnet, sauber auseinanderzuhalten. Das ist doch eigentllich eine Selbstverständlichkeit.


    Eine Bach-Kantate ist natürlich eine Einheit von Sprache und Musik. Aber sie ist kein Lied. Ein Volkslied ist eine Einheit von Sprache und Musik, aber sie unterscheidet sich von einem Kunst-Lied. Ein Lied von Silcher ist ein solches, ein Kunst-Lied nämlich. Aber es atmet Volksliedcharakter. Diesen kann man an bestimmten musikalisch-strukturellen Eigenheiten festmachen. Also suchen wir die und versuchen auf diese Weise die Eigenheit eines Silcher-Liedes zu verstehen. Ein Lied von Schubert unterscheidet sich in seinen strukturellen Merkmalen deutlich von einem Silcher-Lied. Also versuchen wir, diesen Unterschied zu erkennen und zu benennen. Und ein Lied von Schumann hat auch seine ganz spezifischen Eigenarten, zum Beispiel in der Art und Weise, wie in der musikalischen Faktur die Chromatik und das Zusammenspiel von Singstimme und Klavier organisiert wird.


    Die Welt des Kunstliedes ist bunt, vielfältig und höchst komplex. Wir hier haben die Aufgabe, das alles fein säuberlich auseinanderzuhalten. Nur so können wir es verstehen.


    Verstehen macht Spaß. Über einen Kamm scheren macht überhaupt keinen!

    Reichardt soll Goethe "geachtet" haben, sagt Manfred Wagner, Schubert higegen habe den Dichter "benutzt", ohne Rücksicht auf seinen großen Namen. Er sei mit Goethes Gedichten umgegangen wie mit denen eines Johann Gabriel Seidl oder eines Johann Mayrhofer.


    Wie schlägt sich dies, wenn es denn stimmen sollte, in den Liedern von Reichardt und Schubert nieder? Man muss das an einem Beispiel untersuchen. Ich wähle Goethes Gedicht "JÄGERS ABENDLIED" dafür, weil ich es in der Fassung von Schubert überaus liebe.


    Jägers Abendlied


    Im Felde schleich´ich still und wild // Gespannt mein Feuerrohr, // Da schwebt so licht dein liebes Bild, // Dein süßes Bild mir vor.


    Du wandelst jetzt wohl still und mild // Durch Feld und liebes Thal, // Und, ach, mein schnell verrauschend Bild, // Stellt sich dir´s nicht einmal?


    Des Menschen, der die Welt durchstreift // Voll Unmut und Verdruß, // Nach Osten und nach Westen schweift, // Weil er dich lassen muß.


    Mir ist es, denk´ich nur an dich, // Als in den Mond zu sehn; // Ein stiller Friede kommt auf mich, // Weiß nicht, wie mir geschehn.


    Die vier Stropen sind metrisch völlig gleich gebaut: Der erste und der dritte Vers besteht jeweils aus vierhebigen Jamben (unbetont - betont x X ), der zweite und der vierte aus dreihebigen. Regelmäßiger geht es eigentlich rhythmisch und metrisch nicht.


    Und jetzt ist die Frage: Wie streng halten sich beide Komponisten an die sprachlich strukturellen Vorgaben des Dichters Goethe?


    Zunächst ein Blick auf Reichardts Vertonung:


    Es ergibt sich ein klares Bild. Es besteht eine nahtlose Übereinstimmung zwischen sprachlicher Struktur und der Faktur der Komposition. Die Singstimme deklamiert exakt so, wie es das jambische Versmaß vorgibt. Die erste Melodiezeile steigt in Sekundschritten an bis hin zur Quinte, endet dann aber auf der Terz. Auf jeder Silbe sitzt ein Ton. Danach steigt die melodische Linie in ähnlichen Schritten abwärts, um in einem Wechsel von Dominante und Tonika zu enden.


    Die Tonschritte der Singstimme erinnern unüberhörbar an Hornsignale, was ja auch vom Text nahegelegt wird. Reichardt nimmt den Text also ganz wörtlich: Er sieht da einen Jäger abends durchs Gelände ziehen, der nicht zu seiner Geliebten kann, weil er "die Welt durchstreift", seine "Jägerwelt". Die Klavierbegleitung der Singstimme besteht aus schlichten Akkorden, die wiederum exakt mit der Skandierung der melodischen Linie übereinstimmen. Diese Klavierbegleitung hat neben ihrer klanglichen Stützfunktion keine weitere. Man könnte sie genauso gut weglassen und nur die Melodie singen: Diese würde dadurch überhaupt nichts von ihrem inneren Ausdruck verlieren.


    Das Gesamtbild der Komposition ist eindeutig: Das ist wortgetreu in Musik gesetzte lyrische Sprache. Reichardt "achtet" den Text bis in seine kleinsten Feinheiten. Aus dieser "Achtung" heraus hütet er sich vor jeglicher Eigenständigkeit im Umgang mit Goethes Gedicht. Er lässt den Sänger exakt nach den metrischen Vorgaben silbengetreu skandieren. Von einer eigenständigen Interpretation des Gedichts durch den Komponisten kann keine Rede sein.


    (Schuberts Fassung des Liedes muss in einem eigenen Beitrag dargestellt werden, damit dieser hier nicht zu umfangreich wird.)

    Eigentlich wollte ich mich ja dem Rat von hart gemäß verhalten und endlich mal zu meinen Liedern kommen. Ich bin zwar ein leidenschaftlicher Freund von Theorien und Theoriediskussionen, aber dies auf einem anderen Feld. Nun gut, wenn es denn sein muss.


    Ich referiere aus der musikwissenschaftlichen Literatur zum Thema Kunstlied. Tut mir leid! Ich sehe mich genötigt. Man möge mir abnehmen, dass ich Fachliteratur recht gut kenne.


    1. Unser Gegenstand hier, das "Kunstlied", wird in der Fachliteratur mit folgenden Begriffen bedacht: "Sololied des 18. Jahrhunderts", "Sololied mit Klavierbegleitung des 19. Jahrhunderts", "Sololied des 20. Jahrhunderts mit Klavierbegleitung", "Orchesterlied des 19. und 20. Jahrhunderts", "Kunstlied". Der Begriff "Kunstlied" taucht weniger häufig auf, weil er zu allgemein ist. Er wird vorwiegend dazu benutzt, das "Sololied" gegen das "Volkslied" und verwandte Formen abzugrenzen.


    2. Es herrscht Einvernehmen über folgenden Sachverhalt: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt sich das Sololied zu einer neuen, ganz eigenen Gattung. Man nennt es "deutsches Sololied" oder "deutsches Kunstlied". Diese neue Form, bzw. Gattung, hebt sich vom Sololied des 18. Jhs. deutlich ab. Manche Musikwissenschaftler gehen sogar so weit, ein Datum für die "Geburt" dieser neuen Gattung festzulegen: 19. Oktober 1814, der Tag, an dem Schubert sein "Gretchen am Spinnrade" geschrieben hat. Diese Festlegung auf ein Datum wird nicht von allen Musikwissenschaftlern geteilt. Aber die Tatsache, dass mit Schubert das Sololied mit Klavierbegleitung eine neue Form ausgebildet hat, die danach von den anderen großen Liedkomponisten des 19. und des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt wurde, ist in der Fachlitertur ein allgemein anerkannter Sachverhalt und gänzlich unbestritten.


    3. Schon im 19. Jahrhundert setzt man sich mit der Frage auseinander, in welchem Umfang und in welcher Art sich gerade eine neue Gattung des Solieds ausbildet. In A. Reissmanns Buch "Das deutsche Lied" (Kassel, 1861) heißt es: "das moderne Lied ist eine wirklich positiv neue Kunstschöpfung". Ein für die die Musikwissenschaft wichtiger Beitrag zu diesem Thema ist der Aufsatz von H. G. Nägeli: "Die Liederkunst" in der Allgemeinen Musikalischden Zeitung, Leipzig 1817.


    Nägeli unterscheidet drei Epochen des Lieds: Die Liedkunst Carl Philipp Emanuel Bachs prägt die erste. Für die zweite Epoche steht vor allem Johann Abraham Schulz. Die dritte wird geprägt von Johann R. Zumsteeg, Friedrich Reichardt und Friedrich Zelter. Diesen drei Epochen stellt Nägeli dann eine vierte gegenüber. Was er dazu schreibt, sollte für uns eine maßgebliche Richtlinie sein. Die Musikwissenschaft orientiert sich bezüglich des Themas Lied auch daran. Es heißt u.a.


    (Es müsse) "ein höherer Liederstyl begründet werden, und daraus eine neue Epoche der Liederkunst (nach meiner Eintheilung, die vierte) hervorgehen, deren ausgeprägter Charakter eine bisher noch unerkannte Polyrhythmie seyn wird, also dass Sprach-, Sang- und Spiel Rhythmus zu einem höheren Kunstganzen verschlungen werden - eine Polyrhythmie, die in der Vocal-Kunst völlig so wichtig ist, als in der Instrumental-Kunst die Polyphonie."


    Nägeli erläutert diesen für uns hier so wichtigen Begriff der Polyrhythmie in folgendem Sinne: Sprache, Singstimme und Begleitstimme gehen in der Liedkomposition eigene Wege, folgen einem eigenen "Rhythmus", wobei dieser jeweils eingeschlagene Weg parallel verlaufen kann, aber auch divergent.


    Damit dürfte jetzt eigentlich Klarheit herrschen, stelle ich mir vor und wünsche ich mir auch. Wenn euch beide, lieber Johannes Roehl und lieber kurzstueckmeister, der Begriff "Kunstlied" - aus welchen Gründen auch immer - stört, dann können wir uns auf den Begriff "Sololied" einigen.


    Nicht einigen werden wir auf folgendes können, weil die Schlage es nicht zulässt: Eine undifferenzierte Gleichstellung aller Sololiedformen vom 18. Jahrhundert an bis ins zwanzigste. Der Einschnitt, der in der Liedkomposition mit Schuberts Liedern in der Geschichte des Sololieds eintritt, ist ganz einfach nicht wegzuleugnen. Er ist unübersehbar.


    Auf die Fragen, die Johannes Roehl stellt, werde ich ab jetzt in meinem Thread "Sprache und Musik" näher eingehen. Ich werde allerdings niemanden ausdrücklich bitten, darin zu lesen.


    So! Und jetzt lasse ich mal meinem Ärger freien Lauf! Ich habe den fatalen Eindruck, dass einige Leute hier nicht gelesen haben, was lang und breit und sehr gründlich und sehr differenziert zum Thema Schubert in dem Thread "Schuberts Ausnahmerang" von mehreren Taminoianern geschrieben wurde.


    Wozu strampelt man sich eigentlich hier ab?

    Lieber Alfred,


    darf ich zum Umgang mit Metzlers "Musiklexikon" eine Hilfestellung geben? Du musst unter dem Oberbegriff "Lied" nachschlagen, und da findet sich in Band 3 auf Seite 78 ein ganzes Kapitel über "Das Kunstlied seit Schubert".


    Dass kurzstueckmeister darauf beharrt, dass der Begriff "Kunstlied" in der Definition, wie ich sie oben umrissen habe - und wie sie auch in der Musikwissenschaft allgemein verwendet wird - "Verwirrung" stifte, das kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen.


    Ich wiederhole es an dieser Stelle noch einmal. Die Vorsilbe "Kunst" dient der begrifflichen Abgrenzung einer bestimmten Gattung von Lied, die sich vom Volkslied dadurch unterscheidet, dass ihre musikalische Faktur von einem Komponisten hergestellt wurde, dass sie also nicht aus anonymen Quellen erwachsen ist, wie man das beim Volkslied vermuten muss. Und selbst, wenn man den Komponisten eines echten Volksliedes kennen würde, man würde feststellen, dass er dass er das Prinzip der naiven Deklamation praktiziert. Das tut ein Komponist des Kunstliedes nur dann, wenn er gelichsam den Volksliedton imitieren möchte.


    Mir wird allmählich unbegreiflich, warum wir uns über einen Begriff herumstreiten, der in der Musikwissenschaft völlig unstrittig ist. Er dient der begrifflichen Klarkeit, indem er für sachliche Differenzierung sorgt. Wieso kann er dann Verwirrung stiften.


    Und Angst bekomme ich bei der Vorstellung, dass wir hier aneinander vorbeireden und einander überhaupt nicht verstehen, wenn wir in einen Dialog über unsere Lieder eintreten.

    Nein, lieber kurzstueckmeister, Silcher kann deshalb nicht in die Kategorie "Volkslied" eingeordnet werden, weil seine Lieder ja bewusste Schöpfungen sind, deren musikalische Struktur also nicht aus anonymen Quellen gelichsam erwachsen ist, sondern von einem Komponisten erstellt wurde, der ein klares Konzept von dem hatte, was er kompositorisch wollte.


    Exakt diesen Sachverhalt will man mit dem Begriff "Kunst-Lied" inhaltlich erfassen. Das Missverständnis besteht offensichtlich darin, dass man mit der Vorsilbe "Kunst" qualitative Auserlesenheit assoziiert. Das ist aber nicht gemeint. Gemeint ist "künstlich hergestellt", im Gegensatz zu "organisch gewachsen" bei Volkslied.


    Dieses Missvertändnis klingt auch im Beitrag von hart durch, wenn er daran Anstoß nimmt, dass wieder "der gute alte Loewe ins Boot genommen" und "Volksnähe" "grundsätzlich" als "negativ" bewertet werde. Dem ist nicht so,. Ganz im Gegenteil! Zur Goethezeit kam es zu einer regelrechten Hochblüte des Volkslieds. Es wurde als der Gipfel der Poesie gepriesen, - wegen seiner angelblichen Ursprünglichkeit. Herder sammelte die "Stimmen der Völker in Liedern" und "infizierte" mit seiner Liebe zum Volkslied sogar Goethe ("Heidenröslein"). Die Romantiker schwärmten von der Ursprünglichkeit der Volkspoesie. Brentano und Achim von Arnim sammelten (und bearbeiteten!) sie ind "Des Knaben Wunderhorn".


    Abraham Peter Schulz gab 1785 seine Sammlung der "Lieder im Volkston" heraus. Für ihn bestand das Faszinierende am Volkslied darin, dass es den "Schein des Bekannten" aufweise. Man müsse sich bei der Liedkomposition an der Melodie des Volksliedes orientieren, weil "deren Fortschreitung sich nie über den Gang des Textes erhebt." Diese Stelle ist interessant, wenn man begreifen will, worin die Leistung Schuberts als Lied-Komponist besteht. Das aber nur nebenbei!


    Silcher orientiert sich in seinen Liedern eindeutig an dieser Tradition der Volksliedrezeption und -bewunderung. Beim Volkslied geht die musikalische Linie eine sozusagen unreflektierte Verbindung mit dem Text ein. Es wird in der Regel textkonform skandiert, - Silbe für Silbe, in exakter Übereinstimmung mit dem Metrum. Silcher - und auch Loewe! - orientieren sich an diesem Prinzip, weil sie diese Nähe zur Volksliedmelodie wollen. Sie gehören zu den Bewunderern des Volksliedes.


    Aber - ich möchte noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen - diese Volksliednähe ist jetzt nicht mehr unreflektiert, wie beim echten Volkslied, sie ist das Ergebnis kompositorischer Reflexion. Und deshalb sind Silchers Lieder natürlich "Kunstlieder"!

    Nanu!


    Alles andere hätte ich erwartet, im neuen Kunstliedforum, - nur nicht diese Diskussion. Dabei erfreut sie mich von Herzen. Ich bitte herzlich darum, in meinen Thread "Sprache und Musik im Lied" einzusteigen. Da wird es nämlich genau um solche Fragen gehen.


    Johannes Roehl benutzt den Begriff "Trennungsstrich". Einen solchen gibt es nicht. Es gibt eine gleitende historische Entwicklung dessen, was wir mit dem Begriff "Kunstlied" terminologisch zu fassen versuchen. Sie setzt ein mit den Namen Johann Hermann Schein, Adam Krieger, Heinrich Albert, Johann Peter Schulz, um nur die wichtigsten zu nennen, und läuft dann über die schwäbische Liederschule (Schubart, Zumsteeg), und über Reichardt und Zelter hin zu Schubert. Der Rest ist bekannt.


    Alles davor, vom Minnesang angefangen, hat mit dem Begriff "Kunstlied" in seinem spezifischen definitorischen Gehalt nichts zu tun. Ich kann das gerne mal am Beispiel Bach zeigen, - weil der immer wieder erwähnt wird. Selbst Mozart behandelt den Text in seinen Liedern noch nach dem musikalischen Kompositionsprinzip der Arie. Kann ich auch gerne zeigen!


    Ich sage es mal ganz deutlich: Nicht alle musikalischen Werke, in denen Sprache und Musik eine Verbindung eingegangen sind, haben etwas mit dem Kunstlied zu tun. Man darf das nicht durcheinanderwerfen und das eine mit dem anderen vergleichen!


    Das entscheidende Kriterium für die Konstruktion einer solchen Entwicklungslinie ist der Umgang des Komponisten mit dem sprachlichen Text.


    Ich deute es mal an. Im Anfangsstadium der Entwicklung des Kunstliedes unterlegt der Komponist dem lyrischen Text einfach nur Musik. Im nächsten Stadium schafft er für den Text ein musikalisches Gehäuse, mit dem er den Text präsentiert und ihn auch einkleidet. Das fand Goethe zum Beispiel an Zelter so gut. Im nächsten Stadium, siehe Schubert, maßt sich der Komponist historisch gesehen zum ersten mal an, den Text zu interpretieren. Das ist typisch für das neue Selbstverständnis des Künstlers. Und das ist typisch für die Romantik. Deshalb sieht man das Kunstlied als eine für die Romantik typische musikalische Gattung. Das Kunstlied ist, wenn man so will, in dieser Zeit zu sich selbst gekommen. Es hat seine für es typische Form gefunden.


    In der Folgezeit vollzieht sich eine höchst interessante Entwicklung, die das Verhältnis von Singstimme und Klavier betrifft. Ich werde auf diesen Sachverhalt in meinem Thread eingehen.


    Und wenn wir schon dabei sind. Am Ende dieser Entwicklung, im zwanzigsten Jahrhundert nämlich, wird die Sprache selbst zu einem Element, mit dem der Komponist wie mit Tönen umgeht. Der sprachliche Laut wird zum Beispiel bei Henze benutzt wie ein Tonelement. Ob man das dann noch "Kunstlied" nennen soll, darüber streiten die Gelehrten. Ich für meinen Teil lehne das ab. Für ich besteht der eigentliche Reiz des Kunstlieds im komplexen Spannungsverhältnis von Sprache und Musik. Dabei muss die Sprache in ihrer spezifischen Struktur ihre Eigenständigkeit behalten.


    Jetzt habe ich erst ein Hundertstel von dem gesagt, was hier zu sagen wäre. Aber mir geht die Luft aus.


    Nachtrag, eine Stunde später:


    Eigentlich kann ich das gar nicht so recht fassen. Da haben wir ein Forum, das sich "Kunstlied-Forum" nennt, und wir scheinen uns überhaupt nicht einig darüber zu sein, worüber wir hier reden und gemeinsam hörend nachdenken. Ich bin tatsächlich verblüfft!

    Derjenige, der einen Thread eingerichtet hat, muss sich natürlich dann, wenn sich dort nichts tut, der Frage stellen: Woran liegt es?


    Eigentlich wollte ich ja am Beispiel eines Goethe-Gedichts, das von Reichardt und von Schubert in ein Lied verwandelt wurde, den oben aufgeworfenen Fragen nachgehen. Das werde ich auch tun. Zuvor aber noch etwas Grundsätzliches.


    Es spricht einiges dafür, dass ich mit meinem Ansatz, das Kunstlied als in Musik verwandelten lyrischen Text zu sehen und über seine spezifische innere Struktur unter diesem Aspekt nachzudenken, bei einigen Forianern so etwas wie Kopfschütteln auslöse. Sollte das so sein, so bedauere ich das. Es ist ja völlig im Sinne des Komponisten, wenn man sich an einem Kunstlied erfreut und hörend seiner Botschaft lauscht. Das macht Freude, und diese Freude genügt sich selbst.


    Es gibt aber auch noch eine andere Freude im Umgang mit dem Kunstlied. Ich meine die Freude, die man erlebt, wenn man sieht, wie Schubert zum Beispiel (oder Schumann oder ein anderer Komponist) ein Goethe-Gedicht gelesen hat. Das muss er nämlich getan haben, und zwar im Sinne einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Text, sonst hätte es ihn ja nicht zur Komposition animiert. Man kann ihm zum Beispiel darin folgen, wie er das Klavier die Singstimme interpretieren oder ihr Contra geben lässt, und aus diesem Sachverhalt ablesen, wie den Text an dieser Stelle verstanden hat.


    Mag sein, dass ich mit dieser meiner Freude auf wenig Gegenliebe stoße. Aber ich möchte nicht vorzeitig aufgeben. Erst möchte ich bei einigen Liedern im Sinne der Fragestellung hörend und nachdenkend der Intention der Komponisten nachgehen.


    Die berühmte Frage nach der zeitlichen Priorität von Henne und Ei ist beim Kunstlied eindeutig zu beantworten. Es war immer erst der lyrische Text da, und dann kam die Musik. Nur in wenigen Fällen (Maler, Franz Schreker, einmal Schubert) haben sich die Komponisten ihre Liedertexte selbst geschrieben. Aber auch dann haben sie sie nicht so behandelt wie ein Opernkomponist das beim Schreiben einer Arie tut oder Bach bei der Komposition der Matthäus-Passion.


    Kurzstueckmeister hat heute die Frage nach dem Wesen des Kunstliedes und der Berechtigung dieses Begriffs aufgeworfen. Worin unterscheidet es sich grundsätzlich von anderen musikalischen Gattungen, in denen auch Sprache und Musik eine Verbindung eingegangen sind, dem Madrigal zum Beispiel, der Canzonette, der Arie oder einfach nur dem Volkslied. Solche Fragen könnten hier nicht beantwortet, aber wenigstens doch gestreift werden.

    Lieber kurzstueckmeister,


    es ist wohl wenig sinnvoll, Dich mit Zitaten aus dem Musiklexikon zu langweilen. Du sagst, Du kannst den Begriff "Kunstlied" "nicht besonders leiden". Er ist ja nun einmal ein Fachterminus aus der Musikwissenschaft, aber das wird Dein Problem auch nicht lösen.


    Ich habe seine Verwendung hier im Forum so verstanden (und vermute, dass Alfred ihn auch in diesem Sinne verwendet): Das Kunstlied ist - im Gegensatz zum Volkslied - eine von einem Komponisten bewusst geschaffene Umsetzung von lyrischem Text in ein liedhaftes musikalisches Gebilde. Die Vorsilbe "Kunst" wird vor "Lied" gesetzt, um eben diese kompositorisch gezielte Absicht zu betonen. Das Produkt ist dann eine eigenständiges, autonomes musikalisches Kunstwerk, das - und da liegt der entscheidende Punk! - seinen musikalischen Gehalt aus dem Spannungsverhältnis und der Interaktion von Sprache und Musik gewinnt. Das gilt in diesem engeren Sinn erst für die Kunstlieder von der Frühromantik an. Für die von Dir erwähnten Gellert-Oden gilt es zum Beispiel nicht.


    Aber ich möchte Dich nicht belehren wollen. Das steht mir nicht zu! Ich kann aber - falls an dieser Frage allgemeines Interesse besteht - in meinem Thread "Sprache und Musik im Lied" bei Gelegenheit darauf näher eingehen.

    Weil kurzstueckmeister der Feststellung von Theophilus zustimmt, Silcher könne nach Schubert ja gar kein "Pionier des Kunstlieds" sein, möchte ich folgendes zu bedenken geben:


    Silcher kann gar nicht in einer Linie mit Schubert gesehen werden. Er wollte eine ganz andere Art von Liedern schreiben. Fast scheut man sich, sie in einem Atemzug mit Schubert und Schumann "Kunstlied" zu nennen. Es findet sich einfach zu wenig kompositorische "Kunst" in seinen Liedern.


    Ich schlage vor, ihn "Pionier des Volkstons" im Kunstlied zu nennen. Alfred fühlte sich nicht ohne Grund an Loewe erinnert.


    Möchtet Ihr mal hören?


    Im "Spiegel für Literatur, Kunst und Mode, Wochenblatt zur Damenzeitung" (erschien in Stuttgart) hieß es am 13.1.1829:


    "Möge uns Herr Silcher bald mit mehreren Liedern Kerners beschenken! So werden unsere kunstliebenden Leserinnen sagen, wenn sie den Wohllaut dieser Compositionen vernommen und sich durch eigene Erfahrung davon überzeugt haben, wie sangbar vor anderen dieses Dichters Lieder sind und wie sehr es zu bedauern ist, daß unsere Liederkomonisten bisher so wenig ihn berücksichtigt haben."


    Interessant ist der Aspekt "Sangbarkeit". Er bezieht sich hier zwar auf Kerner, aber die Sangbarkeit seiner Lyrik ist wohl für den Rezensenten an der Sangbarkeit der Kompositionen Silchers erfahrbar geworden.

    Als Alfred dereinst, zu alten Tamino-Zeiten, seinen Conradin-Kreutzer-Thread präsentierte, machte ich eine wunderliche Metamorphose durch: Vom distanzierten Kritiker der Lieder Kreutzers hin zum Bewunderer der hohen kompositorischen Kunst, die in vielen von ihnen steckt.


    Dieses Mal ist meine Ausgangssituation ähnlich. Ich kenne, wie damals bei Kreutzer, nur relativ wenige Lieder Silchers, nämlich genau 12, weil ich die von Alfred angezeigte CD noch nicht besitze und auf meinen Archivbestand angewiesen bin. Und jetzt frage ich mich natürlich: Geht es dir bei Silcher ähnlich wie bei damals bei Kreutzer? Machst du auch wieder eine Metamorphose durch? Ich bin skeptisch, aber ich bleibe natürlich offen.


    Die Lieder Silchers, die ich kenne, suchen in ihrer melodischen Linie und der Faktur der Klavierbegleitung unüberhörbar die Volksliednähe. Die Harmonik ist fast immer rein diatonisch angelegt und bewegt sich meist im Rahmen von Tonika, Dominante und Subdominante. Chromatik bleibt außen vor. Die Melodiezeilen sind in großräumigen Bögen auf die Kadenz in der Tonika angelegt.


    Ich habe mir, weil ich ja nun einmal leidenschaftlich gerne Vergleiche anstelle, einige Lieder auf Texte von Justinus Kerner vorgenommen und dabei natürlich mit den Ohren auf Schumann geschielt. Es ging mir dabei nicht um ein Urteil über die Qualität, sondern um das Erfassen der Kompositionstechnik Silchers vor dem Hintergrund derjenigen Schumanns.


    Es zeigt sich: Im Vergleich mit Schumanns Kerner-Liedern stellen Silchers Lieder eine arglose und musikalisch eindimensionale Vertonung der Kernerschen Verse dar. Diese allgemein gehaltene Feststellung möchte ich am Beipiel des Liedes "FRAGE" (Text: Justinus Kerner) ein wenig konkretisieren. Das Gedicht ist in seiner sprachlichen Struktur als Ansprache angelegt: "Wärst du nicht, heil´ger Abendschein! // Wärst Du nicht, sternerhellte Nacht!." ...


    Silcher berücksichtigt diese Struktur des lyrischen Textes durchaus, indem er einen rezitativischen Ton in die Textur der Melodie legt. Aber er tut das in sehr undifferenzierter Form. Abendwolken, sternerhellte Nacht, üppiger Hain, Gebirg und Volgelsang, - sie werden alle in weitgehend gleicher Weise musikalisch angesprochen. Und es ist offenkundig: Bei Silcher schließt die von ihm gewollte Bindung an die volksliedhaft einfache Melodik und Harmonik eine dem lyrischen Text angemessene Differenzierung der Komposition aus. Er will sie ganz einfach nicht.


    Dieses Lied klingt überaus eingängig. Das ist musikalischer Wohllaut, bei dem man Kerners Naturbilder sehr wohl assoziiert. Aber man hört im Hintergrund immer, welche seelischen Tiefenschichten Schumann aus Kerners Lyrik kompositorisch hervorbringt. Das ist - unter dem Aspekt Kunstlied-Komposition - eine andere Welt.


    Ich betone noch einmal: Mir ging es nicht darum, Silcher an Schumann zu messen, um ihn anschließend abzuqualifizieren. Das wäre unfair! Es ging mir lediglich darum, kompositorische Strukturmerkmale des Silcher-Liedes aufzuzeigen. Dass man Silchers Lieder gerne hören mag und sie schön findet, das ist eine andere Form des Umgangs mit ihnen und eine andere Ebene des Urteilens über sie.

    Lieber Gunter, da habe ich Dich offensichtlich missverstanden, und das tut mir leid.


    Dass diese Sängerinnen, die Du erwähnt hast, so gut beurteilt wurden, wundert mich nicht. Die sind allesamt ganz hervorragende Liedinterpretinnen. Ich vermute mal, dass man sie ganz speziell in dieser ihrer sängerischen Leistung beurteilt hat, und eben nicht unter dem von mir als Frage aufgeworfenen Aspekt.


    Interessant ist Dein Hinweis auf die "Vier letzten Lieder" von Strauss. Natürlich könnte die auch ein Tenor singen, denn hier geht es um existentielle Erfahrungen, die allgemeinmenschlich sind. Hier schient man einfach den Willen des Komponisten zu respektieren. Warum aber? Rein von der Sache her gesehen, dem Gehalt und der musikalischen Struktur der Lieder also, besteht für mich kein zwingender Grund, - im Gegensatz zur Winterreise!


    Übrigens: (und das ist auch an Mme. Cortese gerichtet) Ich freue mich über unser Gespräch hier im Forum!

    Mich hast Du zwar nicht angesprochen, liebe Mme. Cortese, ich erlaube mir dennoch, auf Deinen Beitrag zu reagieren und hoffe, damit nicht Deinen Unwillen zu erregen.


    Ich kenne die Interpretation der Winterreise mit Mitsuko Shirai von der Doppelkassette "2X Winterreise", die 1991 bei Capriccio erschienen ist. Wie Du schätze ich diese Sängerin sehr, teile allerdings nicht Deine Auffassung, dass sie wenig bekannt sei. Ich kenne hervorragende Liedinterpretationen von ihr. Sie besitzt großes Einfühlungsvermögen in das Lied und sie hat als Mezzosopran eine volle, überaus angenehme und warm klingende Stimme.


    Ich kann verstehen, dass man die Winterreise von einer Sängerin interpretiert hören möchte, weil man sie schätzt. Ich bleibe allerdings bei meiner Auffassung, dass es unangebracht ist - und für mich sogar störend! - den Zyklus mit einer Frauenstimme zu interpretieren. Aber vor allem ist es auch unnötig! Ich hatte die Frage gestellt: Was bringt es?, und warte auf eine Antwort.


    Du sagst: "Liebesschmerz und Verzweiflung sind .. keine ausschließliche Männerdomäne". Völlig richtig! Du übersiehst dabei aber einen wichtigen Sachverhalt, nämlich das Wie des Durchleidens. Ich mag nicht auf dem allerneuesten Stand der Gender-Philosophie sein, aber ich behaupte: Es gibt einen geschlechtsspezifischen Unterschied im Durchleiden und in der Verarbeitung von Liebesschmerz und daraus resultierender Verzweiflung. Aber selbst wenn es den heute nicht mehr in so eindeutiger Aussprägung geben sollte, - zu Zeiten Wilhelm Müllers und Schuberts war dieser Unterschied unübersehbar. Die Literatur dieser Zeit und alle uns heute zur Verfügung stehenden Quellen sind diesbezüglich eindeutig.


    Würdest Du mir bitte einen Gefallen tun und Dir mal das Lied "Die Wetterfahne" aufmerksam unter diesem Aspekt anhören? Dieser Blick auf das Haus, in dem die Geliebte wohnt, von der man verstoßen wurde, ist eindeutig der eines Mannes. Keine Frau - eine damalige ganz bestimmt nicht! - hätte beim Blick auf ein Haus, in dem der ehemalige Geliebte zu Hause ist, einen seelischen Prozess durchlitten, wie er hier geschildert wird. Sie hätte mindestens genauso große Qualen ausgestanden, aber nicht die Assoziation von Wetterfahne mit weiblicher Wetterwendischkeit erlebt. Von der Art, wie die Rolle des Mannes im Haus verstanden wird, einmal abgesehen.


    Und noch etwas: Kannst Du Dir vorstellen, dass eine Frau aus Liebesschmerz und seelischem Kummer durch Eis und Schnee läuft, Krähen zu ihren Gesellen erklärt, eine Herberge auf einem Friedhof sucht und am Ende sich in die Vision hineinsteigert, mit einem irren Leiermann durch die winterliche Einsamkeit zu ziehen?


    Mit Verlaub, ich kann das nicht! --------- Aber sei mir darob nicht böse!

    Lieber Gunter, Du fragst: Warum keine Damen?


    Darf ich mal zurückfragen? Warum möchtest Du die Winterreise von einer Dame gesungen hören. Das lyrische Ich, um das es in diesem Liederzyklus geht, ist ein Mann. Die seelischen Leiden, die er durchzustehen hat, sind spezifisch männliche. So hat das Wilhelm Müller jedenfalls lyrisch gestalten wollen, und Schubert hat das auch so gesehen.


    Warum also von einer Frau gesungen? Was würde das bringen? Verstößt dergleichen nicht gegen die Intention des Komponisten und seines Textautors? Kein Bariton oder Tenor kam je auf die Idee, Gretchen am Spinnrad, die Lieder der Mignon oder Suleika zu singen. Warum macht man dies aber bei der Winterreise?


    Ich wäre sehr interssiert daran, von Dir Argumente hier zu lesen.

    Ich fange einfach mal an, um Ansatzpunkte für einen Dialog zu liefern.


    Vor einiger Zeit vertrat ich im Forum die Auffassung, dass jeder lyrische Text vertont werden könne. Es sei eigentlich nur eine Frage der musikalischen Mittel, über die der Komponist verfügt. Nun hatte ich aber vor kurzer Zeit ein Erlebnis, das mich sehr nachdenklich machte. Aus Anlass des Tages der deutschen Einheit sendete die ARD einen Film, in der eine Szene vorkam, wo der Schauspieler Sylvester Groth den Anfang von Goethes Gedicht PROMETHEUS sprach. Ich zuckte regelrecht zusammen, und mein erster Gedanke war: Das lässt sich nicht vertonen. Diese mit ungeheuerer Wucht herausgeschleuderten Verse einer trotzigen Auflehnung gegen den Gott sind mit keiner Musik der Welt wirklich zu fassen. Dieses Gedicht genügt sich selbst. Jeder Versuch einer Vertonung bringt eine Minderung seines Gehalts mit sich.


    Ich schaltete den Fernseher aus (der Film war ohnehin nicht fesselnd) und hörte mir Schuberts Komposition an. Und siehe: Ich fand mich in meiner Auffassung bestätigt. Schubert gibt sich ja alle Mühe, diese ungeheuer verdichtete und wuchtige Sprachlichkeit einzufangen, indem er das Lied rezitativisch anlegt, weitgehend auf seine sonst so geliebte Melodie verzichtet und den trotzigen Ton der Auflehnung gegen das Göttliche mit dem wuchtigen Tremolo der Klavierbegleitung zum Ausdruck zu bringen versucht. In schwere akkordische Sequenzen ist zum Beispiel die Frage eingebettet "Wer half mir wider der Titanen Übermut?"


    Alles mit größter kompositorischer Könnerschaft gemacht, dachte ich. Aber Goethes Gedicht erfasst das nicht voll!


    Irgendwie, meinte ich, sind doch die Vorbehalte Goethes gegen Schuberts Lieder zu verstehen. Wenn ein Dichter davon überzeugt ist, dass seine Werke sich selbst genügen, dass alles, was er mit ihnen sagen wollte, auch in ihnen zu finden ist, dann muss er doch einen Komponisten ablehnen, der mit der Lyrik macht, was er will, was er, musikalisch gesehen, für richtig hält.


    Am selben Tag noch stieß ich zufällig auf eine Bemerkung des Schubert-Biographen Manfred Wagner. Der schrieb in seiner 1996 erschienenen Schubert-Biographie:


    "Reichardt achtet den Dichter, Schubert benutzt ihn, auch wenn er Goethe heißt. Man mag dafür historische Gründe finden - in Berlin die Wortgebundenheit, gelernt aus dem protestantischen Choral und dem deutschen Lied, in Wien prioritär immer die Paraphrase des Theatralischen, das Wort immer untergeordnet der Szene, nie Selbstwert besitzend." (S.41f)


    Diese Feststellung war eine von der Sorte von Gedanken, bei denen einem ein Licht aufgeht.


    Darf ein Komponist ein Gedicht einfach so benutzen, wie er das für richtig hält? Und wo ist da die Grenze?