Justinus Kerner ist, daran soll einmal erinnert werden, der erste Lyriker, mit dem sich Schumann ernsthaft kompositorisch auseinandergesetzt hat.
1828, mit 18 Jahren also, vertonte er drei Gedichte Kerners und schickte sie mit einem unterwürfigen Begleitschreiben zur Begutachtung an den Komponisten Gottlob Wiedebein. Das Manuskript trägt die Bezeichung Op. II. Es handelt sich dabei um die Lieder
GESANGES ERWACHEN
KURZES ERWACHEN und
ANNA
Angesichts dieses Sachverhalts stellt sich für mich die Frage:
Was hat Schumann zu diesem Dichter Justinus Kerner hingezogen?
Er hat ja, neben diesen drei frühen Liedern und denen von op. 35, noch fünf weitere Gedichte von Kerner vertont:
Anna II, Der Wassermann, Im Herbste, Sängers Trost (op.127, 1851) und Trost im Gesang (op. 142, 1852).
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, wie er in dem Begleitschreiben an Wiedebein seinen Rückgriff auf Kerners Lyrik begründet.
Er schreibt, dieser Dichter habe ihn "durch jene geheimnisvolle überirdische Kraft, die man oft in den Dichtungen Goethes und Jean Pauls findet, am meisten angezogen".
Was meint er mit dieser sprachlichen Wendung "geheimnisvolle überirdische Kraft"?
Schaut man sich die Texte der ersten drei Lieder genauer an, dann stößt man sehr rasch auf viele Motive, die man von den Liedern des späteren Opus 35 kennt:
Das innerlich kranke, in tiefe Trauer versunkene Ich begegnet einer heilen Natur und erhofft sich von dieser Begegnung eine Errettung aus seiner seelischen Not.
Hier, weil ihn vermutlich nicht jeder zur Verfügung hat, der Text von
KURZES ERWACHEN
Ich bin im Mai gegangen
Und hab´es nicht gewußt.
Also vom Schmerz befangen
Ist die kranke Brust.
Ein Vogel hat gesungen
Im jungbelaubten Wald;
Da ist ins Herz gedrungen
Mir seine Stimme bald.
Vom Aug´ist mir gefallen
Ein schwerer Tränentau,
Drauf sah ich den Mai wallen
Durch Erd´und Himmel blau.
Als Vogel ausgesungen,
Flog er ins weite Land;
Und wie sein Lied verklungen,
Um mich der Mai entschwand.
Keine große Lyrik, - das nebenbei. Der Lyriker Kerner wirkt da und dort sprachlich ein wenig unbeholfen. Darum geht es jedoch nicht. Es geht um die Aussagekraft der Bilder. Sie weist in eine deutlich fassbare Richtung!
Und wie klingt Schumanns Lied?
Die Komposition wirkt, neben den Liedern von op. 35, vergleichsweise schlicht, weniger komplex, ist aber weit entfernt von volksliedhafter Einfachheit.
Die melodische Linie durchläuft in jeder Strophe verschiedene Tonarten und wirkt, vor allem am Ende des jeweiligen ersten Strophenverses, bewusst kunstvoll gestaltet.
Das Klavier folgt ihr mit weitgehend akkordischer Begleitung, greift aber vor Strophenbeginn das Motiv der Gesangsmelodie einleitend auf. Sie ist noch weit entfernt von der kompositorischen Raffinesse der Lieder von 1840. Vor allem der Schluss zeigt, dass da noch ein Anfänger am Werk war.
Dennoch! Bei Hören begegnet einem ein eingängiges, von einem leicht wehmütigen Ton geprägtes Lied, das einen beeindruckt.
Man kann wohl mit guten Gründen davon ausgehen, dass mit den "geheimnisvollen überirdischen Kräften" die Botschaft der Naturbilder in Kerners Lyrik gemeint war. Sie war es, die ihn zu diesen Gedichten hinzog.
Die Beschwörung der heilenden Kraft einer "gesunden", vollkommen in sich ruhenden Natur bei Kerner musste auf den schon in seiner Jugend unter der inneren Zerrissenheit seiner "Doppelnatur" leidenden Schumann eine fast magische Anziehungskraft entfaltet haben.