Beiträge von Helmut Hofmann

    Die Idee zu diesem Thread entspringt der Erkenntnis und der Überzeugung, dass die Faszination des Kunstlieds nicht nur im Zauber seines Klangs liegt, sondern auch in der Tatsache, dass in ihm, wie in keiner anderen musikalischen Gattung sonst, Sprache und Musik ein überaus spannungsreiches und wechselseitig befruchtendes Verhältnis eingegangen sind.


    Dieser Thread soll der Ort sein, an dem diesem Verhältnis in Reflexion und Dialog nachgegangen wird.


    Er muss, von seiner Intention her, offen sein, nicht eingegrenzt auf eine bestimmte historische Phase der Geschichte des Kunstlieds oder eine spezifische Gruppe von Komponisten. Denn das Verhältnis von Sprache und Musik ist im Falle des Kunstlieds nicht nur an sich hochkomplex, es wandelt und verändert sich auch historisch sehr stark und sieht von Fall zu Fall anders aus. Die Bandbreite reicht dabei von der einfachen Einbettung von Sprache in Musik, bei der diese die Funktion eines Gehäuses hat, bis hin zu einem dialektischen Spannungsverhältnis, bei dem Musik Sprache interpretiert und ihr zusätzliche Dimensionen des Ausdrucks verleiht.


    Bei der gemeinsamen Reflexion könnte gleichsam exemplarisch verfahren werden. So also, dass an ein Lied oder an einen Komponisten mit folgender Fragestellung herangegangen wird:


    - Wie geht der Komponist mit dem lyrischen Text um? Welche Absichten verfolgt er mit der Vertonung?


    - In welcher Form schlägt sich dies in diesem oder jenem seiner Lieder nieder?


    - Wird er mit dieser Vertonung dem dichterischen Gehalt des lyrischen Textes gerecht? Hat er das Gedicht richtig verstanden oder komponiert er darüber hinweg? Hat er das Gedicht auf seine eigene Weise gedeutet?


    - Lassen sich Gründe dafür ermitteln, warum ein Komponist gerade zu den Gedichten eines bestimmten Lyrikers gegriffen hat?


    - Gibt es erkennbare Affinitäten zwischen der musikalischen Grundhaltung eines Komponisten und der spezifischen sprachlichen Struktur der Lyrik, die er vertont?


    Das klingt alles ziemlich abstrakt und kompliziert. Es ist aber lediglich als Orientierungsrahmen zu verstehen, an dem deutlich werden soll, worum es in diesem Thread geht.


    Im Grunde ist schon ungeheuer viel gewonnen, wenn einfach nur Gedanken über das Kunstlied unter dem hier relevanten Aspekt ausgetauscht werden, und seien sie auch noch so unstrukturiert und dem augenblicklichen Einfall geschuldet.

    Zwar weigere ich mich schon seit langem, mir die immer wieder anfallenden Neuaufnahmen der Winterreise anzuhören (vor allem, weil man dieses Werk ja nun wirklich auswendig kennt), aber Alfreds Anmerkungen zu der Aufnahme von Christian Gerhaher hat mich zu einem kleinen Beitrag animiert. Und zwar durch ein einziges Wort: "traurig". Da liegt nämlich der kritische Punkt jeder Interpretation dieses Zyklus. Man darf die Winterreise interpretatorisch nicht mit zu viel Gefühl - oder gar Sentimentalität! - aufladen.


    Gerhahers "Lindenbaum" ist ein gutes Beispiel dafür. Schuberts Tempoangabe lautet "Mässig", und die Taktart ist ein Dreivierteltakt. Das alles hat seinen guten Grund. Der Schubertkenner Georgiades hat zu der Stelle "Der Hut flog mir vom Kopfe" angemerkt: "Nur als vorgestelltes Sagen, jenseits jeder Musik, eröffnet uns diese Stelle ihren Sinngehalt. Und umgekehrt: Nur indem man sie als reine, nicht durch Ausdruck belastete Musik vorträgt, entgeht man dem pathetischen Deklamieren."


    Diese Aussage kann man nach meiner Meinung auf die ganze Winterreise übertragen. Je nüchterner sie gesungen wird, unter sorgfältiger Beachtung des Notentextes, desto tiefgreifender ist ihre Wirkung auf den Hörer. Gerhaher beachtet dies in seinem "Lindenbaum" (und vielleicht sogar generell) zu wenig. Er artikuliert überaus sorgfältig, beachtet alle noch noch winzigen Pausen in der melodischen Linie, überdehnt sie also nicht, - und dennoch singt er dieses Lied zu langsam und vor allem zu gefühlsbeladen.


    Interessant wäre übrigens bei der Beurteilung solcher Neuaufnahmen, welche zusätzlichen Aussage-Dimensionen sie der Winterreise abgewinnen können, - im Vergleich etwa mit der Aufnahme Fischer-Dieskau/ Alfred Brendel als Referenzaufnahme.

    Da dieser Thread mal gerade wieder benutzt wird, möchte ich das auch tun.
    Ich hatte an anderer Stelle schon einmal geschrieben, dass dieses Kunstliedforum als Institution für mich ein wahrer Segen ist. Es sei die These gewagt - und hier ist der Ort dafür -, dass diese Einschränkung auf die rein subjektive Perspektive der Sache nicht gerecht wird.
    Ich vergegenständliche mit einem Beispiel, was ich meine.


    Schumanns Kernerlieder waren mir natürlich, wie jedem anderen Liedfreund auch, bekannt. Ich hatte sie mehrfach auf Liederabenden gehört und besitze eine ganze Reihe von Aufnahmen davon.
    Ich dachte, ich kennte sie recht gut.
    Irrtum!


    Es kam der Tag, an dem Liedfreund hart hier auf dem Taminoforum einen Thread mit diesem Thema einrichtete. Jetzt begann ich, mir die Lieder, von denen ich meinte, ich hätte sie alle "voll drauf", einmal etwas genauer anzuhören. Und siehe: Ich hörte Dinge, die mir noch nie zuvor aufgefallen waren.


    Zu meinem Beitrag über das Lied "Stille Tränen" merkte dann Farinelli an, dass "der Text die pathetische Bewegung der Komposition" nicht hergebe.
    Das machte mich stutzig, denn so hatte ich das bisher noch nie gesehen. Also nochmals hören, und die Erkenntnis: Farinelli hat etwas bemerkt, was mir entgangen war.


    Und nun lese ich in der neuen Schumann-Biographie von Peter Gülke ( Peter Gülke, Robert Schumann. Zsolnay Wien, 2010), dieses Lied (Stille Tränen) sei "in seiner Emphase über die Worte hinauskomponiert" (S.24).
    Na bitte! Das meinte Farinelli doch.
    Ich hätte garantiert über diese Bemerkung Gülkes hinweggelesen, wenn mir Farinelli nicht zuvor das Ohr geöffnet hätte.


    Was wollte ich doch sagen?
    Ein Mensch, der sich seit jetzt fast fünfzig Jahren mit dem Kunstlied beschäftigt, hat das noch nie so intensiv und mit so viel Gewinn getan wie seit dem Augenblick, als er dieses Forum betrat.
    Kann man noch bezweifeln, dass es eine überaus segensreiche Einrichtung ist?
    Was ich erlebt habe, das kann doch jedem hier passieren.

    Lieber Alfred,
    warum Fischer-Dieskau kein Lied von Hüttenbrenner je gesungen hat, wo er sich doch ansonsten an so viele Liedkomponisten heranwagte, die bis dahin kaum einer gehört hatte, das habe ich mich auch schon gefragt.
    An Deiner These, dass die "Nachgeborenen" die Qualität eines musikalischen Werkes leichter einschätzen können als die Zeitgenossen und der Schöpfer selbst, ist sicher etwas dran. Distanz ist ein für die Urteilsbildung wichtiger Faktor, mal abgesehen davon, dass Qualitätsmaßstäbe einem zeitlichen Wandel unterliegen und im Zuge ihrer Entwicklung häufig differenzierter und tragfähiger werden.


    Dass Schubert Anselm Hüttenbrenners Musik schätzte, hängt ganz sicher auch mit der freundschaftlichen Bindung zwischen beiden zusammen (wie so oft bei Schubert). Aber nicht nur!
    Schubert hat ja ganz selten Variationen über ein fremdes Thema geschrieben. Hüttenbrenner ist eine Ausnahme, und das zeigt, dass er sich in dessen Musik offensichtlich wiederfand.
    Das ist auch gar nicht so erstaunlich. Man braucht sich nur einmal Hüttenbrenners Streichquartett in E-dur op.3 oder das Quintett in c-moll anzuhören, und man kann diese Nähe spüren.


    Interessant übrigens ein Brief Schuberts an Hüttenbrenner vom 19. Mai 1819, als dieser nach Graz abgereist war:
    "Ein Jahrzehend verfließt schon, eh Du Wien wieder siehst (...) Freylich kannst Du auch sagen, wie Caesar, lieber in Grätz der Erste, als in Wien der zweyte. (...) Ich werde zuletzt auch nach Grätz kommen, u. mit Dir rivalisiren."
    Meint er mit dem "Ersten" Beethoven oder gar sich selbst? Letzteres wäre ein hochinteressanter Sachverhalt. Es ist aber unwahrscheinlich. Beethoven war wohl gemeint.

    Sollte ich mit meinem Beitrag den Eindruck erweckt haben, dass ich Hüttenbrenner für einen uninteressanten oder gar unbedeutenden Liedkomponisten halte, so wäre das völlig unzutreffend und es täte mir leid.
    Ich könnte mir ein solches Urteil schon allein deshalb nicht erlauben, weil ich viel zu wenig Lieder von ihm kenne.


    Das ist ja gerade das Problem. Dieser Mann, der für den Komponisten Schubert eine so wichtige Rolle spielte, hat über 200 Lieder hinterlassen, die noch weitgehend unerschlossen sind (wenn ich das richtig sehe).


    Deshalb ist Alfred ausdrücklich zu danken, dass er auf ihn aufmerksam gemacht hat.
    Das Problem freilich, das er mit seinem Thread aufgeworfen hat, reicht über das Thema Hüttenbrenner als Liedkomponist weit hinaus, und ich fände es wirklich interessant, wenn es in einer Diskussion hier im Forum vertieft werden könnte.
    Warum zum Beipiel haben Schumann und Wolf es tunlichst vermieden, Gedichte zu vertonen, von denen bereits überragende Vertonungen vorlagen?
    Liszt, Loewe oder Robert Franz, um nur drei zu nennen, hatten diesbezüglich viel weniger Hemmungen.

    Die Frage, um die es hier geht, ist ein ganz spezifisches Problem des Liedes. Es ist die einzige musikalische Gattung, der der Vergleich mit Vertretern ihresgleichen sozusagen inhärent ist.
    Es gibt beim Lied, wenn denn mehrere Vertonungen ein und desselben lyrischen Textes vorliegen, von vornherein die unausgesprochene Aufforderung, einen Vergleich über die jeweilige musikalische Qualität anzustellen.
    Und es gibt den Aspekt der maßstabgebenden Vertonung, der sich jeder andere Komponist zu stellen hat.
    (Vielleicht sehe ich da aber wieder einiges zu einseitig oder perspektivisch verkürzt.)

    Alfred meint, dass "wir auf Schuberts Liedersprache quasi fixiert" seien und uns deshalb etwa die Lieder von Hüttenbrenner meist "schlechter als Schubert" vorkämen.


    Daran mag etwas sein. Es muss allerdings gefragt werden, warum(!) das so ist. Warum sind wir auf Schuberts Liedersprache so fixiert?
    Alfreds Feststellung, das habe"nichts mit der absoluten Qualität zu tun", möchte ich einmal zur Diskussion stellen. Ich habe diesbezüglich Zweifel.


    Ich habe mir zum Beispiel die Vertonung von "Der Wanderer" (Schmidt von Lübeck) in der Vertonung von Hüttenbrenner ganz genau angehört und dabei versucht, mich innerlich von diesem großen musikalischen Wurf, den Schubert diesbezüglich vorgelegt hat, zu lösen.
    Das fiel schwer, und insofern bestätigt sich das, was Alfred meint.


    Was sich aber überhaupt nicht bestätigt hat, das ist die qualitative Gleichwertigkeit als Liedkomposition.
    Hüttenbrenners "Ich komme vom Gebirge her" ist ein musikalisches Gebilde, dem die für das Lied als Gattung typische innere Geschlossenheit fehlt. Das Ganze wirkt arienhaft, wie für die Opernbühne geschrieben.
    Es ist Hüttenbrenner nicht gelungen, die Innenspannung des lyrischen Textes, dieses Ineinandergreifen von lyrischer Innen- und Außenwelt und die Multiperspektivität des seelischen Erlebens, musikalisch so in den Griff zu kriegen, dass ein Lied im Sinne eines geschlossenen kompositorischen Gebildes entsteht.
    Schubert gelang das in vollendeter Weise!


    Hüttenbrenners Lied zerfällt in einzelne Stropen, die musikalisch-strukturell sehr unterschiedlich sind. Er setzt die Aussagen dieser Strophen in jeweils andere Musik um.
    Bezeichnend ist, dass man, selbst wenn man dieses Lied zehn Mal hintereinander gehört hat, es immer noch nicht nachsingen könnte. Es hat sich kein geschlossener musikalischer Eindruck hergestellt.

    Lieber hart,
    ich habe hier eine Lp vor mir liegen:
    Peter Schreier, begleitet von Norman Shetler, singt Lieder von Schumann: Kerner-Lieder op. 35, Lieder nach Rückert und von Platen. Eurodisc / Lied-Edition, Nr. 4, Aufnahme von 1973.
    Vielleicht gibt´s die ja noch als CD-Überspielung?


    Ich hatte sie bei meinem Überblick über die Aufnahmen von "Stille Tränen" schlicht vergessen.
    Ich gebe hier mal meine Notizen dazu wieder:
    Wenig Kantabilität. Die Stimme kllingt ein wenig gepresst. Das Tempo ist recht langsam. Das ist ja an sich vorgeschrieben, hier aber kommt mir´s etwas zu gedehnt vor, weil die gesangliche Linie abzureißen droht. Der große Bogen über "Au" bis zu "wunderblau" wirkt ein wenig brüchig.
    Aber es wird großer Wert auf die Berücksichtigung des lyrischen Textes beim Singen gelegt.


    Übrigens: Ich bin beim Hören und Sehen dessen, was Ian Bostridge auf You Tube diesbezüglich bietet, regelrecht erschrocken. Wie ist eine solche Vorstellung möglich?

    Lieber farinelli!
    Zunächst: Das Wort "Verzeihung" berührt mich peinlich.
    Wenn ich etwas nicht verstehe, dann suche ich die Ursache erst einmal bei mir, und wenn ich nicht weiterkomme, frage ich nach.
    Das ist ja das Schöne am Forum, dass man miteinander kommunizieren, Unklarheiten ausräumen und sich gegenseitig ein Licht aufstecken kann.
    Das Wort ist also, aus meiner Sicht, unangebracht.


    Das das Gedicht "Stille Tränen" nicht ganz "stringent" ist, das sehe ich auch so. Das mit der "Pointe" kann ich allerdings nicht ganz nachvollziehen. Lassen wir´s aber dabei.


    Die Gesichtspunkte, die Du im Hinblick auf die Interpretation von Van Dam anführst, sind einleuchtend.
    Wenn man Schumanns Komposition als "persönliche Aussage" nimmt und das Lied auf diese Weise in seiner musikalischen Struktur als gleichsam vom lyrischen Text partiell abgehoben sieht - was man tun kann - dann muss einem eine "ebenmäßig geführte Kantilenen-Stimme" natürlich gefallen.


    Mir ist wohl bewusst, dass ich, als lebenslanger Fischer-Dieskau-Hörer, in meiner Fixierung auf das Wort beim Liedverständnis eine möglicherweise etwas einseitige Position vertrete.
    (Will sie aber beibehalten!)

    Farninelli meint: "Kein wirklich gutes Gedicht".
    Was ist das für ein Argument? Nach diesem Kriterium könnte man mehr als die Hälfte des deutschen Kunstliedrepertoires auf den Müll werfen.


    Was, bitteschön, ist unter "theatralische Selbstherrlichkeit" im Zusammenhang mit diesem Lied zu verstehen? Der Begriff macht mich ratlos.
    Kerners Gedicht ist sicher keine ganz große Lyrik. Er hat versucht, eine elementare menschliche Erfahrung in Verse zu fassen: Das stille (nächtliche) Leiden, von dem die Welt nichts wissen will, weil sie erwartet, dass man selbstverständlich immer "gut drauf" ist. Der in tiefer Einsamkeit wurzelnde Schmerz versucht sich zu artikulieren und drängt als Aufschrei nach draußen.


    Brentanos Gedicht "Das verlassene Mägdlein" greift ein ähnliches Thema auf. Es handelt sich dabei aber um eine ganz andere "lyrische Klasse". Das Gedicht ist übrigens großartig von Hugo Wolf vertont ( Elly Ameling, begleitet von Dalton Baldwin, interpretiert es in beeindruckender Weise).


    Nun gut, jetzt wissen wir´s: Kerners Text ist keine wirklich großes lyrisches Gedicht. Aber wir erleben hier doch, was wir alle zur Genüge kennen: Ein genialer Komponist macht daraus ein großartiges Lied!


    Danke für den Hinweis auf You Tube. Ich vergesse immer wieder, dass es diese Einrichtung gibt.
    Ian Bostridge ist eine Katastrophe. Hier ist der Begriff "theatralisch" nun wirklich angebracht, und zwar im negativen Sinne des Worts.
    Ich konnte mich an verschiedenen Stellen des Eindrucks nicht erwehren: Hier kräht ein Hahn!


    Van Dams Interpretation ist für mich nicht herausragend. Der Mann singt mit schöner Stimme die Kantilenen voll aus. Perfekter Gesang, mehr aber auch nicht. Von textbezogener Interpretation kann ich da nicht viel hören. Er erinnert mich ein wenig an Hampson.

    Ich hatte schon einmal angedeutet, dass die Interpreten von op.35, die hart aufgelistet hat, diese Lieder recht unterschiedlich singen. Das war damals ein Urteil, das ich aus der Erinnerung fällte.
    Durch Wolframs Liste von Interpretationseindrücken ( Dank dafür! ) fühlte ich mich angehalten, mein eigenes Urteil noch einmal anhand von "Stille Tränen" zu überprüfen.


    Ergebnis:
    Die Interpretationen sind tatsächlich höchst unterschiedlich. Diese Unterschiede ergeben sich offensichtlich aus einer Grundsatzentscheidung, die jeder Sänger/ jede Sängerin für sich treffen muss:
    In welchem Maß singe ich die weit ausgreifenden Kantilenen dieses Liedes aus?
    Wie stark lege ich Wert auf eine vom Text her gebotene Binnendifferenzierung der gesanglichen Linie?
    Welche Auswirkungen hat dies auf die Lautstärke, das Legato und das Tempo?


    Im einzelnen ergab sich folgendes Bild.
    MATTHIAS GOERNE (mit Eric Schneider / Decca):
    Äußerst behutsamer Stimmeinsatz, ausgeprägter Piano-Gesang mit optimalem Legato. Erst bei "Schmerz" volle Entfaltung der Stimme. Man hat den Eindruck, dass die extreme Zurückhaltung in der Entfaltung der Stimme auch die Ausdrucksmöglichkeiten einschränkt.


    THOMAS HAMPSON ( mit Geoffrey Parsons / Warner Classics):
    Deutlich lauter als Goerne. Insgesamt recht gleichförmiger, in sich wenig differenzierter Gesang. Bei "wunderblau" wird das "u" ungewöhnlich lange gehalten (Tempoverzögerung). Das ist wenig überzeugend. Insgesamt eine Interpretation, die wenig vom der Aussage des Textes her geprägt ist. Man hört vorwiegend Stimme, - allerdings schöne!


    CHRISTOPH PRÉGARDIEN (mit Andreas Staier, Hammerklavier, Mitschnitt des Liederabends Schwetzingen 2006):
    Weit ausgfreifende gesangliche Bögen. perfektes Legato. Der Spannungsbogen der ersten beiden Verse wird überaus expressiv aufgebaut und klingt dann aus. Die zweite Strophe im Timbre deutlich von der ersten abgesetzt. Die Interpretation ist hörbau von der Aussage des Textes her geprägt.


    WOLFGANG HOLZMAIR ("Schumann Lieder", mit Imogen Cooper, Philips):
    Ungewöhnlich rasches Tempo, wenig Differenzierung im stimmlichen Ausdruck. Die zweite Strophe ist nicht deutlich von der ersten abgesetzt. Das Ganze wirkt ein wenig flüchtig, wenig expressiv.


    DIETRICH FISCHER-DIESKAU ( mit Gerald Moore, Live-Aufnahme, Salzburg 1959, Orfeo):
    Die Stimme setzt äußerst behutsam ein und steigert sich mit Nachdruck hin zu einem Gipfel auf "Au", um dann auf "wunderblau" auszuklingen. Das "blau" wird nachdrücklich artikuliert. Das zweite Strophe ist von der ersten sowohl im Timbre als auch in der Lautstärke deutlich abgesetzt. Die vom Text her gebotene Binnendifferenzierung ist - im Vergleich mit den anderen Aufnahmen - am deutlichsten ausgeprägt. Typisch: Bei "ihr meinet" schwingt in der Stimme ein Ton der Vorwurfs mit, der ja vom Text her auch begründet ist.
    Interessant übrigens, dass Fischer-Dieskau in der Gesamtaufnahme der Schumann-Lieder mit Christoph Eschenbach ( bei DG ) etwas weniger textorientiert und expressiv singt.


    MARGARET PRICE (mit Graham Johnson, Helios),
    MITSUKO SHIRAI ("Liederkreis op.39 u. andere Schumann-Lieder, Capriccio):
    Bei der hohen Sopranstimme bestehen, gleichsam naturgegeben, weniger Möglichkeiten der gesanglichen Binnendifferenzierung. Dafür können die Kantilenen wunderbar ausgesungen werden, und das geschieht bei Margaret Price auch. Der seelische Schmerz kommt gut zum Ausdruck.
    Im Vergleich dazu singt Mitsuko Shirai mit ihrem Mezzo-Sopran deutlich differenzierter. Sie wählt ein langsameres Tempo und baut die Kantilenen mit sehr viel Innenspannung auf. Auffällig ist, dass sie behutsamer einsetzt als Margaret Price.


    ANMERKUNG: Natürlich ist bei diesem Lied, von seiner spezifischen musikalischen Struktur her, das Timbre der Stimme ein wichtiger Faktor für die Beurteilung einer Interpretation
    Man sollte aber bedenken, dass das Gedicht selbst eine ausgeprägte Expressivität aufweist. Es geht, wie Wolfram zu Recht betont hat, um den seelischen Schmerz, der aus der Einsamkeit des Leidens hervorgeht. Das sollte sich in einer entsprechenden gesanglichen Binnendifferenzierung niederschlagen.

    Es ist, wie Alfred sagt: Man muss sich in den Text Tiecks einlesen, am besten sogar ihn vollständig in sich aufnehmen, damit man mit dieser Sprache ein wenig vertraut wird und die Lieder von Brahms sozusagen "ungestört" genießen kann.
    Tiecks Sprache mutet uns heute ein wenig fremd an. Das hängt damit zusammen, dass er sich seinerseits darum bemüht hatte, in Anlehnung an den französischen Prosaroman aus dem 15. Jahrhundert, auf dem die "Liebesgeschichte der schönen Magelone beruht, eine leicht altertümelnde Sprache zu wählen.


    So heißt es zum Beispiel im zweiten Lied: "Traun! Bogen und Pfeil...". Das "Traun" kommt vom mittelhochdeutschen "entriuwen" her und bedeutet "wahrhaftig", "wahrlich". Brahms hat es jedoch sozusagen in einem Atemzug mit "Bogen und Pfeil" vertont, so dass man meint, es handele sich bei "Traun" um eine Sache. Viele in diesem Sinne altertümelnde Verse finden sich noch in diesem Zyklus: "Mich umfleucht der Sorgen Schwarm" ...


    Es ist vielleicht sinnvoll zu wissen, dass hinter diesem Werk Tiecks die romantische Poetologie steht. Dann versteht man eher, warum diese Sprache, die übrigens auch Brahms etwas wunderlich fand, uns heute so sehr fern steht.
    Friedrich Schlegel hat das zugrundeliegende romantische Literaturverständnis so formuliert:
    "Das poetische Märchen und vorzüglich die Romanze (sollte) unendlich bizarr sein, denn sie will nicht bloß die Phantasie interessieren, sondern auch den Geist bezaubern und das Gemüt reizen ...".
    Sein Bruder August Wilhelm schrieb 1797:
    "In der Magelone wurde mir die Schwierigkeit sichtbar, schwärmerische Regungen der Liebe in einem alten Kostüm ohne moderne Einmischung darzustellen. Doch sind die Lieder allerliebst...".


    Fischer-Dieskau hat darauf hingewiesen, das es "die Fülle kammermusikalischer Vielfalt" sei, "die das Werk so einzigartig macht". Und da muss man ihm voll zustimmen.
    Ein Lied wie "Sind es Schmerzen, sind es Freuden" bietet vom ersten bis zum letzten Takt zauberhafte, an Harmonien und Modulationen überaus reiche Musik, die den zuweilen etwas süßlichen Text völlig vergessen macht.
    Bei "Durch die Dämmerung der Tränen" entfaltet die melodische Linie einen solch schwebenden Klang, dass man vom Text eigentlich nur noch Vokale und sonore Konsonanten wahrnimmt und sich ganz bestimmt nicht an dem etwas missglückten sprachlichen Bild stört.


    Verschiedentlich hat man schon den Versuch gemacht, die Lieder zusammen mit dem (gekürzten) Rahmentext zur Aufführung zu bringen. So etwa Roman Trekel (zusammen mit Bruno Ganz und Oliver Pohl) bei den Schwetzinger Festspielen 2005.
    Davon liegt auch eine Studioproduktion bei "Oehms classics" vor, die aus meiner Sicht durchaus hörenswert ist.
    Nicht empfehlen kann ich die Studioproduktion mit Fischer-Dieskau von 1957 (von Heliodor veröffentlicht). So großartig Fischer-Diekau singt, so schlecht liest er. Sein Sprechton hat etwas Geziertes an sich, das der Sprache Tiecks überhaupt nicht bekommt.
    Die für mich überzeugendste Aufnahme ist die mit Fischer-Dieskau und Sviatoslav Richter, Salzburger Festspiele 1970, erschienen bei "Orfeo".


    Brahms hat sich übrigens unterschiedlich zu der Frage geäußert, ob man die Lieder mit oder ohne gesprochenen Text aufführen soll.
    In Briefen meint er, die Lieder könnten eigentlich für sich selbst sprechen und brauchten keinen erzählerischen Rahmen.
    Ihre Hamburger Uraufführung mit Stockhausen war übrigens ein Flop. Nach Angabe von Brahms seien die Lieder "ausgejohlt" worden.


    Sie waren wohl schon damals ein musikalisches Kunstwerk, das ganz besondere Anforderungen an seinen Rezipienten stellt.
    Es kann ihn allerdings reich belohnen, wenn er bereit ist, sich seinem Zauber voll zu öffnen.



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    Die Rede ist von "Stille Tränen" aus Schumanns op.35.
    Das ist ein in jeglicher Hinsicht außergewöhnliches Lied. Schon im Titel und der Anweisung des Komponisten "aus voller Brust zu singen" steckt ein merkwürdiger Widerspruch.
    Außergewöhnlich sind die fast arienhaft wirkenden, weit ausgreifenden Kantilenen, wie sie in keinem Lied sonst zu finden sind, Kantilenen mit Portamenti, die ansonsten doch im Liedgesang verpönt sind.


    Außergewöhnlich, zumindest für Schumann, ist, dass das ganze Lied nur aus einem einzigen musikalischen Motiv besteht. Und schließlich ist die Klavierbegleitung außergewöhnlich, - wiederum gemessen an dem, was man ansonsten bei Schumanns Liedern vorfindet. Sie ist von verblüffender Simplizität: Ein Sechsvierteltakt, 5 Akkordviertel aus jeweils drei bis vier Tönen folgen aufeinander, ein Ton im Bassbereich ist als Vorhalt vorangestellt.
    Diese Akkorde tragen die Singstimme bis zum Verklingen. Einfacher geht´s kaum.
    Erst danach kommt ein Schumannsches Nachspiel, das es freilich in sich hat. Es mutet an, als weine das Klavier sich aus.


    Das eigentlich Außergewöhnliche, ja Verblüffende aber ist die Erfahrung, die man beim Hören macht.
    Vom Titel des Liedes her erwartet man eigentlich in der Singstimme ein Piano. Das Kommt auch am Anfang, es wird aber in langsamer Steigerung schon in der ersten Strophe (bei "durch die Au") ein Mezzoforte erreicht, und in der dritten Strophe steigert sich die Singstimme bei dem Wort "Schmerz" sogar bis zum Fortissimo.
    Und doch empfindet man dieses Lied beim Hören an keiner Stelle als wirklich laut. Im Gegenteil, man hat am Ende das Gefühl einem stillen, innigen Lied gelauscht zu haben.
    Wie kommt das?


    Folgt man aufmerksam der Bewegung der Gesangsmelodie, dann stößt man bald auf die Antwort. Sie weist, wenn sie notengemäß interpretiert wird, eine innere Dynamik auf, die sich ganz eng an den Text anschmiegt.
    Der erste musikalische Akzent liegt sinngemäß auf dem Wort "erstanden". Die melodische Linie gipfelt dann bei dem Wort "Au", hält kurz inne und klingt dann langsam auf dem überaus vokalreichen "wunderblau" aus.
    Mit der zweiten Strophe ändert sich die Tonart, auch dies wieder vom Gehalt des lyrischen Textes her motiviert. Die Dynamik der Gesangsmelodie wirkt gedämpft, die Kantilenen greifen nicht so weit aus.


    Wenn das Lied dann an seiner zentralen Aussage angekommen ist, dem Schmerz, der in stillen Nächten geweint wird, dann empfindet es der Hörer als völlig angemessen, dass die Singstimme ihre höchste Lautstärke erreicht und dass dies alles auf diesem Lautstärkeniveau noch einmal wiederholt wird.
    Schmerz und Leid drängen aus dem Ich heraus und artikulieren sich in einer Art Klageruf.
    Kein mitfühlender Mensch wird dergleichen als "laut" empfinden.


    Ich höre dieses Lied am liebsten in der Aufnahme mit Fischer-Dieskau und Gerald Moore, Salzburger Festspiele 1959, erschienen bei Orfeo.
    Allerdings macht mich jetzt die Bemerkung von Wolfram stutzig, seine Betonung der Kantilenen wirke "ein wenig äußerlich".
    Fischer-Dieskaus Interpretation bringt für mich die seelischen Regungen des Gedichts, die Schumann in wunderbar treffende musikalische Strukturen umgesetzt hat, am deutlichsten und differenziertesten zum Ausdruck.
    Aber da sind wir wieder bei unserem alten Thema: "Geschmackssache" ( an die ich aber noch immer nicht so recht glauben will).

    Vielleicht wäre es angebracht, einmal darauf hinzuweisen, dass außer den "Herren", auf die hart hingewiesen hat, auch "Damen" op.35 von Schumann singen.
    Die schönste Interpretation, die ich diesbezüglich kenne, ist die von Margaret Price, begleitet von Graham Johnson (Aufnahme 1991, 1999 unter dem Label Hyperion veröffentlicht). Besonders in den Piano-Passagen der Lieder kann sie das weibliche Timbre ihrer Stimme sehr gut zur Geltung bringen. Höchst beeindruckend ist die Interpretation der beiden letzten Lieder.


    Interessant wäre es, hier einmal ein Urteil über die interpretatorische Leistung der von hart angeführten Herren zu lesen. Die ist aus meiner Sicht nämlich höchst unterschiedlich. Ein Thomas Hampson wirkt im Vergleich mit Fischer-Dieskau verblüffend einförmig, was die Möglichkeiten einer differenzierten Interpretation des Charakters der einzelnen Lieder anbelangt.


    Dass man in bezug auf die Einschätzung von op.35 nicht der Meinung sein muss(!), die ich hier vertreten habe, steht außer Zweifel. Mir ging es um die Einstufung dieses in sich geschlossenen Liederzyklus im Vergleich mit op.39 und op.48. Und da gibt es, wie ich glaube gezeigt zu haben, musikalisch-strukturelle Merkmale, die den beiden letzteren Zyklen - übrigens auch im Vergleich mit op.24 - den höheren Rang im Gesamtwerk Schumanns zuweisen.


    Dass op.35 in seiner Gesamtheit ein großartiges Werk ist, für das man sich begeistern kann und das allein schon Schumann zu einem der größten Liederkomponisten gemacht hätte, da stimme ich mit hart vollkommen überein.
    (Persönliche Anmerkung: Der Liederabend Prégardiens in Schwetzingen vom 16. Mai 2006 ist mir wohlbekannt. Prégardien sang in einer höchst beeindruckenden Weise. Nur Staiers Hammerklavier wollte nicht so recht harmonieren. Ist aber ein wirklich ganz subjektives Urteil!)

    Mehrfach wurde hier, mit Blick auf den "Schwanengesang", die Frage aufgeworfen, in welchem Verhältnis Schubert zu den ironischen Elementen in Heines Lyrik stand. Zuletzt gab Farinelli zu bedenken, "inwieweit Schuberts Lieder der Ironie überhaupt fähig waren".
    Nun bringt es ja wenig, darauf mit unkommentierten Hinweisen auf dieses oder jenes Musikstück aus dem Deutsch-Verzeichnis zu reagieren. Man muss wohl schon genauer hinsehen.


    Vorab eine Klarstellung.
    Ironie ist eine rein sprachliche Angelegenheit. Sie wird oft mit Komik und Humor verwechselt, ist aber davon deutlich zu unterscheiden.
    Sprachliche Ironie ist immer doppelbödig, sie spielt sich zwischen zwei semantischen Ebenen ab, zwischen denen eine Art antithetisches Verhältnis herrscht. Die vom Autor zunächst aufgebaute semantische Ebene bricht gleichsam ein, und der Leser landet unerwartet auf einer anderen Ebene, die das Gegenteil von dem beinhaltet, was er gerade gelesen und empfunden hat.
    Das ist der Effekt der "attesa contradetta", der zerbrochenen Erwartungshaltung. Literarische Ironie eben.


    Da nun Musik, wie Nelson Goodman festgestellt hat, ihrem Wesen nach nicht denotiert, sondern exemplifiziert, kann sie nicht doppelbödig, also auch nicht ironisch sein.
    Die Frage muss also immer lauten:
    Reagiert ein Liederkomponist mit seinen musikalischen Mitteln auf die vorhandenen ironischen Elemente eines sprachlichen Textes?
    Und wenn ja, in welcher Weise tut er das?


    Das heißt nun:
    Man muss im Falle Schuberts erst einmal nach Texten suchen, die eindeutig ironische Passagen enthalten.
    Ich habe mir die Mühe gemacht und das der Hyperion-Sammlung beigefügte Textbuch sorgfältig durchforstet.
    Ergebnis:
    Es gibt nur einen Text, der im Sinne der Definition eine ironische Brechung aufweist. Es ist Heines "Am Meer" aus dem "Schwanengesang".
    Bei den anderen Heine-Gedichten des "Schwanengesangs" konnte Schubert den Text wörtlich nehmen: Sie weisen keine eindeutig ironischen Elemente auf, sind zum Teil sogar bitterer Ernst. Es sei denn, man betrachtet den Griff zur mythologischen Figur des "Atlas" schon an sich als ironisch, was ich aber nicht für angebracht halte.
    Die Lieder, die "Maexl" anführt ( "Klage um Ali Bey" und "Der Hochzeitsbraten"), fallen beide unter die Kategorie "komödiantischer Humor". Sie weisen nicht diese beiden semantischen Ebenen auf, die für eine ironische Brechung erforderlich sind.


    Und was macht Schubert nun mit den Anklängen von Ironie in Heines "AM MEER"?
    Er komponiert ungerührt darüber hinweg. Er hätte nämlich, wäre er wie Schumann an dieses Gedicht herangegangen, die dritte und die vierte Strophe nicht weitgehend identisch mit der ersten und zweiten anlegen dürfen. Mindestens aber hätte er die beiden letzten Verse kompositorisch deutlich abheben müssen, wäre es ihm darum gegangen, die Heinesche Ironie in der musikalischen Struktur des Liedes aufzugreifen und zu unterstützen.


    Man muss Schubert ja nicht - was völlig verfehlt wäre! - literarische Naivität unterstellen, wenn man die Feststellung trifft, dass er Texte mit ironischen Elementen offensichtlich gemieden hat und im Falle Heines kompositorisch auf solche Elemente nicht reagierte.
    Er wollte ganz einfach nicht, aus welchen Gründen auch immer.


    Man darf wohl getrost die Auffassung vertreten, dass Ironie ganz einfach nicht in die musikalische Grundstruktur der Lieder Schuberts passt, die sich ja, wann immer möglich, am Primat der Melodie orientiert.
    Humor lässt sich da sehr gut einfügen. Ironie aber muss ein Fremdkörper sein.

    Schumann hat bei diesem Opus 35 die von ihm ausgewählten Gedichte Kerners in eine von ihm so gewollte Reihenfolge gebracht.
    Er nennt das Ganze nicht "Liederkreis", wie sein Opus 39, sondern "Liederreihe".
    Eine Reihe ist auf ein Ende, einen Zielpunkt ausgerichtet. Es liegt also nahe, den Gehalt des ganzen Opus 35 von den beiden letzten Liedern her zu interpretieren.


    Sucht man nach dem zentralen thematischen Stichwort, dem "roten Faden" gleichsam, der sich durch die ganze Liederreihe zieht, dann findet man ihn eben dort, in Lied 11: "Krankheit".
    Dieses Lied sagt auch, von welcher Art diese Krankheit ist: Da leidet ein Ich an der Welt und den Menschen. Es ist die "Krankheit zum Tode", das, was Kierkegaard die "ungeheure Schwermut" nennt. Es gibt kein Heilmittel gegen sie, nur einen Ort, der Linderung verspricht: die Natur.
    Wirkliche Heilung kann sie nicht bieten, weil der Mensch nicht restlos in sie eingehen kann. Es bleibt immer ein Teil zurück, der leiden muss, weil dies sein Wesen, seine Bestimmung ist.


    Das alte romantische Dilemma klingt hier an, selbst bei einem so "späten" Dichter wie Kerner. Und damit wird auch klar, warum Schumann auf ihn ansprach. Kerner brachte die Seele des romantischen Komponisten zum Klingen, aber er sprach auch den Menschen Schumann an, der längst wusste, dass er ein kranker Mann war.


    Beim ersten, flüchtigen Hören denkt man, dieses so düstere Bild von Opus 35 könne doch nicht stimmen, es gebe da doch dieses schwungvolle und populäre "Wanderlied": "Wohlauf! noch getrunken...".
    Mit diesem Lied dem Hörer das Opus 35 schmackhaft machen zu wollen, das ist nicht nur wenig sachgerecht, es kommt fast einer Irreführung gleich. Rein kompositorisch ist es nicht nur eines der schwächeren Lieder der Reihe, es verführt auch zu einem Missverständnis, wenn man es aus dem Zusammenhang löst und nicht genau hinhört. Man überhört nämlich gar gern den Gehalt der vierten und der fünften Strophe. Da klingt Heimweh an, und Wehmut ist zu spüren.
    Was hier noch Andeutung ist, wird im zweiten Wanderlied der Reihe (Nr.7, "Wanderung") deutlicher hörbar:
    Da redet sich einer ein, dass er nicht verlassen sei. Ein fröhliches, unbefangenes, sorgloses Wandern ist das jedenfalls nicht, was in beiden Liedern thematisiert wird.


    Sie nehmen sich ohnehin ein wenig fremd aus in dieser Liederreihe, in der die leisen Moll-Töne die entscheidenden musikalischen Akzente setzen.
    Immer wieder wird die Natur beschworen und die lindernden Kräfte, die von ihr ausgehen. Den Sänger treibt´s von den Menschen fort, er klagt darüber, dass er die Wälder verlassen musste, die ihn so lindernd umfangen hielten. Vogelsang und Blütenschmuck sind das einzige, was "in arger Zeit" sein Herz noch mit Lust erfüllen kann.
    Und was steht am Ende?
    Ein Lied, das in der ergreifenden Tonlosigkeit der Klage und der vergeblichen Hoffnung auf Rettung an den "Leiermann" aus der "Winterreise" erinnert.


    Es sind die leisen, die stillen Lieder, die in diesem Opus 35 die wirklich großen sind. Das laute "Wanderlied" mutet in deren Umkreis merkwürdig fremd an. Ich überspringe es beim Hören gerne, weil es für mich das nachfolgende, so überaus zarte Lied "Erstes Grün" fast zu erdrücken droht.


    Opus 35 ist ein anderer Schumann als der der "Dichterliebe".
    Auffällig ist, dass das Klavier in seiner Rolle als "Mitspieler" stark zurückgenommen ist. In vielen Liedern follgt es in Parallelführung oder in schlichten Akkorden (Lied 10) einfach der Singstimme.
    Das Klavier ist längst nicht so emanzipiert wie in der "Dichterliebe" oder im "Liederkreis op.39".
    Nur hie und da, in Lied 8 und in Lied 10, gibt es mal ein typisch Schumannsches Nachspiel. Aber es erreicht längst nicht das kompositorische Niveau wie etwa das Nachspiel von "Ich hab´im Traum geweinet" aus der "Dichterliebe", von dem zu Recht festgestellt wurde, dass es eine der "unversöhnlichsten, längsten und leersten Stillen des gesamten romantischen Repertoires" sei (Pousseur).


    Muss man deshalb das Opus 35 als die weniger bedeutende Liederreihe einstufen, gemessen an dem, wozu Schumann kompositorisch in der Lage war?
    Ich möchte das bejahen, - bei aller Schönheit und Großartigkeit einzelner Lieder.

    Ein wenig enttäuschend war für mich, hier die Feststellung von hart zu lesen: "Wir wissen es nicht und werden es wohl nie erfahren", - und das auch noch fett gedruckt.
    Dabei hatte ich gerade versucht, zu zeigen, dass wir bei Schumann zum Beispiel eine ganze Menge wissen können. Dieses Wissen ist - und das gilt auch für andere Liedkomponisten - ja kein im Grunde überflüssiges gedankliches Spielzeug, das für den Liedfreund letztlich unnütz ist, sondern es leistet eine wesentliche Hilfe zum Verständnis der Lieder.


    Bei Schumann begreift man das Neuartige an seinen Liedern, das einen seiner Biographen (Martin Geck) sogar von einem "ästhetischen Paradigmenwechsel" sprechen lässt, eher, wenn man weiß, was er mit seinen Liedkompositionen letzten Endes beabsichtigt hat.
    Er wollte, wie er selbst sagte, "das Gedicht in seiner leibhaftigen Tiefe" wiedergeben, und deshalb war er auf der Suche nach Dichtern, bei denen ihm das besonders gut gelingen würde. Er suchte den "neuen Dichtergeist", so seine eigene Formulierung. Und diesen neuen Dichtergeist fand er zum Beispiel gerade bei Heine besonders ausgeprägt.


    Vielleicht ist dies eine gute Erklärung dafür, dass es ihm gelang, diesem "Geist" der Heineschen Lyrik in so großartiger Weise gerecht zu werden. Eigentlich, denkt man, kann das ja gar nicht gelingen: Musik kann nicht ironisch sein. Und wenn man sich die Heinevertonungen anderer Komponisten anhört, dann stellt man fest, dass sie sich auf jene seiner Gedichte, in denen es die "berüchtigten" ironischen Brüche gibt, gar nicht eingelassen haben.


    Farinelli hat mit Recht darauf hingewiesen, dass die Heinesche Ironie "ganz so leicht nicht zu fassen" ist. Sie ist ja nicht immer so dick aufgetragen, wie bei "Ein Fräulein stand am Meere", und sie verfolgt auch nicht die bei diesem Text ziemlich eindeutige vordergründige Absicht.
    Heines "Ironie" äußert sich oft in lyrisch höchst diffizilen und mit äußerstem Bedacht sprachlich gestalteten Textkonfigurationen. Hinter ihr steht auch nicht die Absicht, dem Leser gleichsam die Zunge herauszustrecken, wenn er auf ein schönes lyrisches Bild "hereingefallen" ist.
    Dahinter steht eine tiefe Wehmut, ein Leiden darunter, dass sich der spezifisch romantische Traum von der Aufhebung der Individuation im Medium der Kunst nicht mehr träumen lässt.


    Schumann hat das begriffen, und deshalb versucht er, den "Geist" der Heineschen Lyrik mit den muikalischen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, so genau wie möglich zu fassen. Deshalb zum Beispiel lässt er bei "Allnächtlich im Traume" die Gesangsmelodie zunächst ganz besonders innig klingen und unterstützt und versärkt auf diese Weise das herzergreifend liebliche Bild Heines, um sie dann, wenn bei Heine die Sprachmelodie kippt, ebenfalls kippen zu lassen.


    Nur ein Komponist, der dem "Geist" Heines innerlich verwandt ist und sich in seine Lyrik musikalisch einfühlen kann und will, ist in der Lage, solche Lieder zu schaffen.
    Man höre sich einmal die Vertonung von "Allnächtlich im Traume" durch Mendelssohn an. Dort, wo Schumann die melodische Linie kippen lässt, wiederholt Mendelssohn lang und breit: "Zu deinen süßen Füßen".
    Klingt gut, hört sich hübsch an, ist aber kein Heine!

    Es kommt mir so vor, als sei die Frage, von welchen Motiven sich ein Lied-Komponist bei der Auswahl seiner lyrischen Textvorlagen leiten lässt, bei Mahler ganz besonders kompliziert und schwer zu beantworten. Man kann sich nur herantasten, und man landet bei diesem Komponisten schneller als erwartet in den Tiefen eines komplizierten Seelenlebens.


    Ich versuche es fürs erste mal mit der für mich schwierigsten Frage dieses ganzen Komplexes:
    Warum hat Mahler aus der Sammlung "Des Knaben Wunderhorn" ausgerechnet diese und keine anderen Lieder für seine Vertonung ausgewählt?
    Diese Frage drängt sich ja regelrecht auf angesichts der Tatsache, dass er schließlich die Wahl hatte unter mehr als 200 Gedichten, die in Thema, Gehalt und sprachlicher Gestalt sehr unterschiedlich sind. Das "Wunderhorn" bietet schließlich ein riesiges Panorama menschlichen Lebens in lyrischer Gestaltung. Es ist ein vielfältiges Spektrum an fundamentaler Lebens- und Existenzerfahrung aus einer ländlichen, noch vorindustriellen Welt, artikuliert in einer - von den Herausgebern bearbeiteten - volkstümlich schlichten Sprache und gestaltet in meist einfacher Strophenform.
    Alles ist thematisiert: Freude, Liebe, Trennung, Einsamkeit, Schmerz, höchstes Glück und tiefstes Leid.


    Und was greift Mahler aus dieser Sammlung heraus?
    Wir wissen, wie er auf sie gestoßen ist, in der Bibliothek eines Enkels von Carl Maria von Weber nämlich. Wir wissen auch, dass er durch seine Liebe zu dessen Frau, Marion von Weber, möglicherweise inspiriert wurde.
    Jedoch, - worin gründet dieses Fasziniert-Sein durch die Wunderhorn-Sammlung letzten Endes?
    Er selbst sagt, er habe sich der Sammlung "mit Haut und Haar verschrieben", weil er dort "mehr Natur und Leben ... als Kunst" gefunden habe.
    Aber warum mündet diese Faszination ausgerechnet in diese Lieder?


    Das ist rätselhaft. Man denkt, er hätte doch heitere, von Liebe und Glück handelnde Texte aus der Sammlung auswählen können. Es gibt schließlich davon jede Menge.
    Was aber wählt er? Es sind allesamt - auch bei vordergründig harmloser Oberfläche - im Kern ihres Gehalts finstere, trostlose, deprimierende Texte, Lieder ohne jegliche Hoffnung.
    Auffällig viele Soldatenlieder gibt es. Warum eigentlich?
    Sie handeln von sinnlosem Töten und Sterben, von Gefangenschaft und Hinrichtung, von Einsamkeit im Wissen um die Unmöglichkeit eines Lebens in bürgerlicher Zweisamkeit.
    Ein gespensterhafter Totentanz ist dabei, "Revelge", eines der unheimlichsten und beängstigendsten Lieder der ganzen Liedliteratur.


    Auch außerhalb dieser soldatischen Welt gibt es keine Erlösung aus der Einsamkeit, etwa durch die Liebe zu einem anderen Menschen. Reines Gänsegeschnatter ist es, diese Erlösung aus der existentiellen Einsamkeit durch Liebe zu verkünden. Dem Einsamen und Verlorenen bleibt nur, seinen Ring in irgendeinen Fluss zu werfen und zu hoffen, dass ein anderer in finden möge.
    An Gottes Segen ist alles gelegen? Wer´s glauben tut!
    Das Gute predigen, um das Gute in die Welt zu bringen? Sinnlos, selbst wenn man es bei den Fischen probiert.
    Und sollte es einer Frau doch gelungen sein, ein kleines Leben in Familie und Zweisamkeit aufzubauen, dann stirbt ihr das Kind, weil sie gegen Hunger und Armut nicht ankommen kann, so sehr sie sich auch abmüht.


    Mahler soll dieses Lied, "Das irdische Leben", ganz besonders geliebt haben. Das sagt viel.
    Man ist ja wirklich auf Vermutungen und Spekulationen angewiesen, aber es spricht alles dafür, dass die Motive für die Auswahl dieser Lieder in der Seele eines zutiefst pessimistischen, einsamen und depressiven Menschen zu suchen sind.

    In Ergänzung und als Beleg zu dem, was "operus" hier schreibt, möchte ich aus dem Buch von Herfried Kier, einem ausgewiesenen Kenner der Musikproduktionsszene zitieren (Herfried Kier, Der fixierte Klang. Köln 2006).
    Dort heißt es u.a.:
    "Als anspruchsvoll und nicht leicht zufrieden zu stellen galt bei vielen Tontechnikern Dietrich Fischer-Dieskau, der sich, besonders bei seinen Lied-Aufnahmen, bemühte, seine Klangvorstellungen durchzusetzen." (S.191)
    "Anlass zu Verärgerung bei Aufnahmen waren für Fischer-Dieskau aus seiner Sicht meist ungenügende oder schlecht platzierte Mikrophone und Mängel in der Balance zwischen Stimme und Klavier." (S.144)
    Der Produzent Suvi Raij Grubb berichtet in seinen Erinnerungen:
    "Die erste Sitzung mit Fischer-Dieskau ist immer anstrengend." (S.145)


    Der legendäre Produzent Walter Legge erzählt von einer Aufnahme von "Capriccio":
    "Finding himself with Gedda and Hotter in the gentle opening scene, Fischer-Dieskau felt overwhelmed by the other voices, and suddenly accused Legge and his technical staff of favouring his colleagues to his own disadvantage and detriment."


    Fischer-Diekau selbst berichtet aus den letzten Jahren seiner Liedaufnahmen:
    "Ich habe große Kämpfe ausgefochten mit dem sehr tüchtigen Aufnahmeleiter Teeje van Geest, der in Heidelberg ein Studio hat."


    Ich denke, das genügt jetzt.
    An sich sind Sänger ja (bekanntermaßen) nicht mein Thema, aber der Vorwurf mangelnder Selbstkritik gegenüber Fischer-Dieskau hat mich ein wenig schockiert, muss ich gestehen.

    Warum fühlt sich ein Komponist zu einem bestimmten lyrischen Text hingezogen und macht ein Lied daraus, während er einen anderen ignoriert?


    Diese Frage hat mich immer schon interessiert.
    Meistens findet man keine hinreichende Antwort darauf. Im Falle Schumann - Heine ist das freilich anders, hier kann man sogar gleich mehrere Gründe erkennen.
    Zum einen musste Schumanns Begeisterung für Jean Paul ihn mit einer gewissen Zwangsläufigkeit zu Heine führen, denn die Dichter des "Jungen Deutschland" sahen in Jean Paul ihr großes Vorbild.
    Es gibt aber auch, so glaube ich, eine tiefe innere Verwandtschaft zwischen der Lyrik Heines und den frühen Klavierkompositionen Schumanns: Beide sind geprägt von tiefreichenden inneren Rissen, Brüchen und Spannungen.
    Der französische Philosoph Roland Barthes sah in der "Kreisleriana" sogar ein Beispiel für die von ihm vertretene Theorie der Dekomposition, und sein Landsmann Beaufils war der Meinung, das literarische Motiv des Karnevals habe Schumanns Klavierschaffen ganz entscheidend beeinflusst.


    Eine alte und oft wiederholte These lautet: Schumann sei es nicht gelungen, die Heinesche Ironie in seinen Heine-Vertonungen kompositorisch voll zu berücksichtigen und musikalisch darzustellen.
    Diese These gilt heute als widerlegt.


    Ein schönes Beispiel, an dem man zeigen kann, wie Schumann kompositorisch mit Heines Lyrik umging, ist das Lied ALLNÄCHTLICH IM TRAUME aus der "Dichterliebe".
    In Heines Sammlung folgt es auf "Ich hab im Traum geweinet", und Schumann hat diese Reihenfolge aus gutem Grund beibehalten. Kann man dieses Gedicht, wie so oft bei Heine, als lyrischen Ausdruck eines nicht durch Ironie gebrochenen Gefühls lesen, so gilt das für "Allnächtlich im Traume" nicht mehr.
    Hier sind die Heineschen "Effekte" voll vertreten, vor allem jener, den der italienische Literaturwissenschaftler Alberto Destro als "attesa contradetta" bezeichnet hat: Eine vom Autor bewusst zerbrochene Erwartungshaltung des Lesers.
    Das passiert in diesem Gedicht in jeder der drei Strophen, jeweils nach den ersten beiden Versen. Da wird der Leser unerwartet mit "süßen Füßen", "Perlentränentröpfchen" und der lapidaren Feststellung konfrontiert: "Und´s Wort hab ich vergessen".


    Und was macht Schumann mit diesem Sachverhalt, den man als "sentimental-maliziös-ironische Struktur" bezeichnet hat?
    Er komponiert eine ihr voll entsprechende musikalische Struktur, die in der Lage ist, eine Symbiose mit ihr einzugehen. In beiden Liedern wird die Singstimme durch Pausen zerklüftet, im ersten Lied sogar vom Klavier alleine gelassen und nur phasenweise mit Stakkatoakkorden unterstützt.
    Bei "Allnächtlich im Traume" werden jeweils die beiden Anfangsverse der Strophen auf acht Takte verteilt, die beiden letzten aber nur auf drei. Das bringt diese lapidare Kürze in die melodische Linie, die ganz genau dem desillusionierenden Effelt der lyrischen Sprache entspricht.
    Der Bruch zwischen den jeweiligen Strophenhälften wird noch dadurch verstärkt, dass Schumann vom 2/4- ind den 3/4-Takt überwechselt. Die Tatsache, dass beim letzten Vers der beiden ersten Strophen die Singstimme in ganz tiefe Lagen hinabsteigt, verstärkt den ironischen Effekt, den Heine haben wollte.


    Die dritte Strophe legt Schumann ganz bewusst anders an. Weil er den Heine-Effekt des Schlussverses auch in musikalische Struktur umsetzen wollte, verzichtet er jetzt auf den Taktwechsel, lässt die Singstimme langsam ansteigen, um dann den Schlussvers in schnellen Sechzehnteln enden zu lassen. Die Singstimme verharrt auf einem dissonanten Akkord im Klavier, der sich erst danach auflöst.


    Das alles ist, wie ich finde, ein glänzender Beleg dafür, wie bewusst und genial Schumann als Komponist mit der spezifischen sprachlichen Struktur der Lyrik Heines umzugehen verstand.

    Sagitt meint, Selbstkritik sei nie Fischer-Dieskaus Stärke gewesen, und infolgedessen gäbe es viele Aufnahmen von ihm, die nie hätten veröffentlicht werden dürfen.


    Ich wüsste gerne einmal, worauf sich diese Vorwürfe stützen und welche Aufnahmen ganz konkret damit gemeint sind. Mein Motiv: Ich müsste mein Bild korrigieren, das ich von diesem Sänger habe (und würde das dann auch tun).


    Das sieht nämlich ganz anders aus. Ich habe alles an Interviews mit ihm gesammelt, was je im Rundfunk und im Fernsehen gesendet wurde. Ich kenne (vermutlich!) alle Interviews, die gedruckt vorliegen, sowohl in Form von Büchern (z.B. "Musik im Gespräch" von Eleonore Büning) als auch diejenigen, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch das Buch "Nachklang" von ihm.


    Fazit: Ich könnte hier jede Menge Belege bringen, die zeigen, dass er mit seiner eigenen Leistung als Sänger und Liedinterpret höchst kritisch umgeht. Ich werde das auch tun, wenn es gewünscht wird.


    Zum Umgang mit seiner Frau.
    Da hat unsereiner natürlich keinerlei Einblick, zumal Fischer-Dieskau sein Privatleben von jeher sorgfältig abgeschirmt hat.
    Ich habe hier eine Filmaufzeichnung vorliegen, die zeigt, wie er mit Julia Varady zusammen eine Arie einstudiert. Er begleitet sie dabei am Klavier und gibt Hinweise auf Verbesserungsmöglichkeiten.
    Ich finde, dass er dabei überaus liebevoll und behutsam vorgeht. Die Art, wie er das macht, lässt großen Respekt vor der Ehefrau und Künstlerin erkennen.

    Lieber musikwanderer,
    darf ich Dich darauf aufmerksam machen, dass Du das "sondern" in diesem Satz übersehen hast?
    Die Satzkonstruktion lautet:
    "Er hat sich nicht nur auf einen Komponisten beschränkt, sondern ... auch..." .
    Die Feststellung besagt in der hier vorliegenden sprachlichen Formulierung also sinngemäß:
    Er hat sich auf einen Komponisten beschränkt und zudem auch noch ein kompositorisches Prinzip walten lassen.


    Das ist übrigens tatsächlich ein Sachverhalt, der bei der Gestaltung von Liederabenden nicht hoch genug eingeschätzt werden kann, weil er erkennen lässt, dass es dem Interpreten um mehr geht als um die Präsentation von wohlklingenden Liedern und die damit einhergehende Entfaltung seines sängerischen Organs (obwohl das natürlich auch schon eine schöne Sache ist!).


    Hoffentlich habe ich Dich mit diesem Hinweis nicht verärgert. Es täte mir leid!

    Zu dem Trend, den ich in den Liederabenden der letzten Zeit meine erkennen zu können (ich habe ihn im Thread "Verballhornungen" beschrieben), gehört offensichtlich auch die Rückkehr zum Komponistenmix.
    Das fügt sich ja auch ganz gut. Wenn es um den möglichst großen Effekt geht, dann wird das Liedrepertoire zur Verfügungsmasse, aus der man dann die Stücke auswählt, mit denen man die größte Wirkung beim Publikum erzielen kann.
    Das geht dann nach dem Prinzip: Zwei Liedchen von Mozart, zwei Liedchen von Beethoven (darunter natürlich die Adelaide), vier Liedchen von Schubert, und so fort. Das Publikum ist entzückt und drückt seine Begeisterung selbstverständlich mit Beifall nach jedem Lied aus. Ab und zu ist auch mal anerkennendes Geraune zu hören, wenn es dem Interpreten gelang, ein Lied so zu singen, "wie Sie es noch nie gehört haben".
    Alles schon erlebt!


    Fischer-Dieskau hatte mit dieser alten Tradition des Komponistenmix in seinen Liederabenden gebrochen, und das aus gutem Grund. Er wollte dem Lied im öffentlichen Konzertleben das Gewicht geben, das ihm zukommt, wenn man es als das nimmt, was es ist: ein musikalisches Kunstwerk.
    Dem Lied haftete im Bewusstsein des klassischen Konzertbesuchers davor ja immer das Image der "Kleinkunst", des musikalischen Leichtgewichts an. Fischer-Dieskau wollte es davon befreien, und das ist ihm auch gelungen.
    Man mag ja, auch welchen Gründen auch immer, die Verdienste Fischer-Dieskaus um den Liedgesang anzweifeln, dieses Faktum ist - bei aller Lust am Zweifel - schwer aus der Welt zu schaffen.


    Ein wesentliches Mittel - von den interpretatorischen Mitteln einmal abgesehen - war, dass er sich bei seinen Liederabenden nicht nur auf einen Komponisten beschränkte, sondern, und das wird oft übersehen, bei der Auswahl der Lieder ein kompositorisches Prinzip walten ließ.
    Ich greife einmal ein beleibiges Beispiel heraus, um möglichst konkret zu argumentieren:
    Am 4. Mai 1971 sang er, begleitet von Günther Weissenborn, in Frankfurt Schubertlieder. Aufeinander folgten am Anfang: Der Strom (Mayrhofer), Auf der Donau (Mayrhofer), Der Wanderer (Schlegel), Gruppe aus dem Tartarus (Schiller), Litanei (Jacobi), Die Vögel (Schlegel), An die Freunde (Mayrhofer) ...


    Man sieht sofort:
    Hier gibt es eine deutlich erkennbare Linie, die nur vordergründig darin besteht, dass mehrmals derselbe Textautor auftaucht. Das kompositorische Prinzip erkennt man man Inhalt der Lieder: Es geht um das Motiv des Wanderers, um das Erschließen der Welt also, die passive und gestalterische Begegnung mit ihr, und schließlich um das Ende dieses Weges, das langsame Zur-Ruhe-Kommen, in dem sich der Tod ankündigt.


    Ich hätte gar nichts dagegen, dass man heute wieder zu dem alten Komponistenmix zurückkehrt, wenn bei der Auswahl der Lieder wenigstens ein - aus ihrem Gehalt hergeleitetes! - Gestaltungsprinzip erkennbar wäre und nicht Beliebigkeit herrschte.
    Andernfalls nämlich wäre man wieder hinter Fischer-Diekau zurückgefallen, und das kann doch eigentlich einem Liebhaber des Kunstliedes nicht recht sein.


    In einem Interview, das er zu seinem achtzigsten Geburtstag gab, berichtete er von einem Liederabend in den Niederlanden. Er wollte die "Winterreise" singen und das natürlich (wie immer) ohne Pause. Man verwies ihn dezent, aber nachdrücklich auf die Kaffeepause, die das niederländische Publikum gewohnt sei.
    Er ließ sich nicht beirren, verwies seinerseits auf die in diesem Liederzyklus gründenden Zwänge der Interpretation, und die Pause fand nicht statt.


    Das ist es , was ich meine:
    Primat hat das musikalische Kunstwerk. Alles andere ist sekundär!

    Ich wage die These, dass es einen neuen Trend im Liedgesang gibt, einen, der für die Post-Fischer-Dieskau-Ära prägend sein könnte. Ich versuche ihn so zu beschreiben und zu definieren:
    Es besteht eine inzwischen ausgeprägte Neigung zu einer auf die Metaebene der Liedtextur abzielenden expressiven Interpretation.


    Bei dieser These stütze ich mich auf die Art und Weise, wie Ian Bostridge Liedgesang praktiziert, und auf die Erfahrungen, die ich jüngst bei Christoph Prégardien machte (und der hat schließlich das Zeug zum Trendsetter!).


    Meinen Ärger über Teile der beiden Schwetzinger Liederabende habe ich hier schon zum Ausdruck gebracht und brauche darauf also nicht mehr einzugehen. In beiden Fällen aber machte ich eine Erfahrung, die mich zu diesem Beitrag animiert hat.
    Nach den Eichendorff-Liedern mit Kammerorchesterbegleitung brachte Prégardien - nach den hervorragend gesungenen Hölderlinvertonungen von Wilhelm Killmayer - die LIEDER EINES FAHRENDEN GESELLEN in der Bearbeitung von Arnold Schönberg. Ich sperrte die Ohren weit auf. Das war überaus gefühlsbetonte, die seelischen Tiefen dieser Lieder voll ausleuchtende und zudem auf höchstem sängerischem Niveau gestaltete Interpretation.


    Beim zweiten Liederabend wieder die gleiche Erfahrung. Zunächst die aus meiner Sicht inakzeptable Effekthascherei mit den Schubertliedern, danach aber wieder ein Vorstoß in für Liederabende programmatisches Neuland: Lieder von Arnold Schreker.
    Und dann kam Brahms. Ich schrieb es schon an anderer Stelle: Die FELDEINSAMKEIT habe ich bisher noch nie in einer so sehr an die Seele rührenden Interpretation gehört.


    Irgendwie, ahnte ich, muss das zusammenhängen, was dir da begegnet ist. Und es ist ja auch so. Es gibt einen Zusammenhang. Er ist in meiner These zu finden: Man will den Gefühlsgehalt eines Liedes, eben diese Metaebene seiner Textur, so weit wie möglich interpretatorisch ausschöpfen.
    Im Vergleich zu Prégardiens Interpretation der "Lieder eines fahrenden Gesellen" zeigt die von Fischer-Dieskau eine geradezu klassische Strenge. Im Gegensatz dazu sang Prégardien etwa die Verse "Auf der Straße stand einen Lindenbaum ..." mit einem derart expressiven Gefühlsausdruck, dass man meinte, mitleiden zu müssen.


    Auch bei der FELDEINSAMKEIT würde ich die Fassung von Fischer-Dieskau (etwa in der Aufnahme mit Jörg Demus bei DG) als vergleichsweise klassisch gemäßigt und im Einsatz von Gefühlselementen kontrolliert einstufen.
    Prégardiens Interpretation wirkt hingegen, wenn man sie unmittelbar danach hört (ich hatte eine Aufnahme gemacht), überaus gefühlsgeladen. Die Zeit hält hier buchstäblich den Atem an.
    "Von Himmelsbläue wundersam umwoben", - das ist in wunderbar lyrischem Ton gesungen. Man meint, weil der Sänger bei "durchs tiefe Blau" einen Augenblick lang innehält, wie um Atem zu holen, die "weißen Wolken" am Himmel richtig vor Augen zu haben.
    Bei "Mir ist, als ob ich längst gestorben bin" ist der Gipfel an Expressivität erreicht. Mehr geht nicht, und man ist als Hörer hingerissen. Die melodische Linie fällt langsam in sich zusammen, gerinnt wie in einer Art Erstarrung, um dann, nach einer ungewöhnlich langen Pause, mit langsam sich steigerndem Pathos in einer weit ausholenden Phrasierung den Schulssvers zu gestalten.


    Das ist ohne Frage ganz großer Liedgesang. Und der kam ausgerechnet nach diesem albernen Theater mit den Schubertliedern.
    Aber der Zusammenhang scheint mir offenkundig zu sein:
    Diese Neigung zur Ausschöpfung aller Möglichkeiten eines expressiven Liedgesangs kann zu großartigen Interpretationen führen, sie kann aber auch die Gefahr eines Abgleitens in schiere Effekthascherei in sich bergen.


    Ist das der Preis, den man für diesen neuen Trend im Liedgesang zahlen muss?

    Gut, dass Du dabeigewesen bist, lieber hart. Ich wäre es auch gerne, aber es ging nicht.
    Das wird jetzt auf Verwunderung stoßen, nach dem, was ich hier an Schimpfkanonade von mir gegeben habe. Wahrscheinlich wäre ich spätestens beim Erlkönig rausgelaufen, - das wäre aber ein gewaltiger Fehler gewesen.
    Denn:
    Die "Feldeinsamkeit" von Brahms, die dann später kam, habe ich noch nie so "ans Herz gehend" gehört.


    Prégardien ist ein großartiger Liedinterpret und- sänger. Es ist ohne jede Einschränkung angebracht, bei ihm von "hoher Stimmkultur" zu spechen.
    Aber anlässlich dieser beiden Abende in Schwetzingen ist mir ein grundsätzliches Problem bewusst geworden.
    Muss noch drüber nachdenken. Aber nicht in diesem Thread, denn ich wäre damit hier fehl am Platz.

    Formal gesehen hast Du recht, lieber Johannes Roehl: Eichendorff ist nicht thread-Thema.


    Aber ich darf darauf hinweisen, dass es kein Zufall ist, dass Schumann 21 Gedichte von Eichendorff vertont hat.
    Er fühlte sich von diesem Dichter unmittelbar angesprochen. Eichendorff war für ihn ein Vertreter der "neuen Dichterschule", die es erst ermöglicht habe, dass "eine kunstvollere und tiefsinnigere Art des Liedes" geschaffen werden könne.


    So hat Schumann sein Liedschaffen verstanden. Sein op.39, um das es hier ja geht, ist ein großartiger Beweis dafür. Die "Initialzündung" dazu, wenn ich es einmal so salopp formulieren darf, gab der ganz spezifische lyrische Zauber, der von den Gedichten Eichendorffs auf den Komponisten Schumann ausging.


    Diesen Zauber hier in diesem Thread ein wenig ins Bewusstsein zu rufen, das war mein Anliegen.
    Dein Geständnis, dass Du "Zwielicht" schon als Teenager sehr gemocht hast, hat mich gerührt!

    Zunächst eine Entschuldigung. Ich habe, nachdem ich diesen Beitrag schon geschrieben hatte, festgestellt, dass ich in den falschen Thread geraten war. Ich weiß leider nicht, wie ich meinen Text rüber in den richtigen bringen kann.


    Ich dachte, schlimmer als die "Mondnacht" mit Kammermusikbegleitung, worüber ich mich so erregt hatte, könne es nicht kommen. Irrtum!
    Zwei Tage später (am 24. Mai) sangen bei den Schwetzinger Festspielen Christoph Prégardien und sein Sohn Julian, begleitet von Michael Gees Schuberts "Der Zwerg" und "Erlkönig" im Duett.
    Ich war fassungslos!


    Bis zu diesem Knüller wurde bei den vorausgegangenen Liedern (Mozart, Beethoven, Schubert) hemmungslos auf Effekt hin gesungen. Michael Gees spielte den Klavierpart so exzessiv auf Wirkung aus, dass manchmal bestimmte Klangfiguren über Gebühr laut in den Vordergrund traten, Tempi verzögert wurden, Schlüsse in die Länge gezogen und so fort.
    Das konnte man noch als schlechten Glenn Gould durchgehen lassen, obwohl es manchmal schon ziemlich komisch wirkte, wenn man sich beim Musensohn gute zehn Sekunden lang am Busen endlich wieder ausruhte.
    Bei "Der Einsame" wurde der Seelenschmerz so exzessiv ausgekostet, dass an einer Stelle das Publikum in leises Gelächter ausbrach.


    Und da dämmerte es mir.
    Das konnte alles gar nicht ernst gemeint sein. Das war eine Juxveranstaltung.
    Da ich das trotzdem gar nicht glauben mochte, spielte ich die Aufnahme, die ich von der Übertragung dieses "Liederabends" in SWR II gemacht hatte, meiner Frau vor.
    Schon beim "Zwerg", zweistimmig vorgetragen, trat ein ungläubiges Staunen in ihr Gesicht und ich sah, wie sie mit dem Lachen kämpfte.
    Beim Erkönig platzte sie heraus. Das erinnere sie fatal an gemeinsames zweistimmiges Singen bei einer Busfahrt. Schön mit der Terz oben drüber. Nein, das könne nicht ernst gemeint sein, das sei eine Veralberung des "Erlkönigs" wie man das ja kenne.
    Ich müsse doch die Verse Schumanns kennen: "Was raspelt es dort in den Spänen / Vater, mir ist so schwül... Sey ruhig, mein Kind, in den Spänen/ Naget wohl eine Maus..."


    Ich kann das alles nicht begreifen.
    Christop Prégardien sang den Vater im "Erlkönig", Julian den Sohn, und wenn der Erlkönig selbst auftrat, sagen sie beide, Julian in Flötentönen zwischen Terz und Quinte über dem Vater. Derweilen ließ Michael Gees in den Klavierbässen ein Donnergrollen hören und dann wieder eine Art Zirpen in den Höhenlagen seines Flügels, dass man seinen Ohren nicht trauen wollte.


    Wo, um Himmels willen, sind wir gelandet?
    Wenn das alles ernst gemeint sein sollte, dann wirkte es unfreiwillig komisch.
    Wenn es nicht ernst gemeint war, dann wäre es doch besser, wenn man gleich in den Zirkus ginge oder in eine Kabarett-Veranstaltung. Die Profis dort können Komik besser!


    Anmerkung:
    Mir ist die These bekannt, die dahinter steht, lautend: "Wir verwalten kein musikalisches Museum."
    Hier ist die Frage zu stellen, ob die Gleichsetzung der musikalischen Überlieferung mit einem Museum nicht auf einem gewaltigen Missverständnis beruhen könnte.

    Ich höre in Deiner kurzen Feststellung einen Unterton von Klage (oder sogar leichtem Aufstöhnen?), lieber hart, und verpüre ein schlechtes Gewissen.
    Deshalb werde ich jetzt eine ziemlich alte Schallplatte auflegen:
    Hans Pfitzner, Eichendorff-Lieder, gesungen von Wolfgang Anheisser, am Flügel Julius Severin, (cornet, erste vollständige Aufnahme), - und nichts anderes tun als hören und genießen.
    Neugierig bin ich, denn ich habe völlig vergessen, wie die klingt.

    Sei mir nicht böse, lieber farinelli, aber so, wie du das hier bei "Zwielicht" machst, sollte man, meine ich, mit einem Eichendorff-Gedicht nicht umgehen. Mir jedenfalls tut das in der Seele weh.
    Wenn man einzelne Bilder aus dem Kontext löst, sie isoliert und mit dem Messer analytischer Rationalität seziert, zerstört man ihren Zauber.
    Das muss ich natürlich begründen.


    Wenn man Eichendorffs Gedichte nicht einfach nur liest, - wozu sie ja eigentlich da sind -, sondern nach der Methode der Literaturwissenschaft interpretatorisch an sie herangeht, dann fällt einem ein merkwürdiger Sachverhalt auf:
    Bestimmte Bilder kehren bei diesem Dichter immer wieder, und sie sind alle nach einem bestimmten Muster aufgebaut. Dieses Muster ist zudem von einer auffälligen Simplizität, so dass die Bilder, betrachtet man sie auf ihren sprachlichen Aufbau hin, fast banal wirken.
    Beispiele: "goldene Sterne", "weite Ferne", "stilles Land", "prächtige Sommernacht", "sacht rauschende Wälder", "stille Gegend", "dämmernde Lauben", "schwindelnde Felsenschlüfte", "stille Einsamkeit", und so fort.


    Das Verblüffende ist nun, dass einem dieser Sachverhalt beim unreflektierten Lesen überhaupt nicht auffällt. Erst der Germanistenblick stößt darauf und versucht natürlich, dieses Rätsel der Eichendorff-Lyrik zu lösen.
    Das geschah durch zwei bahnbrechende Untersuchungen in den sechziger Jahren, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Deren Ergebnis ist allerdings für das Eichendorff-Verständnis wichtig.


    Der Zauber, der von dieser eigentümlichen Stereotypie seiner Sprachfiguren und Motive ausgeht, beruht darauf, dass ihre Einfachheit völlig vergessen lässt, dass sie poetische Produkte sind. Sie wirken beinahe so "naturhaft" wie die Bilder und die Sprache des Volksliedes.
    Ihre einfache Nennung im lyrischen Kontext suggeriert dem Leser, dass die Welt, von der die Gedichte Eichendorffs handeln, sich in ihnen selbst ausspricht.
    Nicht der Dichter spricht, - die Dinge sprechen.


    Der Dichter Paul Heyse hat in den neunziger Jahren des 19. Jhs. einen seiner Romanhelden folgendes über Eichendorff sagen lassen:
    "Keiner unserer Lyriker hat diesen heimatlichen Zauberklang, der in so rührender Eintönigkeit mit so wenigen Bildern und Akkorden unser Herz gefangen nimmt. Ich weiß ihn auswendig, und doch ist er immer wieder neu wie die Stimmen der Natur selbst."


    Vielleicht noch ein typisches Beispiel dafür:
    Eichendorff NACHTS


    Ich stehe am Waldesschatten
    Wie an des Lebens Rand,
    Die Länder wie dämmernde Matten,
    Der Strom wie ein silbern Band.


    Von fern nur schlagen die Glocken
    Über die Wälder herein,
    Ein Reh hebt den Kopf erschrocken
    Und schlummert gleich wieder ein.


    Der Wald aber rühret die Wipfel
    Im Traum von der Felsenwand.
    Denn der Herr geht über die Gipfel
    Und segnet das stille Land.


    Dieses Bild vom Reh wirkt, wenn man es aus dem Gedicht herauslöst, ein wenig kitischig. Im sprachlichen Kontext des ganzen Gedichts aber entfaltet eine fast magische Kraft.
    Es evoziert auf eindringliche Weise die universale nächtliche Ruhe.


    Dieses Gedicht ist übrigens von Pfitzner auf geniale Weise vertont worden.
    Wie ich überhaupt noch einmal bei dieser Gelegenheit auf die teilweise wunderschönen Eichendorff-Lieder Pfitzners verweisen möchte.

    Farinelli fragt in seinem Beitrag zu Eichendorffs/Schumanns Mondnacht: "Oder was meint ihr?"
    Ich versuche zu meinen.


    Die Diskrepanz, bzw. die Akzentverschiebung, die farinelli zwischen dem Gedicht Eichendorffs und der Vertonung durch Schumann sieht, kann ich nicht erkennen.
    Ich glaube, da ist bei der Interpretation des Eichendorff-Gedichts, wie farinelli sie vorlegt, eine kleine, aber überaus wichtige Sache übersehen worden:
    Die beiden präteritalen Konjunktive in der ersten Strophe.


    Die Konjunktive gehören zu dem sprachlich strukturellen Grundmerkmal des Gedichts (siehe letzter Vers!). Es ist durchweg im Präteritum gehalten, und darin gründet seine innere sprachliche Einheit.
    Das lyrische Ich tritt explizit erst in der dritten Strophe in Erscheinung, es ist aber auch in der ersten und der zweiten gegenwärtig.


    Diese beiden Strophen bilden eine Einheit, und zwar deshalb, weil sie beide zu der Vision gehören, die beim lyrischen Ich durch das "Es war, als hätt´..." ausgelöst wird. Es ist die Vison einer scheinbaren(!) Einheit all dessen, was in der realen Welt an sich voneinander getrennt und aus der usprünglichen Einheit herausgerissen ist.
    Eine Unterscheidung der beiden Stropen, wie farinelli sie bei seiner Interpretation vorgenommen hat (falls ihn ihn da richtig verstanden habe), ist vom Text her nicht gedeckt.


    Hier rührt Eichendorff an das romantische Ur-Trauma:
    Die Erfahrung der Individuation, die das romantische Lebensgefühl in fundamentaler Weise prägte. Die ursprüngliche Einheit allen Lebens in einer allumfassenden Natur ist verlorengegangen und kann nur noch sehnsüchtig beschworen werden. Dies ist nach Auffassung der Romantiker die Aufgabe der Kunst.


    Diese Beschwörung geschieht in den beiden ersten Stropen, und zwar in Form von visionären Bildern, die allerdings - und das ist wichtig! - sprachlich unter dem Vorbehalt des Konjunktivs stehen.
    Die Seele des lyrischen Ichs partizipiert an dieser Vision einer universellen Einheit.
    Die leise Bewegung, die überall spürbar ist, - in der Luft, in den Ähren, in den Wäldern - , empfindet es als Anzeichen für den Vollzug dieser Einheit. Es ist ihm, als würde es einbezogen und fände auf diese Weise nach Hause, in die verlorengegangene Einheit der All-Natur.


    Schumanns Vertonung folgt dem "Geschehen" in diesem Gedicht in nahtloser Übereinstimmung.
    In der dritten Strophe liegt der Kern der lyrischen Aussage. Und es ist nur konsequent, dass die Vertonung ebenfalls in dieser dritten Strophe kulminiert. Das muss aber nicht eigens aufgezeigt werden.


    Wie gesagt: Ich kann nicht erkennen, dass zwischen Gedicht und Vertonung eine Diskrepanz bestünde. Ich sehe und höre nur eine faszinierend harmonische Einheit.


    Nachtrag:
    Es ist übrigens interessant, dass selbst ein so wortmächtiger Mensch wie Adorno einmal ein wenig resignativ festgestellt hat:
    "Von der Mondacht läßt so schwer sich reden, wie, nach Goethes Diktum, von allem, was eine große Wirkung getan hat."

    Ich möchte hier jetzt nicht gleich wieder mit einem meiner langen Beiräge einsteigen, die - zu meinem Leidwesen - manchmal so klingen, als wüsste ich alles ganz genau. Weit entfernt bin ich davon!


    Zwei Begriffe, bzw. Wendungen aber sind hier aufgetaucht, über die man einmal, meine ich, noch ein wenig nachdenken sollte.


    Der eine: "Elfenbeinturm der Werktreue".
    Jede(r) von uns weiß, dass Werktreue nicht a priori mit all dem verbunden sein muss, was man mit dem Begriff "Elfenbeinturm" assoziiert. Jede Interpretation eines musikalischen Werks, die sich dem Gebot der Wertreue verpflichtet fühlt, fördert Neues zutage.
    Man vergleiche einmal die Interpretationen der Beethoven-Klaviersonate op. 109 von Friedrich Gulda und Emil Gilels miteinander. Die sind beide absolut werktreu und klingen doch so, als wären sie in zwei gänzlich verschiedenen Welten erstanden.


    Der zweite: "Geschmackssache".
    Diesem Begriff bin ich schon sehr oft hier im Forum begegnet. Mit stellt sich die Frage, ob all das, was hier darunter subsumiert wird, wirklich nur Geschmackssache ist, das heißt ein Sachverhalt, der allein dem subjektiven Urteil vorbehalten ist, weil für ein allgemeingültiges objektives Urteil keine Kriterien existieren.


    Klingt nach Philosophe. Deshalb ein Beispiel.
    Das Timbre der Stimme eines Liedinterpreten ist sicher "Geschmackssache". Das Urteil: "Die Schöne Müllerin spricht mich weniger an als die Winterreise" ist es ebenfalls.
    Aber festzustellen: "Die Wetterfahne" aus der Winterreise mit Orchesterbegleitung, - das kann man machen. Ist eben Geschmackssache", das überschreitet nach meiner Meinung die zulässige Reichweite dieses Begriffs.
    Ich will´s eigentlich nicht noch einmals sagen: Aber das, was das Klavier hier bei der "Wetterfahne" zu leisten hat, damit die musikalische Aussage zustandekommt, die Schubert haben wollte, das kann keine Gitarre leisten, und eine Streichergruppe erst recht nicht.
    Hier ist die Grenze von dem erreicht, was man mit dem Begriff Geschmackssache belegen kann, wenn man mit ihm verantwortlich umgeht.


    (Jetzt habe ich doch wieder viel zu viel geschrieben. Bitte um Nachsicht!)