Das Unbehagen, das das in meinem letzten Beitrag hier angesprochene You-Tube-Video (Ian Bostridge, "Die Nebensonnen") bei mir auslöst, hat primär nichts mit meinen konventionellen Vorstellungen von einem Liederabend zu tun.
Es hat seine Ursache darin, dass hier Liedgesang überfrachtet wird mit visuellen Elementen, die nicht nur vom musikalischen Gehalt des Liedes ablenken, sondern ihn sogar verdecken und verfremden.
Ich weiß nicht, ob die Assoziation mit dem Abu Ghureib-Folterbild gewollt ist, sie lenkt aber die Aufmerksamkeit auf jeden Fall weg von dem, worum es in diesem Lied eigentlich geht: Ende einer Wanderung durch eine Landschaft abgründiger seelischer Depression und hoffnungsloser Vereinsamung, an deren Ende nur noch die Vision einer Erlösung durch den Tod steht.
Die einzig angemessene gestische Haltung, die ein Sänger hier einnehmen kann, ist die eines starren In-sich-Versunkenseins.
Fischer-Dieskau, den ich diesbezüglich zum Maßstab nehmen möchte, stand bei diesem Lied kerzengerade (wie immer!), aber mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und nach unten gerichteten Augen vor dem Flügel. Mehr war nicht.
Das entsprach ja ganz seiner sängerischen Grundhaltung.
Er sagt dazu:
"Blicken wir auf das Klavierlied: Hier verbietet sich körperliche Bewegung und Gestik als gewolltes Vorzeigen eines dramatischen Impetus. Handlungsschauplatz ist das Gesicht des Sängers, das vom inneren Erleben durchleuchtet jede aufgesetzte Mimik scheuen sollte." (Töne sprechen, Worte klingen, 1985, S.467)
Er begründet dies damit (und das ist der entscheidende Punkt!), dass der Sänger als Interpret eines musikalischen Kunstwerks diesem gegenüber grundsätzlich in einer dienenden Funktion ist.
Er selbst hat, außer einer - allerdings deutlich sichtbaren! - An- und Entspannung in der Körperhaltung vor und nach jedem Lied höchstens den Gesichtsausdruck eingesetzt, das aber auch nur vorsichtig dosiert und vom Gehalt des Liedes abhängig.
Wenn darin einmal heitere Elemente enthalten waren, wie etwa bei dem "lieben Pferdchen" in Schumanns "Der Contrabandiste", dann zeigte das Gesicht einen schelmischen Audruck und der Körper reckte sich in die Höhe und wippte beim Sprechen leicht mit. Das war aber die Ausnahme und vom Text des Liedes her regelrecht geboten!
Es war unübersehbar, dass der Sänger in allem, was er auf der Bühne tat, sich mit höchstem Ernst ganz in den Dienst an der Interpretation des Liedes stellte. Nichtstimmliche Mittel mussten da von vornherein von sekundärerer Bedeutung sein.
Der Vorwurf gegenüber dem, was Bostridge da inszeniert, besteht also darin, dass er gegen die dienende Funktion, die einem Interpreten nun einmal zukommt, verstößt und damit in unvertretbarer Weise den musikalischen Gehalt des Liedes mit Ausdruckselementen überlagert, die diesem fremd sind, und es damit verfälscht.
Diese Gefahr ist immer gegeben, wenn man Elemente des Regietheaters in die Liedinterpretation einführt.
Sie haben, von der Sache her gesehen, dort nichts zu suchen, da es sich bei dem Kunstlied, im Gegensatz etwa zur Oper, um ein in sich ruhendes, autonomes musikalisches Kunstwerk handelt, das aus sich heraus spricht und dabei nicht auf szenische Transformation angewiesen ist.