Beiträge von Helmut Hofmann

    Das Unbehagen, das das in meinem letzten Beitrag hier angesprochene You-Tube-Video (Ian Bostridge, "Die Nebensonnen") bei mir auslöst, hat primär nichts mit meinen konventionellen Vorstellungen von einem Liederabend zu tun.
    Es hat seine Ursache darin, dass hier Liedgesang überfrachtet wird mit visuellen Elementen, die nicht nur vom musikalischen Gehalt des Liedes ablenken, sondern ihn sogar verdecken und verfremden.


    Ich weiß nicht, ob die Assoziation mit dem Abu Ghureib-Folterbild gewollt ist, sie lenkt aber die Aufmerksamkeit auf jeden Fall weg von dem, worum es in diesem Lied eigentlich geht: Ende einer Wanderung durch eine Landschaft abgründiger seelischer Depression und hoffnungsloser Vereinsamung, an deren Ende nur noch die Vision einer Erlösung durch den Tod steht.
    Die einzig angemessene gestische Haltung, die ein Sänger hier einnehmen kann, ist die eines starren In-sich-Versunkenseins.


    Fischer-Dieskau, den ich diesbezüglich zum Maßstab nehmen möchte, stand bei diesem Lied kerzengerade (wie immer!), aber mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und nach unten gerichteten Augen vor dem Flügel. Mehr war nicht.
    Das entsprach ja ganz seiner sängerischen Grundhaltung.
    Er sagt dazu:


    "Blicken wir auf das Klavierlied: Hier verbietet sich körperliche Bewegung und Gestik als gewolltes Vorzeigen eines dramatischen Impetus. Handlungsschauplatz ist das Gesicht des Sängers, das vom inneren Erleben durchleuchtet jede aufgesetzte Mimik scheuen sollte." (Töne sprechen, Worte klingen, 1985, S.467)
    Er begründet dies damit (und das ist der entscheidende Punkt!), dass der Sänger als Interpret eines musikalischen Kunstwerks diesem gegenüber grundsätzlich in einer dienenden Funktion ist.


    Er selbst hat, außer einer - allerdings deutlich sichtbaren! - An- und Entspannung in der Körperhaltung vor und nach jedem Lied höchstens den Gesichtsausdruck eingesetzt, das aber auch nur vorsichtig dosiert und vom Gehalt des Liedes abhängig.
    Wenn darin einmal heitere Elemente enthalten waren, wie etwa bei dem "lieben Pferdchen" in Schumanns "Der Contrabandiste", dann zeigte das Gesicht einen schelmischen Audruck und der Körper reckte sich in die Höhe und wippte beim Sprechen leicht mit. Das war aber die Ausnahme und vom Text des Liedes her regelrecht geboten!


    Es war unübersehbar, dass der Sänger in allem, was er auf der Bühne tat, sich mit höchstem Ernst ganz in den Dienst an der Interpretation des Liedes stellte. Nichtstimmliche Mittel mussten da von vornherein von sekundärerer Bedeutung sein.


    Der Vorwurf gegenüber dem, was Bostridge da inszeniert, besteht also darin, dass er gegen die dienende Funktion, die einem Interpreten nun einmal zukommt, verstößt und damit in unvertretbarer Weise den musikalischen Gehalt des Liedes mit Ausdruckselementen überlagert, die diesem fremd sind, und es damit verfälscht.


    Diese Gefahr ist immer gegeben, wenn man Elemente des Regietheaters in die Liedinterpretation einführt.
    Sie haben, von der Sache her gesehen, dort nichts zu suchen, da es sich bei dem Kunstlied, im Gegensatz etwa zur Oper, um ein in sich ruhendes, autonomes musikalisches Kunstwerk handelt, das aus sich heraus spricht und dabei nicht auf szenische Transformation angewiesen ist.

    Eigentlich wollte ich ja für einige Zeit die Klappe halten, aber es geht nicht. Ich bitte um Verständnis.
    Auf Siegfrieds Beitrag hin habe ich, nachdem ich erst einmal (bitte nicht lachen!) herausfinden musste , was die Buchstaben YT bedeuten, mir die Video-Schnipsel von Ian Bostridge bei You Tube angeschaut.
    Alle (!), Schubert und insbesondere die Winterreise betreffend. Es war eine Tortur. Ich schwankte zwischen ungläubigem Staunen und dem Drang, auf "Herunterfahren" zu klicken.


    Jetzt aber sehe ich mich Fragen gegenüber, von denen ich glaube, dass sie ernsthaft durchdacht und diskutiert werden müssten.
    Fragen dieser Art:


    Macht man es sich nicht zu einfach, wenn man das "Phänomen Bostridge" mit ein paar Bemerkungen als indiskutabel abqualifiziert?
    Was ist eigentlich gegen seine Art, Schubert zu singen und zu interpretieren, sachlich einzuwenden?
    Könnte so etwas, wie hier bei You Tube zu sehen, nicht ein Weg sein, junge Leute mit dem Kunstlied bekannt zu machen und ihr Interesse zu wecken?
    Hängen wir, wenn wir das Eindringen von Elementen des Regietheaters in den Liederabend beklagen, nicht einem Verständnis von Liederabend an, das einmal auf seine Legitimation und seine sachliche Berechtigung hin befragt werden müsste?
    Könnte es sein, dass dies die Zukunft des Liederabends ist, weil er nur auf diese Weise neues und junges Publikum gewinnen kann?


    Konkret (und bewusst provokant): Was spricht eigentlich dagegen, "Die Nebensonnen" aus der Winterreise so vorzutragen, dass man, wie Bostridge das hier tut, mit abgespreizten Armen auf einem Stuhl vor einer kahlen Wand steht und eine Erscheinung bietet, die auffällig an das berüchtigte Folterbild von Abu Ghureib erinnert, - wenn dabei notengetreu Schubert gesungen wird?


    Nachtrag (bitte nicht als Koketterie verstehen, sondern als Versuch, solchen Fragen Nachdruck zu verleihen):


    Diese Fragen stellt einer, der mit einiger Wahrscheinlichkeit der Älteste hier auf dem Forum ist und dessen Verständnis von Liedinterpretation in unzähligen Fischer-Dieskau-Liederabenden herangewachsen ist.
    Einer, der bei jeder Liedinterpretation, der er in einem Liederabend oder auf einer CD begegnet, unvermeidlich im Hintergrund immer die Art und Weise mithört, in der Fischer-Dieskau dieses Lied singt.
    Einer, der schon mal aus einem Liederabend rausgelaufen ist, weil ihm der Sänger schlicht zu dumm war.
    Aber auch einer, der jetzt wirklich überzeugt davon ist, dass man sich als Freund des Kunstliedes solchen Fragen stellen muss, so sehr einem das auch gegen den Strich gehen mag.

    Mit Erleichterung habe ich Deine Reaktion auf meinen letzten Beitrag hier gelesen, lieber "hart".
    Ich hatte mich schon nicht mehr getraut, das Forum anzuklicken, weil ich befürchtete, ich hätte Verärgerung ausgelöst, wenn nicht sogar Schlimmeres. Der Beitrag war da und dort wirklich unnötig scharf, und die Verwendung des Unwortes "super" eine richtiggehende Tolpatschigkeit (obwohl ja gar nicht auf einen bestimmten Personenkreis gemünzt).
    Letzten Endes stand hinter dem, was ich da schrieb, ja nichts anderes als das starke Verlangen nach Dialog und Gespräch.


    Dass man an schönen Stimmen Freude haben und sie in ihrem Wohlklang genießen möchte, kann ich sehr gut verstehen, obwohl mir selbst - leider! - ein wenig das Sensorium dafür fehlt.
    Bezeichnenderweise war die Callas die einzige Opernstimme, die mich je fasziniert hat. Und die hatte ja gerade keinen wohlklingenden Sopran.


    Ich habe auf dem Forum lernen können (und müssen), dass meine Sicht auf das Kunstlied, die ja primär vom zugrundeliegenden lyrischen Text her erfolgt, wohl eine durchaus einseitige ist. Sie bedarf der Ergänzung durch ein Verständnis des Liedes als eines autonomen, vom sprachlichen Text emanzipierten musikalischen Kunstwerks.


    Aus dieser Perspektive gewinnt dann die Stimme eine neue und ganz eigene Dignität: Sie ist jetzt nicht mehr nur ein dienend interpretierender Bestandteil des Liedes, sondern einer, der mit seiner je eigenen klanglichen Qualität einen wichtigen Beitrag zu dessen musikalischem Gehalt liefert.


    Ich hatte in diesem Zusammenhang gerade erst ein durchaus bemerkenswertes Erlebnis.
    Ich hörte mir eine Rundfunksendung an, die ich vor mehr als vierzig Jahren mit meiner Revox- Bandmaschine mitgeschnitten hatte: "Liedgesang aus der Frühzeit der Schallplatte".
    Der Kommentator meinte dort: "Der Liedgesang war in den dreißiger Jahren auf einem Höhepunkt, den er danach nie wieder erreichte."


    Hat mich nachdenklich gemacht, - dieser Satz, und mir fielen sofort meine Forianer ein.
    Mit meinem Verständnis des Kunstliedes und seines Interpreten bin ich wohl so etwas wie ein Exot hier auf dem Forum, wenn nicht gar ein Fremdling.
    Möchte aber dennoch gerne bleiben!


    Übrigens: Die beiden von Dir erwähnten Aufnahmen kenne ich leider noch nicht. Zu meinen über dreißig Aufnahmen der Winterreise wollte ich eigentlich nicht noch eine weitere hinzufügen.
    Ich werde es dennoch tun und mir auch den besagten Schwanengesang anhören. Warum?
    Damit ich hier darüber reden kann!

    Zunächst eine wichtige Feststellung:
    Der Begriff "angemessene Vertonung" ist sprachlich unscharf. Bei einem Kunstlied handelt es sich ja nicht um eine "Vertonung", sondern, wie der Name sagt, um ein musikalisches Kunstwerk auf der Grundlage eines lyrischen Textes.
    Man müsste also, wenn man präzise formulieren will, von einem "musikalischen Äquivalent" sprechen, wenn man das Lied vom Gedicht her sieht.
    Das Problem, um das es hier geht, bleibt indessen das gleiche!


    Der Begriff "angemessen" hat als Bezugsgröße das Gedicht, insbesondere seine Überschrift (sein Thema), die sprachliche Struktur und den literarischen Gehalt.
    Angemessenheit, im Sinne eines vollgültigen musikalischen Äquivalents, liegt beim Kunstlied dann vor, wenn der Gehalt des lyrischen Textes mit den Mitteln, die dem Komponisten zur Verfügung stehen, voll zum Ausdruck gebracht und nicht verflacht oder gar verfälscht wird.


    Am Beispiel von Wanderers Nachtlied II meinte ich das gezeigt zu haben. Der literarische Gehalt dieses lyrischen Gebildes verdichtet sich in den Schlussversen als existentielle Erfahrung von Tod in der Begegnung mit universeller Ruhe in der realen Natur.
    Das "Warte nur" gewinnt von daher einen kaum überhörbaren Ton von Warnung, ja Bedrohung.
    Wenn man nun, wie Loewe das in der musikalischen Struktur seines Liedes tut, aus dem Goethe-Gedicht das Lied eines Wanderers macht (siehe Taktierung der Klavierbegleitung), dann wird man mit dem Lied der lyrischen Vorlage nicht gerecht.
    Dieses Loewe-Lied stellt demnach ein - nach meiner Definition - nicht vollgültiges musikalisches Äquivalent dar.


    Ich gebe gerne zu, dass man in sehr vielen Fällen über diese Frage der "Angemessenheit" trefflich streiten kann. Fischer-Dieskau meint zum Beispiel im Hinblick auf "Wanderers Nachtlied I", dass Hugo Wolf "mit seiner psychologisierenden Frühvertonung dem Dichter am nächsten gekommen" sei, also näher als Schubert. (Auf den Spuren der Schubertlieder, 1971, S.59).
    Das kann man auch anders sehen. Darauf kann und will ich aber hier nicht eingehen.


    Bei "Lynceus, der Türmer", den Du, lieber "hart", in diesem Zusammenhang ins Spiel gebracht hast, liegen, aus meiner Sicht, die Dinge anders als bei "Wanderers Nachtlied".
    Ich möchte jetzt hier nicht in die Einzelheiten gehen, um den Beitrag nicht zu lang werden zu lassen.
    So viel nur:


    Beide Lieder werden dem literarischen Gehalt des Textes gerecht. Dass sie sich ganz unterschiedlich anhören, hat seinen Grund in der Art, wie die Komponisten diesen Text gelesen haben.


    Loewe nimmt den lyrischen Text absolut, losgelöst von seinem Kontext (Faust II). Schon das Klaviervorspiel setzt den entscheidenden Akzent: Ein lyrischer, fast schon jubilierender Grundton herrscht vor. Hier preist der Sänger die Schönheit der nahen und fernen Welt und erlebt sich selbst als einen im Schauen glücklichen Menschen.


    Schumann hat den Faust gelesen und komponiert in seinem Lied den Kontext mit.
    Ihm ist bewusst, und er lässt das auch durchklingen, dass Lynceus von Goethe als der Antipode von Faust hingestellt wird:
    Hier der passiv die ihm nicht verfügbare schöne Welt über die Augen wahrnehmende Türmer, dort der gewalttätig in die Welt eingreifende und diese verändernde (und darin scheiternde) Faust.
    Nicht umsonst lässt Schumann die Stelle "Und wie mir´s gefallen / Gefall´ ich auch mir" zweimal wiederholen und setzt hintendran auch noch eine fast trotzig klingende reine Klavierpassage, bevor er noch einmal fast von vorne beginnt.
    Man hört sehr deutlich die Absicht Goethes, die Seinsweise des Türmers, seine Haltung, die Welt als etwas Gegebenes, Schönes dankbar hinzunehmen, als voll berechtigt und legitim neben diejenige Fausts zu stellen.


    Also: Hier würde ich, im Gegensatz zu "Wanderers Nachtlied", bei Loewe nicht von einer "nicht angemessenen Vertonung" sprechen. Hier liegen zwei gleichwertige, auf unterschiedlicher Leseweise beruhende, musikalische Äquivalente vor, gesehen von der Textgrundlage her.
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    Nachtrag: Das "U.A.w.g." war unnötig. Ich ergreife sofort und mit allergrößter Freude jeden Ansatz zum Dialog, hier im Forum ( s. meinen letzten Eintrag bei "Das Schubertlied und seine Interpreten"!)

    Einen Augenblick lang musste ich über den Gedanken lachen, der mir kam, als ich Deinen an mich gerichteten Beitrag las, lieber "hart".


    Ich stellte mir vor, dass ich mir auch einen so schicken Code-Namen zulege, wie er anscheinend auf Internetforen zum guten Ton gehört. Und der würde "Erbsenzähler" lauten.
    Ich würde ihn mit Stolz tragen.


    Aber jetzt im Ernst und zum Punkt. Das stille Genießen, das Du hier propagierst, ist ja eine schöne Sache, wenn es sich nicht hinterher, wenn man mit dem stillen Genießer gerne reden möchte, als stummes Genießen herausstellt.
    Wenn ich mich nicht mit dem heutzutage üblichen "super" zufrieden geben, sondern mit dem Menschen, mit dem ich gemeinsam etwa einen Liederabend gehört habe, ein Gespräch darüber führen möchte, dann müsste ich, als Grundlage dafür, ein möglichst differenziertes und sprachlich elaboriertes Urteil abgeben. Andernfalls bliebe nur das kümmerliche (und eigentlich unerträgliche!) "super".


    Das aber heißt: Ich muss nicht nur genossen, sondern auch bewusst und analytisch gehört haben. Das eine schließt ja das andere keineswegs aus. So etwas behaupten nur die stummen Genießer.


    Auf den Punkt gebracht und präzise formuliert:
    Kommunikation über Kunst hat deren bewusste Rezeption zur Voraussetzung.
    Und wenn für das besagte differenzierte und elaborierte Urteil ein Erbsenzählen erforderlich sein sollte, weil Erbsen nun mal eine Rolle spielten (um in der Metapher zu bleiben), dann muss eben auch gezählt werden.


    Ein Beispiel: Chailly braucht für seine Neuaufnahme der Bachschen Matthäuspassion nur die Hälfte der Zeit, die Karl Richter ehedem benötigte. Gar gern wüsste ich, wie er das begründet.
    Und das könnte er garantiert in höchst ausführlicher und sachlich begründeter Weise.
    Ich wüsste diese Begründung gerne, weil mir z.B. sein Einleitungschor wie ein "Aufspielen zum Tanz" vorkommt und nicht wie ein Gang zur Passion.
    Leider bin ich für ihn kein potentieller Gesprächspartner.


    Sprechen über Kunst und Kunsterfahrung ist doch etwas so Schönes. Es macht den vorangegangenen Genusss doch nur noch genussvoller.
    Aus diesem Grund habe ich mich mit Begeisterung auf dieses Forum gestürzt.
    Und jetzt frage ich mich schon seit zwei, drei Wochen (nicht erst nach der Lektüre Deines Beitrags, lieber "hart"), ob ich da nicht fehl am Platze bin.

    Allljährlich wieder geschieht es. Es ist April, ein Zitronenfalter flattert über gerade erst sprossende Sträucher, und mir kommen Mörikes Verse in den Sinn: "Zitronenfalter im April". Natürlich, wie das fast immer bei Mörike geschieht, in der Vertonung, die Hugo Wolf geschaffen hat.


    Eduard Mörike: Zitronenfalter im April


    Grausame Frühlingssonne,
    Du weckst mich vor der Zeit,
    Dem nur in Maienwonne
    Die zarte Kost gedeiht!
    Ist nicht ein liebes Mädchen hier,
    Das auf der Rosenlippe mir
    Ein Tröpfchden Honig beut,
    So muss ich jämmerlich vergehn
    Und wird der Mai mich nimmer sehn
    In meinem gelben Kleid.


    Die einleitenden Klavierakkorde legen den Charakter des Liedes fest. Sie greifen zaghaft und zögerlich in hohe Moll-Lagen aus, um dann wieder in sich zurückzufallen.
    So geht es das ganze Lied über. Nur dort, wo das "liebe Mädchen" ins Spiel kommt, verliert die melodische Linie für ein paar Takte ihren klagenden, vielleicht zuweilen sogar kläglichen Unterton und bewegt sich ruhig in harmonischen Dur-Klängen.
    Aber spätestens bei dem Wort "jämmerlich" ist der Klageton wieder voll da und fordert das ganze Mitgefühl mit diesem kleinen, verirrten und im Grunde ja verlorenen gelben Gesellen.
    Fast schon raffiniert ( wen wundert´s bei Hugo Wolf? ) ist das Klaviernachspiel angelegt. Es ist dieselbe Figur wie bei der Einleitung, aber sie klingt in einer zögerlichen Bewegung so aus, dass man am Ende sogar einen Schlusston oder -akkord vermisst. Sie verharrt einfach und bleibt stehen.


    Ich frage mich, ob dieses alljährliche Erlebnis nur ein simpler Effekt ist, eine Art vordergründiges Aha-Erlebnis, oder ob mehr dahintersteckt. Es ist eine Frage, die sich wahrscheinlich so mancher Liebhaber des Kunstlieds schon gestellt hat, wenn bei irgendeiner Begegnung mit einer Erscheinung der realen Welt sich ein Lied in ihm meldet.


    Ich möchte nicht allzu viel in dieses Phänomen hineingeheimnissen. Mir scheint aber, es ist eine Art metaphorischer Blick, der da geweckt wird, wenn bei der Begegnung mit einem realen Zitronenfalter im April das Lied von Hugo Wolf aufklingt.
    Man sieht die Vergänglichkeit, ja die Gefährdung von Schönheit in einer Welt, die keinen Sinn für sie hat, ihr gleichgültig gegenübersteht.


    Beim letzten Ton des Lieds kam mir jene überaus hellsichtige Feststellung in den Sinn:
    "Jedes Verklingen eines Tones ist schon ein Drama an sich."
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    (Nachtrag, spät: Zweifel, ob ich das Forum vielleicht langweilen könnte, mit derlei Beiträgen.)

    Auch auf die Gefahr hin, offene Türen einzurennen: Was mich bei Christoph Prégardien immer wieder aufs neue beeindruckt, das ist seine Fähigkeit, die jeweils richtige Blance zu finden zwischen dem Anspruch, den das Wort im Lied nun einmal zu Recht erhebt, und der Wahrung der gesanglichen Linie.
    Das ist gerade bei Schubert besonders wichtig, da seine Lieder in herausragender Weise von der in sich geschlossenen Melodie geprägt sind.


    Aber auch bei Hugo Wolf (pardon, dass ich auf diesen hier an falschem Ort im Forum zu sprechen komme) ist diese Balance ein durchaus heikles Problem, ist doch bei ihm die Gefahr einer Überbetonung des Wortes in besonderer Weise gegeben.


    Aufgefallen ist mir das wieder einmal, als ich beim neuerlichen Anhören der oben erwähnten CD "Follow Goethe" auf das Lied "Frühling übers Jahr" stieß.
    Ich hatte es gerade in der Sparte "Hugo Wolf" hier im Forum vorgestellt, und dabei saß mir ständig die Interpretation durch Fischer-Dieskau im Ohr, wie sie auf der Orfeo d´Or-CD mit dem Live-Mitschnitt des Liederabends in der Bayerischen Staatsoper vom 24.7.1977 (mit Svjatoslav Richter am Flügel) zu hören ist.


    Und jetzt stecke ich wieder einmal in dem mir inzwischen sattsam bekannten Dilemma.
    Fischer-Dieskau macht bei diesem Auftritt mit Svjatoslav Richter das, was ihm ja schon so oft vorgeworfen wurde: Er akzentuiert bestimmte Stellen des Goetheschen Textes besonders deutlich, indem er einzelne Silben heraushebt und ihnen einen spezifischen Klang verleiht:
    "Safran" wird besonders dunkel gelautet (mit Blick auf die "gewaltge Glut", die er entfaltet;
    "Smaragden keimt es" erhält einen lieblichen Ton;
    das Wort "naseweis" (im Zusammnehang mit dem Stolzieren der Primeln) bekommt einen deutlich schelmischen Klang, usw.
    (In der älteren Aufnahme der Wolf-Lieder mit G. Moore macht er das übrigens nicht!)


    Prégardien hält sich von all dem fern. Er artikuliert klar und deutlich, lässt aber das einzelne Wort durchgehend in der Einbindung, die Wiolf ihm durch die melodische Linie mitgegeben hat (bei "naseweis" macht die Melodie ja einen leichten Hüpfer!).


    Mein Dilemma: Ich finde beide (!) Interpretationen großartig.
    Vor allem weiß ich nicht, was gegen eine solche artikulatorische Akzentuierung einzuwenden ist, wie Fischer-Dieskau sie bei dem erwähnten Liederabend vornimmt (und späterhin weiter praktiziert hat!).
    "Naseweis" klingt doch bei ihm auf eine überaus reizvolle Weise schelmisch.
    Und so ist das ja von Goethe ja auch gemeint!

    Michael Gees komponiert auch selbst Lieder.
    Auf der CD "Follow Goethe" (WDR-Produktion / cpo) finden sich zwei Vertonungen von Goethe-Gedichten: "Gegenwart" und "Gesang der Geister". Der Sänger ist Christoph Prégardien.


    Besonders das Lied "Gegenwart" hat mich regelrecht begeistert, als ich zum ersten Mal hörte. Es ist eigentlich ein recht konservativer Lied-Stil, an dem sich Gees mit dieser Vertonung orientiert. Aber gerade das ist das Fesselnde daran.
    Das Lied hat einen ganz eigenen Schwung, an dem die Klavierbegleitung einen wesentlichen Anteil hat. Die Feier der "herrlichen Sonne", die sich im Goethe-Text ereignet, scheint mir auf eine höchst gelungene Weise musikalisch umgesetzt. Es ist wahrlich ein Preis-Lied.


    Ich wüsste gar gerne, was meine Mit-Forianer von den beiden Gees-Liedern halten.

    Ich finde gar nicht, liebe Frau Musica, dass dieses Lied nur von einem Mann gesungen werden sollte. Gewiss, die historische Situation, um die es da geht, suggeriert scheinbar eine Männerstimme.
    Aber das betrifft ja nur gleichsam die Oberfläche dieses Liedes. In seiner Tiefe geht es, wie Du ja auch deutlich gemacht hast, um Empfindungen, die allgemeinmenschlich sind: Mitleiden, Angst, Hoffnung, Zuspruch.


    Das Lied erzählt ja nicht, es berichtet nicht von einem historischen Ereignis. Der lyrische Text ist durchweg im Präsens gehalten! Es lebt, wenn man sich ganz seiner musikalischen Struktur überlässt, ganz von der Compassion. Singstimme und Klavierbegleitung lassen das ganz unmittelbar spüren.


    Ich bin sonst kritisch, was die Zuordnung von Männer- und Frauenstimmen im Lied anbetrifft, und meine z.B., dass die Winterreise unbedingt nur von einer Männerstimme angemessen interpretiert werden kann. Das, was da durchlitten wird, ist die Gefühlswelt eines Mannes.
    Hier, bei diesem Lied von Hugo Wolf, ist das ganz anders. Jeder kann so mitleiden.

    Etwas Eigentümliches ist mir passiert, in Sachen Hugo Wolf. Eigentlich wollte ich, beschwingt vom Frühling draußen, auf das Lied "Frühling übers Jahr" aufmerksam machen.
    Aber dann passierte dieses:


    Ich las den Hinweis von Frau Musica auf "Nun wandre, Maria". Dieses Lied hatte ich schon einige Jahre nicht mehr gehört, es war mir nicht mehr gegenwärtig. Als ich die EMI-Platte mit der Aufnahme von Janet Baker (am Flügel Gerald Moore) aufgelegt hatte, wurde ich ganz unmittelbar angerührt.
    Diese im piano verhaltene, gleichmäßig fließende und "wie aus weiter Ferne" kommende Singstimme, die von Terzen im Klavier umspielt wird, die, von Quinten in den Bässen getragen, wellenartig zwischen Dur- und Mollklängen pendeln, - das alles ging mir so unter die Haut, dass ich erst einmal gar nicht mehr in der Stimmung war, mein heiteres Frühlingslied hier zu präsentieren.


    Ich tu´s jetzt trotzdem, freilich im Augenblick nur halben Herzens.


    Johann Wolfgang Goethe: Frühling übers Jahr


    Das Gedicht Goethes atmet vom ersten bis zum letzten Vers einen heiteren Geist, einen frühlingshaften eben. Mit Bildern aus einer überall aufkeimenden Natur wird diese Stimmung evoziert:
    Glöckchen wanken, weiß wie Schnee, Safran entfaltet gewaltge Glut, Priemeln stolzieren naseweis, schalkhafte Veilchen verstecken sich mit Fleiß.
    Mit einem "Doch" setzt dann die zweite Strophe ein. Den Gartenbildchen wird das wirkungsmächtigere Bild des "Liebchens" an die Seite gestellt. Reicher als die Natür blüht noch "des Liebchens lieblich Gemüt". Die Geliebte ist ein "Blütenherz, im Ernste freundlich und rein im Scherz".
    Am Ende heißt es:
    Wenn Ros und Lilie
    Der Sommer bringt,
    Er doch vergebens
    Mit Liebchen ringt.


    Wolf hat, wie man das von ihm kennt, den Geist dieses Goethe-Gedichts kongenial in Musik verwandelt.
    Gleich mit den ersten Takten schlägt das Klavier einen tänzerischen Rhythmus an, der wie ein fröhliches Hüpfen wirkt. Er wird über das ganze Lied durchgehalten.
    Am Schluss der ersten Strophe schwingt sich die Singstimme bei "der Frühling, er wirkt und lebt" in strahlende Höhen auf, um sich dann, zusammen mit der Klavierbegleitung"zu Beginn der zweiten Strophe wieder etwas zurückzunehmen, dem Wechsel des Themas entsprechend.
    Am Ende klingt alles in fast schelmischem Ton aus.


    Ein von Grund auf heiteres Lied, wie gesagt. Es will für mich im Augenblick gar nicht mit dem verhaltenen Ton von "Nun wandre, Maria" zusammenstimmen.
    Aber so ist das eben mit unseren Liedern. Sie können uns von Augenblick zu Augenblick in andere Welten tragen, in denen wir Erfahrungen machen, die unsere Lebenswirklichkeit auf vielfältigie Weise transzendieren und bereichern können.
    Frühlingshaftes Hochgefühl und Mitleiden an der Passion des Anderen können da unmittelbar aufeinanderfolgen.
    Ach ja, Hugo Wolf!

    Das sind ja ganz hübsche Bildchen, lieber Siegfried, die Du da aufs Forum stellst. Schöner fände ich sie freilich noch, wenn Du ein bisschen mehr dazu schreiben würdest.
    Da steht unter einem: "Interessant die Auffassung von Svjatoslav Richter über Liedbegleitung am Piano"
    Ja was denn nun? Was ist da interessant? In welcher Form und auf welche Weise äußert sich bei dieser CD denn Richters Auffassung über Liedbegleitung?


    Richter hat ja Fischer-Dieskkau bei vielen Auftritten und Schallplattenproduktionen begleitet. Es gibt auch Filmaufzeichnungen davon. Er liebt, wie man weiß, langsame Tempi, siehe etwa seine berühmt gewordene Interpretation von Schuberts B Dur-Sonate.
    Hat für Dich seine pianistische Grundhaltung hörbare Auswirkungen auf Fischer-Dieskaus Interpretation? Und wenn ja, welche?


    Das wüsste ich gar gerne. Dann könnte ich nämlich vielleicht dazu Stellung nehmen.
    Wäre doch eine feine Sache, - ich meine ein wenig mehr Dialog, hier auf dem Forum.
    Findest Du nicht auch?

    Je länger ich mir Alfreds Denkmodell Nr.3 durch den Kopf gehen lasse, desto mehr kann ich ihm abgewinnen. Es trifft ja wirklich zu, dass die Kosten für die Produktion einer Lied-CD wesentlich geringer sind als für die Aufnahme einer Sinfonie, von der Oper nicht zu reden.

    Im Grunde kommt es dann nur noch darauf an, das ein Sänger oder eine Sängerin genügend Star-Image angehäuft hat (was ja bisher in vielen Fällen immer geklappt hat), damit ein Produzent sich ein Geschäft mit ihm/ihr versprechen kann. Liederabend und CD könnten dann wie üblich in eine wechselseitige Promotion-Relation treten.
    Es spricht eigentlich nichts dagegen, dass die Zukunft des Kunstliedes so aussehen könnte.


    Alles hängt freilich davon ab, dass es auch künftig noch Hörer, bzw. Liebhaber des Kunstliedes gibt. Das Bildungsbürgertum, aus dem sie sich rekrutieren, wird zwar, wie die Soziologen prognostizieren, zahlenmäßig abnehmen, aber es wird nicht verschwinden.
    Es ist richtig, dass die Bildung, die der Gymnasialunterricht heute vermittelt, nicht mehr die Breite aufweist, die er vor zwanzig, dreißig Jahren etwa noch hatte. Hier hat Gustav durchaus recht. Aber die Schüler haben heute die Möglichkeit, in Leistungskursen wesentlich breitere und tiefer reichende Kenntisse im Fach Musik zu ewerben, als dies damals der Fall war.


    Nicht lassen möchte ich auch von meiner These von der Attraktivität der Nische. Es spricht meines Erachtens sehr viel dafür, dass es auch künftig Menschen geben wird, die sich nach Orten sehnen, an denen sie der Hektik, der vordergründigen Bilderflut und dem Lärm der modernen Welt für eine gewisse Zeitspanne entkommen können, um zu sich selbst zu finden und eine innere Bereicherung zu erfahren. Das Kunstlied ist ein solcher Ort par excellence.


    Mit meinem Optimismus hinsichtlich der Zukunft des Liedgesangs befinde ich mich, wie ich (beim Studium des Buches: Das Schubert-Lied und seine Interpreten, von Sabine Näher) zu meiner Freude feststellte, in guter Gesellschaft.
    Die meisten, die sich professionell mit dem Kunstlied beschäftigen (oder beschäftigten), sind durchaus optimstisch. Eine Ausnahme bildet lediglich Olaf Bär. Er sieht "in der Zukunft große Probleme".

    Anders Juliane Banse. Sie meint, dass es sogar "eine Entwicklung hin zu mehr Liederabenden" gebe und begründet das mit der Vielzahl der nachwachsenden Sänger.
    Darauf gründet sich auch der Optimismus von Dietrich Fischer-Dieskau.
    Matthias Görne hofft: "Das - begrenzte - Publikum wird aber kommen, wenn die Sänger übetrzeugend sind."
    Graham Johnson argumentiert (ähnlich wie ich mit meiner Nischen-These): "Meine Hoffnung ist, dass gerade in unserer technisierten, vereinheitlichten Welt plötzlich das Bedürfnis nach etwas wie dem Lied auftaucht: Es hat eine magische Qualiät - und damit unserer kalten Computer-Zeit etwas entgegenzusetzen." (a.a.O. S.134f.)
    Und schließlich Thomas Quasthoff: "Wo sonst kann man diese Ruhepole finden? Die Kunstgattung Lied trifft - wenn der Interpret gut ist - das Publikum besonders tief, eben weil der Sänger die Zuhörer so unmittelbar anspricht." (a.a.O., S.168)


    Ich hoffe, dass ich mit diesem neuerlichen Beitrag bei meinen lieben Liedfreunden Alfred und Gustav etwas Licht in die Schatten gebracht habe, die sich ( zu meinem Leidwesen! ) bei ihnen über die Zukunft des Liedgesangs gelegt haben.

    Hier ist ein Lied von Hugo Wolf, das vermutlich nicht so bekannt ist, aber wunderbar in diese Tage passt:


    Karwoche (Text von Eduard Mörike)


    Der Text von Mörike pendelt zwischen Begeisterung für die draußen zu neuem Leben erwachende Natur und den dunklen Schatten, die das Kreuz auf die lichte Erde wirft, hin und her. Darin besteht der ganz eigene Reiz dieses Gedichts, und Hugo Wolf hat mit seinem Lied wieder einmal gezeigt, wie genial er den Geist eines lyrischen Textes musikalisch einfangen und gestalten kann.


    In der ersten Strope dominieren schwermütige Klänge, und bei dem Vers "Und senkest schweigend deine Flöre nieder" scheint die melodische Linie in ihrer Bewegung nach unten hin beinahe mit den raffinierten akkordischen Rückungen in den Moll-Bereich zu versinken.


    Dann aber, mit dem Vers "Der Frühling darf indessen immer keimen" schwingt sie sich, getragen von Dur-Klängen begeistert in die Höhe, um schließlich bei richtigen Jubeltönen zu landen. Das Klavier untermalt diese beschwingte Aufwärtsbewegung mit nicht enden wollenden Trillerklängen.


    Mit dem Beginn der dritten Strophe sinkt alles wieder in sich zusammen: "O schweigt, ihr Vöglein auf den grünen Auen!" Man vernimmt deutlich die "dumpfen Glockenklänge" in der Klavierbegleitung, von denen der nächste Vers spricht.


    Veilchen leuchten kurz auf, aber Mörike fügt gleich bedauernd hinzu: "Ihr ... kränzt heut keine Lockenhaare! / Euch pflückt mein frommes Kind zum dunkeln Strauße". Sie sollen "welken auf des Herrn Altare".


    Mit der letzten Strophe haben die "Trauermelodien" endgültig die Herrschaft über das Lied errungen, und wenn es am Ende heißt: "Und Lieb und Frühling, alles ist versunken", dann ist auch die melodische Linie versunken. Sie hört auf eine fast erschreckende Weise einfach auf.


    Ein wunderschönes Lied. Die beste Interpretation, die ich kenne, ist die von Dietrich Fischer-Diekau in der großen Wolf-Edition bei der DG. Nicht zuletzt deshalb, weil hier Daniel Barenboim am Klavier begleitet.
    Bei ihm wird auf faszinierende Weise höbar, was Hugo Wolf alles mit dem Klavier zustandebringen kann.

    Ja, lieber Liedfreund "hart", Goerne und Prégardien sind für mich auch herausragende Liedinterpreten. Über letzteren habe ich gerade in dem Thread "Das Schubertlied und seine Interpreten" ein Loblied gesungen, und Matthias Goerne hat mich einmal mit Schuberts "Schwanengesang" sehr beeindruckt.
    "Die Stadt" habe ich schon lange nicht mehr mit einer solchen Eindringlichkeit gesungen gehört. Die bedrückend geisterhafte Melodik, mit der Schubert dieses Heine-Gedicht in Musik gesetzt hat, ging mir richtig unter die Haut.


    Dass Dietrich Henschel mit dem Schwanengesang Schindluder getrieben haben soll, mag ich gar nicht glauben. Ich kenne ihn bisher auch nur als ernsthaften Liedinterpreten. Seine CD "Schubert. An den Mond" (harmonia munid) habe ich mir viele Male mit Genuss angehört.
    Was hat er denn angestellt, der Gute?


    Eine Frage noch: Was meintest du im Thread "Überlebt der Liedgesang?" mit dem Aufruf an mich: "Weiter so, - wer singt, und wann und wo?"?
    Diese Frage kannst Du doch vermutlich besser beantworten als ich (und das ist keine rhetorische Floskel!).

    Diesen zweiten Versuch mache ich nicht, weil ich partout recht behalten möchte, sondern weil mich der resignative Grundton bedrückt, der bei euch beiden, lieber Alfred und lieber Gustav, unüberhörbar ist.
    Ich versuche es mit Fakten, die ich möglichst wenig kommentiere (aus dem genannten Grund).


    Wenn Dein Bild von der manipulierbaren Masse der Wirklichkeit entspräche, lieber Alfred, dann wäre in der Tat Hopfen und Malz verloren. Die Wirklichkeit sieht, Gott sei Dank, anders aus.
    Schau Dir mal die Ergebnisse der Regionalwahlen in Frankreich an. Sarkozy hat gewaltig eine auf die Mütze gekriegt und muss reagieren.
    Schau dir die Politik unserer Kanzlerin an. Sie musste ihren Kollegen von der EU gegen das Schienbein treten, weil sie genau weiß, dass die Wähler in Deutschland gegen eine finanzielle Unterstützung Griechenlands sind. Sie macht längst eine Politik, die das Gegenteil von dem ist, was sie auf dem Dresdner Parteitag der CDU verkündet hat.


    Kurz: Die Politiker lassen die Wähler keineswegs nach ihrer Pfeife tanzen. Es ist genau umgekehrt. Und wenn einer falsch tanzt, wie Guido Westerwelle, stürzt er demoskopisch in den Abgrund. Man weiß längst aus Wahlanalysen, dass der überwiegende Teil der Wähler in Deutschland gut informiert ist und seine Wahlentscheidungen sehr bewusst trifft.


    Es trifft zu, dass der Bildungsstand der Haupt- und Realschüler in Deutschland eine Katastrophe ist. Da hast du leider recht, Gustav! Aber die Bildungselite, aus der die künftigen Liebhaber des Kunstliedes hervorgehen könnten, kommt ja aus den Gymnasien.

    Dazu folgende Anmerkung.
    Die Bildungsinhalte, die an Gymnasien vermittelt werden, orientieren sich nicht an den Prinzipien kapitalistischen Denkens. Die Wirtschaftsverbände haben, wie alle anderen gesellschaftlich relevanten Gruppen, bei der Erstellung von Bildungsplänen nur ein Anhörungsrecht, und ihre Einwände werden sehr kritisch geprüft. Ich weiß, wovon ich rede.
    Lies mal, Gustav, was für die Jahrgangsstufe 12/I für das Fach Musik in den hessischen Gymnasien vorgeschrieben(!) ist:


    "Thema: Musik und Sprache.
    Sprachlicher Inhalt und musikalischer Ausdruck im Lied (Volkslied, Kunstlied, Wort-Ton-Verhältnis, Rolle der Begleitung ...);
    Sprachbehandlung in der Oper (Rezitativ, Arie, Endemble);
    Zwei unterschiedliche Opernkonzeptionen (z.B. Opera seria, Opera buffa, Nummernoper ...);
    Opernausschnitt, Gestaltung einer Szene (...);
    Aktuelle Strömungen in sprachlich- musikalischen Idiomen von Pop und Rock (...);
    Emanzipation der Stimme als Ausdrucksmöglichkeit in der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts (...)."


    Es trifft nicht zu, dass meine Behauptung, an hessichen Gymnasien werde ein z.T. vorzüglicher Musikunterricht geleistet, nur punktuelle Gültigkeit habe. Ein wenig Einblick habe ich auch in Baden-Württemberg und Bayern. Da ergibt sich ein ähnliches Bild.


    Und schließlich noch ein Zitat.
    Ich habe mal nachgelesen, was noch praktizierende Liedinterpreten zur Zukunft des Kunstliedes zu sagen haben (in: Sabine Näher, Das Schubertlied und seine Interpreten, Stutgart 1996). Die dürften ja schließlich kompetent sein.
    Dort meint z.B. Thomas Hampson:


    "...Aber der Klage, diese Veranstaltungsform (des Liederabends) stürbe aus, schließe ich mich keinesfalls an. Mag sein, dass wir gerade in einem Tal sind; mag sein, dass andere Formen des Liederabends kommen werden, aber er wird sicher Bestand haben. Man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass die Bandbreite an Veranstaltungen heute größer ist als je zuvor! Das Publikum, das in den sechziger und siebziger Jahren einen Liederabend besuchte, hatte längst nicht so viele Alternativen. Insofern dürfte es ein normaler Prozess sein, wenn die Zahlen in den letzten Jahren abnahmen. (...)" (a.a.O, S.108)


    Du hast ja zu Recht darauf hingewiesen, lieber Alfred, dass es heute mehr Liedinterpreten gibt, die einem breiten Publikum (auch über CDs und die Medien) bekannt sind, als dies zur Zeit eines Fischer-Dieskau der Fall war.


    Ich bitte um Entschuldigung für diesen langen Beitrag. Aber wie ich sagte: Die tiefe Resignation, der ich hier begegnete, bedrückte mich und war für mich wie ein Appell zum Reagieren.

    Deinen Pessimismus, lieber Gustav, werde ich Dir nicht nehmen können. Es scheint so viel dafür zu sprechen, dass er begründet ist, und ich selbst habe gerade in einem anderen Thread dieses Forums (Was bedeutet euch das Lied?) darauf hingewiesen, dass das Kunstlied von seiner musikalischen Struktur her dem Trend zur Event-Kultur diametral entgegensteht.


    Folgendes wäre aber zu bedenken.

    Das Kunstlied war schon zu Schuberts Zeiten ein kulturelles Nischenphänomen, und das ist es bis heute geblieben. Dietrich Fischer-Dieskau konnte zwar problemlos große Konzertsäle füllen, aber das änderte nichts an der Intimität der musikalischen Erfahrung, die sich dort ereignete. Es behinderte sie eher. Ich war jedenfalls immer froh, wenn ich einen Liederabend mit ihm in einem kleinen Kammermusiksaal erleben konnte.


    Die Massenkultur wird nicht das Ende des Kunstliedes einläuten. Theodor W. Adorno hat in seinen Vorlesungen und Seminaren in Frankfurt immer wieder solche Prognosen gemacht, und ich habe ihm als junger Mensch damals spontan zugestimmt. Inzwischen bin ich ein alter, Adorno ist lange tot, und nichts von seinen Prognosen ist eingetreten.
    Mit-Forianer Siegfried hat mich gerade ( in besagtem Thread ) darauf hingewiesen, dass meine Behauptung vom Niedergang des Kunstliedes im öffentlichen Konzertleben nicht ganz zutreffend sei. Und es ist ja auch so: Selbst bei den großen Musikfestivals spielt es tatsächlich noch eine Rolle, wenn auch eine kleine und immer weiter abnehmende.


    Sowohl die historische Erfahrung als auch die ganz persönliche sprechen dafür, dass es immer Menschen geben wird, die sich weigern, dem großen allgemeinen Trend zu folgen, weil es ihnen auf die ganz individuelle geistige und emotionale Erfahrung ankommt, in der sie ihre Identität finden können.
    Und das Kunstlied ist ja gerade eine musikalische Gattung, bei deren Rezeption es auf genaues Hinhören, auf das Erfassen der subtilen musikalischen Struktur, insbesondere des Wechselspiels von Sprache und Musik ankommt.
    Jeder von uns kennt die wahrhaft beglückende Erfahrung, die damit verbunden sein kann. Warum sollten Menschen diese nicht auch künftig suchen?
    Nicht ohne Grund fühlen sich auch heute noch moderne Komponisten von dem Anspruch, den das Kunstlied erhebt, herausgefordert, siehe etwa Wolfgang Rihm.


    Der wirklich entscheidende Faktor ist die Heranführung junger Menschen an das Kunstlied durch das Elternhaus und die schulische Bildung.
    Was die häuslichen Verhältnisse anbelangt, kenne ich keine einschlägigen Untersuchungen.Aber in bezug auf die Schule kenne ich mich ein wenig aus, insbesondere was Hessen betrifft.
    Es gibt Bundesländer, in denen es mit dem Musikunterricht besser bestellt ist als etwa in Berlin, wo Daniel Barenboim aus gutem Grund immer wieder mahnend den Finger hebt.
    In meinem näheren Umfeld wird an vielen Gymnasien ein sehr engagierter Musikunterricht erteilt, mit einem großen Anteil an klassischer Musik übrigens. Es gibt vielerorts sogar kleine Kammerorchester.
    Ich selbst habe Examenslehrproben erlebt, die ein Schubertlied zum Thema hatten. Und keiner fand das ungewöhnlich.


    Es gibt also durchaus Hoffnungsschimmer. Man muss für die Zukunft des Kunstliedes nicht zwingend schwarz sehen.
    Eben studierte ich gerade in der FAZ die "Veranstaltungen und Termine in Frankfurt heute und morgen", und siehe: Ein Liederabend ist dabei!
    Na bitte!

    Da es in diesem Thread auch ( und eigentlich primär ) um die Interpreten des Schubertliedes geht, möchte ich einen solchen zur Diskussion stellen, der es nach meiner Meinung verdient hat: Christoph Prégardien.
    (Hoffentlich ist das hier nicht schon geschehen und ich hab´s übersehen.)


    Zwei Erfahrungen haben mich dazu bewogen.


    Die erste Erfahrung.
    Ich hatte die CD "Between Life an Death" (Challenge Classics, zwei CDs mit Prégardien und M. Gees)) in den Player geschoben und hörte nur mit halbem Ohr hin. Beim fünften Lied horchte ich auf: Schuberts "Auflösung" (Text von Mayrhofer). Christoph Prégardien sang, begleitet von Michael Gees. So hatte ich dieses Lied zuvor noch nie gehört, so voller Emphase und bis ins äußerste gesteigerter innerer Dynamik.
    Das ist ohnehin ein außergewöhnliches Lied, bei dem Schubert (1824) wohl innerlich sehr ergriffen war von der Stimmung des Abschieds von seinem Freund Mayrhofer und dies mit wirklich ekstatischen Klängen, fast kühnen Modulationen und weit ausgreifenden Melodiebögen zum Ausdruck brachte. Die Interpretation von Prégardien drückte für mich den Geist dieses Liedes ohne jede Einschränkung aus. Sie hat mich beeindruckt.


    Die zweite Erfahrung.
    Ich wollte am Beipiel von Schuberts Erlkönig aufzeigen, dass Fischer-Dieskau eine einmalige Ausnahmeerscheinung unter den Liedinterpreten ist (gedacht für den Thread "Fischer-Dieskau" hier im Forum).
    Also hörte ich mir, mit Gérard Souzay beginnend, eine Aufnahme nach der anderen an und konzentrierte mich dabei auf diesen wegen der vielen "i"s giftig klingenden, locken wollenden Sirengesang: "Du liebes Kind, komm, geh mit mir!"
    Es lief ganz meiner Überzeugung gemäß, bis ich bei der Interpretation von Christoph Prégardien angelangt war, der wieder von Michael Gees begleitet wird (Schubert, Lieder von Abschied und Reise, Virgin Classics).


    Und in diesem Augenblick brach ich ab. Ich konnte nicht guten Gewissens mehr behaupten, dass das, was ich da hörte, weniger gut sei als das, was ich von Fischer-Dieskau kannte.
    Michael Gees ist für mich übrigens ein Liedbegleiter von ebenfalls herausragender Qualität. Er ist aber nicht der einzige Pianist, mit dem Prégardien zusammenarbeitet.
    Eine etwas andere interpretatorische Intention verfolgt dieser mit Andreas Staier. Beide zusammen haben übrigens bei Teldec alle Mayrhofer-Lieder herausgebracht. Das oben erwähnte Lied "Auflösung" klingt dort nicht ganz so hymnisch-ekstatisch wie in der Aufnahme mit Michael Gees.


    Meine These also: Christoph Prégardien ist ein herausragender Schubert-Interpret.
    Und nun würde ich mich sehr freuen, wenn ich die Meinung meiner Mit-Forianer dazu hören könnte.

    Es freut mich, lieber Glockenton, dass Dir mein Beitrag gefallen hat, wie ich mich überhaupt über jede Reaktion vonseiten der Forianer freue, auch wenn sie kritisch oder gar ablehnend sein mag.


    Es stimmt, was Du gehört hast. Im April 1816 schickte Schuberts Freund Josef von Spaun sechzehn Goethe-Vertonungen nach Weimar, versehen mit einem von ihm verfassten Begleitschreiben (das sehr unterwürfig war). Es kam keine Antwort. Später wurde Schubert dieses Heft, das er selbst geschrieben hatte, aus Weimar kommentarlos zurückgeschickt.


    Das Verhältnis Goethes zu Schubert ist ein Kapitel für sich, und es ist ziemlich kompliziert. Auf einen schlichten Nenner gebracht könnte man es so charakterisieren:
    Für Goethe ist Schubert zu frei mit seinen Gedichtebn umgegangen. Musik hatte für ihn in bezug auf Lyrik eine rein dienende Funktion. Sie durfte sich nicht anmaßen, in den sprachlichen Text im Sinne einer Interpretation einzugreifen. Deshalb fand er die Vertonungen Zelters sehr gut, und die von Schubert waren ihm ein Graus.


    Nur zwei Belege.
    In einem Brief an Wilhelm von Humboldt (14.3.1803) stellte er zum Thema Liedkomposition fest, "durch ein sogenanntes Durchkomponieren" zerstöre man "den Eindruck des Ganzen durch vordringende Einzelheiten."
    Und in einem Brief an seine Frau Christiane (Sept. 1815) meinte er, Schuberts Art zu komponieren brächte die Musik als "das unschuldigste und angenehmste Bindungsmittel der Gesellschaft" in Gefahr.


    Goethe hatte ein sehr konventionelles Liedverständnis. Lieder sollten, hieß es damals in einer weitverbreiteten Sammlung "artig, fein, naiv und nicht so poetisch sein, dass sie die schöne Sängerin nicht verstehen kann".


    Noch zehn Jahre nach der Komposition von "Gretchen am Spinnrade" konnte man in einer Kritik der "Allgemeinen Musikalischen Zeitung" lesen: "Herr Franz Schubert schreibt keine eigentlichen Lieder und will keine schreiben ..., sondern freye Gesänge, manchmal so frey, daß man sie allenfalls Capricen oder Phantasien nennen kann."


    Über so etwas kann man heute nur noch den Kopf schütteln.

    Es ist leider eine nicht zu übersehende Tatsache, dass das Kunstlied im Niedergang begriffen ist, was das öffentliche Konzertleben anbelangt. Die Ursachen dafür sind sicher nicht primär darin zu suchen, dass es keine großen Liedinterpreten mehr gäbe. Jeder von uns weiß, dass es die gibt.
    Ich meine damit nicht den Star-Tenor, der gerade mal nebenbei zeigen will, dass er auch die Schöne Müllerin mit tenoralem Pathos zelebrieren kann, sondern die Sängerinnen und Sänger, die sich ganz in den Dienst an der Pflege des Kunstliedes stellen und auch das Zeug dazu haben.


    Die Ursachen dieses Niedergangs dürften eher damit zusammenhängen, dass die Event-Kultur immer mehr auch in das Konzertleben eindringt. Man will heute das große Ereignis erleben, den überwältigenden Sound, die x-te hübsch anzusehende junge Geigerin, den jungen Chinesen, der auf dem Steinway einen Feuerzauber zu entfesseln versteht. Und so weiter.


    Die kleine musikalische Form, und das ist doch das Kunstlied par excellence, hat da kaum mehr eine Chance. Man muss da ja genau hinhören, den Text verstehen, das Wechselspiel von Singstimme und Klavier verfolgen, um zu erleben und auch zu begreifen, was sich auf der Bühne ereignet. Subtile Interpretation ist gefragt. Es gibt einfach keinen Raum für vordergründige Effekte. Und blenden kann ein Interpret schon gar nicht. Jeder falsche Ton ist überdeutlichzu hören.


    Dem Kunstlied bleibt nur der intime Ort vor dem Lautsprecher bzw. im Kopfhörer und - das Kunstliedforum im Internet. Ich glaube, dies ist die Stelle, wo ich mich einmal bei Alfred und seinem Team bedanken möchte. Sie haben einen virtuellen Ort geschaffen, an dem die Freunde des Kunstlieds sich treffen, miteinander darüber sprechen und es damit wenigstens sozusagen diskursiv am Leben halten können. Die Einrichtung eines Kunstliedforums ist, und das ganz sicher nicht für mich allein, ein höchst verdienstvolles Unterfangen!


    Ich weiß ja nicht, ob einem Neuling wie mir solch ein Dankeswort überhaupt zusteht. Aber ich habe einen Grund, der mich, jedenfalls in meinen Augen, ganz subjektiv legitimert.
    Mit dem Ausscheiden von Fischer-Dieskau aus dem Konzertleben ist für mich eine Ära zu Ende gegangen, die ich von Anfang miterlebt habe. Ich kam mir mit meiner von diesem Sänger geweckten Liebe zum Kunstlied wie ein verlassener Alter vor, dem zum Schluss nichts anderes mehr einfiel, als bei Google das Stichwort "Kunstlied" einzugeben.


    Als ich das Forum fand, stürzte ich mich regelrecht hinein, wie der in der Wüste Durstende in die Oase. Dabei war ich zuvor noch nie in einem solchen Internetforum und wusste nicht einmal, was ein "Thread" ist.
    Und jetzt muss ich mich schon fragen, ob ich mich da nicht zu vorlaut herumtummele.
    Nichts für ungut, sollte dem so sein.

    Nur zur Klarstellung: Es ging mir in meinem Beitrag nicht darum, Loewe schlechtzureden oder herabzusetzen. Ich höre Loewe sehr gerne. Zu meinen Lieblingsstücken gehören u.a. "Kleiner Haushalt", "Der heilige Franziskus" und "Süßes Begräbnis". Die Stelle "Komm wieder, Nöck, du singst so schön!" verlockt mich jedesmal zum Mitsingen.


    Mir geht etwas um etwas anderes. Für jemanden, der nicht nur Kunstliedliebhaber ist, sondern auch Gedichte liebt, ist die Frage sehr naheliegend: Ist dieser Text angemessen vertont, d.h. so, dass sein Gehalt vom Komponisten erfasst wurde?


    In diesem Zusammenhang ist mir aufgefallen, dass Loewe zwar mit Texten, die epischen Charakters sind, glänzend zurechtkommt, und im übrigen auch mit solchen Gedichten, die in ihrem Gehalt und ihrer sprachlichen Struktur nicht sehr anspruchsvoll sind, siehe Rückerts "Süßes Begräbnis".
    Sobald er sich aber an wirklich große Lyrik wagt, stößt er an seine Grenzen.


    Ich fragte mich, warum das so ist, und glaubte die Ursache in seiner Neigung zum musikalischen Dekor, zur kantablen musikalischen Linie und zu einer symmetrischen Taktordnung gefunden zu haben. Diese Neigung steht iihm wohl buchstäblich im Weg bei seinem Zugang zu Texten dieser Art.
    Meine Erwähnung Schuberts in diesem Zusammenhang war nicht sehr hilfreich, denn sie konnte so verstanden werden, als wollte ich Loewe herabsetzen. Ich ahnte, dass man mir dies vorhalten würde. Dabei war Schubert für mich nur der Maßstab, an dem ich mich bei den Goethevertonungen orientierte, um die Kompositionstechnik Loewes besser verstehen zu können.


    Es ist vielleicht sinnvoll, noch ein Beispiel zu geben, bevor ich meinerseits die Sache ruhen lasse.
    "Wanderers Nachtlied" ("Über allen Gipfeln...") ist bei Loewe für mich der Inbegriff einer naiven Vertonung. Mit "naiv" meine ich in diesem Zusammenhang die Art, wie musikalisch mit dem Gehalt des Gedichts umgegangen wird.
    Loewe nimmt den Text wörtlich. Er lässt tatsächlich seinen Sänger ruhigen und gleichmäßigen Schrittes durch die Nacht wandern. Die schrittmäßig getaktete Klavierbegleitung suggeriert das von Anfang an unüberhörbar.
    Darüber legt sich eine gefällige, einfach gehaltene Singstimme, die genau in diese Taktung eingepasst ist und kaum rhythmische Verschiebungen aufweist.
    Da singt einer ein nächtlich leises Wanderlied, genießt die Ruhe und freut sich beim Schweigen der Vögelein darauf, dass er sich jetzt bald auch zur Ruhe legen kann.


    Der Abgründigkeit des Goethe-Gedichts wird diese Vertonung nicht gerecht. Sie mag einem gefallen, und ich bin weit davon entfernt, darüber die Nase zu rümpfen. Nur ist sie für mich eben kein großes Kunstlied.


    Meiner Liebe zu Loewe tut das andererseits keinen Abbruch.
    Der Nöck singt eben gar zu schön!

    Dein Einwand, lieber Moderator, hat mir bewusst gemacht, dass ich die Stelle bei Fischer-Dieskau mit verhaltenem Blick gelesen habe. Die Überlegenheit von Loewes Liedern gegenüber denen der "zahllosen Gedicht-Vertoner seiner Zeit" kann ich gar nicht beurteilen, weil ich kaum welche kenne (wie Du zu Recht vermutest).
    Ich war auf den ersten Teil des Nebensatzes fixiert und habe "hohes Niveau" nicht in der relativen Gültigkeit der Aussage erfasst. Tut mir leid!


    Meine These aber, dass Loewe ganz ohne Zweifel ein großer Balladenkomponist ist, in seinen Lyrik-Vertonungen jedoch auch nicht annähernd an das heranreicht, was zum Beispiel Schubert geschaffen hat (ich nannte als Bezugspunkte Goethe und Heine), möchte ich dennoch weiterhin zur Diskussion stellen, wenn ich darf.

    Darf ich mal zu der Formulierung "Meister des Liedes" Stellung nehmen? Ich plage mich nämlich mit der Frage herum, ob sie zutreffend ist.


    An anderer Stelle des Forums (Rubrik "Seelenlieder der Forianer") hatte ich die ( kühne? ) Behauptung aufgestellt, Loewe habe mit seiner Vertonung von Goethes "Nähe des Geliebten" dieses Gedicht regelrecht kaputtgemacht ( und dabei die Loewe-Liebhaber um Nachsicht gebeten ). Es hat mir bis jetzt niemand widersprochen. Deshalb wiederhole ich sie an dieser Stelle noch einmal, in der Hoffnung, dass jemand reagiert.


    Ich bin kein wirklicher Loewe-Kenner, habe aber den Verdacht, dass Loewe zwar ein vorzüglicher Balladen-Vertoner ist ("Meister der Ballade" unterschreibe ich sofort!), mit Texten aber, die Lyrik im engeren Sinne sind, so seine Schwierigkeiten hat. Mir scheint, bei seinen Goethe- und Heinevertonungen op. 9 ist kaum etwas Gescheites herausgekommen.


    Könnte es sein, dass ihm bei subtiler Lyrik seine Neigung zur Theatralik und seine Liebe zum musikalischen Dekor im Wege stehen?


    Bis heute war ich da zeimlich sicher. Aber eben lese ich bei Fischer-Dieskau (Töne sprechen, Worte klingen, S.94):
    "Es ist ... rezivoll und höchst notwendig, den Liederkomponisten Loewe zu studieren, weil er hoch über dem Niveau der zahllosen Gedicht-Vertoner seiner Zeit steht."


    Und jetzt bin ich erst einmal verblüfft und muss mich wohl noch einmal in Loewes Lieder vertiefen.


    Was meinen die Mit-Forianer zu diesem Thema? Insbesondere die Loewe-Kenner oder gar seine Verehrer?

    Nein, lieber Siegfried, mit dem Du habe ich kein Problem. Ich kenne mich nur hier auf dem Forum noch nicht so gut aus und dachte, als Neuling sei ich meinen Mit-Forianern den gebührenden Respekt schuldig.


    Leider (und selbstverständlich!) bin ich Fischer-Dieskau nie persönlich begegnet. Ich kenne ihn nur von vielen Konzerten und von den Aufzeichnungen der Gespräche, die andere mit ihm führten. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass er im Umgang mit ihm fremden Menschen sehr kühl, sehr förmlich, ja unnahbar wirkt.


    Von seinen Meisterkursen besitze ich Filmaufnahmen. Die sind natürlich gefiltert und regietechnisch bearbeitet. Dennoch lassen sie erkennen, dass er seinen Schüler mit der ausgeprägten Attitüde des "großen Meisters" begegnet. Da ich ja all die Lieder, die sie mit ihm einüben, von seinen eigenen Interpretationen so genau kenne, dass mir jeder winzige Ton geläufig ist (Du weißt, ich bin mit aufgewachsen), kann ich förmlich miterleben, wie er seine Schüler und Schülerinnen dazu bringen will, das anstehende Lied in der Handhabung der Stimme und der Sprache möglichst genau so zu interpretieren, wie er selbst das in diesem Augenblick getan hätte.


    Ich kenne mich nicht aus in Sachen Sängerausbildung, weiß also auch nicht, welcher Umgangston und welche pädagogischen Methoden da üblich sind. Man sollte aber, denke ich mir als Laie, vielleicht berücksichtigen, dass große Künstler nicht automatisch gute Lehrer sein müssen. Eher scheint es so zu sein, dass ihnen ihr Genie und ihre Größe bei der Tätigkeit als Pädagoge im Wege steht.

    Unbeschadet dessen: Das Erlebnis des Sängers und Liedinterpreten Fischer-Dieskau gehört zu den herausragenden Ereignissen meines nun inzwischen schon reichlich lange währenden Lebens. Ich möchte es nicht missen!

    Man kann wohl nur dann ein gültiges Urteil über die Naxos-Schubert- Edition abgeben, wenn man sich gründlich und systematisch auf sie eingelassen hat. Das habe ich nicht, also ist das, was ich dazu sagen möchte, mit allem Vorbehalt zu nehmen. Es ist nicht mehr als ein Urteil, das auf punktuellen Einblicken beruht.


    Mir scheint, dass dies ein durchaus verdienstvolles Unterfangen ist. Es ist wohl weniger für den Liedfreund geeignet, der auf der Suche nach der ganz großen Interpretation der bekannten und mit Recht beliebten Schubertlieder ist. Wohl aber ist die Naxos-Edition für denjenigen interessant, der mit einem gewissen musikhistorischen Interesse und vielleicht auch mit einem enzyklopädischen Impuls an Schubert herangeht. (Soll es ja geben, auch wenn derjenige dabei Gefahr laufen kann, scheel angeblickt zu werden.)
    Für diesen (oder diese) ist sie wohl erste Wahl.
    Damit will ich nicht sagen, dass man nicht auch hier großartige Liedinterpretation finden kann. Die gibt es sehr wohl! Aber der Vorteil dieser Edition ist ein anderer.


    Ein Beispiel. Wer wissen möchte, wie Schubert mit den Gedichten Klopstocks umgegangen ist, wie er dessen empfindsame, teilweise auch recht pathosgeladene Lyrik vertont hat, der findet hier (Nr.19: "Poets of Sensibility") alles, was er braucht, und er merkt sofort, welche Intention hinter der Edition Naxos steckt: Größtmögliche Schubertnähe in Form historischer Interpretation. Die gesangliche Leistung ist, soweit ich das als Laie beurteilen kann, ohne Tadel.


    Man setzt - je nach Liedtypus - sowohl eine Baritonstimme (Thomas Bauer), als auch einen Tenor (Marcus Ullmann) und einen Sopran (Simone Nold) ein, und man verwendet einen Hammerflügel als Begleitinstrument Auch dies wieder aus Gründen der historischen Nähe. Er wird zu Recht als das "aufführungspraktisch richtige Instrument der Schubertzeit" bezeichnet, und man kann hören, was das heißt.


    Es ist, dies nebenbei, verblüffend, festzustellen, welche kompositorische Vielfalt diese Klopstock-Lieder aufweisen, deren wohl bekanntestes ja "Das Rosenband" ist (von vielen anderen noch vertont). Schubert verfügt, hier wieder zu erleben, über ein einzigartiges Sensorium für die jeweilige sprachliche Eigenart und den Gehalt des lyrischen Textes.


    In diesem Bemühen um möglichst große historische Nähe besteht übrigens der Unterschied zur Hyperion-Edition und zur alten Fischer-Dieskau Schubert-Edition bei der DG (die ja, bei aller Großartigkeit der Interpretation, bekanntermaßen keineswegs vollständig ist).


    Noch einmal: Der Zeitgenosse, der sich musikhistorisch und analytisch mit Schubert und seiner Zeit auseinandersetzen will und dem das Erwärmen der Seele nicht das einzig sinnvolle Motiv der Beschäftigung mit dem Kunstlied ist, der dürfte aus meiner Sicht mit der Naxos-Edition gut bedient sein.

    Lieber Siegfried,
    über das Wort "Lernmodul" bei Ihnen bin ich regelrecht erschrocken. Was soll dieses Wort bedeuten? Meint es etwa diesen Vorbehalt gegenüber Fischer-Dieskau, seinen Liedinterpretationen hafte zuweilen etwas Pädagogisches an?
    Bitte verstehen Sie mich recht. Ich fühle mich nicht in meiner Hochschätzung Fischer-Dieskaus verletzt. Das kann schon deshalb nicht sein, weil ich nicht das bin, was man heutzutage unter einem "Fan" versteht. Und es kann weiterhin auch deshalb nicht sein, weil ich viele andere Liedinterpreten auch sehr schätze.
    Ich glaube, die Vorbehalte gegenüber Fischer-Dieskau wurzeln auch darin, dass er nicht über das verfügt, was man eine "große Stimme" nennt. Immer, wenn ich mit Sängern über ihn gesprochen habe, meinte ich das zu spüren.
    Sofort, nachdem ich Ihre Einwände gelesen habe, hörte ich mich ganz spontan durch einige Aufnahmen von Schuberts "Nacht und Träume", darunter, neben Fischer-Dieskau, auch Souzay, Prey, Greindl, Prégardien und Bostridge (die Frauen habe dabei mal weggelassen, aus Gründen der Vergleichbarkeit).
    Für mich, lieber Siegfried, geht die Aufnahme mit Fischer-Dieskau und A. Brendel sehr wohl an die Seele. Ich bin, muss ich gestehen, ein wenig ratlos!

    Vorab eine Anmerkung zum Aspekt "Zeitlosigkeit", der hier auf dem Forum diskutiert wird. In einem Gespräch mit Eleonore Büning, das das ZdF im Jahre 2000 aufzeichnete, wurde Fischer-Dieskau gefragt, was nach seiner Meinung wohl von seinem "Schaffen" bleibe. Nach kurzem Nachdenken gab er zur Antwort:
    "Es wird nicht viel bleiben. Darüber bin ich mir klar. Wenn die Schallplatten einmal eingestampft sind, dann kommt das Vergessen, ob man will oder nicht. (...) Solange die Schüler noch leben, ist ein gewisses Weiterleben möglich. Der Rest ist Schweigen."


    Was die historische Bedeutung Fischer-Dieskaus anbelangt, so dürften aus meiner Sicht mindestens zwei Fakten unstrittig sein:


    1. Er hat dem Kunstlied im deutschen und internationalen Konzertleben nach dem Krieg den Rang und die Bedeutung verliehen, die ihm als musikalischer Gattung zukommt. Die Zeit der Potpourris aus Kunstlied-Highlights verschiedener Komponisten ging mit seinem Auftreten zu Ende.
    Wer einmal einen Fischer-Dieskau-Liederabend erlebt hat, konnte den Anspruch, den dieser Sänger an das Kunstlied und seine Interpretation stellte, hautnah spüren. Die Atmosphäre war von der Art, wie sie jedem Augenblick der Begegnung mit ganz großer Kunst innewohnt, die dem Menschen etwas zu sagen hat.
    Fischer-Dieskau hat einmal davon erzählt, wie ihm nach einem Liederabend in Chicago Leontyne Price entgegenkam und gestand: "Sie hatten nicht nur einen strengen Smoking angehabt, sondern auch ein strenges Programm geboten. Wir mussten uns erst langsam daran gewöhnen."


    2. Fischer-Dieskau hat das Liedrepertoire gewaltig erweitert und Komponisten erschlossen, die dem "normalen" Liedfreund bislang unbekannt waren, - weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein. Das ist eine Pionierleistung, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sie erfolgte freilich vorwiegend auf Schallplatte (was nicht seine Schuld war!).
    Das Werk Othmar Schoecks, um nur einen Namen zu nennen, wurde durch ihn erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Mit seiner Lp-Kassette "Stilwandlungen des Klavierliedes" ermöglichte er es dem Liebhaber des Kunstliedes, sich einen Überblick über dessen Entwicklung bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zu verschaffen und sich dann in Einzelveröffentlichungen zu diesen Komponisten zu vertiefen.


    3. Die folgende These mag umstritten sein, sie sei dennoch guten Gewissens hier vertreten. Fischer-Dieskau ist, wenn auch vielleicht nicht der erste, so doch derjenige Liedinterpret, der auf herausragende und höchst eindrucksvolle Weise hörbar und bewusst gemacht hat, dass der Sprache im Kunstlied eine besondere Bedeutung zukommt.
    Dieses unterscheidet sich eben von anderen musikalischen Gattungen, in denen Sprache mit Musik eine Verbindung eingegangen ist, dadurch, dass es sich hierbei um ein Werk handelt, in dem ein Gedicht, ein autonomes (!) sprachliches Kunstwerk also, in eine (wenn gelungen!) adäquate musikalische Struktur übergeführt worden ist.
    Dem muss bei der gesanglichen Interpretation Rechnung getragen werden. Die schöne und gut geführte Stimme allein reicht dafür nicht.
    Das, was Fischer-Dieskau immer wieder einmal als "Manierismus" und "Über-Interpretation" - womöglich gar mit pädagogischer Absicht - angekreidet wurde, markiert genau diesen Sachverhalt. In den meisten Fällen (es gibt Ausnahmen, vor allem aus der Spätzeit) lag keine "Über-Interpretation" vor, sondern der Sprache wurde genau das Gewicht gegeben, das ihr im Kunstlied zukommt und das bei der Interpretation hörbar werden muss.


    VORSCHLAG und BITTE:
    Vielleicht kann mir ja ein Forianer, bzw. eine Forianerin mitteilen, in welchen Punkten ich mich irre und auch ein Beispiel nennen, bei dem die angeblichen "Unarten" Fischer-Dieskaus besonders deutlich zutage treten. Denn es könnte sein, dass ich befangen bin. Ich bin als Liedfreund sozusagen in Realzeit mit dem Sänger Fischer-Dieskau aufgewachsen und habe ihn in vielen Konzerten erlebt. Liedinterpretation hat sich für mich nahezu unlöslich mit den Eindrücken verbunden, die die ersten Fischer-Dieskau-Schallplatten, die nach dem Krieg bei Electrola erschienen, auf mich machten.

    Natürlich ist es nicht möglich, das "Wunder Schubert" hinreichend zu erklären. Das sehe ich ganz genauso wie Sie, lieber Liedfreund "Glockenton". Aber man kann dem Meister ein wenig auf die Finger schauen, studieren, wie er gearbeitet hat, damit man wenigstens ansatzweise versteht, was einen da so fasziniert.


    Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass die Begegnung mit Goethes Lyrik für Schubert zum zündenden Funken wurde, der ihn erst zum herausragenden Liedkomponisten gemacht hat. Fragt man nach, wie sich das erklären lässt, dann sieht man: Es ist die erstaunliche Einfachheit der lyrischen Sprache Goethes und ihr liedhafter Fluss, der Schubert offensichtlich angezogen hat. Er fühlte sich ihr in ihrer fast schlichten Liedhaftigkeit wohl innerlich zutiefst verwandt.


    Und nun legte er nicht, wie Zelter etwa oder Zumsteeg, eine Art musikalisches Gehäuse darum, eine Verpackung, die den lyrischen Text transportiert, sondern er schmiegte sich an ihn an, schlüpfte regelrecht in ihn hinein und brachte die Lyrik als Sprache zum Klingen.
    Die eigentümliche Erfahrung, die man häufig bei Schubertliedern macht, dass man nämlich meint, so und nur so könne dieser dichterische Text vertont werden, hat wohl darin seine Ursache, dass Sprache und Musik eine vollkommene Einheit eingegangen sind, bei der die eine der anderen ihr ganzes Wesen, ihren ganzen inneren Gehalt mitgegeben hat, so dass daraus ein gänzlich neues, künstlerisch autonomes Gebilde werden konnte. Musikalisch-lyrische Struktur eben!


    "Über allen Gipfeln / Ist Ruh", - einfacher geht´s sprachlich nicht mehr. Über das scheinbar banale "ist" hat sich sogar einmal der große Philosoph Heidegger ausgelassen, es durch andere Wörter ("herrscht", "waltet" u.a.) zu ersetzen versucht, um schließlich festzustellen: Es geht nicht!
    Und Schuberts Melodie ist von der gleichen Einfachheit wie die Sprache Goethes, erhebt sich nur bei "Gipfeln" ganz leicht, um bei dem dunklen "Ruh" wieder zurück zu dem Ton zu finden, mit dem sie eingesetzt hat, und damit zu sich selbst zu kommen. Diese Bewegung wiederholt dann noch einmal, allerdings greift die Melodie bei "Wipfeln" ein wenig weiter aus, zögert leicht in ihrem Fluss bei "spürest du", um bei "Hauch" dann wiederum zur Ruhe zu finden.
    Es ist ein wunderbares, fast naturhaft wirkendes Atmen, Fließen und Strömen, in das man als Hörer wie magisch einbezogen wird. Sprache ist hier wahrlich vollkommen zur Musik geworden.


    Zu Recht hat Alfred Einstein festgestellt, dass Schuberts Lied die "schönste der Hunderte von Vertonungen dieses Gedichts" sei. Wieder einmal ein schöner Beleg für das Ausnahmephänomen Schubert!

    Ich könnte mir´s leicht machen und vorschlagen: Einfach mal Goethes "Gretchen am Spinnrade" laut lesen und dann sich die verschiedenen Vertonungen anhören (Spohr, Zelter, Schubert, Loewe, Wagner, von Pocci). Dann hat man die Antwort.


    Aber ein wenig konkreter. Es gibt ja die These des Musikwissenschaftlers Georgiades, Schubert sei nicht nur der erste, sondern der einzige (!) Komponist, der in seinen Liedern aus sprachlich lyrischer Struktur eine vollkommen adäquate musikalische Struktur geschaffen habe. Er belegt das inseinem Buch "Schubert. Musik und Lyrik" (Göttingen 1967) mit vielen sehr detaillierten Liedananalysen (darunter auch "Gretchen am Spinnrade"), und die sind überzeugend.


    Dennoch glaube ich, dass er zu weit geht, wenn er die Singularität Schubert ausschließlich mit dieser These begründet. Man schaue sich nur einmal die Mörike-Vertonungen von Hugo Wolf unter diesem Aspekt an, und man kann sehen und hören, mit welcher Genialität hier Lyrik in musikalische Struktur umgewandelt wird.


    Nein, es ist etwas anderes, was Schubert einzigartig macht und ihn aus der Reihe der anderen großen Liedkomponisten herausragen lässt: Ihm gelingt als einzigem und immer wieder auf wunderbare Weise die vollkommene Synthese von hochartifizieller musikalischer Struktur und volksliedhafter Schlichtheit der Melodie. Man könnte sagen, dass sich bei Schubert mehr als bei allen anderen das Kunstlied seine ursprüngliche Liedhaftigkeit bewahrt hat.


    Besser als ich hier hat das Hans Gal in seinem Buch "Franz Schubert oder die Melodie" ( Frankfurt 1970) ausgedrückt. Das folgende Zitat bezieht sich zwar auf das Seitenthema im ersten Satz der Unvollendeten, aber ich glaube, es gilt wohl auch für die Lieder Schuberts:
    "Das Außerordentliche bei Schubert ist seine schlichte Selbstverständlichkeit, die immer den Eindruck erweckt, als sei eine solche Melodie seit Erschaffung der Welt vorhanden gewesen." (S.67)

    Danke, Siegfried, für den Hinweis auf Loewe. Ich wusste zwar, dass es diese Vertonung gibt und dass sie irgendwo in den Tiefen meines Archivs ruht, aber ich hatte keine konkrete Erinnerung mehr daran.


    Wenn man beide Vertonungen hintereinander hört, kann man wieder einmal dem unfasslichen Genie Schuberts unmittelbar begegnen. Es ist, je nachdem, wie herum man´s macht, entweder wie eine Erleuchtung oder wie ein Sturz ins kalte Wasser.
    Hier Schubert, für den das Goethegedicht ein autonomes sprachliches Kunstgebilde ist, das man, sich in den Gehalt einfühlend, musikalisch zu interpretieren hat. Und dort Loewe, der in dem Gedicht nur eine Textvorlage sieht, eine Art Libretto für die Komposition eines arienhaft wohltönenden Liedes.
    Goethe ist ihm nicht deutlich genug. Er muss fast alles wiederholen. Das Meer strahlt doppelt, in den Quellen malt es sich zweifach, die tiefe Nacht ist - selbstverständlich in tiefer Tonlage gesungen - doppelt tief, und alles schweigt gleich viermal. Der Ruf am Ende: Viermal hört man "O wärst du da", und das "da" wird natürlich zu einem "da -a".


    Die Loewe-Freunde unter den Forianern mögen mir verzeihen, aber Loewe hat, aus meiner Sicht, mit dieser Komposition das Goethegedicht kaputtgemacht.

    Ja, "Nähe des Geliebten" ist ein wahres "Seelenlied". Das empfinde ich ganz genauso, lieber Liedfreund "Siegfried", und kann mich gar nicht satthören daran.
    Es ist ein echter und vollkommener Schubert. Man meint, dieses Goethegedicht könne nur so und nicht anders vertont werden. Die gesangliche Linie spannt sich in weiten Bögen. Das Gefühl eines ruhevollen Schwebens wird erzeugt, in das der Hörer ganz langsam hineingezogen wird und in dem seine Seele mitschwingt.


    Das "Ich denke dein" klingt wie ein Zuruf, der Nähe beschwört und zugleich die Abwesenheit des geliebten Menschen beklagt. Dieses Schillern der Töne zwischen Beschwörung und Klage ist für mich das Faszinierende an diesem Lied. Am Schluss heißt es ja auch: "O wärst du da".
    Das heißt: Obwohl das lyrische Ich immer wieder aufs neue die Nähe des anderen beschwört, sie in allem, was es um sich herum sieht und erlebt, zu spüren meint, im Schimmer der Sonne, im Flimmer des Mondes, im Staub auf dem fernen Weg, im dumpfen Rauschen der Wellen, - es ist doch nur eine gefühlte, nicht eine wirklich erlebte Nähe.


    Schubert hat diese Beschwörung von Nähe wunderbar in Musik gesetzt. Die Klavierbegleitung nimmt, bevor die Singstimme einsetzt, erst mal so eine Art "Anlauf". Sie steigert sich in schnellen Akkordbewegungen von unten nach oben, um der Singstimme gleichsam ihren Einsatz zu geben. Die bewegt sich, beinahe wie eine Fanfare, an jedem Strophenbeginn von oben nach unten, um sich dann erst einmal auszuruhen. In der ersten Strophe findet sie ihren Ruhepunkt auf dem breiten Vokal des "a" in "strahlt". Und in der letzten Strophe wiederholt sich dieser Effekt bei "nah" und "da".


    Man kann sehr schön sehen und hören, wie Schubert sich ganz in die lyrische Sprache ( und damit auch in den Gehalt ) des Goethegedichts eingefühlt hat und das Ganze in eine Musik verwandeln konnte, die den Gehalt des Gedichts gleichsam hörbar werden lässt. So etwas macht ihm kaum ein anderer Liederkomponist nach.


    Übrigens: In der dritten Strophe hat sich Schubert glatt die Freiheit genommen, in den Text von Goethe ein "da" einzufügen ("Im stillen Hain da(!) geh ich ..."). So etwas mochte der große Meister Goethe gar nicht, und deshalb hielt er ja auch von Schubert nichts. Das schlichtere musikalische Gemüt von Zelter war ihm lieber.
    Der hat "Nähe des Geliebten" ja auch vertont. Ich kenne diese Vertonung nicht, aber sie hat bestimmt nicht das Zeug zu einem Seelenlied.
    Kennt sie jemand? Liege ich richtig mit meiner Vermutung?