„Gebet“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage
Ein Vorspiel gibt es nicht, kann es bei diesem Gebet gar nicht geben. Eine fortepiano ausgeführte Legato-Wandlung eines vierstimmigen a-Moll-Akkordes zu einem fünfstimmigen e-Moll-Akkord erklingt, beide jeweils im Wert einer halben Note, und nach einer Viertelpause setzt die Singstimme darin ein. Wenn gerade von „Eindrücklichkeit“ gesprochen wurde, so ist es vor allem die Fallbewegung, mit der die Melodik auf den Worten „O Gott, mein Gebieter“ einsetzt. Sie kehrt, zwar in unterschiedlicher Harmonisierung, aber bis auf das Ende in ihrer Grundstruktur unverändert, auf den Worten des dritten, des fünften und des sechsten Verses wieder und entfaltet auf diese Weise eine die Liedmusik stark prägende Kraft. Sie besteht aus einem in hoher Lage einsetzenden Sekundfall, der sich über das relativ große Intervall einer Quinte nach unten hin fortsetzt und in eine rhythmisierte Tonrepetition übergeht, der dann ein Anstieg über eine Terz, wie im ersten Fall, oder, wie in allen andere Fällen, eine Fortsetzung der Fallbewegung nachfolgt.
Diese vier Mal erklingende, erst in Mollharmonik, beim dritten und vierten Mal gar in verminderte gebettete melodische Figur bringt in der Anmutung, die ihr innewohnt, tief schmerzliche seelische Bedrängnis zum Ausdruck. Das ist bei den Worten „im harten Gefängnis“ und „in schlimmer Bedrängnis“ ja durchaus verständlich und nachvollziehbar, hier geht der Moll-Harmonisierung ja auch ein dissonant verminderter Akkord voraus. Aber bei den in der Haltung des Betenden erfolgenden Anrufen „O mein Gott, mein Gebieter“ und „O Jesu, geliebter“ würde man sie eigentlich nicht erwarten.
Dass Schumann gleichwohl diese melodische Figur auch auf sie gelegt hat, zeigt, wie tief reichend und den ganzen Menschen erfassend, ja geradezu vernichtend er die schmerzliche Verzweiflung verstanden hat, die in den Worten Maria Stuarts hier nach Ausdruck sucht. Und ich glaube, dass er sich wohl damals, in der Zeit der Komposition dieses Opus 135, in diesen Worten selbst wiederfand. Das wäre die Erklärung dafür, dass er die einem betenden Anruf Gottes eigentlich gemäße steigend angelegte, oder zumindest auf der tonalen Ebene verharrende Melodik mied und sie stattdessen durch eine so stark fallende und im Tongeschlecht Moll harmonisierte ersetzte. Nur einen lang gehaltenen, sogar mit einer Fermate versehenen sechsstimmigen H-Dur-Akkord auf dem in eine lange, ebenfalls fermatierte Dehnung übergehenden verminderten Quartsprung auf dem Wort „dich“, in dem die erste Melodiezeile endet, hielt er, und dies zu Recht, für angebracht.
Mehr noch als in den vorangehenden Liedern dieses kleinen Zyklus entfaltet sich die Melodik in diesem, dem letzten, in enger Anbindung an das lyrische Wort, ist so stark auf das Erfassen der sprachlichen Gestalt der lyrischen Aussage und ihrer Semantik reduziert, dass sie jeglicher Anmutung von genuin lyrischem Geist verlustig gegangen ist, nur noch in rhetorisch-rezitativischem Gestus auftritt. Mit einer Ausnahme der gerade beschriebenen, vier Mal erklingenden melodischen Figur. Sie atmet noch eine Spur von diesem Geist, und das musste sie für Schumann auch, vermochte er doch nur auf diese Weise den tief schmerzlichen Klageton zum Ausdruck zu bringen, der der Anrufung Gottes und Jesu im Gebet zugrunde liegt.
In diesem Zusammenhang kommt der inneren Anlage der Liedmusik große Bedeutung zu. Sie stellt sich als zweiteilig dar. Im ersten Teil, die Verse eins bis fünf umfassend, ist sie in kleine, in Viertelpausen mündende Melodiezeilen untergliedert, die mit Ausnahme der zwei Verse beinhaltenden ersten, jeweils einen Vers aufgreifen. Und diese Zeilen werden drei Mal von der besagten melodischen Figur eingeleitet. Das ist auch beim sechsten Vers, also den Worten „in schlimmer Bedrängnis“ der Fall, aber diese leiten nun den zweiten Teil des Liedes ein, der sich dadurch vom ersten abhebt, dass die Melodik, nun nicht mehr in kleine Zeilen untergliedert, keine über ein relativ großes Intervall erfolgende Fallbewegungen mehr beschreibt, sondern lange in stark repetitiv geprägtem Gestus auf mittlerer tonaler Ebene verharrt und nur in Sekundschritten nach oben und unten über das Intervall einer Terz davon abweicht. Nur am Ende, bei dem hohe liedmusikalische Expressivität fordernden Hilferuf „rette du mich“ ereignet sich noch einmal die den ersten Teil so stark prägende melodische Fallbewegung. Dieses Mal aber in einer ihre Gestalt und ihren Geist gleichsam potenzierender Form.