Beiträge von Helmut Hofmann

    Um auf die von astewes aufgeworfenen, sehr wichtigen Fragen kurz einzugehen:

    Kann der Laie/Amateur vom Profi lernen? Ja, wenn eine Sprache dafür gefunden wird (Wie die aussieht, ist noch offen)

    Die Sprache kann dabei nicht die des Profis sein, es muss eine allgemein verständliche angewendet werden. Anders ist eine dialogische Kommunikation nicht möglich.

    Wenn ein Profi einem musikwissenschaftlichen Laien hinsichtlich seiner Vorstellung und Betrachtung musikalischer Werke vorhält: "Bei dir werden immer wieder Fachbegriffe wie z.B. "Rückung" falsch angewandt, Grundtonarten mit Ausweichungen oder Modulationen verwechselt, und einfache Kadenzen als mehrfache Tonartwechsel missgedeutet", dann versteht er ihn nicht. Und noch schlimmer: Er fühlt sich als inkompetenter Mensch hingestellt und gedemütigt und wird fortan jeglichem dialogischen Verkehr mit dem Profi aus dem Wege gehen.


    Ein solcher Profi hat hier im Forum einmal die Frage aufgeworfen: "Ist das hier ein "Laienforum"? Das ist mir neu." Ich hätte ihm geantwortet: Ja, das ist ein "Laienforum", es kann gar nicht anders sein, denn ein solches Internet-Forum wie "Tamino" ist für alle Menschen offen, und die überwiegende Mehrheit der Menschen sind musikwissenschaftliche Laien. Was etwa "harmonische Ausweichungen" sind, das können sie nicht verstehen..


    Ergo: Das Medium für einen gelingenden Diskurs über Gegenstände der Musik muss die Sprache des Alltags sein. Musikwissenschaftliche Terminologie kann darin zwar durchaus verwendet werden, weil es in bestimmten Fällen unumgänglich ist, dann aber muss diese erläutert und erklärt werden.

    Kann der Laie ohne weiteres Verständnis an der Musik Freude haben? Ja, natürlich. -

    So ist es. Aber "Freude haben" und diese bekunden ist - aus meiner Sicht - nicht hinreichend für die Auslösung eines diskursiven Prozesses. Dazu bedarf es eines sprachlichen Impulses. Diesen aber in Gestalt eines Beitrags im Forum einzubringen, setzt ein Verstehen von Musik voraus. Mit der Reflexion dieses Begriffs "Verstehen" betritt man das heikle und komplexe Feld der Hermeneutik. Das kann und soll, nach den vorangehenden Ausführungen, hier nicht geschehen.

    Gemeint ist mit "Verstehen" eine innerliche Verarbeitung des in der Rezeption von Musik hörend Aufgenommenen, wobei "Verarbeitung" einen reflexiven Prozess beinhaltet, geleitet von der Frage: Was hat der Komponist hier gerade mit der Musik gemacht, was wollte er zum Ausdruck bringen, mir möglicherweise damit sagen? Ohne diesen reflexiven Prozess und sein Ergebnis, der keineswegs eine auf die Faktur der Komposition sich richtende analytische Betrachtung sein muss, ist keine Aussage möglich, die den Impuls zur Einleitung eine Diskurses beinhaltet.


    Um mittels eines Beispiels zu konkretisieren, wie eine solche Aussage aussehen kann, wähle ich eine Äußerung zu einer Musik, die gerade Inhalt des Diskurses im Thread Alle sprechen über dasselbe Musikwerk ist: Schumanns zweite Violinsonate. Zu der schrieb Joseph Joachim im September 1853 einem befreundeten Musiker:

    "Sie ist für mich eine der schönsten Schöpfungen der neuen Zeit, in ihrer herrlichen Einheit der Stimmung und Prägnanz der Motive. Sie ist voller Leidenschaft, - fast herb und schroff in ihren Aczenten - und der letzte Satz könnte an eine Seenlandschaft mahnen in seinem Auf- und Niederwogen. "


    Beispielhaft als Aussage über Musik im hier gemeinten Sinn ist diese Äußerung deshalb, weil das Urteil eine Begründung erfährt, an der eine Stellungnahme anknüpfen kann. Sie vermag damit also den besagten Impuls für einen Diskurs auszulösen. Reduziert man sie auf ihren affektiven Kern, die Worte "Sie ist für mich eine der schönsten Schöpfungen der neuen Zeit" also, dann ist sie dazu nicht in der Lage.

    Hugo Wolf: „Mignon, So laßt mich scheinen“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Gleich am Anfang, bei den Worten „So laßt mich scheinen, bis ich werde“ ist dieses Sich-Einfügen der melodischen Linie der Singstimme in den Klaviersatz zu vernehmen. Pianissimo setzt sie auf einem hohen „c“ ein und folgt bei ihrem Weg hinunter zu einem tiefen „e“ genau der Abwärtsbewegung der Akkorde im Diskant. Es ist in ihrer durchgängigen Moll-Harmonisierung und in der Dominanz der fallenden Linie eine klanglich von Ergebung in das Schicksal und sanfter Trauer geprägte Melodik, die da in der ersten Strophe aufklingt. Freilich gibt es in der melodischen Linie auch Andeutungen von Entschiedenheit. Man vernimmt sie bei der zweiten Versgruppe der ersten Strophe. Zwar ist die Grundstruktur der Vokallinie hier noch immer eine fallende, es gibt darin aber immer wieder einmal partielle Aufwärtsbewegungen, und am Ende ereignet sich sogar zu dem lyrischen Wort „Haus“ hin ein mit einer harmonischen Rückung, in der kurz ein Dur aufklingt, verbundener Quintsprung mit nachfolgender Dehnung.

    Mit dem ersten Vers der zweiten Strophe kommt eine gewisse Statik in die Struktur der melodischen Linie. Sie neigt dazu, auf einer tonalen Ebene zu verharren und weicht davon in silbengetreuer Deklamation zunächst nur um Sekunden nach oben und unten ab, bis sich dann der mit den Worten „frische Blick“ verbundene doppelte Sekundsprung mit nachfolgender Dehnung ereignet, der klanglich wie eine Befreiung aus den Zwängen der Moll-Harmonik wirkt. Das Lied wendet sich nach B-Dur hinüber, und das ist auch von der Metaphorik her angemessen: Das lyrische Ich lässt in seiner Imagination alles, was es im Augenblick an irdischer Kleidung trägt, zurück. Bemerkenswert aber: Im letzten Augenblick, bei dem Wort „zurück“ nämlich, schleicht sich das a-Moll wieder in die Harmonik der Vokallinie ein. Holt die reale Welt die Visionen des lyrischen Ichs wieder ein?

    „Sehr leise“ (Anweisung) setzt die Singstimme mit dem ersten Vers der dritten Strophe ein. Das Klavier lässt wieder das fallende Terz-Sextakkord-Motiv erklingen, und die melodische Linie schmiegt sich, wie am Liedanfang, in diese Bewegung ein. Beim zweiten Vers macht sie jedoch am Ende (bei dem Wort „Weib“) einen Quartsprung mit Dehnung, der eine Öffnung für das mit sich bringt, was im dritten Vers mit der Konjunktion „und“ eingeleitet wird: Die Vision des „verklärten Leibs“. Mit einem ausdrucksstarken Sextfall bei dem Wort „keine“ und einer langen melodischen Dehnung auf dem Wort „umgeben“ wird sie musikalisch akzentuiert.

    Mit der letzten Strophe steigert sich die Expressivität des Liedes von Vers zu Vers, bis sie beim letzten ihren klanglich überaus beeindruckenden Höhepunkt erreicht. „Mit immer gesteigertem Ausdruck“, so lautet denn auch hier die Vortragsanweisung. Tonrepetitionen prägen die melodische Linie der Singstimme, wobei der Steigerungseffekt nicht nur dadurch zustande kommt, dass in insistierender Weise auf einer tonalen Ebene deklamiert wird, sondern auch dadurch, dass diese von Vers zu Vers um eine Sekunde und einmal um eine Terz angehoben wird, und dabei ein Crescendo auf das andere folgt. Bei dem Wort „genung“ am Ende des zweiten Verses tritt ein Augenblick der Ruhe in Gestalt einer Dehnung in die Vokallinie, die sich in einer Abfolge von Achteln aufwärts bewegt. Dehnungen dienen auch dazu, lyrisch bedeutsame Worte besonders zu akzentuieren, - „Kummer“ und „altert“ nämlich.

    Bei dem Wort „frühe“ am Ende des dritten Verses macht die melodische Linie zwar einen kleinen Sekundfall, der dient aber nur dazu, dem Terzsprung zu einem hohen „Ges“ bei dem Wort „macht“ eine umso stärkere klangliche Expressivität zu verleihen. Die Singstimme hat jetzt den Forte-Bereich erreicht. Im weiteren Verlauf der Deklamation bleibt sie zunächst auf diesem hohen „Ges“, macht aber bei dem Wort „ewig“ einen überaus ausdrucksstarken doppelten Sekundfall mit Dehnung. Das Wort wird auf diese Weise melodisch stark hervorgehoben. Und als wäre der Expressivität noch nicht genug, ereignet sich auf seiner letzten Silbe ein Oktavfall zu dem Wort „jung“ hin, der mit einer harmonischen Rückung nach A-Dur verbunden ist.

    Dem innigen Wunsch des wieder Jung-Werdens wird mit diesen melodischen Mitteln und der ungewöhnlichen harmonischen Rückung auf höchst beeindruckende Weise musikalischer Ausdruck verliehen. Freilich ist da ein kleines Decrescendo in der Vokallinie. Drückt sich darin Zweifel an der Erfüllbarkeit des Wunsches aus? Das Nachspiel mit seinen a-Moll-Figuren verstärkt diesen Eindruck.

    Hugo Wolf: „Mignon, So laßt mich scheinen“

    Visionäre Entrückung wird in diesem Lied musikalisch imaginiert. Die Musik folgt jenem Weg von der „schönen Erde“ hinab in das „tiefe Haus“ und leuchtet dabei mit ihrer Melodik und einem in seiner Struktur komplexen Klaviersatz alle Bilder aus, die sich dabei im lyrischen Ich einstellen, wobei die des „realen Lebens“ sich mit jenen vermengen, die aus der Vision eines paradiesischen Lebens kommen. Und das Große an diesem Lied ist, dass diese Bilder alle ihre je eigene Musik finden. Sie will aus dem a-Moll, das ihr vorgegeben ist, immer wieder heraus, pendelt zwischen Dur und Moll hin und her, ergeht sich phasenweise in B-Dur, wird aber ins a-Moll wieder zurückgeholt, bis sie am Ende, jedenfalls mit der Harmonisierung der Melodik, in leuchtendem A-Dur landet. Das Nachspiel holt sie freilich wieder ins a-Moll zurück. Wie ist das zu verstehen?

    „Sehr langsam und zart“ soll das Lied vorgetragen werden. Es setzt im Klaviersatz mit einem aus Terzen und Sexten gebildeten akkordischen Motiv ein, das in seiner melodisch fallenden Struktur dem Lied seinen klanglichen Grundcharakter verleiht. Es prägt die Begleitung der Singstimme in vielfältig modifizierter Form durchgehend, taucht auch mal wieder in seiner anfänglichen Gestalt auf und erklingt schließlich auch im Nachspiel. Und nicht nur dies: Es prägt sich über weite Strecken auch der melodischen Linie der Singstimme ein, die wirkt, als würde sie sich ihm anschmiegen und könne sich aus dieser Bindung nur vorübergehend lösen.


    Klavierlied und/oder Orchesterlied. Zu Mahlers Liedkomposition

    Zunächst einmal:
    Folgende Liedkompositionen liegen von Gustav Mahler vor:
    --- (Drei) Lieder für Tenor und Klavier (1880-87)
    --- (Fünf) Lieder für Singstimme und Klavier (1880-87)
    --- Lieder eines fahrenden Gesellen für Singstimme und Klavier bzw. Orchester (1884/85) (UA 16.3.1896, Singstimme und Klavier Leipzig 1897, Orchestrierung in den 1890er Jahren)
    --- (Neun) Lieder und Gesänge aus des Knaben Wunderhorn für Singstimme und Klavier (1887-1890), Schott, Mainz 1892 als Lieder und Gesänge II, 1 bis 4) und III, 5 bis 8)
    --- (Fünfzehn) Lieder, Humoresken und Balladen aus Des Knaben Wunderhorn für Singstimme und Klavier bzw. Orchester (1892-1901), Weinberger, Wien 1899, 12 Lieder publiziert sowohl als Klavier- wie Orchesterfassung)
    --- (Fünf) Lieder (Friedrich Rückert) für Singstimme und Klavier bzw. Orchester (1901 /02), Leipzig 1905, C.F. Kahnt als „Lieder aus letzter Zeit, Singstimme und Klavier; Singstimme und Orchester“)
    --- Kindertotenlieder für Singstimme und Klavier bzw. Orchester (1901-1904) UA 29.1. 1905, Wien, publiziert Leipzig 1905 bei C.F. Kahnt Fassung Singstimme und Klavier; Singstimme und Orchester
    --- Das Lied von der Erde für Tenor, Alt und Orchester, bz. Klavier (1908 / 09), UA in der Orchesterfassung 20.9. 1911 München unter Bruno Walter; Publiziert Wien 1911 Universal Edition Singstimme und Orchester

    Aus der liedanalytischen Betrachtung aller dieser Lieder, deren Ergebnisse hier Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation und hier Gustav Mahler: „Das Lied von der Erde“ vorzufinden und nachzulesen sind, ergab sich für mich hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden liedkompositorischen Intention, Mahlers kompositorische Grundhaltung also und der Frage, ob diesbezüglich ein Wandlungsprozess zu erkennen ist, folgendes.
    Die ersten beiden Liedgruppen, die „Drei Lieder für Tenor und Klavier“ und die
    „Fünf Lieder für Singstimme und Klavier“, stehen noch ganz in der Tradition des romantischen Klavierliedes, wie es maßgeblich von Schubert entwickelt wurde. Mit den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ und den „Liedern und Gesängen“ Heft II und III kommt eine neue Faktur und ein neuer Ton in die Liedmusik, der einen veritablen Bruch mit dieser Tradition darstellt.
    Mahlers von Anfang an stark subjektiv ausgeprägte liedkompositorische Aussage-Intention verstärkt sich in eben dieser Subjektivität (siehe die „Lieder eines fahrenden Gesellen) und kann den adäquaten musikalischen Ausdruck nur noch im Orchesterlied finden. Das Klavierlied vermag das mit seinem genuinen liedsprachlichen Potential nicht mehr voll und ganz zu leisten.
    Und so tritt nun neben das Klavierlied das Orchesterlied, dies in der Gestalt, dass Klavierlieder nachträglich orchestriert werden oder beide Gattungen nebeneinander entstehen. Bemerkenswert und vielsagend ist dabei, dass dieser liedkompositorische Wandlungsprozess nicht nur parallel zu den ersten symphonischen Kompositionen verläuft, sondern sich teilweise sogar in ihnen ereignet, insofern das Lied signifikanter und relevanter Bestandteil der Symphonie wird.

    Dass es neben dem für Mahler nun gültigen und kompositorisch einzig relevanten Orchesterlied auch noch die Fassung für Singstimme und Klavier gibt, hat einen simplen ökonomischen und soziologischen Grund. Zu Mahlers Zeiten ist die Hausmusik noch wesentlicher Bestandteil der Kultur des Bildungsbürgertums. Ein Klavier stand in den meisten Wohnzimmer, Hauskonzerte fanden statt, und es gab infolgedessen eine starke Nachfrage nach Klavierliteratur. Für Verleger war damit das eigentliche Geschäft zu machen, nicht mit der nur geringen Stückzahl-Nachfrage bei Orchester-Partituren. Wenn ein Komponist diese verlegt haben wollte, erfüllten Verleger diesen Wunsch nur, wenn auch eine Fassung für Klavier vorlag. Das war im Übrigen auch im Interesse des Komponisten, weil sein Werk dadurch eine viel größere Kenntnis und Verbreitung fand.
    Aus der Tatsache, dass die Klavierlied- und die Orchesterfassung von Liedern auf dem Markt zusammen angeboten wurden, ist also nicht zu erschließen, welche Fassung von beiden die für Mahler gültige und im Sinne seiner liedkompositorischen Intention relevante ist. Es liegen von ihm – soweit ich das überblicke – keine diesbezüglichen Äußerungen vor. Aus der Tatsache, dass es bei den Uraufführungen in allen Fällen die Orchesterfassung war, darf man wohl aber schlussfolgern, dass es jeweils diese ist.

    Warum Mahler das Orchesterlied als die einzig seiner kompositorischen Aussage-Intention gemäße, weil diese in angemessener Weise musikalisch zum Ausdruck bringende Liedgattung betrachtete, das lässt sich sehr schön an einem Vergleich eines Klavierliedes mit einem Orchesterlied aufzeigen, denen derselbe lyrische Text zugrunde liegt. Das möchte ich hier – naheliegenderweise – am Beispiel des Eingangsliedes der Kindertotenlieder tun. Ich beschränke mich, damit das nicht zu lang wird, auf den Anfang desselben, sogar nur auf dessen erstes Verspaar „Nun will die Sonn´ so hell aufgeh´n, / als sein kein Unglück, kein Unglück die Nacht gescheh´n“, weil da alles, worauf es hier ankommt aufzeigbar ist.

    Das lyrische Ich spricht hier von einem „Unglück“, das ihm geschehen sei, ohne dass in diesem Gedicht gesagt wird, worin es konkret besteht. Das geschieht im Mahler-Zyklus erst im letzten Lied. Mahler verstärkt im Ersetzen des Wortes „auch“ durch „nur“ („nur mit allein“) die singuläre individuelle Betroffenheit des lyrischen Ichs. Es erfährt das Aufgehen der Sonne als ein Ereignis, worin sich die Gleichgültigkeit von Natur und Welt gegenüber dem Schicksal des einzelnen Menschen zeigt.
    Das Gedicht generiert sich in seiner lyrischen Aussage aus dem Gegensatz von Licht und Dunkel, - Licht, wie es die Sonne spendet, und Dunkel, wie es die Nacht schicksalhafter Erfahrung mit sich bringen kann. „Die Sonne, sie scheinet allgemein“, das will sagen: Über alles auf dieser Welt, ohne den Blick auf das Einzelne, das Besondere, wie es sich in schicksalhaft-individueller Betroffenheit in dieser Welt konstituiert.

    Das Lied steht in d-Moll als Grundtonart. Es soll „langsam und schwermütig“, aber „nicht schleppend“ vorgetragen werden. Das fünftaktige Vorspiel, in dem die Singstimme am Ende auftaktig einsetzt, wird von der Oboe und dem Horn bestritten, und die Art, wie das geschieht, erweist sich als gleichsam programmatisch für nicht nur dieses Lied, sondern für alle Lieder des Zyklus, - mit Ausnahme des fünften, das eine Sonderstellung einnimmt: Alle Lieder weisen eine mehr oder weniger stark ausgeprägte linear-polyphone Struktur auf. Die melodischen Linien, die Oboe und Horn artikulieren, sind gegenläufig angelegt. Während die Linie der Oboe in drei Anläufen aufwärts gerichtet verläuft und am Ende in eine bogenförmige Bewegung übergeht, ist die des Horns abwärts gerichtet und durchläuft darin das Intervall einer Dezime, bis sie am Ende mit einem Oktavsprung zu dem „A“ in mittlerer Lage aufsteigt, auf dem auch die Bewegung der Oboe endet.

    Es ist derselbe Ton, auf dem auch die Singstimme einsetzt. Diese setzt also mit ihrer melodischen Linie das fort, was Oboe und Horn in eigenständig-linearer Weise melodisch zum Ausdruck brachten, Und das Bemerkenswerte daran ist nun, dass sie dies in einer Weise tut, die gleichsam einen Verstoß gegen einen Topos der klassischen Musik darstellt: Die melodische Linie ist nicht aufwärts gerichtet, wie das gemeinhin, dem lyrischen Bild von der „aufgehen wollenden Sonne“ entsprechend, der Fall ist, sie senkt sich nach einem anfänglichen Terzsprung in langsamen, müde wirkenden, weil im Wechsel von einer punktierten halben Note und einem Achtel erfolgenden Schritten über das Intervall einer Quarte nach unten ab. Am Ende, bei „hell aufgeh´n“, rafft sie sich noch einmal um einen Sekundschritt nach oben auf, sinkt aber sofort wieder auf das tiefe „E“ zurück, von dem aus er erfolgte. Und während sie auf diesem Ton in einer langen Dehnung ausklingt, wiederholt die Oboe diese melodische Bewegung noch einmal, nun allerdings ohne die eingelagerten Dehnungen, d.h. in etwas flüssigerer, einer weniger müde wirkenden Form.

    Diese Melodiezeile nimmt eine zentrale Stellung in diesem Lied ein, - nicht nur, weil sie auf überaus beeindruckende und treffende Weise die existenzielle Grundbefindlichkeit und das seelische Leid des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen vermag, sondern auch deshalb, weil sie in leicht variierter Gestalt noch zwei weitere Male erklingt: Auf dem ersten Vers der zweiten und dem der vierten Gedichtstrophe. Das, was Mahler mit ihr aussagen will, ist nur mittels orchestraler Liedmusik generierbar. Das in einem schmerzlich anmutenden Auseinanderlaufen der Melodik von Horn und Oboe, das die Situation des Versinkens des lyrischen Ichs in Schmerz und Trauer unter der aufgehenden Sonne musikalisch evozieren soll, wird nur durch den unterschiedlichen Klangcharakter und ihr markantes Hervortreten darin so eindringlich. Im Klaviersatz ist das zwar ebenfalls vernehmlich, tritt aber wegen der klanglichen Gleichförmigkeit der Klavierstimme nicht hervor, die Anmutung von klagender Schmerzlichkeit wird nicht vernehmlich. Ebenso ist das mit der Singstimme, deren Auftritt mit quälenden Horn- und Fagott-Akzenten versehen ist, die das Klavier nicht zum Ausdruck zu bringen vermag. Und auch nicht deren Einbettung in die Klanglichkeit sordiniert spielender Violoncelli.

    Es ist offenkundig, dass das Klavier mit seinen Mitteln in keiner Weise in der Lage ist, das, was die Instrumentengruppen des Orchesters in ihrer je spezifischen Klanglichkeit und der Art und Weise ihres Auftretens und Zusammenspiels zur Aussage der Melodik beizutragen haben, in keiner Weise ersetzen kann. Und dieses ist bei Mahler hochkomplex. Um dieses an einem weiteren Beispiel aufzuzeigen, möchte ich zitieren, was Hans Heinrich Eggebrecht zu Versen ausführt:

    „In diesem Wetter, in diesem Saus,
    sie ruhn als wie in der Mutter Haus,
    von keinem Sturm erschrecket,
    von Gottes Hand bedecket.“

    „Mahlers Vertonung dieser Strophe fungiert hier nicht als Episode, sondern als Schluß des und des Zyklus, ist aber gleichwohl exterritorial gebildet: Anhub (gewissermaßen >Episoden-Portal) durch den ausgehaltenen Ton (Quinte der Tonika) in der 1. Violine (pp) und Piccoloflöte (p) mit Tonpunkten der Harfe und Glocke und einer aus dem stürmischen Satz übernommenen, sich nun aber beruhigenden und einen wiegenden Charakter gewinnenden Begleitfigur in der 2. Violine; Dur-Auflichtung; der Gesang dann leise zu singen bis zum Schluß; das Ganze langsam vorzutragen, wie ein Wiegenlied, weich und espressivo, mit dem Ton der Celesta, der Harfe der gestopften Hörner; schließlich die Überleitung des Gesanges im Idiom des Bläserchorals, der in einen pianissimo zu spielenden, lang ausgehaltenen und dann klanglich ersterbenden Dur-Akkord mündet, währenddessen das wiegende Begleitmotiv – in die Tiefe sinkend, leiser werdend, in Motivteile und deren Vergrößerung zerfallend – buchstäblich sich auflöst.“ (in seinem Mahler-Buch, S. 247/48)

    Es zeigt sich: Mit einem Klaviersatz als Begleitung der Melodik ist eine solche Musik nicht zu generieren, die im Zusammenspiel verschiedener Instrumente und Instrumentengruppen in der Lage ist, das semantische und das affektive Potential, das für Mahler im lyrischen Text vorliegt, in all seinen Dimensionen hinreichend zu erschließen.
    Er musste(!) mit dieser seiner liedkompositorischen Grundhaltung vom Klavierlied- zum Orchesterliedkomponisten werden.

    Franz Schubert: „Lied der Mignon“ (III)

    Es ist das dritte Mal, dass das Tongeschlecht Moll in der Melodik auf dem Schlussvers der zweiten Strophe aufklingt. Voran geschah das bei den Worten „die reine Hülle“ und man kann das als Ausdruck eines Anflugs von Wehmut bei Mignon anlässlich des „Zurücklassens“ auffassen und verstehen, von dem sie hier spricht. Auch der melodische Fall auf „ich lasse“ ist ja in h-Moll-Harmonik gebettet. Die Melodik auf den Schlussworten „den Kranz zurück“, die aus einem mit einem Terzsprung eingeleiteten und auf „Kranz“ leicht gedehnten dreischrittigen Sekundfall besteht, ist aber wieder in Dur harmonisiert, in Gestalt der klassischen Kadenzrückung von der Dominante Fis-Dur zur Tonika H-Dur.

    Dass die Liedmusik auf den Strophen drei und vier leicht variierte Wiederholungen derjenigen auf den beiden ersten Strophe enthält, darauf wurde bereits hingewiesen. Die der dritten Strophe weist nur eine Variation auf, und zwar bei den Worten „verklärten Leib“. Hier beschreibt die melodische Linie nun eine Fallbewegung von einem „Fis“ in tiefer Lage zu einem gedehnten „Dis“ bei Leib, und dies in Gestalt eines sich um eine Sekunde absenkenden Auf und Abs von Sechzehntel-Sekundschritten. Das wird dem lyrischen Bild eher gerecht als die melodische Figur die auf den entsprechenden Worten „das dunkle Haus“ der ersten Strophe liegt.

    Geradezu winzig, aber sehr wohl bedeutsam ist die Variation, die Schubert auf den Worten „Schmerz genung“ in der vierten Strophe vornimmt. Die Melodik ist zwar mit der der zweiten Strophe bei den Worten „der frische Blick“ identisch, aber die Harmonisierung konnte Schubert angesichts der semantischen und affektiven Gegebenheiten jetzt nicht beibehalten. Also hat er das gedehnte „Dis“ auf der Silbe „-nung“ statt in D-Dur nun in d-Moll-Harmonik gebettet. Die wirklich grundlegende Variation erfolgt aber auf den Schlussworten „Macht mich auf ewig wieder jung“, und sie ist ja vom semantischen Gehalt und der Bedeutsamkeit im Rahmen der lyrischen Aussage des Textes regelrecht geboten.

    Die melodische Linie entfaltet sich nun in einer Bewegung, die eine in der Musik dieses Liedes herausragende emphatische Entzückung zum Ausdruck bringt. Nach einem auf der Ebene eines „E“ in hoher Lage einsetzenden und vom Klavier in Gestalt eines H-Dur-, A-Dur- und verminderten D-Dur-Akkordes mitvollzogenen Sekundanstiegs geht sie bei „ewig“ in einen Terzfall über, der sich zu dem Wort „auf“ über eine Terz fortsetzt, wobei die Harmonik eine Rückung von H-Dur nach Cis7-Dur vollzieht. Auf dem wiederholten „auf ewig“ liegt nun eine Tonrepetition auf der tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage, wobei die auf „ewig“ eine Dehnung trägt, die diesem eine noch stärkere Akzentuierung verleiht als beim ersten Mal. Ein lang gehaltener H-Dur-Akkord begleitet das. Auf den Schlussworten „wieder jung“ beschreibt die melodische Linie dann die gleiche und auch identisch harmonisierte Kadenz-Fallbewegung wie am Ende der zweiten Strophe.

    Im viertaktigen Nachspiel erklingt eine eine Bogenbewegung beschreibende und in H-Dur harmonisierte Folge von drei Cis-Dur-, H-Dur- und Fis-Dur-Akkorden im Bass, die mit einem Pralltriller in den fermatierten H-Dur-Schlussakkord mündet. Das mutet eine Bekräftigung der Hoffnung an, die sich für Mignon mit der Imagination ihrer künftigen Existenz verbindet.

    dass es auch "praktikable" Gründe für die Orchesterfassung geben kann...

    Es sind nicht "praktikable Gründe", sondern ein liedkompositorisches Grundkonzept, das dahintersteht und das Gustav Mahler seit den "Liedern eines fahrenden Gesellen" unter Abwendung vom Modell des traditionellen Klavierlieds verfolgte und kontinuierlich weiterentwickelte.

    Das ist Konsens in der musikwissenschaftlichen Literatur, Mahlers Liedkomposition betreffend.


    (Und jetzt wird der aus der Unkenntnis der Gründe hervorgehende Einwand kommen: "Ja, aber Mahler hat doch von den Orchesterliedern Klavierliedfassungen vorgelegt". Dabei sind diese Gründe in mehreren Beiträgen zu diesem Fragenkomplex hier in sachlich zutreffender Weise bereits aufgezeigt, bzw. erwogen worden)

    Franz Schubert: „Lied der Mignon“ (II)


    Die Melodik auf den Worten „Ich eile von der schönen Erde“ stellt dann eine exakte Wiederkehr dieser melodischen Figur dar, mit der Mignon in diesem Lied auftritt, so dass sich der Eindruck, in dieser drücke ich ihr Wesen und ihre situative Grundhaltung aus, verfestigt. Bei den Worten „Hinab in jenes dunkle (G.: "feste") Haus“ geht die melodische Linie, die lyrische Aussage gleichsam abbildend, in einen Fall zur tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage über und beschreibt dort, wohl Schuberts Ersetzen des Wortes „feste“ durch „dunkle“ geschuldet, eine melismatisch angehauchte Sechzehntel-Bogenbewegung, die in einen Terzfall zur Ebene eine „Dis“ in tiefer Lage mündet.

    Das Klavier vollzieht, wie bereits angedeutet, alle deklamatorischen Schritte in synchroner Anbindung akkordisch mit, mit Ausnahme der Sechzehntel-Schritte auf dem Wort „nicht“ („aus“) und „dunkle“ („Haus“). Bemerkenswert ist aber die Harmonisierung der Melodik. Sie erfolgt durchweg im Tongeschlecht Dur, ohne jeglichen Einbruch von Chromatik darin. Für Schubert ereignet sich also dieser Auftritt von Mignon - und das zu Recht - ohne jeglichen Anflug von Schmerzlichkeit oder gar Weinerlichkeit. Die Melodik reflektiert darin den konstatierenden Gestus, der der Sprachlichkeit des lyrischen Textes innewohnt. Aber sie reflektiert auch Natalies Worte „sie sang ein Lied mit unglaublicher Anmut“. Bei allem deklamatorisch-ruhigem Gestus strahlt die Melodik, und das macht sie so eindrücklich, zugleich klangliche Anmut und Lieblichkeit aus.

    Vielsagend ist die Rolle, die das Fis-Dur darin spielt. Bei der ersten, den ersten Vers beinhaltenden Melodiezeile beschreibt die Harmonik, wie beim Vorspiel, eine Rückung von der Tonika H-Dur nach Fis-Dur und kehrt am Ende wieder zum H-Dur zurück. Bei der zweiten auf den Worten des zweiten Verses vollzieht sie zwar eine Rückung zur Subdominante E-Dur, am Ende aber wird daraus über ein H-Dur eine nach Fis-Dur. Aus den Versen drei und vier macht Schubert aus syntaktischen Gründen eine Melodiezeile. Auch in dieser ereignet sich zwei Mal eine harmonische Rückung von H-Dur nach Fis-Dur, und zwar bei den Worten „von der schönen Erde“ und - wie im Grunde zu erwarten - bei „jenes dunkle“ („Haus“). Die Harmonik dieses Liedes mutet an, als würde sie regelrecht nach diesem Fis-Dur wie zu ihrer eigentlichen Grundtonart streben.
    Wie ist das zu erklären? Da es sich dabei um die Dominante zur eigentlichen Grundtonart H-Dur handelt, könnte wohl Schubert, so denke ich, auf diese Weise das Hinweg-Streben Mignons von dieser Erde zum Ausdruck bringen, wie sie es in den Schlussworten „Macht mich auf ewig wieder jung“ zum Ausdruck bringt.

    Beim ersten Vers der zweiten Strophe verbleibt die Melodik im Gestus der ruhigen Entfaltung im kleinen Ambitus in mittlerer Lage. Bei den Worten „Dort ruh ich eine kleine“ geht sie nach einem auftaktigen Terzsprung in einen Fall über eine Terz und zwei Sekunden über, das Wort „kleine“ erfährt dann eine Akzentuierung dadurch, dass die melodische Linie mit einem Quartsprung zu einem gedehnten Sekundfall in mittlerer Lage ansetzt. Hier weicht das Klavier von seinem deklamatorisch synchronen Mitvollzug der melodischen Bewegung ab und lässt aus einem Achtelakkord einen Sechzehntel-Sekundanstieg hervorgehen. Auf „Stille“ liegt dann ein schlichter Sekundfall, der vom Klavier im Legato akkordisch mitvollzogen wird.
    Eine kleine, aber dennoch bedeutsame Abweichung von der Liedmusik der ersten Strophe gibt es aber. Sie findet sich in der Harmonik. Nun beschränkt diese sich nicht mehr auf Rückungen im Bereich der Tonika und der beiden Dominanten, vielmehr ereignet sich nach einem anfänglichen H-Dur bei „eine kleine Stille“ eine Rückung von Ais-Dur über Cis-Dur nach Fis-Dur. Schubert lässt auf diese Weise anklingen, dass, so deute ich das, eine kleine innere Erregung in Mignons Grundhaltung tritt.

    Und das hat seinen Grund, wie sich bei den nachfolgenden Worten „Dann öffnet sich der frische Blick“ zeigt. Ein veritables melodisches Ereignis vernimmt man hier, Zeugnis der spezifischen Eigenart von Schuberts Melodik als, wie Georgiades nachgewiesen hat, „musikalisches Erklingen von Sprache, Sprache als Musik“. Bei diesen Worten ereignet sich ein Unisono- Sekundanstieg von Melodik und Oktaven in Diskant und Bass von der Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage bis zu der dieses „Fis“ in hoher, über eine veritable Oktave also. Der letzte Schritt dieses spektakulären, weil von der Grundstruktur der Melodik dieses Liedes sich markant abhebenden und im Forte erfolgenden melodischen Anstiegs ist allerdings einer über eine Terz, einhergehend mit einem melismatischen Praller-Vorschlag. Die Harmonik vollzieht hierbei eine Rückung von Fis-Dur über D- und A-Dur zurück nach D-Dur, in einem Quintenzirkel-Bereich, der relativ weitab liegt von der Grundtonart dieses Liedes. Schubert hat diese Worte des zweiten Verses ganz offensichtlich deshalb zu einem solchen liedmusikalischen Ereignis werden lassen, weil sich in ihnen, wie es der nachfolgende letzte Vers der zweiten Strophe bekundet, der Schritt aus den Hüllen der irdischen Existenz in die Transzendenz ereignet.

    Danach kehrt die Melodik wieder zur Entfaltung im für dieses Lied so charakteristischen Gestus zurück. Aber nicht ganz, und das ist vielsagend. Es bleibt bei Mignon ein Nachklang der seelisch-emotionalen Beflügelung durch den „frischen Blick“ zurück. Schubert, der den lyrischen Text offensichtlich so gelesen hat, lässt die melodische Linie nach einem vierschrittigen, in eine harmonische Rückung von h-Moll nach Fis-Dur gebetteten Sekundfall auf den Worten „ich lasse dann“ einen sprunghaften, über eine Sekunde und eine Quinte erfolgenden Aufstieg zur tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage bei den nachfolgenden Worten eine ausdrucksstarke, weil wellenartig in kleinen Schritten von Achteln und Sechzehnteln erfolgende Bewegung in hoher Lage beschreiben, die bei „Gürtel“ in Gestalt eines Terzfalls zur Ebene des „Fis“ zurückkehrt. Dort verharrt sie bei dem Wort „und“ in Gestalt einer kleinen Dehnung (punktiertes Viertel), wobei die Harmonik eine Rückung vom vorangehenden H-Dur nach gis-Moll vollzieht.

    Franz Schubert: „Lied der Mignon“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Schubert hat sich auch mit diesem lyrischen Text kompositorisch intensiv auseinandergesetzt. Dieser Bearbeitung vom Januar 1826 ging im April 1821 eine erste (D 727) voraus. Eine vergleichende Betrachtung würde viele Erkenntnisse hinsichtlich der spezifischen Eigenart von Schuberts Liedkomposition erbringen, verbietet sich hier aber.
    Es handelt sich um ein Strophenlied nach dem Schema AB AB, allerdings mit kleinen, aber bedeutsamen Variationen in der zweiten Gruppe. H-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, ein Dreivierteltakt legt der Liedmusik zugrunde, und sie soll „Nicht zu langsam“ vorgetragen werden.

    Ein viertaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus. In der Legato-Abfolge von Achtelakkorden, die im Bass synchron mit zwei- und dreistimmigen Staccato-Achtelakkorden begleitet werden, klingt der Geist der Liedmusik auf. Es ist der einer schwebenden Entfaltung in Gestalt von klanglich prägenden Quartsextakkorden. Am Anfang und am Ende klingt die melodische Figur auf den lyrischen Schlüsselworten „So laßt mich scheinen“ auf, und die Harmonik beschreibt eine Rückung von einem anfänglichen H-Dur über ein Fis-Dur und wieder zurück zur Grundtonart H-Dur am Ende. Das „Fis“ ist aber von Anfang an im Bass in repetitiver Gestalt gegenwärtig, und es erweist sich als gleichsam tonale, die ganze Liedmusik durchziehende Achse.

    Bis auf bereits zwei weitere Faktoren sind damit die Komponenten genannt, die den Eindruck von schwebender Entfaltung der Liedmusik generieren. Diese ist natürlich von Schubert bewusst kompositorisch intendiert. Sie ist musikalischer Niederschlag der situativen Atmosphäre und der existenziell-seelischen Befindlichkeit, in der das lyrische Ich „Mignon“ hier seine Aussagen tätigt. Es sind ja schließlich allesamt solche, die imaginativer, aus einer träumerischen Haltung hervorgehender Art sind. Neben dem bereits im Vorspiel sich zeigenden Faktoren dominierender Quartsextakkord und der in gleicher Weise fungierenden Fis-Dur-Harmonik kommen in der nachfolgenden Liedmusik noch weitere Faktoren hinzu, die für diese spezifische, dieses Lied auszeichnende und so überaus schöne klangliche Eigenart der schwebenden Entfaltung der Liedmusik verantwortlich sind.

    Es ist der Rhythmus, der permanent zwischen einem Dreiviertel- und einen Sechsachtel-Metrum pendelt, allerdings nur gefühlsmäßig, weil im Notentext nicht ausgewiesen, darüber hinaus ist es die Melodik, die, auch bedingt durch das Strophenlied-Konzept, immerzu um die gleichen Figuren kreist, und schließlich ist es ein Sachverhalt, der für Schuberts Liedmusik nicht typisch ist: Ein einfacher, weil nicht autonomer, vielmehr im Mitvollzug der melodisch-deklamatorischen Schritte in akkordischer Gestalt sich erschöpfender Klaviersatz. Schubert will, dass die Melodik in ihrer imaginativ-träumerischen Entfaltung keinerlei Verstörung durch einen autonomen, eine eigene musikalische Aussage generierenden Klaviersatz erfährt. Das wäre dem Wesen der lyrischen Aussagen Mignons ganz und gar unangemessen.

    Die nach dem fermatierten sechsstimmigen H-Dur-Akkord, in den das Vorspiel mündet, einsetzende und von einer Viertelpause eingehegte Melodik auf den Worten „So laßt mich scheinen, bis ich werde“ weist einen die ganze Liedmusik prägenden Charakter auf. Das ist, angesichts ihrer strukturellen Schlichtheit ein wenig verwunderlich. Aber vielleicht liegt der Grund dafür ja gerade darin. Einmal gehört, und sie prägt sich ein. Ein weiterer dürfte wohl darin bestehen, dass sie in ihrem Sekundschritt-Anstiegsgestus nach einer Viertelpause beim zweiten Vers mit einer diesen Gestus umkehrenden melodischen Figur verbunden wird, die am Ende, bei den Worten „nicht aus“ den Sekundfall bei den Worten „ich werde“ mit einem Legato-Terzsprung gleichsam kompensiert.

    Franz Schubert: „Lied der Mignon“, op. 62, Nr. 3 (D 877)

    So laßt mich scheinen, bis ich werde,
    Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!
    Ich eile von der schönen Erde
    Hinab in jenes dunkle (G.:feste) Haus.

    Dort ruh' ich eine kleine Stille,
    Dann öffnet sich der frische Blick;
    Ich lasse dann die reine Hülle,
    Den Gürtel und den Kranz zurück.

    Und jene himmlischen Gestalten
    Sie fragen nicht nach Mann und Weib,
    Und keine Kleider, keine Falten
    Umgeben den verklärten Leib.

    Zwar lebt' ich ohne Sorg und Mühe,
    Doch fühlt' ich tiefen Schmerz genung.
    Vor Kummer altert' ich zu frühe;
    Macht mich auf ewig wieder jung.

    Dieser vierte und letzte Gesang Mignons findet sich am Ende des zweiten Kapitels des achten Buchs. Der vorangehende dritte lyrische Text, der ja nur rezitiert wird, am Ende des fünften. Es ist also narrativ sehr viel geschehen dazwischen, worum man eigentlich wissen muss, um voll verstehen zu können, was Mignon in diesem hier zum Ausdruck bringt.
    Das hier zusammengefasst wiederzugeben, ist natürlich nicht möglich. Um dennoch dieses Verständnis zu ermöglichen, soll die Entwicklung der Mignon-Gestalt in ihrer Beziehung zu Wilhelm kurz skizziert werden.
    Sie ist, wie es das „Italien-Lied“ andeutet, eine vom „Beschützer“ über den „Vater“ zum „Geliebten“. In Einheit mit dieser emotionalen Dimension ist es der Faktor Kunst in Gestalt von Schauspiel und Theater, der beide miteinander verbindet. Und so zerbricht denn auch diese Bindung, als Wilhelm erkennt, dass er, anders als Mignon, in seinem Wesen kein Künstler ist und sich vom Theater abwendet. Diese rational fundierte Abwendung von der anfänglichen Leidenschaft zur Kunst, die mit dem Willen zu bürgerlichem Leben einschließlich einer Vernunftheirat einhergeht und im Romangeschehen mit Reisen eingeleitet wird, zerstört die innere Bindung zwischen ihm und Mignon und leitet deren seelischen und körperlichen Zusammenbruch ein, der in den Tod führt.

    In der letzten Phase ihrer inneren Entwicklung zum Tod hin ist dieser Gesang angesiedelt. Wilhelm erfährt von dem Geschehen durch einen Bericht Natalies. Von ihr erfährt er, dass Mignon inzwischen nur noch „Frauenkleider“ trägt, „von denen sie sonst einen so großen Abscheu zu haben schien“. Von ihrer so lange währenden Androgynie hat sie sich also abgelöst und zu einer Eindeutigkeit der Existenz gefunden, die allerdings eine zum Tode ist. Natalie hat ein Kinderfest veranstaltet, in dem sie Mignon die als Engel mit weißem Gewand, goldenem Gürtel, Diadem in den Haaren und „goldenen Schwingen“ auftretende Rolle einer Verteilerin von Geschenken zugewiesen hat. Und weiter heißt es im Text:

    >"Hier sind eure Gaben“, sagte sie und reichte das Körbchen hin. Man versammelte sich um sie, man betrachtete, man befühlte, man befragte sie.
    „Bist du ein Engel?“ fragte das eine Kind.
    „Ich wollte, ich wär´ es“, versetzte Mignon.
    „Warum trägst du eine Lilie?“
    „So rein und offen sollte mein Herz sein, dann wär´ ich glücklich.“
    „Wie ist´s mit den Flügeln? Laß sie sehen!“
    „Sie stellen schönere vor, die noch nicht entfaltet sind.“
    Und so antwortete sie bedeutend auf jede unschuldige, leichte Frage. Als die Neugierde dieser kleinen Gesellschaft befriedigt war und der Eindruck dieser Erscheinung stumpf zu werden anfing, wollte man sie wieder auskleiden. Sie verwehrte es, nahm ihre Zither, setzte sich hier auf diesen hohen Schreibtisch hinauf und dang ein Lied mit unglaublicher Anmut.<

    Von daher erschließt sich nun, wie ich denke, die Aussage dieses lyrischen Textes. Die einleitenden Worte „So laßt mich scheinen, bis ich werde“ offenbaren das Selbstverständnis Mignons bei ihrem Auftritt in ihrer lebensweltlichen Gesellschaft. Er ist einer des „Scheinens“, nicht die ihrer existenziell wahren Gestalt. Hier ist es die Rolle eines Engels, die ihr aber in ihrer Anmutung von Transzendenz mehr gemäß ist als alle anderen, ihr wahres Wesen verbergenden Gestalten des Auftritts zuvor.

    Denn ihr wahres Wesen ist das eines „Werdens“, eines existenziellen Weges hin zum Aufgehen in der Transzendenz, in dem sich das endgültige Zu-sich-Selbst-Kommen ereignet. Ihr irdisches Leben hat ihr das infolge des auf ihr lastenden Fluchs nicht ermöglicht. Diese Verse verkörpern also in ihrer Abfolge die Imagination einer körperlich-existenziellen Entgrenzung und über den Tod sich ereignende Einfindung in die Transzendenz. Diese wird von ihr als Einkehr in ein „festes Haus“ empfunden, also in einen Ort der Geborgenheit, wie er ihr in ihrer irdischen Existenz nicht zuteilwurde. Wenn Schubert daraus ein „dunkles Haus“ macht, so läuft das auf eine Verfälschung der lyrischen Aussage hinaus. Er assoziiert mit „Tod“ in herkömmlicher Weise Dunkelheit, was an Mignons Verständnis desselben völlig vorbeigeht.

    Der Einkehr in das „feste Haus“ geht das Ablegen irdischen Gewandes, hier das „weiße Kleid“ voraus. Und nun, so stellt sie sich das vor, vermag sie zur Ruhe in einem Augenblick der „Stille“ zu finden, Stille im Sinne eines von Keinem gestörten Zu-sich-selbst-Findens, was, wenn man es als Wunschvorstellung versteht, verrät, wie sie ihre irdische Existenz erfahren hat. Der „frische Blick“ ist dann einer, in dem das neue Leben aufleuchtet. Es ist eines der absoluten Freiheit von allen irdischen Zwängen, wie sie sich bei ihr beispielhaft in dem Bild von dem alle Kleider und Falten abgeworfenen „verklärten Leib“ einstellt. Und ihr irdisches Grundproblem der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht existiert auch nicht mehr. Die „himmlischen Gestalten“ fragen nicht danach.

    Noch einmal wirft sie in der letzten Strophe einen Blick zurück auf ihr Leben, das sich ihr, obgleich es frei von „Sorg und Mühe“ war, wesenhaft als eines von „Schmerz“ und „Kummer“ darstellt. Und die Aufforderung, die sie am Ende äußert, dieses wieder Jung-Sein Wollen, ist als Wunsch nach einem existenziellen Neuanfang zu verstehen. Er kann in ihrem Fall nur über den Weg erfolgen, den sie in den vorangehenden Versen imaginativ entworfen hat.


    Der Singstimme eröffnen sich vor allem im unteren dynamischen Bereich auch andere Ausdrucksmöglichkeiten als mit Orchester.

    Das ist richtig. Aber das soll ja nach Mahlers Willen gar nicht so sein. Die Singstimme ist in den "Kindertotenliedern" integraler Bestandteil des liedkompositorischen Satzes.

    Aber jetzt möchte ich es damit gut sein lassen und mich auf den ein neues Thema eröffnenden Beitrag von Tristan einstellen und mich dessen erfreuen.

    Ich habe mir heute noch einmal den Liedzyklus angehört, wieder in der Fassung mit Klavierbegleitung.

    Das hat, wenn ich mir diesen Hinweis noch nachträglich erlauben darf, wenig Sinn.

    Auf diese Weise bekommen Sie höchstens ansatzweise mit, was diese Liedmusik zu sagen hat.

    Sie ist von Anfang an gedanklich orchestral konzipiert und als solche dann kompositorisch ausgeführt. Mahler hat viel Mühe darauf verwendet, wie die einzelnen instrumentalen Orchesterstimmen eingesetzt werden und wie sie miteinander agieren. Dies deshalb, weil bei ihm einzelnen Instrumenten eine spezifische musikalische Aussage-Funktion zukommt.

    Das klangliche Wesen, die musikalische Eigenart der "Kindertotenlieder" und ihre liedhistorische Bedeutung gründen ganz wesentlich in der Emanzipation der Liedkomposition von der traditionellen Bindung an den Klaviersatz.

    Weil heute die der Betrachtung dieser Musik zugemessenen zwei Wochen definitiv zu Ende gehen, hier noch dieses:


    Zur liedhistorischen Bedeutung der „Kindertotenlieder“

    Mahlers „Kindertotenlieder“ gehören ohne Zweifel zu den großen Werken der Liedliteratur, solchen wie etwa den Zyklen Schuberts gleichrangig zur Seite stehend. Sie haben mit ihrer Emanzipation von der Bindung an den Klaviersatz eine neue Ära der Liedkomposition eingeleitet. „Die Musik Mahlers“, so hat Kurt Blaukopf zu Recht festgestellt, „die hier von allen Merkmalen seiner früheren Liedkunst befreit ist (von simpler Folklore und vom Marschrhythmus, vom Militärsignal und vom Volkstümlich-Tänzerischen), erreicht eine Höhe, von der aus schon Schönbergs >Herzgewächse< (1911) und dessen >Pierrot Lunaire< (1912, Anton Weberns Rilke-Lieder (1910) und Alban Bergs Altenberg-Lieder (1912) wahrnehmbar werden.“

    Von Anton Webern ist Mahlers Aussage überliefert: „Nach des Knaben Wunderhorn konnte ich nur mehr Rückert machen – das ist Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand“.
    Das ist eigentlich eine höchst verwunderliche Feststellung, denn gerade Rückerts in der Mehrzahl prosodisch streng geregelte und auf sprachliche Glätte und Eleganz angelegte Lyrik würde man als eine „von zweiter Hand“ einstufen. Es sind, er hat das selbst so gesehen, Werke eines dichtenden Gelehrten.
    Bei den Kindertotenliedern aber ereignet sich ein diese Prosodie gegenstandslos werden lassender Einbruch der Subjektivität in die lyrische Sprache. Hier leidet Rückert, ringt und kämpft um ein Verstehen, Ertragen und Überwinden dessen, was ihn mit dem Kindestod so schwer getroffen hat, und weil infolgedessen in den Tag für Tag mindestens zwei hervorgebrachten lyrischen Texten die formale sprachliche Gestalt keine Rolle spielte, hat er die am Ende mehr als 400 nicht veröffentlicht.

    Wenn Mahler von „Lyrik aus erster Hand“ spricht, so meint er genau das. Die „zweite“, die formal regelnde und gestaltende „zweite Hand“ fehlt. Sie würde, so wie Mahler das sieht, sie in ihrer Aussage verfremden, ihrer Ursprünglichkeit und damit ihrer Wahrheit berauben. Dieser radikale und kompromisslose Einbruch der Subjektivität ereignet sich auch von Anfang an in Mahlers sinfonischer Komposition in Gestalt einer Loslösung vom traditionellen Reglement der Sinfonik, des Arbeitens mit musikalischen Vokabeln bis hin zur Einbeziehung von Naturlauten und populärer Volksmusik.

    Er hat sich von daher in Rückerts Kindertotenliedern künstlerisch und menschlich gleichsam wiedergefunden, menschlich insofern, als er selbst immer wieder unter ausgeprägten Angstzuständen und Panikattacken zu leiden hatte. Deshalb hat er schon im Jahr 1901, also vor seiner Eheschließung, mit der Komposition dieser Rückert-Texte begonnen, sie aber erst im Sommer 1904 abgeschlossen. Der eigenen Kindestod-Erfahrung bedurfte es dazu nicht. Schon in früher Jugend hat Mahler durch den Tod seiner vier Geschwister, seines geliebten Bruders Ernst und dann der verheirateten Schwester Leopoldine vielfältige und ihn stark berührende Erfahrungen mit dem Tod gemacht.

    Seine Liedmusik erbringt eine Erschließung der semantischen und der affektiven Dimensionen der Rückert-Texte, sie interpretiert sie also. Diese ist nun aber darin, anders als die Texte, kompositorisch geregelt und strukturiert. Bemerkenswert dabei ist, dass Mahler sich dabei nicht affektiv hinreißen lässt. Es ist eine auf kleinem Orchestersatz basierende, geradezu asketische Musik, wie sie gleich am Anfang auf eindrückliche Weise vernehmen lässt, darin die Sprache des „Lieds von der Erde“ vorwegnehmend.
    Diese Musik generiert und gewinnt ihre musikalische Aussage aus der Binnenspannung zwischen ihrer streng geregelten und affektiv kontrollierten kompositorischen Faktur und der ungeregelten Expressivität der ihr zugrunde liegenden Rückert-Texte. Nur im letzten Lied tritt ein hochgradig expressiver Klage- und Schmerzensgestus in sie. Aber dieser wird, und das ist bezeichnend, nicht bis zum Ende durchgehalten, wie hier auf detaillierte Weise aufgezeigt wurde.

    Der Schriftsteller und Literaturkritiker Hans Wollschläger hat diese Musik auf treffende Weise mit den Worten beschrieben und charakterisiert:
    „Mahler, der in seiner eigenen >Natur< den Panischen Schrecken kannte, hat ihn auch in der Natur Rückerts erspürt und in ihrem Sprechen freigesetzt, indem er dessen Glätte wiederauflöste. Seine Musik umgibt den Text mit dem surreal Zeitlösen jenes Todes, in dem der Kindertod selber nur eine Metapher war; ihre Linearität verläßt die Epoche, und im letzten Lied scheinen die Klagelaute aller Kulturen zu kontaminieren.“

    Drei Mal „Mignon“: „Heiß mich nicht reden“


    Mignon, dieses höchst rätselhafte Wesen, das Goethe da geschaffen hat, rätselhaft, weil es sich jeder existenziellen Bestimmung entzieht und vegetativ, engelhaft und dämonisch zugleich wirkt, hat ganz offensichtlich jeden Komponisten herausgefordert, ihm musikalisch eben diese personale Identität zu verschaffen, die ihm von seinem Schöpfer poetisch vorenthalten bleibt.
    Und siehe, es ist bei den drei großen Repräsentanten des romantischen Klavierliedes jeweils eine völlig andere „Mignon“ dabei herausgekommen: Bei Schubert das naive, heimlich liebende, still leidende und von einer unbestimmten Sehnsucht beseelte Mädchen; bei Schumann die reife, sich zu ihrer Existenz bekennende und darin innerlich zerrissene, weil zwischen Liebe, Sehnsucht und Einsamkeit hin und her treibende Frau; und bei Wolf die in abgrundtiefes Leiden versunkene Seele, der einzig das Sehnen bleibt, - in der realen Existenz die nach dem fernen Süden, in der idealen jene andere nach einem die reale Körperlichkeit transzendierenden himmlisch verklärten Sein.

    Bei Schubert vernimmt man aus dem Mund dieser Mignon eine melodische Linie, die den Gestus naiver und deshalb so faszinierend eingängiger Gesanglichkeit nie wirklich verlässt, - auch nicht in jenen Passagen, in denen sich das seelische Leiden unter dem schicksalhaften Gebot des Schweigens artikuliert. Bezeichnend ist ja doch, dass die Singstimme in harmonischem Einklang mit dem Klavier dessen Vorspiel-Melodik aufgreift. Diese ist zwar zunächst in e-Moll harmonisiert und weist die Anmutung von Wehmut auf. Aber das ist ein inniger Ton, einer, der zwar Leiden, aber keine seelische Zerrissenheit zum Ausdruck bringt. Und überdies ist das Moll als Tongeschlecht in diesem Lied ja keineswegs dominant. Gewiss, die melodische Linie weist häufig eine fallende Tendenz auf, aber darin verharrt sie nicht. So wie in der zweiten Strophe eine Modulation nach C-Dur erfolgt und das zentrale melodische Motiv am Anfang der dritten in D-Dur harmonisiert ist, so gibt es immer wieder das Aufklingen von Hoffnung in der Musik.
    So wie beim Schluss des Liedes: Nach einem kurzen, ebenfalls aus einer bogenförmigen Bewegung von Moll-Akkorden bestehenden Nachspiel erklingt am Ende ein reiner E-Dur-Akkord. Eine Musik, die auf das verweist, was die letzten Worte des Liedes als Zukunftsvision enthalten.

    Kein größerer Kontrast ist denkbar zwischen dem Anfang des Schumann-Liedes und jenem bei Schubert. Die forte und in rascher Folge hart angeschlagenen acht c-Moll-Akkorde evozieren auf der Stelle den klanglichen Eindruck von Dramatik. Und die Tatsache, dass die Singstimme auf dem zweitletzten Akkord sforzato in das einfällt, was das Klavier hier artikuliert, verstärkt diesen Eindruck noch. Lang wird das „c“ auf dem Wort „heiß“ gehalten, danach steigt die melodische Linie im Auf und An von Sekunden und mit einem Terzsprung zu einem hohen „f“ auf, das (auf dem zweit „heiß“) wiederum eine Dehnung trägt, und danach geht es in einer großen und einer kleinen Fallbewegung abwärts. Ein ausgeprägt fordernder Ton wohnt dieser melodischen Linie inne. Und es ist nicht der eines still leidenden Mädchens, sondern der einer Frau, die sich ihrer existenziellen Situation bewusst ist, sich auf sie zurückgeworfen fühlt und darunter leidet, zugleich aber daraus ausbrechen möchte, ohne die Hoffnung zu haben, dass dies wirklich gelingen könnte.

    Die innere Zerrissenheit spiegelt sich deutlich in der Faktur des Liedes. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Binnenspannung, die sich aus der Kombination von rezitativischen und gleichsam ariosen Passagen ergibt. Melodik und Klaviersatz reflektieren diese seelischen Regungen in vielfältiger Weise. Mit häufigen Tempo- und Dynamikwechseln und raschen Bewegungen von Achtel-Akkorden und Akkordrepetitionen, die vielerlei harmonische Modulationen durchlaufen.
    Und dann ist da dieser Schluss: Bei den Worten „Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen“ bewegt sich die Vokallinie, in ihrem Piano und Ritardando wie in resignativer Eintönigkeit versinkend, in silbengetreuer Deklamation nur noch zwischen zwei tonalen Ebenen hin und her: Einem „g“ und einem „e“, um am Ende mit einem Terzsprung zu eben jenem „g“ hin ihr Ende zu finden.

    Hugo Wolfs Mignon wirkt gegenüber der melodischen Expressivität, die sie bei Schumann entfaltet, wie in die absolute Einsamkeit eingeschlossen, aus der es, weil ein „Schwur“ ihr die Lippen zudrückt“, für sie kein Entrinnen gibt. Der Moll-Subdominant-Akkord, der wie ein klanglicher Rahmen das Lied eröffnet und abschließt, wirkt wie ein klangliches Symbol dafür. Und die Melodik, die sich auf dem Untergrund eines daktylisch strukturierten Klaviersatzes entfaltet, empfindet man in der chromatisch geprägten Müdigkeit ihrer Bewegung, die immer wieder in Tonrepetitionen verfällt, aber auch vereinzelt abrupte Fall- und Sprungbewegungen vollzieht, als musikalischen Ausdruck der Verschlossenheit des lyrischen Ichs, seines Leidens und des Zurückgeworfen-Seins auf sich selbst.

    Bezeichnend ist ja doch, dass das an sich positive Bild von „der Sonne Lauf“ auf einer chromatisch eingebetteten, von verminderten Tonschritten geprägten und müde wirkenden melodischen Linie deklamiert wird, die langsam zu dem Wort „Nacht“ hin abfällt und dann zu dem Wort „erhellen“ hin zwar einen veritablen Oktavsprung macht, der sogar noch um eine Terz erhöht wird, an ihrem Ende aber, ausgerechnet auf den beiden letzten Silben des Wortes „erhellen“, einen Sextfall beschreibt. Und damit korrespondiert die Tatsache, dass die melodische Linie beim letzten Vers („Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen“) zu dem Wort „Gott“ hin einen – von einem fortissimo angeschlagenen sechsstimmigen Akkord akzentuierten - Terzsprung zu einem hohen „f“ hin macht, der es melodisch deutlich exponiert, danach aber zu einer Fallbewegung übergeht, die wirkt, als würde sich das lyrische Ich ermattend in sich selbst zurückziehen.
    Für diese Mignon gibt es keine Hoffnung auf Erlösung in dieser irdischen Welt.

    Die zwei Wochen neigen sich ihrem Ende zu ...

    ... und es waren, so habe ich es jedenfalls empfunden, in der diskursiven Beschäftigung mit diesem Liederzyklus hoch erfreuliche, weil sehr ergiebige.

    Kritisch könnte man allerdings, will ich aber nicht wirklich tun, anmerken, dass dieser Diskurs sich auf das letzte Lied konzentrierte. Schließlich ergab sich ja besonders dadurch seine Ergiebigkeit. Dadurch ist aber das, was die vorangehenden Lieder zu sagen haben, zu kurz gekommen. Vor allem aber ist etwas ganz Wichtiges nicht deutlich geworden: Der zyklische Charakter dieses Werkes von Mahler.

    Aber das wäre im dem Projekt zugrunde liegenden Zwei-Wochen-Rahmen ja im Grunde nicht zu realisieren gewesen. Deshalb hierzu noch ein paar Anmerkungen.


    Der zyklische Charakter ist zwar durchgehend manifest, er wird aber bei den drei letzten Liedern in ganz besonderer Weise sinnfällig. Das dritte („Wenn dein Mütterlein“) endete, harmonisch betrachtet, in seinem trostlosen, weil ohne die Perspektive einer Erlösung auskommen müssenden Gefesselt-Sein an den Schmerz des Hier und Jetzt in dem c-Moll, in dem es einsetzte und in das es bei all seinen wie verzweifelt wirkenden Ausbrüchen in Dur-Harmonik immer wieder zurückgeworfen wird. Mit einer wunderlich anmutenden Rückung nach G-Dur im Schlusstakt freilich. Aber wunderlich ist sie nicht wirklich. Das folgende Lied löst diese Verwunderung mit der Harmonik, in der es einsetzt: Es ist Es-Dur, die Dur-Parallele zu jenem c-Moll, das eben gerade beim vorangehenden Lied harmonisch noch alles im Griff hatte. Man soll also, so wollte Mahler das, das vierte Lied aus vielerlei Gründen, vor allem jenen der Harmonik und des Liedschlusses des dritten Liedes, als „Antwort“ auf dieses hören und verstehen.

    Und tut man das, so erschließen sich, über die musikalische Aussage hinaus, die es als singuläre Liedkomposition aufweist, weitere hochbedeutsame musikalische Aussage-Dimensionen. Mit einem Mal wird einem der hochgradig suggestive Gestus, der der Liedmusik innewohnt, in seiner wahren Bedeutung bewusst. Er gründet in einer dieses Lied in seiner spezifischen Eigenart prägenden polyphonen Wiederholung melodischer Motive. Das Vorspiel deutet sie schon an, und die melodische Linie der Singstimme lässt sie, in gleichsam auf ihren Kern gebrachter klanglicher Gestalt, gleich am Anfang vernehmen. Es sind die melodisch-deklamatorischen Schritte, die auf den Worten liegen „Oft denk´ ich, sie sind nur ausgegangen“ und „Bald werden sie wieder nach Hause gelangen“. Diesen melodischen Motiven steht ein drittes gleichsam gegenüber. Es ist das auf den Worten „Der Tag ist schön“. Gegenüber tritt es den anderen insofern, als es sich in seiner melismatischen, die „Schönheit“ klanglich erfahrbar machenden bogenförmigen Struktur und in seiner Dur-Harmonisierung von diesen abhebt. Die melodische Linie, die auf den Worten „“Der Tag ist schön, o sei nicht bang, sie machen nur einen weiten Gang“ liegt, wirkt in ihrer Struktur wie eine zweimalige Wiederholung ihres Anfangs, dies aber unter Steigerung ihrer Emphase. Darin, aber auch in ihrer Dur-Harmonisierung, die die kleine Verminderung auf den Worten „o sei nicht bang“ gegenstandslos werden lässt, wirkt sie wie eine klangliche Emanzipation von der sich in es-Moll ereignenden melodischen Fallbewegung auf den Worten „sie sind nur vorausgegangen“.

    Und unter diesem Aspekt ist nun höchst bedeutsam, dass diese melodische Figur am Ende des Liedes gleichsam die Oberhand gewinnt. Mit den Worten „Wir holen sie ein…“ (Takt 58ff.) wiederholt sich diese bogenförmige Bewegung der melodischen Linie insgesamt sechs Mal, und dies unter Verkürzung des Bogens und einer Anhebung der tonalen Ebene seines Ansatzes in der letzten Phase. Man kann dieses Sich-Hineinsteigern der melodischen Linie in diese Figur und die damit einhergehende Potenzierung der liedmusikalischen Emphase, die auch dadurch zustande kommt, dass die Flöten, die Violinen und die Violen die Aufgipfelung bei „auf jenen Höh´n“ in einem Anstieg in extrem hohe Lage mitvollziehen, eigentlich nicht anders verstehen und deuten, als dass das lyrische Ich in eine Art Ekstasis geraten ist. Es ist außer sich geraten, hat die reale Situation des Wissens um den Verlust der Kinder und des Leidens darunter in einem autosuggestiven Prozess, wie ihn das Lied auf höchst beeindruckende Weise miterleben lässt, verlassen und sieht sich imaginativ auf dem Weg zu „jenen Höh´n“, wo es seine Kinder schon zu wissen meint.

    Robert Schumann: „Mignon: Heiß mich nicht reden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    In dramatischer Form setzt das Lied ein. Eine Folge von hart angeschlagenen c-Moll Akkorden in fallender Linie erklingt, und am Ende fällt die Singstimme sforzato mit den Worten „Heiß mich nicht reden „ in sie ein. Sie schlägt einen höchst expressiven rezitativisch geprägten Ton an, der erst bei den Worten „heiß mich schweigen“ in ein Ritardando verfällt. Etwas ruhiger und in aufsteigender Linie mit einer Dehnung am Ende wird der zweite Vers deklamiert. Aber schon bei dritten lautet die Anweisung „schneller“. Die melodische Linie macht eine aus einer Dehnung hervorgehende Fallbewegung, und nach einer Pause beschreibt sie bei den Worten „Allein das Schicksal will es nicht“ eine leicht wehmütig klingende Bogenbewegung, derweilen im Klaviersatz die melodische Linie des vorangegangenen Verses nachklingt. Das ist höchst subtile Kompositionskunst. Der erste Vers wird am Ende dieser wie ein Accompagnato-Rezitativ wirkenden ersten Strophe forte auf einer zunächst in hohe Lage emporsteigenden und dann mit einem verminderten Septfall in tiefe Lage stürzenden Vokallinie wiederholt.

    Ruhig und in C-Dur harmonisiert bewegt sich die melodische Linie bei der zweiten Strophe, was nicht bedeutet, dass sie nicht immer wieder einmal – die lyrischen Bilder reflektierend – in hoher Lage aufgipfelt oder eine Fallbewegung über ein großes Intervall beschreibt. So steigt sie bei den Worten „vertreibt der Sonne Lauf die finstre Nacht“ über mehr als eine Oktave zu einem hohen „g“ empor, macht aber einen, bei dem Wort „erhellen“ einen höchst ausdrucksstarken, mit einer harmonischen Rückung verbundenen – und überraschenden! – Oktavfall. Auch bei den beiden letzen Versen der zweiten Strophe schlägt sich die innere Bewegtheit der lyrischen Bilder auf die Struktur und die Bewegung der melodischen Linie nieder: Erst beschreibt sie eine Fallbewegung, bei dem Bild von den „tiefverborg´nen Quellen“ setzt sie zu einer bogenförmigen Bewegung an, die ausgerechnet bei dem Wort „tief“ mit einem verminderten Sekundfall in hoher Lage aufgipfelt. Die Dynamik bleibt derweilen durchgängig im Forte-Bereich und der aus der raschen Bewegung von Achtelakkorden und Akkordrepetitionen bestehende Klaviersatz durchläuft viele harmonische Modulationen.

    In ruhiger, syllabisch exakter Weise und in mittlerer tonaler Lage verbleibend werden die ersten beiden Verse der dritten Strophe deklamiert. Auf den Worten „Ruh“ und „dort“ liegen melodische Dehnungen, und auch das Wort „ergießen“ erhält durch gedehnt aufsteigende melodische Linie einen besonderen Akzent. Bei den Worten „Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ nimmt die Vokallinie dann aber einen deutlich expressiveren Ton an. Aus der Deklamation auf nur einer tonalen Ebene erfolgt sforzato zu dem Wort „Schwur“ hin ein Quintsprung, das damit erreichte hohe „f“ wird lange gehalten, bevor dann mit einem die melodische Linie in einer lang gedehnten Fallbewegung und einem mehrfachen Diminuendo auf höchst beeindruckende Weise langsam ausklingt. Das Klavier begleitet all das mit allerlei Modulationen durchlaufenden Akkordrepetitionen, die eine untergründige Unruhe in die Melodik bringen. Auffällig ist dies besonders bei der langen Dehnung auf den Wort „Gott“ und „aufzuschließen“.

    Nach einer zweitaktigen Pause, in der das Klavier seine Repetitionen fortsetzt, werden die Worte „nur ein Gott“ auf chromatisch in tiefer Lage sehr langsam fallender und in einen verminderten Akkord mündender melodischer Linie wiederholt. Danach erklingen im Klavier drei Mal chromatisch-dissonante und jeweils lange gehaltene Akkorde in aufsteigender Linie. Als klanglicher Kommentar zu den Worten „Nur ein Gott“ wirken sie wie der musikalische Ausdruck tiefer Hoffnungslosigkeit des lyrischen Ichs, ob ihm dieses „Aufschließen“ denn je zuteilwerden würde.

    Mit „Adagio“ ist die Rückkehr des Liedes zum rezitativischen Ton seines Anfangs überschrieben. Die beiden ersten und die vier letzten Verse des Gedichts erklingen noch einmal, - unter Auslassung der Partikel „allein“. In ruhiger Bewegung steigt die melodische Linie bei den Worten „Heiß mich nicht reden“ an, macht aber dann bei dem Worten „reden“ einen Quintfall und lässt anschließend das Wort „schweigen“ mit einem verminderten, und mit einer harmonischen Rückung verbundenen Sekundfall eindringlich hervortreten. Auch das Wort „Schwur“ wird mit einem Oktavsprung noch einmal auf eindrucksvolle Weise in seiner lyrischen Bedeutung melodisch akzentuiert. Und so ist das auch bei den Worten „die Lippen zu“: Ein kleiner Sekundfall, der anschließend auf der tonalen Ebene verharrt.

    Höchst beeindruckend auch die letzten melodischen Schritte bei der Wiederholung der lyrisch so zentralen Worte „Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen“. Die Vokallinie bewegt sich, in ihrem Piano und Ritardando, wie in resignativer Eintönigkeit versinkend, in silbengetreuer Deklamation nur noch zwischen zwei tonalen Ebenen hin und her: Einem „g“ und einem „e“, um am Ende mit einem Terzsprung zu eben jenem „g“ hin ihr Ende zu finden. Und dies im C-Dur, das das Klavier am Ende pianissimo in zwei lange gehaltenen siebenstimmigen Akkorden erklingen lässt.
    Melodische Offenheit der Quinte im finalen C-Dur eines Liedes, das im c-Moll einsetzt: Die Rätselhaftigkeit dieser Mignon-Gestalt findet hier ihren adäquaten musikalischen Ausdruck.

    Robert Schumann: „Mignon: Heiß mich nicht reden“, op.98a, Nr.5

    Dieses Lied ist das fünfte in Schumanns 1849 entstandenem Opus 98a, das neun Kompositionen umfasst und neben den Mignon-Gesängen auch die des Harfenspielers enthält. Es ist eine für den Liedkomponisten Schumann ungewöhnliche Komposition, weil es die von ihm üblicherweise praktizierte Form des Klavierliedes sprengt: Dies in Richtung einer personenorientiert-affektbezogenen Ausdeutung des lyrischen Textes mit den Mitteln der Musik.

    Herausgekommen ist dabei so etwas wie ein „Accompagnato-Rezitativ mit Arie“. Jedenfalls hört sich das Lied so an. Und es wäre hochinteressant, der Frage nachzugehen, warum Schumann ausgerechnet bei diesem lyrischen Text einen solchen liedkompositorischen Weg eingeschlagen hat. Ist es – über die rein lyrisch-sprachliche Ebene desselben hinaus - auch der in die Aura des Geheimnisvollen gehüllten Romangestalt geschuldet? Dies in der Form, dass der narrative Kontext in das Lied Eingang gefunden hat?
    Man möchte dies bejahen.


    Zur Deutung und zum Verständnis des Zyklusschlusses

    Im Juni 1935 starb Adornos Tante mütterlicherseits Agathe Calvelli-Adorno, der er sehr verbunden war. Er nannte sie seine „zweite Mutter“. Ihr Tod erschütterte ihn stark. An seinen Freund Ernst Krenek schrieb er: „Ich bin völlig auf den Kopf geschlagen und komme nur langsam überhaupt dahin, mir vorzustellen, daß und gar wie ich weiterleben kann. Das klingt wahnsinnig exaggeriert, aber Sie können mir glauben, daß kein Gran Übertreibung und Sentimentalität daran ist.“

    In diesem Zustand schmerzerfüllter Trauer und Depressivität tut Aorno etwas, was Alfred Schmidt in einem Beitrag hier für sich völlig ausgeschlossen hat, wenn er konstatiert:
    „Ich werde diese Liedern nie hören - ich wollte sie lebenslang nicht hören - und damit wird sich auch nichts ändern Ein zu Depressionen neigender Mensch erwarte von Musik Aufhellung der Stimmung und er will nicht niedergedrückt werden (Alle sprechen über dasselbe Musikwerk)
    Adorno wendet sich den „Kindertotenlieder“ Mahlers zu, und dies, um sich in ihre Musik zu vertiefen und sich gründlich mit ihr auseinanderzusetzen. Er schrieb darüber – und über Mahlers Musik allgemein – sogar einen Artikel, der im Mai 1936 in der Wiener Musikzeitschrift 23 veröffentlicht wurde. Die Grundgedanken, das Verständnis von Mahlers Kindertotenlied-Musik betreffend, hat der dann in seine große Mahler-Monographie von 1960 übernommen und weiterentwickelt. Dort heiß es (S.177/78):

    „In den Kindertotenliedern verschränken sich Zärtlichkeit des Nächsten und zwielichtiger Trost des Fernsten. Sie blicken auf die Toten wie auf Kinder. Die Hoffnung des nicht Gewordenen, die als Schein von Heiligkeit um die sich legt, welche früh starben, erlischt auch den Erwachsenen nicht. Mahlers Musik bringt Speise dem vernichteten Mund, wacht über dem Schlaf der nicht mehr Erwachenden. Gleicht jeder Tote einem, der von den Lebenden ermordet wurde, so auch einem, den sie zu erretten hätten. >Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen<, nicht weil sie Kinder waren, sondern weil fassungslose Liebe den Tod faßt einzig, als wäre der letzte Ausgang der von Kindern, Heimkehrenden. Bei Mahler ist der Trost der Reflex von Trauer. Bangend konserviert Mahlers Musik darin jenes Besänftigende, Heilende, das Überlieferung seit urdenklichen Zeiten Musik als Kraft zuschrieb, Dämonen zu bannen, und das doch zur Schimäre verblaßt nach dem Maß der Entzauberung der Welt.“

    Für Adorno läuft also die Rezeption und Reflexion von Mahlers Kindertotenlieder-Musik - wie auch der hiesige Tamino-Diskurs - auf eine Beschäftigung mit der Frage hinaus, wie weit und in welcher Form und Gestalt diese einen Trost enthält und aufweist. Er bejaht das, spricht von einer dem „vernichteten Mund“ eine „Speise“ bringenden Musik, bezeichnet diesen Trost aber als einen „zwielichtigen“. Leider erläutert das nicht näher, so dass nicht voll und ganz klar wird, worin für ihn diese „Zwielichtigkeit“ besteht. Vielleicht versteht er den Schluss der Kindertotenlieder ähnlich wie Tristan, der dazu feststellt:
    „Musikalisierungen von Hoffnungsfetzen, erlernten Trostsymbolen, Einsamkeit, Unsagbarkeit und auch dem Beginn der Verarbeitung - das alles kann Mahler anbieten um gleichsam die Trostlosigkeit tröstend zu vertonen. Das absolut erschütternde aber ist - dass es hier keinen echten Trost gibt. Aber die Unmöglichkeit des Trosts - dafür findet Mahler durchaus Klänge.“ Aber so weit geht er aus meiner Sicht nicht. Er vernimmt diese Lieder nicht als musikalischen Ausdruck der „Unmöglichkeit des Trostes“. (Alle sprechen über dasselbe Musikwerk)

    Der Grund für dieses Verständnis ist die Tatsache, dass Mahlers Musik in ihrem emphatischen, in permanenter Wiederholung erfolgenden Sich-Hineinsteigern in die Worte „Sie ruhn als wie in der Mutter Haus“ … von Gottes Hand bedecket“ dieses lyrische Ich so darstellt, als gäbe es für diesen unter dem Kindestod leidenden Vater zwar einen Trost. Aber es ist de facto ein imaginativer, einer der sich aus der Möglichkeit des christlichen Glaubens ergibt. Dieser Sachverhalt könnte für Adorno den Trost zu einem zwielichtigen werden lassen. Das aber ist dann eine durchaus subjektive Wertung der Musik des Schlusses von Lied fünf.

    Der große Mahler-Kenner Hans Heinrich Eggebrecht deutet diesen Schluss treffender, sich stützend dabei auf eine analytische Betrachtung der Liedmusik, wenn er feststellt:
    „Was in dem vorhergehenden Lied als Wille zu einem befreienden Gedanken, als Glaubenwollen, schrittweise und unter Anstrengung sich vollzog und ohne Folgen blieb, wird von Mahler am Schluß seines Zyklus – die Aussage des Gedichts verdoppelnd und ästhetisch mächtig intensivierend – als Einbruch von außen zu verstehen gegeben, theologisch gesprochen als Gnadengeschenk der Glaubensgewißheit. Was hier einbricht, kommt aus einer >anderen Welt<, tritt plötzlich ein und hat im Akt der ästhetischen Identifikation die Auslöschung des Willens und d er Emphase zur Folge, ein Versinken in diese andere Welt, einen Zustand der Entrückung, wo die Musik sich auflöst und erstirbt, weil sie nun nichts weiter zu sagen hat, nichts mehr zu sagen braucht.“ (Die Musik Gustav Mahlers, Noetzel Verlag, 2018, S.248).
    Dieser sich in der Musik ereignende Einbruch von außen als „Gnadengeschenk der Glaubensgewißheit“ scheint Adorno – ohne dass er das benennt – nicht ganz geheuer gewesen zu sein. Deshalb wohl, wie ich vermute, die Wertung des Trostes als „zwielichtig“.

    Ich selbst stimme mit Eggebrechts Deutung des Zyklusschlusses im Wesentlichen überein.
    Die Rat- und Hilflosigkeit des lyrischen Ichs, wie sie das erste Lied mit dieser in ihrem konstatierenden Gestus tatsächlich erschreckenden und mit einer in d-Moll schwer fallenden Liedmusik zum Ausdruck bringt, wird in den nachfolgenden Liedern zu bewältigen versucht, wobei der Kindestod nur eine behutsame, teilweise metaphorisch eingekleidete Erwähnung erfährt und das lyrische Ich sich in Erlösung verheißende transzendente Visionen flüchtet, ohne dass sich diese erlösende Befreiung vom Schmerz des Verlusts der Kinder wirklich einstellt. Jetzt aber, in diesem liedkompositorischen Finale, wird das Leid auf direkte, harte, geradezu brutale Weise bei seinem Namen genannt: „Ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen.“ Und die Liedmusik bringt das mit einer klanglichen Schroffheit und orchestral geradezu lärmenden Direktheit zum Ausdruck, die der Hörer zwar als schmerzlichen Kontrast zum vorangehenden Lied erfährt, sie aber gerade deshalb als in einem tiefen Sinne wahr, weil den inneren Zustand des lyrischen Ichs schonungslos reflektierend empfindet.

    Aber seinen eigentlichen Kern als Finale im Hinblick auf die musikalisch-künstlerische Aussage des Zyklus in seiner Ganzheit, offenbart dieses Lied erst in seinem zentralen liedmusikalischen Ereignis: Es ist der Schluss, in dem die Singstimme nun zum fünften Mal mit den Worten „In diesem Wetter…“ einsetzt. Dieses Mal aber tut sie es in einem fundamental anderen, aus Dur-Harmonik hervorgehenden klanglichen Umfeld und in der Weiterführung der melodischen Linie mit einer ganz und gar gewandelten, nämlich in den Schmelz der Streicher gebetteten orchestralen Begleitung. Die dreifachen Anschläge des Glockenspiels deuteten ja schon an, was sich nun ereignen wird. Und auch darin besteht ein dezenter Bezug zum ersten Lied. Denn im Zwischenspiel, bevor die Singstimme dort zur Deklamation der Worte „Du musst nicht die Nacht in dir verschränken“ übergeht, meldet sich das Glockenspiel drei Mal.

    Und ein Glockenspiel ist im kompositorischen Schaffen von Mahler grundsätzlich ein klangliches Sich-zu-Wort-Melden der Transzendenz.

    Und das ist es ja auch, was den Kern dieses musikalischen Ereignisses ausmacht: Das Hereintreten der „anderen Welt“ in die reale Welt des abgrundtiefen Schmerzes und hoffnungslosen Leidens, wie sie der Verlust der Kinder mit sich gebracht haben. Das Neue an diesem Ereignis, und das, was es zu einer Antwort auf die im Zyklus aufgeworfenen existenziellen Grundfragen werden lässt, besteht in der Art und Weise, wie es sich ereignet. War die klangliche Verzückung, in der das vorangehende vierte Lied sich am Ende steigert, letzten Endes das Ergebnis eines autosuggestiven Sich-Hineinsteigerns in das visionäre Bild, das sich in den Worten „Der Tag ist schön auf jenen Höh´n“ lyrisch sprachlich verdichtet, die Folge eines aus Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgehenden subjektiven Willensakts also, so mutet das, was sich mit dem letzten deklamatorischen Auftritt der Singstimme ab Takt 99 ereignet und von Mahler mit den Anweisungen „Leise bis zum Schluß“ und „Langsam wie ein Wiegenlied“ versehen ist, an wie ein Geschenk, - wie ein dem leidenden Menschen unverhofft und unerwartet zuteilwerdender Akt der Gnade.

    Hugo Wolf: „Mignon, Heiß mich nicht reden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein melodisches Ausdrucksmittel, das in diesem Lied auffällig stark zum Einsatz kommt, ist die Tonrepetition. In allen drei Strophen stößt man auf sie und empfindet sie als musikalischen Ausdruck der Verschlossenheit des lyrischen Ichs, des Zurückgeworfen-Seins auf sich selbst, das eine gewisse Starre in der dialogischen Äußerung zur Folge hat, - und zugleich eine große Eindringlichkeit. Das vernimmt man in der Melodik dieses Liedes. Alle vier Verse der ersten Strophe werden jeweils im wesentlichen auf nur einer tonalen Ebene deklamiert, allerdings, und das ist typisch für die Melodik dieses Liedes und Reflex der Seelenlage des lyrischen Ichs, mit gleichsam abrupten Ausbrüchen nach oben und nach unten. Man begegnet ihnen allenthalben: In dem verminderten Sextsprung bei dem Wort „Pflicht“, der mit einer Rückung in die Dissonanz eines verminderten Akkords gekoppelt ist, in dem verminderten Septfall, der sich nach der Aufgipfelung der melodischen Linie bei dem Wort „zeigen“ ereignet, um dem Wort „allein“ den gehörigen Nachdruck zu verleihen, und in der insistierenden Beharrlichkeit, mit der die melodische Linie beim letzten Vers der ersten Strophe zu den Worten „will es nicht“ hin absinkt.

    Mit der zweiten Strophe kommt etwas größere Lebhaftigkeit in die melodische Linie. Dem entspricht, dass der Klaviersatz nun fast durchgehend (bis auf den letzten Vers der Strophe) aus einer stets aufs Neue einsetzenden aufwärtsgerichteten Folge von Achtel-Akkorden besteht. Die Singstimme deklamiert silbengetreu in einem Auf und Ab von Achteln in mittlerer Lage. Zu dem Wort „Sonne“ hin sinkt die melodische Linie – bemerkenswerterweise! – in tiefe Lage ab, und das Wort trägt eine Dehnung auf einem tiefen „es“. Bei den Worten „finstre Nacht“ geht es von dort aus weiter abwärts, und nun liegt auf dem Wort „finstre“ eine Dehnung. Es ist, als habe das lyrische Wort „Nacht“ die Vokallinie so unwiderstehlich zu sich herabgezogen, dass selbst das Bild von der Sonne keine eigene Kraft entfalten kann.

    Zu den Worten „und sie muss sich erhellen“ hin macht die melodische Linie dann aber einen ausdrucksstarken Oktavsprung. Und wieder wird zunächst auf einem Ton deklamiert, bevor sich bei dem Wort „erhellen“ ein mit einer harmonischen Rückung verbundener Sextfall nach einem vorangehenden Terzsprung ereignet. Auch dies ist bemerkenswert. Man würde eigentlich erwarten, dass bei diesem Wort die melodische Linie ihren Weg nach oben weiter fortsetzt. Stattdessen dieser Absturz auf der letzten Silbe. Das lyrische Ich scheint an diesem Bild des Erhellens der „finstren Nacht“ innerlich nicht wirklich zu partizipieren.

    Bei den beiden letzten Versen der Strophe kommt starke Expressivität in die Vokallinie. Forte und in Gestalt von in kleinen Sekunden in hoher Lage ansteigenden Tonrepetitionen werden die Worte „Der harte Fels schließt seinen Busen auf“ deklamiert. Danach folgt ein melodischer Absturz über eine ganze Dezime, der, weil er sich gänzlich unrhythmisiert in einer Abfolge von Achteln ereignet, wie ehern wirkt. Bei dem Wort „verborgnen“ hat die melodische Linie ihren tiefsten Punkt erreicht und macht noch auf der letzten Silbe einen Quintsprung, bevor sie bei dem Wort „Quellen“ erst einmal zur Ruhe kommt. Hier akzentuiert das Klavier mit Akkorden die Deklamation.

    Akkordisch ist die Begleitung auch bei der dritten Strophe angelegt, - nun wieder in daktylisch rhythmisierter Weise. Die melodische Linie setzt so ein wie am Liedanfang, sie beschreibt dann aber bei den Worten „des Freundes Ruh“ eine kleine Bogenbewegung im Umfang einer Terz. „Innig“ soll hier deklamiert werden. Beim zweiten Vers geht die Singstimme jedoch wieder – mit einem Crescendo – zur Deklamation auf nur einer Tonhöhe über, wobei ein Terzsprung mit einem doppelten Sekundfall bei dem Wort „ergießen“ eine deutliche Steigerung der musikalischen Expressivität mit sich bringt. Wie in der ersten Strophe wird das Wort „allein“ in tiefer Lage und durch Pausen isoliert deklamiert.

    Bei den Worten „ein Schwur“ macht die Vokallinie einen ausdrucksstarken Sextsprung mit nachfolgender Dehnung und fällt danach in Sekundschritten in tiefe Lage ab. Das Bild von den „Lippen“, die durch einen „Schwur“ zugedrückt werden, erhält auf diese Weise musikalisch die Bedeutung, die ihm vom lyrischen Text her zukommt. Und so ähnlich ist auch die melodische Linie beim letzten Vers angelegt. Die Worte „Und nur ein“ werden forte auf einem hohen „des“ deklamiert. Bei dem Wort „Gott“ macht die Vokallinie einen Terzsprung zu einem hohen „f“, der es melodisch deutlich exponiert. Das Klavier akzentuiert mit einem fortissimo angeschlagenen sechsstimmigen Akkord. Danach macht die Vokallinie wieder ihre Fallbewegung, die wirkt, als würde das lyrische Ich ermattend sich in sich selbst zurückziehen. Ein Decrescendo, das vom eben gerade noch herrschenden Forte ins Piano führt, verstärkt diesen Eindruck.
    Ein dreitaktiges Nachspiel, eingeleitet mit dem Moll-Subdominant-Akkord des Liedanfangs, klingt im Pianissimo aus.

    Hugo Wolf: „Mignon, Heiß mich nicht reden“

    „Sehr getragen“ soll dieses Lied interpretiert werden. Es weist zwar einen Viervierteltakt auf, dieser wird aber durch die rhythmische Diskrepanz zwischen Singstimme und Klaviersatz so überspielt, dass er klanglich nicht zur Geltung kommen kann. Die Komposition ist dreiteilig angelegt: Erste und dritte Strophe sind in ihrer Faktur einander ähnlich, die zweite weicht deutlich davon ab. Und eben dieser Rahmen aus Bekenntnissen des lyrischen Ichs, in den die gleichsam metaphorisch objektivierte zweite Strophe eingebettet ist, ist geprägt von jener rhythmischen Spannung zwischen einem daktylisch strukturierten Klaviersatz und einer Melodik, die sich synkopisch entfaltet. Man möchte diesen Eigensinn der melodischen Linie der Singstimme, wie er sich auf der Grundlage des Klaviersatzes darstellt, als musikalischen Ausdruck der Wesensart von Mignon verstehen, die sich in den Worten verdichtet: „Ein Schwur drückt mir die Lippen zu“.

    Kommt dieser „Schwur“, der diese geheimnisvolle Gestalt „Mignon“ gleichsam auf sich selbst zurückwirft und ihr die Lippen verschließt, auch in dem forte artikulierten und lang gehaltenen Akkord in der Moll-Subdominante zum Ausdruck, der ebenfalls so etwas wie einen Rahmen des Liedes bildet, weil er am Anfang von Vor- und Nachspiel aufklingt? Man möchte das meinen. Ansonsten entfaltet der Klaviersatz vor allem in der zweiten Strophe eine stark ausgeprägte eigene Expressivität, wohingegen er sich in der ersten und der dritten darauf beschränkt, in Gestalt von Akkordfolgen dem Lied seinen daktylischen Rhythmus zu verleihen und der melodischen Linie der Singstimme die vielen harmonischen Rückungen aufzunötigen, die sie durchlaufen muss, um zum Ausdruck zu bringen, was das lyrische Ich zu sagen hat.


    Das freut mich!

    Dieser Thread hier entwickelt sich prächtig. Das Konzept, das ihm zugrunde liegt, war eine gute Idee von astewes.

    Viele längere Zeit in ergiebigem Dialog über ein bestimmtes musikalisches Werk, - das hat es schon lange nicht mehr in diesem Forum gegeben.

    Franz Schubert: „Heiß mich nicht reden“ (III)

    Den Worten „Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ kommt eine Schlüsselfunktion zu, das Wesen Mignons und ihres Verhaltens betreffend. Schubert greift diesen Sachverhalt mit einer Melodik auf, die sich nach einem einleitenden, auf eine Repetition folgenden Terzfall in Gestalt von zwei dreischrittigen, bei zweiten Mal eine Quarte tiefer ansetzenden und in tiefe Lage führenden Fallbewegungen entfaltet, die bei „zu“ mit einem ausdrucksstarken Sextsprung in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage übergeht. Und er lässt diese Melodik, darin abweichend vom bisherigen Klaviersatz, mit einer markanten Folge von Diskant und Bass übergreifenden Lang gehaltenen sechsstimmigen Viertelakkorden begleiten. Die Harmonik vollzieht dabei, nach einer einleitenden Rückung von e-Moll nach G-Dur, eine Rückung von C-Dur über C7-Dur nach F-Dur bei der das Wort „zu“ akzentuierenden Dehnung am Ende.

    Bei den Worten des Schlussverses geht die melodische zur Entfaltung in deklamatorischen Tonrepetitionen über. Darin reflektiert sie den konstatierenden Gestus der diesen Worten innewohnt, Auf „Nur ein Gott“ beschreibt sie einen Quartsprung in hoher Lage, der nach einem Sekundfall bei „Gott“ in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „E“ übergeht. Hier lässt das Klavier, und das ist bemerkenswert, sforzato einen lang gehaltenen Akkord in verminderter A-Harmonik erklingen. Es handelt sich um einen Neapolitaner, in der musikalischen Tradition Ausdruck von Leid und Schmerz.
    Warum hat Schubert diese Harmonisierung des Wortes „Gott“ vorgenommen? Möglicherweise wollte er damit andeuten, dass für Mignon, so wie er diese Aussage verstanden hat, dieser „Gott“ für sie nicht die Erlösung bringen wird. Hoffnungslosigkeit also. Und das bringt ja auch die Melodik zum Ausdruck, die nach einer dreimaligen Tonrepetition in mittlerer Lage mit einem Quintsprung bei dem Wort „aufzuschließen“ in einen lang gedehnten silbengetreuen Fall in Sekundschritten und eine Terz zur Ebene eines „Gis“ in tiefer Lage übergeht. Die Harmonik vollzieht hier nach einem vorangehenden e-Moll und A-Dur eine Rückung von H-Dur zur Dominantseptversion der Tonart „Cis“. Es ist eine Fortsetzung der Liedmusik zu erwarten.

    Und die ereignet sich auch. Schubert lässt die Worte der beiden letzten Verse noch einmal deklamieren, ohne das einleitende „allein“ allerdings. Nun nimmt die melodische Linie einen energisch konstatierenden Gestus an. Partiell in Tonrepetitionen beschreibt sie, begleitet wieder von lang gehaltenen Akkorden und in F-Dur mit Zwischenrückung in verminderter H-Harmonik, einen Anstieg zu einer Dehnung auf „zu“, vollzieht danach bei „nur ein Gott“ eine Fall- und Anstiegsbewegung in hoher Lage, bei der die Worte „ein Gott“ noch wiederholt werden und das Klavier mit seinen lang gehaltenen H-Dur-Akkorden zum Fortissimo übergeht. Und nach einem regelrechten Sturz abwärts über das große Intervall einer Septe bei „vermag“ beschreibt sie einen Anstieg nun sogar über eine Oktave, um von der Ebene eines „G“ in hoher Lage bei dem Wort „aufzuschließen“ nun wieder in einen lang gestreckten und in e-Moll gebetteten Fall überzugehen, der bei dem Wortteil „schließen“ eine lang dehnende melismatische Figur aus vermindertem Sekundfall, Sechzehntelvorschlag und dann Wiederanstieg über einen Sechzehntel- und einen Sekundschritt zur Ebene eines „E“ in hoher Lage aufweist. Das e-Moll geht dabei in ein die Melodik beschließendes E-Dur über.

    Dieses hochexpressive Ende der Liedmusik lässt in der Struktur der Melodik und ihrer Harmonisierung vernehmen und erkennen, warum Schubert diese Wiederholung vorgenommen hat. Die in eine durch den Schlussakkord des Nachspiels unterstrichene E-Dur-Harmonisierung der nun in hoher Lage sich ereignende und mit einem Melisma versehene Fallbewegung auf dem Wort „aufzuschließen“ will sagen:
    Mignon hat, so wie Schubert sie verstanden hat, doch noch eine Hoffnung auf Erlösung durch einen Gott. Wenigstens einen Funken davon.

    Franz Schubert: „Heiß mich nicht reden“ (II)

    Die zweite Strophe hebt sich von der ersten dadurch ab, dass das lyrische Ich nun nicht von sich selbst spricht, sondern sich in sprachlich-konstatierendem Gestus in Naturbildern ergeht. Das bringt einen markanten Wandel in der Liedsprache mit sich. Sie ist nun bis auf eine einmalige kleine Rückung ausschließlich im Tongeschlecht Dur harmonisiert (C-Dur, F-Dur, G-Dur), und die Melodik entfaltet sich auf den Worten der beiden Verspaare in strukturell ähnlicher Weise. Sie steigt in drei Anläufen von Sekundschritten bis zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage auf und senkt sich danach, wiederum in drei Phasen in tiefe Lage ab, wobei sie dann allerdings beim letzten Vers am Ende eine neue Gestalt annimmt. Das Bild von den „tief verborgnen Quellen“ erfordert es. Während die melodische Linie bei den Worten „und sie muss sich erhellen“ eine einfache zweimalige Fallbewegung in Terzen und Sekunden beschreibt, senkt sich der Fall nun in drei Quart- und Terzschritten bis zur Ebene eines „C“ in tiefer Lage ab, um danach sofort einen ausdrucksstarken Oktavsprung zu vollziehen, dem bei Quellen“ ein legato-kleinschrittig eingeleiteter und dann gedehnter Terzfall zur Ebene eines „E“ in tiefer Lage nachfolgt.

    Die Melodik ist in der zweiten Strophe, darin den Gehalt und sie sprachliche Gestalt des lyrischen Textes reflektierend, in ihrer Struktur deskriptiv angelegt, und darin so weit gehend, dass sie den semantischen Gehalt der Worte „tief verborgene Quelle“ strukturell abbildet. Auch im Klaviersatz unterscheidet sich die zweite Strophe von der ersten. Während dort Im Diskant Akkorde im Wert eines Viertels dominieren, kombiniert mit Oktavfolgen im Bass, was wesentlich zur Anmutung von Ruhe beiträgt, die die Melodik dort aufweist, folgt das Klavier nun der lebhafteren Bewegung der melodischen Linie mit Achtel- und sogar partiell Sechzehntel-Akkorden in Diskant und Bass. Und lässt im eintaktigen Zwischenspiel vor der Melodik auf dem zweiten Verspaar sogar eine lebhafte Sechzehntelfigur erklingen. Die lyrischen Bilder der zweiten Strophe weisen viel affektiv positive innere Bewegtheit auf, und Schuberts Liedmusik reflektiert das in der Struktur ihrer Melodik, deren Dur-Harmonisierung und im Klaviersatz.

    Aber das auf den Ruhe ausstrahlenden und in einer typischen Kadenzrückung Rückung von G7- nach C-Dur harmonisierten Terzfall in tiefer Lage auf dem Wort „Quellen“ folgende Nach- und Zwischenspiel deutet einen Wandel im Geist der nachfolgenden Liedmusik an. Moll-Harmonik tritt wieder in sie. Zwei Figuren aus erst ansteigenden, dann fallenden Sechzehnteln gebildet, folgen aufeinander, wobei die Harmonik eine Rückung von verminderter A-Tonalität über G-Dur und a-Moll nach H-Dur vollzieht, letzteres als Überleitung zur in der Tonika E-Dur einsetzenden Melodik auf den Worten der dritten Strophe.

    Auf den Worten „Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh“ beschreibt die melodische Linie, darin vom Klavier pianissimo mit dreistimmigen Akkorden im Diskant begleitet, ein Auf und Ab in mittlerer Lage, wobei die für das lyrische Ich Mignon bedeutsamen Worte „sucht“ und „Ruh“ eine Hervorhebung durch einen gedehnten Sekundfall erfahren, obwohl sie doch einsilbig sind. Die um das Wort „Klagen“ kreisende Aussage des nachfolgenden Verses bringt eben deshalb gesteigerte Expressivität in die Melodik. Sie greift nun mit Legato-Sprungbewegungen bis zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage aus, wobei sich bei den Worten „die Brust“ erstmals wieder das Tongeschlecht Moll in die Harmonisierung drängt. Das aber ist nur die Vorstufe für den Einbruch hochgradiger Chromatik in sie, wie sie sich bei den Worten „Klagen sich ergießen“ ereignet. Die melodische Linie beschreibt auf dem Wort „Klagen“ einen gedehnten verminderten Sekundfall in hoher Lage, der in Dissonanz gebettet ist. Bei „sich“ ereignet sich ein verminderter Quintfall in cis-Moll-Harmonik, und auf dem Wort „ergießen“ liegt ein auf der Ebene eines „C“ in mittlerer Lage ansetzender silbengetreuer Sekundfall, bei dem die Harmonik eine Rückung von cis-Moll nach fis-Moll vollzieht. Die Akkorde, die diese Bewegung im Diskant mitvollziehen, erfahren im Bass eine Akzentuierung durch einen Anstieg von Achteln und Sechzehnteln.

    Der affektive Gehalt dieser Äußerung Mignons erfährt auf diese Weise starken Ausdruck. Aber weil sie aus deren tiefem seelischen Leid kommen, belässt es Schubert nicht dabei. Er greift zum Mittel der Wiederholung in Gestalt einer Melodik, die eine kleinschrittige, mittels deklamatorischer Legato-Sechzehntel-Figuren erfolgende und nun im Tongeschlecht Dur (H- und E-Dur) harmonisierte Fallbewegung aus der tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage bis zu der eines „Gis“ in tiefer sich erstreckt. Das Wort „ergießen“ erfährt dabei eine Akzentuierung in Gestalt eines gedehnten verminderten Sekundfalls. Auch hier setzt Schubert wieder eine gegenläufige Achtel-Sechzehntel-Figur als die Melodik in ihrem Ausdruck akzentuierendes kompositorisches Mittel ein. Auf beeindruckende Weise vernimmt man, wie tief er sich in die Seele von Mignon eingefühlt hat.

    Franz Schubert: „Heiß mich nicht reden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Von Schuberts Umsetzung dieser Mignon-Verse in Liedmusik liegen zwei Fassungen vor. Die erste entstand im April 1821 (D 726), die zweite im Januar 1826 als Teil der „Gesänge aus Wilhelm Meister op. 62“. Auf die Unterschiede soll hier wie in allen Fällen nicht eingegangen werden, weil es ja nicht um das Wesen Schubertscher Liedkomposition geht, sondern um das der literarischen Figur „Mignon“. Die nachfolgende Besprechung bezieht sich auf die zweite Fassung. So viel ist allerdings zu dieser grundsätzlich anzumerken: Ihr liegt ein völlig neues liedkompositorisches Konzept zugrunde. Nur der Grundrhythmus bleibt erhalten, aber selbst dieser ist hier deutlich fließender angelegt. Das zeigt, wie intensiv Schubert sich mit dieser literarischen Figur „Mignon“ auseinandergesetzt hat, wie wichtig für ihn das Anliegen war, ihre Worte und ihr Wesen auf adäquate Weise liedmusikalisch zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen.

    „Langsam“ soll die Liedmusik vorgetragen werden, die in e-Moll, bzw. der Dur-Parallele G-Dur als Grundtonart steht. Im viertaktigen Vorspiel erklingt die als Schlüsselfigur fungierende Melodik der Anfangsworte „Heiß mich nicht reden“ in akkordischer Gestalt, um in eine bogenförmige Legato-Fallbewegung überzugehen, der sich eine Folge von drei Akkorden anschließt bei der die Harmonik eine kurze Zwischenrückung nach a-Moll vollzieht. Die melodische Figur auf den Worten „Heiß mich nicht reden“, die mit „heiß mich schweigen“ eine Einheit bildet, ist in ihrer Schlichtheit, ja gerade durch sie, von hoher Eindrücklichkeit. Nach einer Tonrepetition geht sie in einen dreischrittigen Sekundfall über, wobei die Harmonik eine Rückung von e-Moll zur Dur-Dominante H-Dur vollzieht. In dieser Harmonisierung verbleibt die Melodik auch bei dem Legato Sekundanstieg auf dem Wort „heiß“, der diesem eine leichte Akzentuierung verschafft. Auf dem Wort „schweigen“ liegt dann ein einfacher Sekundfall, bei dem die Harmonik wieder zur Tonika e-Moll zurückkehrt.

    Das alles spielt sich in ruhigen deklamatorischen Schritten im Wert einer Viertelnote im Wechsel mit solchen im Wert eines Achtels im kleinen Ambitus einer Quarte in mittlerer Lage ab, vom Klavier im Diskant mittels dreistimmiger Akkorde mitvollzogen. Es weist, darin Schubertschen Geist atmend, eine Anmutung von volksliedhafter Schlichtheit auf und vermag als Ausdruck des menschlichen Wesens der dem einfachen Volk zugehörigen Mignon aufgenommen und verstanden werden. Diesen deklamatorischen Gestus behält die Melodik die ganze erste Strophe über bei, wobei sich am Ende, bedingt durch sie lyrische Aussage, ein Ausbruch in gesteigerte Expressivität ereignet. Der der Bewegung der melodischen Linie innewohnende Pavanen-Rhythmus bleibt dabei aber unverändert erhalten. Schubert verwendet ihn häufig, und das ist hier vielsagend, als Ausdruck unveränderbarer Schicksalhaftigkeit des Geschehens.

    Bei den Worten „Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“ beschreibt die melodische Linie eine Bewegung, die wie eine Fortsetzung derjenigen anmutet, in der sie auf den Worten des ersten Verses eingesetzt hat, nur dass sie sich nun in ihrer anfänglichen Tonrepetition auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ereignet und in ihrer Harmonisierung bei dem leicht gedehnten Sekundfall auf der zweiten und dritten Silbe von „Geheimnis“ eine Rückung nach Moll aufweist. Aber am Ende kehrt sie wieder zur ihrem tonalen Ausgangspunkt des „G“ in tiefer Lage zurück. Nun allerdings in G-Dur gebettet und von einem lang gehaltenen fünfstimmigen G-Dur-Akkord begleitet. Das Wort „Pflicht“ fordert in seinem semantischen und seinem affektiven Gehalt diesen Übergang zum Tongeschlecht Dur.

    Die Steigerung in melodische Expressivität ereignet sich auf den Worten „das Schicksal will es nicht“. Zuvor hat sich die melodische Linie in der gleichen Weise entfaltet wie auf den Worten des ersten Verses, was wiederum den Eindruck volksliedhafter Strophenhaftigkeit erzeugt. Dass Schubert am Ende der Strophe vom Gestus volksliedhafter Entfaltung der Melodik abweicht, ist der lyrischen Aussage geschuldet, denn in ihr artikuliert sich das Selbstverständnis Mignons als in verhängnisvolle Schicksalhaftigkeit geworfene Existenz, was ihm von seiner Lektüre des Goethe-Romans natürlich sehr wohl bewusst war. Und so lässt er denn die melodische Linie einen anfangs gedehnten dreischrittigen Legato-Anstieg bis zur tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage beschreiben, danach in einen Fall in Sekundschritten zur Ebene eines „Dis“ übergehen, auf dass sich von dort über einen melismatischen Sechzehntelvorschlag und einen verminderten Sekundschritt wieder einen zweischrittigen Sekundanstieg vollzieht. Das alles geschieht, in kleinen Achtel- und Sechzehntelschritten, ist auf komplexe Weise in einer Rückung von G-Dur über a-Moll und H-Dur nach e-Moll harmonisiert und wird vom Klavier, wie üblich in der ersten Strophe, mit einer Folge von Viertelakkorden im Diskant begleitet.

    Fischer geht in seinem Mahler-Buch - das Du ja bestimmt kennst - detailliert darauf ein, warum Alma seine Haltung zum Glauben verzerrt hat. Der Zeitpunkt ihrer Äußerungen spielt dabei eine Rolle.

    Ja, Ja, - kenne ich. Und ich weiß auch, warum man diese Äußerung von Alma Mahler kritisch sehen muss. Sie stellt nämlich eine ärgerliche Reaktion auf den Kommentar von Ludwig Karpath über Mahlers Taufe im Februar 1897 dar.

    Aber die Quellenlage ist ja komplexer. Deshalb die zitierte Frage von Constantin Floros, der diese Quellenlage voll und ganz überblickt. Er kommt nach seiner gründlichen Beschäftigung mit diesem Fragenkomplex zu der Feststellung:

    "Mahler war - soviel lässt sich tatsächlich nachweisen - von der christlichen (speziell katholischen) Dogmatik, Mystik und Eschatologie fasziniert. Sie nehmen in seiner Glaubenswelt einen hervorragenden Platz ein."


    Aber lassen wir´s damit gut sein. Hat ja nur indirekt etwas mit dem im Augenblick hier zur Diskussion stehenden Thema zu tun.

    Es wird ohnehin Zeit, dass ich den Rückzug mache. Habe hier ja eigentlich nichts zu suchen, gehöre nicht zu dem erlesenen Kreis der Mitglieder dieses Projekts.

    Jens Malte Fischer schreibt zu dieser Thematik, dass Mahler nicht christusgläubig im Sinne des Christentums war, dass er sich innerlich zum Christentum distanziert verhielt ...

    In der Mahler-Literatur ist das nicht die einhellige Meinung.

    Immerhin gibt es die Aussage von Alma Mahler: "Er (Mahler) war christusgläubig und hatte sich keineswegs nur aus Opportunismus taufen lassen". In ihren "Erinnerungen" berichtet sie, dass Mahler "mit Inbrunst" ihre freigeistige, von Schopenhauer und Nietzsche geprägte Gesinnung bekämpfte und dass sie sich gewundert habe, "daß ein Jude einer Christin gegenüber sich heftig für Christus ereiferte".


    Auch Natalie Bauer-Lechner vertrat die Auffassung, dass er ein gläubiger Christ war. Sie berichtet von einem mehrstündigen Gespräch Mahlers mit Lipiner über Christus.

    Und Constantin Floros, der Experte in Sachen "geistige Welt Mahlers", stellt dazu die Frage: "Was berechtigt uns dazu, daran zu zweifeln?"


    Ich sehe es so: Mahler war im Grunde ein gläubiger Mensch, der sich eine ganz eigene Form von Pantheismus zusammengebaut hatte, in der auch der christliche Glaube Platz fand. Das natürlich nicht in seinem ganzen theologischen Potential, sondern nur in einer schlichten Christus-Gläubigkeit.

    Anders wäre - aus meiner Sicht - die Komposition des Schlusses von Lied fünf der "Kindertotenlieder" auch gar nicht möglich gewesen.

    ...scheint das Ankerwort des letzten Verses "ruhen" zu sein, in der Verbindung mit der Mutter Haus die glückliche, auch musikalische Wendung ins Tröstliche, Geborgenheit.

    So ist es. Dieses Wort erfährt, zusammen mit "wie in der Mutter Haus" eine mehrfache Wiederholung, und dies entweder in Gestalt einer melodisch bogenhaften Aufgipfelung oder einer langen Dehnung in tiefer Lage:

    sie ruh´n, sie ruh´n als wie in der Mutter, der Mutter Haus,
    von keinem Sturm (R.: Sturme) erschrecket,
    sie ruh´n, sie ruh´n wie in der Mutter Haus, wie in der Mutter Haus.

    Das komparative "als wie", das beide Worte, bzw. Wortgruppen miteinander verbindet, macht deutlich, dass dieses "Ruhen" eines unter Gottes Hand ist, das in seinem Beschützt- und Behütetsein dem in Mutters Haus gleicht. (Dies zu der von Dr. Pingel aufgeworfenen Frage)


    Für Mahler ist das die zentrale Aussage, auf die der ganze Liederzyklus hinausläuft, auf die er kompositorisch-intentional ausgerichtet ist. Deshalb der ungewöhnlich große Raum, den sie im letzten Lied in Gestalt von mehrfachen Variationen des lyrischen Textes einnimmt.

    Franz Schubert: „Mignon, Heiß mich nicht reden“ , op. 62, Nr. 2 (D 877)

    Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
    Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht;
    Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,
    Allein das Schicksal will es nicht.

    Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
    Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen;
    Der harte Fels schließt seinen Busen auf,
    Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.

    Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,
    Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen;
    Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu
    Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.

    Diese Mignon-Verse beschließen das sechzehnte Kapitel des fünften Buchs des Romans. Dort heißt es vorangehend:
    „Und so lassen wird unsern Freund unter tausend Gedanken und Empfindungen seine Reise antreten und zeichnen hier noch zum Schlusse ein Gedicht auf, das Mignon mit großem Ausdruck einigemal rezitiert hatte, und das wir früher mitzuteilen durch den Drang so mancher sonderbaren Ereignisse verhindert wurden.“

    „Mit großem Ausdruck“ hat Mignon diese Verse mehrmals rezitiert, also nicht gesungen. Nur auf diese Weise, mittels gesprochenem oder gesungenem lyrischen Text, ist sie in der Lage, sich über ihre existenzielle und seelische Befindlichkeit mitzuteilen. Und das muss eben deshalb zwangsläufig dunkel bleiben und über die Andeutung nicht hinauskommen. Wilhelm Meister bemerkt einmal: „Wenn sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither rührte, schein sie sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Innerstes aufschließen und mitteilen konnte“.
    Wenn sie in diesem Zusammenhang in diesem lyrischen Text den Menschen in ihrer Lebenswelt, wozu auch Meister gehört, auffordert „heiß mich schweigen, / Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“ so stellt dieses Wort „Pflicht“ eine Verinnerlichung des Geheimnisses ihrer Herkunft dar, der Tatsache nämlich, dass ihr die Zirkusartisten den Tod androhten für den Fall, dass sie über ihre Entführung sprechen würde. Sie ist zur Sprachlosigkeit verdammt, was sie hier auf nüchtern konstatierende Weise in dem Bild „ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ zum Ausdruck bringt.

    Aber in diesen Versen hat sie noch mehr zu sagen. In der zweiten Strophe ergeht sie sich in metaphorischen Imaginationen, die wie die Hoffnung auf Erlösung aus ihrer als „Schicksal“ empfundenen existenziellen Gefangenschaft anmuten. Die Bilder dazu nimmt sie aus der Natur, weil dort eine dem menschlichen Zugriff entzogene Gesetzlichkeit herrscht: Die Sonne erhellt jeden Tag aufs Neue die finstere Nach und selbst der harte Fels missgönnt nicht den tief verborgenen Quellen das Hervortreten. Gerade dieses Bild lässt in seiner metaphorischen Parallelität zu dem der „zugedrückten Lippen“ den Geist der Hoffnung erkennen, dem sich Mignon hier hingibt.

    Aber nur für einen Augenblick. Die Beschwörung der Freundschaft, die die Möglichkeit bietet, sich seiner Klagen zu entledigen, indem man sie ausspricht, wird in den letzten Versen auf geradezu schroffe, nämlich konstatierende Weise als Möglichkeit für Mignon ausgeschlossen. Nur ein überirdisches Wesen, ein „Gott“ nämlich, vermöchte ihre Lippen aufzuschließen. Für Mignon gibt es nur eine einzige Möglichkeit der Erlösung aus der Gefangenschaft ihrer leibhaftigen Existenz. Das ist der Tod.


    Die beruhigende Rückkehr zum Grundton "D" am Ende des letzten Liedes (...) finde ich in seiner Schönheit und tatsächlich tröstenden Wirkung außerordentlich verstörend. So etwas darzustellen ist wohl nur mit einem starken Glauben möglich. Gleichwohl liegt in der Musik ja kein Glauben - und es bleibt nur der Trost.

    Ganz aufgelöst bekomme ich diesen Widerspruch für mich nicht.

    Hierzu eine Anmerkung, Mahlers Musik in Lied fünf und insbesondere ihren Schluss betreffend:


    In vielerlei Hinsicht ist diese Komposition das Finale einer Folge von nur wenigen, eben mal gerade fünf Liedern, die sich zwar schon zuvor als Zyklus ausgewiesen hat, im letzten Lied sich aber als solcher definitiv konstituiert, - und das als einer, der den anderen großen Zyklen der Liedgeschichte würdig zur Seite treten kann. Seine Finale-Funktion zeigt sich unter rein formalem Aspekt schon darin, dass dieses fünfte Lied die Tonart des ersten aufgreift, das d-Moll nämlich. Aber das ist ja doch nur die Oberfläche dessen, was sich hier ereignet: Es greift auch die Thematik des ersten Liedes in unmittelbarer Weise auf, die sich in der erschreckend lapidaren und darin elementare existenzielle Hilflosigkeit ausdrückenden Feststellung lyrisch artikuliert: „Das Unglück geschah nur mir allein, / Die Sonne, sie scheinet allgemein.“

    Diese Rat- und Hilflosigkeit des lyrischen Ichs, wie sie das erste Lied mit dieser in ihrem konstatierenden Gestus tatsächlich erschreckenden und mit einer in d-Moll schwer fallenden Liedmusik zum Ausdruck bringt, wird in den nachfolgenden Liedern zu bewältigen versucht, wobei der Kindestod nur eine behutsame, teilweise metaphorisch eingekleidete Erwähnung erfährt und das lyrische Ich sich in Erlösung verheißende transzendente Visionen flüchtet, ohne dass sich diese erlösende Befreiung vom Schmerz des Verlusts der Kinder wirklich einstellt. Jetzt aber, in diesem liedkompositorischen Finale, wird das Leid auf direkte, harte, geradezu brutale Weise bei seinem Namen genannt: „Ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen.“ Und die Liedmusik bringt das mit einer klanglichen Schroffheit und orchestral geradezu lärmenden Direktheit zum Ausdruck, die der Hörer zwar als schmerzlichen Kontrast zum vorangehenden Lied erfährt, sie aber gerade deshalb als in einem tiefen Sinne wahr, weil den inneren Zustand des lyrischen Ichs schonungslos reflektierend empfindet.

    Aber seinen eigentlichen Kern als Finale, eigentlich im Hinblick auf die musikalisch-künstlerische Aussage des Zyklus in seiner Ganzheit, offenbart dieses Lied erst in seinem zentralen liedmusikalischen Ereignis: Es ist der Schluss, in dem die Singstimme nun zum fünften Mal mit den Worten „In diesem Wetter…“ einsetzt. Dieses Mal aber tut sie es in einem fundamental anderen, aus Dur-Harmonik hervorgehenden klanglichen Umfeld und in der Weiterführung der melodischen Linie mit einer ganz und gar gewandelten, nämlich in den Schmelz der Streicher gebetteten orchestralen Begleitung. Die dreifachen Anschläge des Glockenspiels deuteten ja schon an, was sich nun ereignen wird. Und auch darin besteht ein dezenter Bezug zum ersten Lied. Denn im Zwischenspiel, bevor die Singstimme dort zur Deklamation der Worte „Du musst nicht die Nacht in dir verschränken“ übergeht, meldet sich das Glockenspiel drei Mal. Und es ist im kompositorischen Schaffen von Mahler grundsätzlich ein klangliches Sich-zu-Wort-Melden der Transzendenz.

    Und das ist es ja auch, was den Kern dieses musikalischen Ereignisses ausmacht: Das Hereintreten der „anderen Welt“ in die reale Welt des abgrundtiefen Schmerzes und hoffnungslosen Leidens, wie sie der Verlust der Kinder mit sich gebracht haben. Das Neue an diesem Ereignis, und das, was es zu einer Antwort auf die im Zyklus aufgeworfenen existenziellen Grundfragen werden lässt, besteht in der Art und Weise, wie es sich ereignet. War die klangliche Verzückung, in der das vorangehende vierte Lied sich am Ende steigert, letzten Endes das Ergebnis eines autosuggestiven Sich-Hineinsteigerns in das visionäre Bild, das sich in den Worten „Der Tag ist schön auf jenen Höh´n“ lyrisch sprachlich verdichtet, die Folge eines aus Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgehenden subjektiven Willensakts also, so mutet das, was sich mit dem letzten deklamatorischen Auftritt der Singstimme ab Takt 99 ereignet und von Mahler mit den Anweisungen „Leise bis zum Schluß“ und „Langsam wie ein Wiegenlied“ versehen ist, an wie ein Geschenk, - wie ein dem leidenden Menschen unverhofft und unerwartet zuteilwerdender Akt der Gnade.

    Hört man genau auf die Musik dieses Liedschlusses, einschließlich des Nachspiels, dann fällt auf:

    Darin finden sich Anklänge an das Lied „Urlicht“, dem vierten Satz der Zweiten Symphonie also, und an das Finale der Dritten Symphonie. Und sie erweisen sich als höchst aufschlussreich, die musikalische Aussage dieses letzten Liedes des Zyklus betreffend. Die melodische Linie auf den Worten „In diesem Wetter, in diesem Saus“ (Takte 99-104) ähnelt auffällig der auf den Worten „Da kam ich auf einen breiten Weg“ in „Urlicht“ (Takte 38-41). Und überdies ähneln sich auch die zugehörigen melodischen Figuren der ersten, bzw. der Solo-Violine. Und im Nachspiel des Liedes stimmen die Celli in Takt 128f. eine mit den Anweisungen „senza sord. unis.“, und „hervortretend“ versehene melodische Figur an, die an die Takte eins bis fünf des Finales der Dritten Symphonie erinnert.

    Zu diesem Finale bemerkte Mahler in einem Brief an Anna von Mildenburg (1.7.1896): „Ungefähr könnte ich den Satz auch nennen >Was mir Gott erzählt!<. Und zwar eben in dem Sinne, als ja Gott nur als >die Liebe< gefaßt werden kann“. Und nimmt man den von Mahler kompositorisch ganz gewiss nicht zufällig hergestellten Bezug zu „Urlicht“ hinzu, dann kann man sich ganz sicher sein, wie Mahler dieses letzte Lied seines Zyklus „Kindertotenlieder“ verstanden wissen wollte:

    Als musikalische Evokation des Glaubens an die Überwindung des Todes durch die Liebe in der Gewissheit der Existenz eines die Liebe verkörpernden Gottes.

    Ist dieser Trost nicht doch etwas wie "Abfinden" und schließlich "Akzeptanz"?

    Man kann das so sehen und verstehen. Ich will mich nicht um dieses Wort streiten.

    Bitte aber zu bedenken:

    "Akzeptanz" stellt einen rational bewusst vorgenommenen, also aktiven Akt des Hinnehmens eines Sachverhalts und des Eiverstanden-Seins damit dar. Zu einem solchen Akt ist das lyrische Ich in den "Kindertotenliedern" nicht in der Lage. Das macht das so Bedrückende an diesen Gedichten Rückerts aus. Sie beinhalten ein permanentes und nicht Enden wollendes Sich-Herumquälen und nicht Fertigwerden mit der Kindestod-Erfahrung.


    Das, was sich in der letzten Strophe des fünften Liedes ereignet, ist eben gerade nicht ein bewusstes Hinnehmen und Einverstanden-Sein mit dem Sachverhalt, der Unabänderlichkeit der Gegebenheiten, Akzeptanz also. Vielmehr stellt es eine, wenn man es psychologisch sieht und entsprechend formuliert, emotionale Flucht aus der Unerträglichkeit der situativen Immanenz in die Tröstllichkeit der Transzendenz dar, ein Ruhe und Frieden Finden im Glauben.

    Mahler hat das auch so gesehen und verstanden, wie seine Musik sehr deutlich zu vernehmen und erkennen lässt.


    Die letzte Zeile („Das ist nun nicht zu besorgen“), so meine ich, sehr wohl.

    "Ich sorgte, sie stürben morgen,
    Das ist nun nicht zu besorgen".

    Ich lese das als Feststellung eines Sachverhalts. Die "Erkenntnis" - um deinen Begriff zu benutzen - der faktischen Gegebenheiten.

    Eine Akzeptanz derselben vermag ich nicht daraus herauszulesen. Eine solche findet in diesem Text auch keinen Ausdruck.

    Ich gehe mal interpretierend auf ihn ein:


    In diesem Wetter, in diesem Braus,
    nie hätt´ ich gesendet die Kinder hinaus;
    man hat sie getragen, getragen hinaus; (R.: ohne Wiederholung)
    ich durfte nichts dazu sagen. (R.: dazu nichts)

    In diesem Wetter, in diesem Saus,
    nie hätt´ ich gelassen die Kinder hinaus,
    ich fürchtete, sie erkranken;
    das sind nun eitle Gedanken.

    In diesem Wetter, in diesem Graus,
    hätt´ ich gelassen die Kinder hinaus,
    ich sorgte, sie stürben morgen,
    das ist nun nicht zu besorgen.

    In diesem Wetter, in diesem Graus!
    Nie hätt´ ich gesendet die Kinder hinaus;
    man hat sie hinausgetragen,
    ich durfte nichts dazu sagen! (R.: dazu nichts)

    In diesem Wetter, in diesem Saus, in diesem Braus, (R.: ohne „in diesem Saus“)
    sie ruh´n, sie ruh´n als wie in der Mutter, der Mutter Haus,
    (R.: Sie ruhn als wie in der Mutter Haus)
    von keinem Sturm (R.: Sturme) erschrecket,
    von Gottes Hand bedecket, (hier endet das Rückert-Gedicht)
    sie ruh´n, sie ruh´n wie in der Mutter Haus, wie in der Mutter Haus.

    Das lyrische Ich zeigt sich in diesem Gedicht als in seinem Leid ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen. Es wird sich seiner elementaren Hilflosigkeit bewusst. Die Quelle ist die erschreckende Erfahrung, dass die Kinder in eine grausige Welt außerhalb des sie beschützenden Hauses hinausgetragen werden, ohne dass es etwas dagegen ausrichten kann. Es wird nicht gefragt. „Man hat sie hinausgetragen, / ich durfte nichts dazu sagen!“, so stellt es erbittert fest.

    Alle seine Besorgnis um das Leben der Kinder, alle Fürsorglichkeit, die es für sie aufbrachte, sie konnten den Tod nicht verhindern. Das permanente konjunktivische „Nie hätt´ich“ wirkt wie eine Beschwörung dieser Fürsorge, die sich nun als nutzlos erweist. Es ist das Ausgeliefert-Sein des Menschen an den elementaren, ihm gegenüber gleichgültigen Gang von Natur und Welt, das sich hier lyrischen Ausdruck verschafft.
    Mit diesem Ausgeliefert-Sein kann es sich nicht wirklich abfinden, kann es nicht akzeptieren. Aus den faktischen Gegebenheiten vermag es nur herauszufinden und sich zu trösten in dem Glauben, den es in der letzten Strophe zum Ausdruck bringt: „Sie ruh´n als wie in der Mutter, der Mutter Haus, von keinem Sturm erschrecket, von Gottes Hand bedecket“

    Mahler musste sich in seiner Weltsicht zutiefst davon angesprochen fühlen, - und angesprochen auch von dem in der letzten Strophe vorgefundenen lyrischen Entwurf einer Befreiung und Erlösung von diesem Geworfen-Sein des Menschen in einen übermächtigen Weltenlauf: Es ist das Gefühl und das Wissen eines Geborgen-Seins im Glauben.