Klavierlied und/oder Orchesterlied. Zu Mahlers Liedkomposition
Zunächst einmal:
Folgende Liedkompositionen liegen von Gustav Mahler vor:
--- (Drei) Lieder für Tenor und Klavier (1880-87)
--- (Fünf) Lieder für Singstimme und Klavier (1880-87)
--- Lieder eines fahrenden Gesellen für Singstimme und Klavier bzw. Orchester (1884/85) (UA 16.3.1896, Singstimme und Klavier Leipzig 1897, Orchestrierung in den 1890er Jahren)
--- (Neun) Lieder und Gesänge aus des Knaben Wunderhorn für Singstimme und Klavier (1887-1890), Schott, Mainz 1892 als Lieder und Gesänge II, 1 bis 4) und III, 5 bis 
--- (Fünfzehn) Lieder, Humoresken und Balladen aus Des Knaben Wunderhorn für Singstimme und Klavier bzw. Orchester (1892-1901), Weinberger, Wien 1899, 12 Lieder publiziert sowohl als Klavier- wie Orchesterfassung)
--- (Fünf) Lieder (Friedrich Rückert) für Singstimme und Klavier bzw. Orchester (1901 /02), Leipzig 1905, C.F. Kahnt als „Lieder aus letzter Zeit, Singstimme und Klavier; Singstimme und Orchester“)
--- Kindertotenlieder für Singstimme und Klavier bzw. Orchester (1901-1904) UA 29.1. 1905, Wien, publiziert Leipzig 1905 bei C.F. Kahnt Fassung Singstimme und Klavier; Singstimme und Orchester
--- Das Lied von der Erde für Tenor, Alt und Orchester, bz. Klavier (1908 / 09), UA in der Orchesterfassung 20.9. 1911 München unter Bruno Walter; Publiziert Wien 1911 Universal Edition Singstimme und Orchester
Aus der liedanalytischen Betrachtung aller dieser Lieder, deren Ergebnisse hier Gustav Mahler. Seine Lieder, vorgestellt und besprochen in der Reihenfolge ihrer Entstehung und Publikation und hier Gustav Mahler: „Das Lied von der Erde“ vorzufinden und nachzulesen sind, ergab sich für mich hinsichtlich der ihnen zugrunde liegenden liedkompositorischen Intention, Mahlers kompositorische Grundhaltung also und der Frage, ob diesbezüglich ein Wandlungsprozess zu erkennen ist, folgendes.
Die ersten beiden Liedgruppen, die „Drei Lieder für Tenor und Klavier“ und die
„Fünf Lieder für Singstimme und Klavier“, stehen noch ganz in der Tradition des romantischen Klavierliedes, wie es maßgeblich von Schubert entwickelt wurde. Mit den „Liedern eines fahrenden Gesellen“ und den „Liedern und Gesängen“ Heft II und III kommt eine neue Faktur und ein neuer Ton in die Liedmusik, der einen veritablen Bruch mit dieser Tradition darstellt.
Mahlers von Anfang an stark subjektiv ausgeprägte liedkompositorische Aussage-Intention verstärkt sich in eben dieser Subjektivität (siehe die „Lieder eines fahrenden Gesellen) und kann den adäquaten musikalischen Ausdruck nur noch im Orchesterlied finden. Das Klavierlied vermag das mit seinem genuinen liedsprachlichen Potential nicht mehr voll und ganz zu leisten.
Und so tritt nun neben das Klavierlied das Orchesterlied, dies in der Gestalt, dass Klavierlieder nachträglich orchestriert werden oder beide Gattungen nebeneinander entstehen. Bemerkenswert und vielsagend ist dabei, dass dieser liedkompositorische Wandlungsprozess nicht nur parallel zu den ersten symphonischen Kompositionen verläuft, sondern sich teilweise sogar in ihnen ereignet, insofern das Lied signifikanter und relevanter Bestandteil der Symphonie wird.
Dass es neben dem für Mahler nun gültigen und kompositorisch einzig relevanten Orchesterlied auch noch die Fassung für Singstimme und Klavier gibt, hat einen simplen ökonomischen und soziologischen Grund. Zu Mahlers Zeiten ist die Hausmusik noch wesentlicher Bestandteil der Kultur des Bildungsbürgertums. Ein Klavier stand in den meisten Wohnzimmer, Hauskonzerte fanden statt, und es gab infolgedessen eine starke Nachfrage nach Klavierliteratur. Für Verleger war damit das eigentliche Geschäft zu machen, nicht mit der nur geringen Stückzahl-Nachfrage bei Orchester-Partituren. Wenn ein Komponist diese verlegt haben wollte, erfüllten Verleger diesen Wunsch nur, wenn auch eine Fassung für Klavier vorlag. Das war im Übrigen auch im Interesse des Komponisten, weil sein Werk dadurch eine viel größere Kenntnis und Verbreitung fand.
Aus der Tatsache, dass die Klavierlied- und die Orchesterfassung von Liedern auf dem Markt zusammen angeboten wurden, ist also nicht zu erschließen, welche Fassung von beiden die für Mahler gültige und im Sinne seiner liedkompositorischen Intention relevante ist. Es liegen von ihm – soweit ich das überblicke – keine diesbezüglichen Äußerungen vor. Aus der Tatsache, dass es bei den Uraufführungen in allen Fällen die Orchesterfassung war, darf man wohl aber schlussfolgern, dass es jeweils diese ist.
Warum Mahler das Orchesterlied als die einzig seiner kompositorischen Aussage-Intention gemäße, weil diese in angemessener Weise musikalisch zum Ausdruck bringende Liedgattung betrachtete, das lässt sich sehr schön an einem Vergleich eines Klavierliedes mit einem Orchesterlied aufzeigen, denen derselbe lyrische Text zugrunde liegt. Das möchte ich hier – naheliegenderweise – am Beispiel des Eingangsliedes der Kindertotenlieder tun. Ich beschränke mich, damit das nicht zu lang wird, auf den Anfang desselben, sogar nur auf dessen erstes Verspaar „Nun will die Sonn´ so hell aufgeh´n, / als sein kein Unglück, kein Unglück die Nacht gescheh´n“, weil da alles, worauf es hier ankommt aufzeigbar ist.
Das lyrische Ich spricht hier von einem „Unglück“, das ihm geschehen sei, ohne dass in diesem Gedicht gesagt wird, worin es konkret besteht. Das geschieht im Mahler-Zyklus erst im letzten Lied. Mahler verstärkt im Ersetzen des Wortes „auch“ durch „nur“ („nur mit allein“) die singuläre individuelle Betroffenheit des lyrischen Ichs. Es erfährt das Aufgehen der Sonne als ein Ereignis, worin sich die Gleichgültigkeit von Natur und Welt gegenüber dem Schicksal des einzelnen Menschen zeigt.
Das Gedicht generiert sich in seiner lyrischen Aussage aus dem Gegensatz von Licht und Dunkel, - Licht, wie es die Sonne spendet, und Dunkel, wie es die Nacht schicksalhafter Erfahrung mit sich bringen kann. „Die Sonne, sie scheinet allgemein“, das will sagen: Über alles auf dieser Welt, ohne den Blick auf das Einzelne, das Besondere, wie es sich in schicksalhaft-individueller Betroffenheit in dieser Welt konstituiert.
Das Lied steht in d-Moll als Grundtonart. Es soll „langsam und schwermütig“, aber „nicht schleppend“ vorgetragen werden. Das fünftaktige Vorspiel, in dem die Singstimme am Ende auftaktig einsetzt, wird von der Oboe und dem Horn bestritten, und die Art, wie das geschieht, erweist sich als gleichsam programmatisch für nicht nur dieses Lied, sondern für alle Lieder des Zyklus, - mit Ausnahme des fünften, das eine Sonderstellung einnimmt: Alle Lieder weisen eine mehr oder weniger stark ausgeprägte linear-polyphone Struktur auf. Die melodischen Linien, die Oboe und Horn artikulieren, sind gegenläufig angelegt. Während die Linie der Oboe in drei Anläufen aufwärts gerichtet verläuft und am Ende in eine bogenförmige Bewegung übergeht, ist die des Horns abwärts gerichtet und durchläuft darin das Intervall einer Dezime, bis sie am Ende mit einem Oktavsprung zu dem „A“ in mittlerer Lage aufsteigt, auf dem auch die Bewegung der Oboe endet.
Es ist derselbe Ton, auf dem auch die Singstimme einsetzt. Diese setzt also mit ihrer melodischen Linie das fort, was Oboe und Horn in eigenständig-linearer Weise melodisch zum Ausdruck brachten, Und das Bemerkenswerte daran ist nun, dass sie dies in einer Weise tut, die gleichsam einen Verstoß gegen einen Topos der klassischen Musik darstellt: Die melodische Linie ist nicht aufwärts gerichtet, wie das gemeinhin, dem lyrischen Bild von der „aufgehen wollenden Sonne“ entsprechend, der Fall ist, sie senkt sich nach einem anfänglichen Terzsprung in langsamen, müde wirkenden, weil im Wechsel von einer punktierten halben Note und einem Achtel erfolgenden Schritten über das Intervall einer Quarte nach unten ab. Am Ende, bei „hell aufgeh´n“, rafft sie sich noch einmal um einen Sekundschritt nach oben auf, sinkt aber sofort wieder auf das tiefe „E“ zurück, von dem aus er erfolgte. Und während sie auf diesem Ton in einer langen Dehnung ausklingt, wiederholt die Oboe diese melodische Bewegung noch einmal, nun allerdings ohne die eingelagerten Dehnungen, d.h. in etwas flüssigerer, einer weniger müde wirkenden Form.
Diese Melodiezeile nimmt eine zentrale Stellung in diesem Lied ein, - nicht nur, weil sie auf überaus beeindruckende und treffende Weise die existenzielle Grundbefindlichkeit und das seelische Leid des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen vermag, sondern auch deshalb, weil sie in leicht variierter Gestalt noch zwei weitere Male erklingt: Auf dem ersten Vers der zweiten und dem der vierten Gedichtstrophe. Das, was Mahler mit ihr aussagen will, ist nur mittels orchestraler Liedmusik generierbar. Das in einem schmerzlich anmutenden Auseinanderlaufen der Melodik von Horn und Oboe, das die Situation des Versinkens des lyrischen Ichs in Schmerz und Trauer unter der aufgehenden Sonne musikalisch evozieren soll, wird nur durch den unterschiedlichen Klangcharakter und ihr markantes Hervortreten darin so eindringlich. Im Klaviersatz ist das zwar ebenfalls vernehmlich, tritt aber wegen der klanglichen Gleichförmigkeit der Klavierstimme nicht hervor, die Anmutung von klagender Schmerzlichkeit wird nicht vernehmlich. Ebenso ist das mit der Singstimme, deren Auftritt mit quälenden Horn- und Fagott-Akzenten versehen ist, die das Klavier nicht zum Ausdruck zu bringen vermag. Und auch nicht deren Einbettung in die Klanglichkeit sordiniert spielender Violoncelli.
Es ist offenkundig, dass das Klavier mit seinen Mitteln in keiner Weise in der Lage ist, das, was die Instrumentengruppen des Orchesters in ihrer je spezifischen Klanglichkeit und der Art und Weise ihres Auftretens und Zusammenspiels zur Aussage der Melodik beizutragen haben, in keiner Weise ersetzen kann. Und dieses ist bei Mahler hochkomplex. Um dieses an einem weiteren Beispiel aufzuzeigen, möchte ich zitieren, was Hans Heinrich Eggebrecht zu Versen ausführt:
„In diesem Wetter, in diesem Saus,
sie ruhn als wie in der Mutter Haus,
von keinem Sturm erschrecket,
von Gottes Hand bedecket.“
„Mahlers Vertonung dieser Strophe fungiert hier nicht als Episode, sondern als Schluß des und des Zyklus, ist aber gleichwohl exterritorial gebildet: Anhub (gewissermaßen >Episoden-Portal) durch den ausgehaltenen Ton (Quinte der Tonika) in der 1. Violine (pp) und Piccoloflöte (p) mit Tonpunkten der Harfe und Glocke und einer aus dem stürmischen Satz übernommenen, sich nun aber beruhigenden und einen wiegenden Charakter gewinnenden Begleitfigur in der 2. Violine; Dur-Auflichtung; der Gesang dann leise zu singen bis zum Schluß; das Ganze langsam vorzutragen, wie ein Wiegenlied, weich und espressivo, mit dem Ton der Celesta, der Harfe der gestopften Hörner; schließlich die Überleitung des Gesanges im Idiom des Bläserchorals, der in einen pianissimo zu spielenden, lang ausgehaltenen und dann klanglich ersterbenden Dur-Akkord mündet, währenddessen das wiegende Begleitmotiv – in die Tiefe sinkend, leiser werdend, in Motivteile und deren Vergrößerung zerfallend – buchstäblich sich auflöst.“ (in seinem Mahler-Buch, S. 247/48)
Es zeigt sich: Mit einem Klaviersatz als Begleitung der Melodik ist eine solche Musik nicht zu generieren, die im Zusammenspiel verschiedener Instrumente und Instrumentengruppen in der Lage ist, das semantische und das affektive Potential, das für Mahler im lyrischen Text vorliegt, in all seinen Dimensionen hinreichend zu erschließen.
Er musste(!) mit dieser seiner liedkompositorischen Grundhaltung vom Klavierlied- zum Orchesterliedkomponisten werden.