Zur Deutung und zum Verständnis des Zyklusschlusses
Im Juni 1935 starb Adornos Tante mütterlicherseits Agathe Calvelli-Adorno, der er sehr verbunden war. Er nannte sie seine „zweite Mutter“. Ihr Tod erschütterte ihn stark. An seinen Freund Ernst Krenek schrieb er: „Ich bin völlig auf den Kopf geschlagen und komme nur langsam überhaupt dahin, mir vorzustellen, daß und gar wie ich weiterleben kann. Das klingt wahnsinnig exaggeriert, aber Sie können mir glauben, daß kein Gran Übertreibung und Sentimentalität daran ist.“
In diesem Zustand schmerzerfüllter Trauer und Depressivität tut Aorno etwas, was Alfred Schmidt in einem Beitrag hier für sich völlig ausgeschlossen hat, wenn er konstatiert:
„Ich werde diese Liedern nie hören - ich wollte sie lebenslang nicht hören - und damit wird sich auch nichts ändern Ein zu Depressionen neigender Mensch erwarte von Musik Aufhellung der Stimmung und er will nicht niedergedrückt werden (Alle sprechen über dasselbe Musikwerk)
Adorno wendet sich den „Kindertotenlieder“ Mahlers zu, und dies, um sich in ihre Musik zu vertiefen und sich gründlich mit ihr auseinanderzusetzen. Er schrieb darüber – und über Mahlers Musik allgemein – sogar einen Artikel, der im Mai 1936 in der Wiener Musikzeitschrift 23 veröffentlicht wurde. Die Grundgedanken, das Verständnis von Mahlers Kindertotenlied-Musik betreffend, hat der dann in seine große Mahler-Monographie von 1960 übernommen und weiterentwickelt. Dort heiß es (S.177/78):
„In den Kindertotenliedern verschränken sich Zärtlichkeit des Nächsten und zwielichtiger Trost des Fernsten. Sie blicken auf die Toten wie auf Kinder. Die Hoffnung des nicht Gewordenen, die als Schein von Heiligkeit um die sich legt, welche früh starben, erlischt auch den Erwachsenen nicht. Mahlers Musik bringt Speise dem vernichteten Mund, wacht über dem Schlaf der nicht mehr Erwachenden. Gleicht jeder Tote einem, der von den Lebenden ermordet wurde, so auch einem, den sie zu erretten hätten. >Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen<, nicht weil sie Kinder waren, sondern weil fassungslose Liebe den Tod faßt einzig, als wäre der letzte Ausgang der von Kindern, Heimkehrenden. Bei Mahler ist der Trost der Reflex von Trauer. Bangend konserviert Mahlers Musik darin jenes Besänftigende, Heilende, das Überlieferung seit urdenklichen Zeiten Musik als Kraft zuschrieb, Dämonen zu bannen, und das doch zur Schimäre verblaßt nach dem Maß der Entzauberung der Welt.“
Für Adorno läuft also die Rezeption und Reflexion von Mahlers Kindertotenlieder-Musik - wie auch der hiesige Tamino-Diskurs - auf eine Beschäftigung mit der Frage hinaus, wie weit und in welcher Form und Gestalt diese einen Trost enthält und aufweist. Er bejaht das, spricht von einer dem „vernichteten Mund“ eine „Speise“ bringenden Musik, bezeichnet diesen Trost aber als einen „zwielichtigen“. Leider erläutert das nicht näher, so dass nicht voll und ganz klar wird, worin für ihn diese „Zwielichtigkeit“ besteht. Vielleicht versteht er den Schluss der Kindertotenlieder ähnlich wie Tristan, der dazu feststellt:
„Musikalisierungen von Hoffnungsfetzen, erlernten Trostsymbolen, Einsamkeit, Unsagbarkeit und auch dem Beginn der Verarbeitung - das alles kann Mahler anbieten um gleichsam die Trostlosigkeit tröstend zu vertonen. Das absolut erschütternde aber ist - dass es hier keinen echten Trost gibt. Aber die Unmöglichkeit des Trosts - dafür findet Mahler durchaus Klänge.“ Aber so weit geht er aus meiner Sicht nicht. Er vernimmt diese Lieder nicht als musikalischen Ausdruck der „Unmöglichkeit des Trostes“. (Alle sprechen über dasselbe Musikwerk)
Der Grund für dieses Verständnis ist die Tatsache, dass Mahlers Musik in ihrem emphatischen, in permanenter Wiederholung erfolgenden Sich-Hineinsteigern in die Worte „Sie ruhn als wie in der Mutter Haus“ … von Gottes Hand bedecket“ dieses lyrische Ich so darstellt, als gäbe es für diesen unter dem Kindestod leidenden Vater zwar einen Trost. Aber es ist de facto ein imaginativer, einer der sich aus der Möglichkeit des christlichen Glaubens ergibt. Dieser Sachverhalt könnte für Adorno den Trost zu einem zwielichtigen werden lassen. Das aber ist dann eine durchaus subjektive Wertung der Musik des Schlusses von Lied fünf.
Der große Mahler-Kenner Hans Heinrich Eggebrecht deutet diesen Schluss treffender, sich stützend dabei auf eine analytische Betrachtung der Liedmusik, wenn er feststellt:
„Was in dem vorhergehenden Lied als Wille zu einem befreienden Gedanken, als Glaubenwollen, schrittweise und unter Anstrengung sich vollzog und ohne Folgen blieb, wird von Mahler am Schluß seines Zyklus – die Aussage des Gedichts verdoppelnd und ästhetisch mächtig intensivierend – als Einbruch von außen zu verstehen gegeben, theologisch gesprochen als Gnadengeschenk der Glaubensgewißheit. Was hier einbricht, kommt aus einer >anderen Welt<, tritt plötzlich ein und hat im Akt der ästhetischen Identifikation die Auslöschung des Willens und d er Emphase zur Folge, ein Versinken in diese andere Welt, einen Zustand der Entrückung, wo die Musik sich auflöst und erstirbt, weil sie nun nichts weiter zu sagen hat, nichts mehr zu sagen braucht.“ (Die Musik Gustav Mahlers, Noetzel Verlag, 2018, S.248).
Dieser sich in der Musik ereignende Einbruch von außen als „Gnadengeschenk der Glaubensgewißheit“ scheint Adorno – ohne dass er das benennt – nicht ganz geheuer gewesen zu sein. Deshalb wohl, wie ich vermute, die Wertung des Trostes als „zwielichtig“.
Ich selbst stimme mit Eggebrechts Deutung des Zyklusschlusses im Wesentlichen überein.
Die Rat- und Hilflosigkeit des lyrischen Ichs, wie sie das erste Lied mit dieser in ihrem konstatierenden Gestus tatsächlich erschreckenden und mit einer in d-Moll schwer fallenden Liedmusik zum Ausdruck bringt, wird in den nachfolgenden Liedern zu bewältigen versucht, wobei der Kindestod nur eine behutsame, teilweise metaphorisch eingekleidete Erwähnung erfährt und das lyrische Ich sich in Erlösung verheißende transzendente Visionen flüchtet, ohne dass sich diese erlösende Befreiung vom Schmerz des Verlusts der Kinder wirklich einstellt. Jetzt aber, in diesem liedkompositorischen Finale, wird das Leid auf direkte, harte, geradezu brutale Weise bei seinem Namen genannt: „Ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen.“ Und die Liedmusik bringt das mit einer klanglichen Schroffheit und orchestral geradezu lärmenden Direktheit zum Ausdruck, die der Hörer zwar als schmerzlichen Kontrast zum vorangehenden Lied erfährt, sie aber gerade deshalb als in einem tiefen Sinne wahr, weil den inneren Zustand des lyrischen Ichs schonungslos reflektierend empfindet.
Aber seinen eigentlichen Kern als Finale im Hinblick auf die musikalisch-künstlerische Aussage des Zyklus in seiner Ganzheit, offenbart dieses Lied erst in seinem zentralen liedmusikalischen Ereignis: Es ist der Schluss, in dem die Singstimme nun zum fünften Mal mit den Worten „In diesem Wetter…“ einsetzt. Dieses Mal aber tut sie es in einem fundamental anderen, aus Dur-Harmonik hervorgehenden klanglichen Umfeld und in der Weiterführung der melodischen Linie mit einer ganz und gar gewandelten, nämlich in den Schmelz der Streicher gebetteten orchestralen Begleitung. Die dreifachen Anschläge des Glockenspiels deuteten ja schon an, was sich nun ereignen wird. Und auch darin besteht ein dezenter Bezug zum ersten Lied. Denn im Zwischenspiel, bevor die Singstimme dort zur Deklamation der Worte „Du musst nicht die Nacht in dir verschränken“ übergeht, meldet sich das Glockenspiel drei Mal.
Und ein Glockenspiel ist im kompositorischen Schaffen von Mahler grundsätzlich ein klangliches Sich-zu-Wort-Melden der Transzendenz.
Und das ist es ja auch, was den Kern dieses musikalischen Ereignisses ausmacht: Das Hereintreten der „anderen Welt“ in die reale Welt des abgrundtiefen Schmerzes und hoffnungslosen Leidens, wie sie der Verlust der Kinder mit sich gebracht haben. Das Neue an diesem Ereignis, und das, was es zu einer Antwort auf die im Zyklus aufgeworfenen existenziellen Grundfragen werden lässt, besteht in der Art und Weise, wie es sich ereignet. War die klangliche Verzückung, in der das vorangehende vierte Lied sich am Ende steigert, letzten Endes das Ergebnis eines autosuggestiven Sich-Hineinsteigerns in das visionäre Bild, das sich in den Worten „Der Tag ist schön auf jenen Höh´n“ lyrisch sprachlich verdichtet, die Folge eines aus Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgehenden subjektiven Willensakts also, so mutet das, was sich mit dem letzten deklamatorischen Auftritt der Singstimme ab Takt 99 ereignet und von Mahler mit den Anweisungen „Leise bis zum Schluß“ und „Langsam wie ein Wiegenlied“ versehen ist, an wie ein Geschenk, - wie ein dem leidenden Menschen unverhofft und unerwartet zuteilwerdender Akt der Gnade.