Beiträge von Helmut Hofmann

    Der Singstimme eröffnen sich vor allem im unteren dynamischen Bereich auch andere Ausdrucksmöglichkeiten als mit Orchester.

    Das ist richtig. Aber das soll ja nach Mahlers Willen gar nicht so sein. Die Singstimme ist in den "Kindertotenliedern" integraler Bestandteil des liedkompositorischen Satzes.

    Aber jetzt möchte ich es damit gut sein lassen und mich auf den ein neues Thema eröffnenden Beitrag von Tristan einstellen und mich dessen erfreuen.

    Ich habe mir heute noch einmal den Liedzyklus angehört, wieder in der Fassung mit Klavierbegleitung.

    Das hat, wenn ich mir diesen Hinweis noch nachträglich erlauben darf, wenig Sinn.

    Auf diese Weise bekommen Sie höchstens ansatzweise mit, was diese Liedmusik zu sagen hat.

    Sie ist von Anfang an gedanklich orchestral konzipiert und als solche dann kompositorisch ausgeführt. Mahler hat viel Mühe darauf verwendet, wie die einzelnen instrumentalen Orchesterstimmen eingesetzt werden und wie sie miteinander agieren. Dies deshalb, weil bei ihm einzelnen Instrumenten eine spezifische musikalische Aussage-Funktion zukommt.

    Das klangliche Wesen, die musikalische Eigenart der "Kindertotenlieder" und ihre liedhistorische Bedeutung gründen ganz wesentlich in der Emanzipation der Liedkomposition von der traditionellen Bindung an den Klaviersatz.

    Weil heute die der Betrachtung dieser Musik zugemessenen zwei Wochen definitiv zu Ende gehen, hier noch dieses:


    Zur liedhistorischen Bedeutung der „Kindertotenlieder“

    Mahlers „Kindertotenlieder“ gehören ohne Zweifel zu den großen Werken der Liedliteratur, solchen wie etwa den Zyklen Schuberts gleichrangig zur Seite stehend. Sie haben mit ihrer Emanzipation von der Bindung an den Klaviersatz eine neue Ära der Liedkomposition eingeleitet. „Die Musik Mahlers“, so hat Kurt Blaukopf zu Recht festgestellt, „die hier von allen Merkmalen seiner früheren Liedkunst befreit ist (von simpler Folklore und vom Marschrhythmus, vom Militärsignal und vom Volkstümlich-Tänzerischen), erreicht eine Höhe, von der aus schon Schönbergs >Herzgewächse< (1911) und dessen >Pierrot Lunaire< (1912, Anton Weberns Rilke-Lieder (1910) und Alban Bergs Altenberg-Lieder (1912) wahrnehmbar werden.“

    Von Anton Webern ist Mahlers Aussage überliefert: „Nach des Knaben Wunderhorn konnte ich nur mehr Rückert machen – das ist Lyrik aus erster Hand, alles andere ist Lyrik aus zweiter Hand“.
    Das ist eigentlich eine höchst verwunderliche Feststellung, denn gerade Rückerts in der Mehrzahl prosodisch streng geregelte und auf sprachliche Glätte und Eleganz angelegte Lyrik würde man als eine „von zweiter Hand“ einstufen. Es sind, er hat das selbst so gesehen, Werke eines dichtenden Gelehrten.
    Bei den Kindertotenliedern aber ereignet sich ein diese Prosodie gegenstandslos werden lassender Einbruch der Subjektivität in die lyrische Sprache. Hier leidet Rückert, ringt und kämpft um ein Verstehen, Ertragen und Überwinden dessen, was ihn mit dem Kindestod so schwer getroffen hat, und weil infolgedessen in den Tag für Tag mindestens zwei hervorgebrachten lyrischen Texten die formale sprachliche Gestalt keine Rolle spielte, hat er die am Ende mehr als 400 nicht veröffentlicht.

    Wenn Mahler von „Lyrik aus erster Hand“ spricht, so meint er genau das. Die „zweite“, die formal regelnde und gestaltende „zweite Hand“ fehlt. Sie würde, so wie Mahler das sieht, sie in ihrer Aussage verfremden, ihrer Ursprünglichkeit und damit ihrer Wahrheit berauben. Dieser radikale und kompromisslose Einbruch der Subjektivität ereignet sich auch von Anfang an in Mahlers sinfonischer Komposition in Gestalt einer Loslösung vom traditionellen Reglement der Sinfonik, des Arbeitens mit musikalischen Vokabeln bis hin zur Einbeziehung von Naturlauten und populärer Volksmusik.

    Er hat sich von daher in Rückerts Kindertotenliedern künstlerisch und menschlich gleichsam wiedergefunden, menschlich insofern, als er selbst immer wieder unter ausgeprägten Angstzuständen und Panikattacken zu leiden hatte. Deshalb hat er schon im Jahr 1901, also vor seiner Eheschließung, mit der Komposition dieser Rückert-Texte begonnen, sie aber erst im Sommer 1904 abgeschlossen. Der eigenen Kindestod-Erfahrung bedurfte es dazu nicht. Schon in früher Jugend hat Mahler durch den Tod seiner vier Geschwister, seines geliebten Bruders Ernst und dann der verheirateten Schwester Leopoldine vielfältige und ihn stark berührende Erfahrungen mit dem Tod gemacht.

    Seine Liedmusik erbringt eine Erschließung der semantischen und der affektiven Dimensionen der Rückert-Texte, sie interpretiert sie also. Diese ist nun aber darin, anders als die Texte, kompositorisch geregelt und strukturiert. Bemerkenswert dabei ist, dass Mahler sich dabei nicht affektiv hinreißen lässt. Es ist eine auf kleinem Orchestersatz basierende, geradezu asketische Musik, wie sie gleich am Anfang auf eindrückliche Weise vernehmen lässt, darin die Sprache des „Lieds von der Erde“ vorwegnehmend.
    Diese Musik generiert und gewinnt ihre musikalische Aussage aus der Binnenspannung zwischen ihrer streng geregelten und affektiv kontrollierten kompositorischen Faktur und der ungeregelten Expressivität der ihr zugrunde liegenden Rückert-Texte. Nur im letzten Lied tritt ein hochgradig expressiver Klage- und Schmerzensgestus in sie. Aber dieser wird, und das ist bezeichnend, nicht bis zum Ende durchgehalten, wie hier auf detaillierte Weise aufgezeigt wurde.

    Der Schriftsteller und Literaturkritiker Hans Wollschläger hat diese Musik auf treffende Weise mit den Worten beschrieben und charakterisiert:
    „Mahler, der in seiner eigenen >Natur< den Panischen Schrecken kannte, hat ihn auch in der Natur Rückerts erspürt und in ihrem Sprechen freigesetzt, indem er dessen Glätte wiederauflöste. Seine Musik umgibt den Text mit dem surreal Zeitlösen jenes Todes, in dem der Kindertod selber nur eine Metapher war; ihre Linearität verläßt die Epoche, und im letzten Lied scheinen die Klagelaute aller Kulturen zu kontaminieren.“

    Drei Mal „Mignon“: „Heiß mich nicht reden“


    Mignon, dieses höchst rätselhafte Wesen, das Goethe da geschaffen hat, rätselhaft, weil es sich jeder existenziellen Bestimmung entzieht und vegetativ, engelhaft und dämonisch zugleich wirkt, hat ganz offensichtlich jeden Komponisten herausgefordert, ihm musikalisch eben diese personale Identität zu verschaffen, die ihm von seinem Schöpfer poetisch vorenthalten bleibt.
    Und siehe, es ist bei den drei großen Repräsentanten des romantischen Klavierliedes jeweils eine völlig andere „Mignon“ dabei herausgekommen: Bei Schubert das naive, heimlich liebende, still leidende und von einer unbestimmten Sehnsucht beseelte Mädchen; bei Schumann die reife, sich zu ihrer Existenz bekennende und darin innerlich zerrissene, weil zwischen Liebe, Sehnsucht und Einsamkeit hin und her treibende Frau; und bei Wolf die in abgrundtiefes Leiden versunkene Seele, der einzig das Sehnen bleibt, - in der realen Existenz die nach dem fernen Süden, in der idealen jene andere nach einem die reale Körperlichkeit transzendierenden himmlisch verklärten Sein.

    Bei Schubert vernimmt man aus dem Mund dieser Mignon eine melodische Linie, die den Gestus naiver und deshalb so faszinierend eingängiger Gesanglichkeit nie wirklich verlässt, - auch nicht in jenen Passagen, in denen sich das seelische Leiden unter dem schicksalhaften Gebot des Schweigens artikuliert. Bezeichnend ist ja doch, dass die Singstimme in harmonischem Einklang mit dem Klavier dessen Vorspiel-Melodik aufgreift. Diese ist zwar zunächst in e-Moll harmonisiert und weist die Anmutung von Wehmut auf. Aber das ist ein inniger Ton, einer, der zwar Leiden, aber keine seelische Zerrissenheit zum Ausdruck bringt. Und überdies ist das Moll als Tongeschlecht in diesem Lied ja keineswegs dominant. Gewiss, die melodische Linie weist häufig eine fallende Tendenz auf, aber darin verharrt sie nicht. So wie in der zweiten Strophe eine Modulation nach C-Dur erfolgt und das zentrale melodische Motiv am Anfang der dritten in D-Dur harmonisiert ist, so gibt es immer wieder das Aufklingen von Hoffnung in der Musik.
    So wie beim Schluss des Liedes: Nach einem kurzen, ebenfalls aus einer bogenförmigen Bewegung von Moll-Akkorden bestehenden Nachspiel erklingt am Ende ein reiner E-Dur-Akkord. Eine Musik, die auf das verweist, was die letzten Worte des Liedes als Zukunftsvision enthalten.

    Kein größerer Kontrast ist denkbar zwischen dem Anfang des Schumann-Liedes und jenem bei Schubert. Die forte und in rascher Folge hart angeschlagenen acht c-Moll-Akkorde evozieren auf der Stelle den klanglichen Eindruck von Dramatik. Und die Tatsache, dass die Singstimme auf dem zweitletzten Akkord sforzato in das einfällt, was das Klavier hier artikuliert, verstärkt diesen Eindruck noch. Lang wird das „c“ auf dem Wort „heiß“ gehalten, danach steigt die melodische Linie im Auf und An von Sekunden und mit einem Terzsprung zu einem hohen „f“ auf, das (auf dem zweit „heiß“) wiederum eine Dehnung trägt, und danach geht es in einer großen und einer kleinen Fallbewegung abwärts. Ein ausgeprägt fordernder Ton wohnt dieser melodischen Linie inne. Und es ist nicht der eines still leidenden Mädchens, sondern der einer Frau, die sich ihrer existenziellen Situation bewusst ist, sich auf sie zurückgeworfen fühlt und darunter leidet, zugleich aber daraus ausbrechen möchte, ohne die Hoffnung zu haben, dass dies wirklich gelingen könnte.

    Die innere Zerrissenheit spiegelt sich deutlich in der Faktur des Liedes. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Binnenspannung, die sich aus der Kombination von rezitativischen und gleichsam ariosen Passagen ergibt. Melodik und Klaviersatz reflektieren diese seelischen Regungen in vielfältiger Weise. Mit häufigen Tempo- und Dynamikwechseln und raschen Bewegungen von Achtel-Akkorden und Akkordrepetitionen, die vielerlei harmonische Modulationen durchlaufen.
    Und dann ist da dieser Schluss: Bei den Worten „Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen“ bewegt sich die Vokallinie, in ihrem Piano und Ritardando wie in resignativer Eintönigkeit versinkend, in silbengetreuer Deklamation nur noch zwischen zwei tonalen Ebenen hin und her: Einem „g“ und einem „e“, um am Ende mit einem Terzsprung zu eben jenem „g“ hin ihr Ende zu finden.

    Hugo Wolfs Mignon wirkt gegenüber der melodischen Expressivität, die sie bei Schumann entfaltet, wie in die absolute Einsamkeit eingeschlossen, aus der es, weil ein „Schwur“ ihr die Lippen zudrückt“, für sie kein Entrinnen gibt. Der Moll-Subdominant-Akkord, der wie ein klanglicher Rahmen das Lied eröffnet und abschließt, wirkt wie ein klangliches Symbol dafür. Und die Melodik, die sich auf dem Untergrund eines daktylisch strukturierten Klaviersatzes entfaltet, empfindet man in der chromatisch geprägten Müdigkeit ihrer Bewegung, die immer wieder in Tonrepetitionen verfällt, aber auch vereinzelt abrupte Fall- und Sprungbewegungen vollzieht, als musikalischen Ausdruck der Verschlossenheit des lyrischen Ichs, seines Leidens und des Zurückgeworfen-Seins auf sich selbst.

    Bezeichnend ist ja doch, dass das an sich positive Bild von „der Sonne Lauf“ auf einer chromatisch eingebetteten, von verminderten Tonschritten geprägten und müde wirkenden melodischen Linie deklamiert wird, die langsam zu dem Wort „Nacht“ hin abfällt und dann zu dem Wort „erhellen“ hin zwar einen veritablen Oktavsprung macht, der sogar noch um eine Terz erhöht wird, an ihrem Ende aber, ausgerechnet auf den beiden letzten Silben des Wortes „erhellen“, einen Sextfall beschreibt. Und damit korrespondiert die Tatsache, dass die melodische Linie beim letzten Vers („Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen“) zu dem Wort „Gott“ hin einen – von einem fortissimo angeschlagenen sechsstimmigen Akkord akzentuierten - Terzsprung zu einem hohen „f“ hin macht, der es melodisch deutlich exponiert, danach aber zu einer Fallbewegung übergeht, die wirkt, als würde sich das lyrische Ich ermattend in sich selbst zurückziehen.
    Für diese Mignon gibt es keine Hoffnung auf Erlösung in dieser irdischen Welt.

    Die zwei Wochen neigen sich ihrem Ende zu ...

    ... und es waren, so habe ich es jedenfalls empfunden, in der diskursiven Beschäftigung mit diesem Liederzyklus hoch erfreuliche, weil sehr ergiebige.

    Kritisch könnte man allerdings, will ich aber nicht wirklich tun, anmerken, dass dieser Diskurs sich auf das letzte Lied konzentrierte. Schließlich ergab sich ja besonders dadurch seine Ergiebigkeit. Dadurch ist aber das, was die vorangehenden Lieder zu sagen haben, zu kurz gekommen. Vor allem aber ist etwas ganz Wichtiges nicht deutlich geworden: Der zyklische Charakter dieses Werkes von Mahler.

    Aber das wäre im dem Projekt zugrunde liegenden Zwei-Wochen-Rahmen ja im Grunde nicht zu realisieren gewesen. Deshalb hierzu noch ein paar Anmerkungen.


    Der zyklische Charakter ist zwar durchgehend manifest, er wird aber bei den drei letzten Liedern in ganz besonderer Weise sinnfällig. Das dritte („Wenn dein Mütterlein“) endete, harmonisch betrachtet, in seinem trostlosen, weil ohne die Perspektive einer Erlösung auskommen müssenden Gefesselt-Sein an den Schmerz des Hier und Jetzt in dem c-Moll, in dem es einsetzte und in das es bei all seinen wie verzweifelt wirkenden Ausbrüchen in Dur-Harmonik immer wieder zurückgeworfen wird. Mit einer wunderlich anmutenden Rückung nach G-Dur im Schlusstakt freilich. Aber wunderlich ist sie nicht wirklich. Das folgende Lied löst diese Verwunderung mit der Harmonik, in der es einsetzt: Es ist Es-Dur, die Dur-Parallele zu jenem c-Moll, das eben gerade beim vorangehenden Lied harmonisch noch alles im Griff hatte. Man soll also, so wollte Mahler das, das vierte Lied aus vielerlei Gründen, vor allem jenen der Harmonik und des Liedschlusses des dritten Liedes, als „Antwort“ auf dieses hören und verstehen.

    Und tut man das, so erschließen sich, über die musikalische Aussage hinaus, die es als singuläre Liedkomposition aufweist, weitere hochbedeutsame musikalische Aussage-Dimensionen. Mit einem Mal wird einem der hochgradig suggestive Gestus, der der Liedmusik innewohnt, in seiner wahren Bedeutung bewusst. Er gründet in einer dieses Lied in seiner spezifischen Eigenart prägenden polyphonen Wiederholung melodischer Motive. Das Vorspiel deutet sie schon an, und die melodische Linie der Singstimme lässt sie, in gleichsam auf ihren Kern gebrachter klanglicher Gestalt, gleich am Anfang vernehmen. Es sind die melodisch-deklamatorischen Schritte, die auf den Worten liegen „Oft denk´ ich, sie sind nur ausgegangen“ und „Bald werden sie wieder nach Hause gelangen“. Diesen melodischen Motiven steht ein drittes gleichsam gegenüber. Es ist das auf den Worten „Der Tag ist schön“. Gegenüber tritt es den anderen insofern, als es sich in seiner melismatischen, die „Schönheit“ klanglich erfahrbar machenden bogenförmigen Struktur und in seiner Dur-Harmonisierung von diesen abhebt. Die melodische Linie, die auf den Worten „“Der Tag ist schön, o sei nicht bang, sie machen nur einen weiten Gang“ liegt, wirkt in ihrer Struktur wie eine zweimalige Wiederholung ihres Anfangs, dies aber unter Steigerung ihrer Emphase. Darin, aber auch in ihrer Dur-Harmonisierung, die die kleine Verminderung auf den Worten „o sei nicht bang“ gegenstandslos werden lässt, wirkt sie wie eine klangliche Emanzipation von der sich in es-Moll ereignenden melodischen Fallbewegung auf den Worten „sie sind nur vorausgegangen“.

    Und unter diesem Aspekt ist nun höchst bedeutsam, dass diese melodische Figur am Ende des Liedes gleichsam die Oberhand gewinnt. Mit den Worten „Wir holen sie ein…“ (Takt 58ff.) wiederholt sich diese bogenförmige Bewegung der melodischen Linie insgesamt sechs Mal, und dies unter Verkürzung des Bogens und einer Anhebung der tonalen Ebene seines Ansatzes in der letzten Phase. Man kann dieses Sich-Hineinsteigern der melodischen Linie in diese Figur und die damit einhergehende Potenzierung der liedmusikalischen Emphase, die auch dadurch zustande kommt, dass die Flöten, die Violinen und die Violen die Aufgipfelung bei „auf jenen Höh´n“ in einem Anstieg in extrem hohe Lage mitvollziehen, eigentlich nicht anders verstehen und deuten, als dass das lyrische Ich in eine Art Ekstasis geraten ist. Es ist außer sich geraten, hat die reale Situation des Wissens um den Verlust der Kinder und des Leidens darunter in einem autosuggestiven Prozess, wie ihn das Lied auf höchst beeindruckende Weise miterleben lässt, verlassen und sieht sich imaginativ auf dem Weg zu „jenen Höh´n“, wo es seine Kinder schon zu wissen meint.

    Robert Schumann: „Mignon: Heiß mich nicht reden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    In dramatischer Form setzt das Lied ein. Eine Folge von hart angeschlagenen c-Moll Akkorden in fallender Linie erklingt, und am Ende fällt die Singstimme sforzato mit den Worten „Heiß mich nicht reden „ in sie ein. Sie schlägt einen höchst expressiven rezitativisch geprägten Ton an, der erst bei den Worten „heiß mich schweigen“ in ein Ritardando verfällt. Etwas ruhiger und in aufsteigender Linie mit einer Dehnung am Ende wird der zweite Vers deklamiert. Aber schon bei dritten lautet die Anweisung „schneller“. Die melodische Linie macht eine aus einer Dehnung hervorgehende Fallbewegung, und nach einer Pause beschreibt sie bei den Worten „Allein das Schicksal will es nicht“ eine leicht wehmütig klingende Bogenbewegung, derweilen im Klaviersatz die melodische Linie des vorangegangenen Verses nachklingt. Das ist höchst subtile Kompositionskunst. Der erste Vers wird am Ende dieser wie ein Accompagnato-Rezitativ wirkenden ersten Strophe forte auf einer zunächst in hohe Lage emporsteigenden und dann mit einem verminderten Septfall in tiefe Lage stürzenden Vokallinie wiederholt.

    Ruhig und in C-Dur harmonisiert bewegt sich die melodische Linie bei der zweiten Strophe, was nicht bedeutet, dass sie nicht immer wieder einmal – die lyrischen Bilder reflektierend – in hoher Lage aufgipfelt oder eine Fallbewegung über ein großes Intervall beschreibt. So steigt sie bei den Worten „vertreibt der Sonne Lauf die finstre Nacht“ über mehr als eine Oktave zu einem hohen „g“ empor, macht aber einen, bei dem Wort „erhellen“ einen höchst ausdrucksstarken, mit einer harmonischen Rückung verbundenen – und überraschenden! – Oktavfall. Auch bei den beiden letzen Versen der zweiten Strophe schlägt sich die innere Bewegtheit der lyrischen Bilder auf die Struktur und die Bewegung der melodischen Linie nieder: Erst beschreibt sie eine Fallbewegung, bei dem Bild von den „tiefverborg´nen Quellen“ setzt sie zu einer bogenförmigen Bewegung an, die ausgerechnet bei dem Wort „tief“ mit einem verminderten Sekundfall in hoher Lage aufgipfelt. Die Dynamik bleibt derweilen durchgängig im Forte-Bereich und der aus der raschen Bewegung von Achtelakkorden und Akkordrepetitionen bestehende Klaviersatz durchläuft viele harmonische Modulationen.

    In ruhiger, syllabisch exakter Weise und in mittlerer tonaler Lage verbleibend werden die ersten beiden Verse der dritten Strophe deklamiert. Auf den Worten „Ruh“ und „dort“ liegen melodische Dehnungen, und auch das Wort „ergießen“ erhält durch gedehnt aufsteigende melodische Linie einen besonderen Akzent. Bei den Worten „Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ nimmt die Vokallinie dann aber einen deutlich expressiveren Ton an. Aus der Deklamation auf nur einer tonalen Ebene erfolgt sforzato zu dem Wort „Schwur“ hin ein Quintsprung, das damit erreichte hohe „f“ wird lange gehalten, bevor dann mit einem die melodische Linie in einer lang gedehnten Fallbewegung und einem mehrfachen Diminuendo auf höchst beeindruckende Weise langsam ausklingt. Das Klavier begleitet all das mit allerlei Modulationen durchlaufenden Akkordrepetitionen, die eine untergründige Unruhe in die Melodik bringen. Auffällig ist dies besonders bei der langen Dehnung auf den Wort „Gott“ und „aufzuschließen“.

    Nach einer zweitaktigen Pause, in der das Klavier seine Repetitionen fortsetzt, werden die Worte „nur ein Gott“ auf chromatisch in tiefer Lage sehr langsam fallender und in einen verminderten Akkord mündender melodischer Linie wiederholt. Danach erklingen im Klavier drei Mal chromatisch-dissonante und jeweils lange gehaltene Akkorde in aufsteigender Linie. Als klanglicher Kommentar zu den Worten „Nur ein Gott“ wirken sie wie der musikalische Ausdruck tiefer Hoffnungslosigkeit des lyrischen Ichs, ob ihm dieses „Aufschließen“ denn je zuteilwerden würde.

    Mit „Adagio“ ist die Rückkehr des Liedes zum rezitativischen Ton seines Anfangs überschrieben. Die beiden ersten und die vier letzten Verse des Gedichts erklingen noch einmal, - unter Auslassung der Partikel „allein“. In ruhiger Bewegung steigt die melodische Linie bei den Worten „Heiß mich nicht reden“ an, macht aber dann bei dem Worten „reden“ einen Quintfall und lässt anschließend das Wort „schweigen“ mit einem verminderten, und mit einer harmonischen Rückung verbundenen Sekundfall eindringlich hervortreten. Auch das Wort „Schwur“ wird mit einem Oktavsprung noch einmal auf eindrucksvolle Weise in seiner lyrischen Bedeutung melodisch akzentuiert. Und so ist das auch bei den Worten „die Lippen zu“: Ein kleiner Sekundfall, der anschließend auf der tonalen Ebene verharrt.

    Höchst beeindruckend auch die letzten melodischen Schritte bei der Wiederholung der lyrisch so zentralen Worte „Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen“. Die Vokallinie bewegt sich, in ihrem Piano und Ritardando, wie in resignativer Eintönigkeit versinkend, in silbengetreuer Deklamation nur noch zwischen zwei tonalen Ebenen hin und her: Einem „g“ und einem „e“, um am Ende mit einem Terzsprung zu eben jenem „g“ hin ihr Ende zu finden. Und dies im C-Dur, das das Klavier am Ende pianissimo in zwei lange gehaltenen siebenstimmigen Akkorden erklingen lässt.
    Melodische Offenheit der Quinte im finalen C-Dur eines Liedes, das im c-Moll einsetzt: Die Rätselhaftigkeit dieser Mignon-Gestalt findet hier ihren adäquaten musikalischen Ausdruck.

    Robert Schumann: „Mignon: Heiß mich nicht reden“, op.98a, Nr.5

    Dieses Lied ist das fünfte in Schumanns 1849 entstandenem Opus 98a, das neun Kompositionen umfasst und neben den Mignon-Gesängen auch die des Harfenspielers enthält. Es ist eine für den Liedkomponisten Schumann ungewöhnliche Komposition, weil es die von ihm üblicherweise praktizierte Form des Klavierliedes sprengt: Dies in Richtung einer personenorientiert-affektbezogenen Ausdeutung des lyrischen Textes mit den Mitteln der Musik.

    Herausgekommen ist dabei so etwas wie ein „Accompagnato-Rezitativ mit Arie“. Jedenfalls hört sich das Lied so an. Und es wäre hochinteressant, der Frage nachzugehen, warum Schumann ausgerechnet bei diesem lyrischen Text einen solchen liedkompositorischen Weg eingeschlagen hat. Ist es – über die rein lyrisch-sprachliche Ebene desselben hinaus - auch der in die Aura des Geheimnisvollen gehüllten Romangestalt geschuldet? Dies in der Form, dass der narrative Kontext in das Lied Eingang gefunden hat?
    Man möchte dies bejahen.


    Zur Deutung und zum Verständnis des Zyklusschlusses

    Im Juni 1935 starb Adornos Tante mütterlicherseits Agathe Calvelli-Adorno, der er sehr verbunden war. Er nannte sie seine „zweite Mutter“. Ihr Tod erschütterte ihn stark. An seinen Freund Ernst Krenek schrieb er: „Ich bin völlig auf den Kopf geschlagen und komme nur langsam überhaupt dahin, mir vorzustellen, daß und gar wie ich weiterleben kann. Das klingt wahnsinnig exaggeriert, aber Sie können mir glauben, daß kein Gran Übertreibung und Sentimentalität daran ist.“

    In diesem Zustand schmerzerfüllter Trauer und Depressivität tut Aorno etwas, was Alfred Schmidt in einem Beitrag hier für sich völlig ausgeschlossen hat, wenn er konstatiert:
    „Ich werde diese Liedern nie hören - ich wollte sie lebenslang nicht hören - und damit wird sich auch nichts ändern Ein zu Depressionen neigender Mensch erwarte von Musik Aufhellung der Stimmung und er will nicht niedergedrückt werden (Alle sprechen über dasselbe Musikwerk)
    Adorno wendet sich den „Kindertotenlieder“ Mahlers zu, und dies, um sich in ihre Musik zu vertiefen und sich gründlich mit ihr auseinanderzusetzen. Er schrieb darüber – und über Mahlers Musik allgemein – sogar einen Artikel, der im Mai 1936 in der Wiener Musikzeitschrift 23 veröffentlicht wurde. Die Grundgedanken, das Verständnis von Mahlers Kindertotenlied-Musik betreffend, hat der dann in seine große Mahler-Monographie von 1960 übernommen und weiterentwickelt. Dort heiß es (S.177/78):

    „In den Kindertotenliedern verschränken sich Zärtlichkeit des Nächsten und zwielichtiger Trost des Fernsten. Sie blicken auf die Toten wie auf Kinder. Die Hoffnung des nicht Gewordenen, die als Schein von Heiligkeit um die sich legt, welche früh starben, erlischt auch den Erwachsenen nicht. Mahlers Musik bringt Speise dem vernichteten Mund, wacht über dem Schlaf der nicht mehr Erwachenden. Gleicht jeder Tote einem, der von den Lebenden ermordet wurde, so auch einem, den sie zu erretten hätten. >Oft denk ich, sie sind nur ausgegangen<, nicht weil sie Kinder waren, sondern weil fassungslose Liebe den Tod faßt einzig, als wäre der letzte Ausgang der von Kindern, Heimkehrenden. Bei Mahler ist der Trost der Reflex von Trauer. Bangend konserviert Mahlers Musik darin jenes Besänftigende, Heilende, das Überlieferung seit urdenklichen Zeiten Musik als Kraft zuschrieb, Dämonen zu bannen, und das doch zur Schimäre verblaßt nach dem Maß der Entzauberung der Welt.“

    Für Adorno läuft also die Rezeption und Reflexion von Mahlers Kindertotenlieder-Musik - wie auch der hiesige Tamino-Diskurs - auf eine Beschäftigung mit der Frage hinaus, wie weit und in welcher Form und Gestalt diese einen Trost enthält und aufweist. Er bejaht das, spricht von einer dem „vernichteten Mund“ eine „Speise“ bringenden Musik, bezeichnet diesen Trost aber als einen „zwielichtigen“. Leider erläutert das nicht näher, so dass nicht voll und ganz klar wird, worin für ihn diese „Zwielichtigkeit“ besteht. Vielleicht versteht er den Schluss der Kindertotenlieder ähnlich wie Tristan, der dazu feststellt:
    „Musikalisierungen von Hoffnungsfetzen, erlernten Trostsymbolen, Einsamkeit, Unsagbarkeit und auch dem Beginn der Verarbeitung - das alles kann Mahler anbieten um gleichsam die Trostlosigkeit tröstend zu vertonen. Das absolut erschütternde aber ist - dass es hier keinen echten Trost gibt. Aber die Unmöglichkeit des Trosts - dafür findet Mahler durchaus Klänge.“ Aber so weit geht er aus meiner Sicht nicht. Er vernimmt diese Lieder nicht als musikalischen Ausdruck der „Unmöglichkeit des Trostes“. (Alle sprechen über dasselbe Musikwerk)

    Der Grund für dieses Verständnis ist die Tatsache, dass Mahlers Musik in ihrem emphatischen, in permanenter Wiederholung erfolgenden Sich-Hineinsteigern in die Worte „Sie ruhn als wie in der Mutter Haus“ … von Gottes Hand bedecket“ dieses lyrische Ich so darstellt, als gäbe es für diesen unter dem Kindestod leidenden Vater zwar einen Trost. Aber es ist de facto ein imaginativer, einer der sich aus der Möglichkeit des christlichen Glaubens ergibt. Dieser Sachverhalt könnte für Adorno den Trost zu einem zwielichtigen werden lassen. Das aber ist dann eine durchaus subjektive Wertung der Musik des Schlusses von Lied fünf.

    Der große Mahler-Kenner Hans Heinrich Eggebrecht deutet diesen Schluss treffender, sich stützend dabei auf eine analytische Betrachtung der Liedmusik, wenn er feststellt:
    „Was in dem vorhergehenden Lied als Wille zu einem befreienden Gedanken, als Glaubenwollen, schrittweise und unter Anstrengung sich vollzog und ohne Folgen blieb, wird von Mahler am Schluß seines Zyklus – die Aussage des Gedichts verdoppelnd und ästhetisch mächtig intensivierend – als Einbruch von außen zu verstehen gegeben, theologisch gesprochen als Gnadengeschenk der Glaubensgewißheit. Was hier einbricht, kommt aus einer >anderen Welt<, tritt plötzlich ein und hat im Akt der ästhetischen Identifikation die Auslöschung des Willens und d er Emphase zur Folge, ein Versinken in diese andere Welt, einen Zustand der Entrückung, wo die Musik sich auflöst und erstirbt, weil sie nun nichts weiter zu sagen hat, nichts mehr zu sagen braucht.“ (Die Musik Gustav Mahlers, Noetzel Verlag, 2018, S.248).
    Dieser sich in der Musik ereignende Einbruch von außen als „Gnadengeschenk der Glaubensgewißheit“ scheint Adorno – ohne dass er das benennt – nicht ganz geheuer gewesen zu sein. Deshalb wohl, wie ich vermute, die Wertung des Trostes als „zwielichtig“.

    Ich selbst stimme mit Eggebrechts Deutung des Zyklusschlusses im Wesentlichen überein.
    Die Rat- und Hilflosigkeit des lyrischen Ichs, wie sie das erste Lied mit dieser in ihrem konstatierenden Gestus tatsächlich erschreckenden und mit einer in d-Moll schwer fallenden Liedmusik zum Ausdruck bringt, wird in den nachfolgenden Liedern zu bewältigen versucht, wobei der Kindestod nur eine behutsame, teilweise metaphorisch eingekleidete Erwähnung erfährt und das lyrische Ich sich in Erlösung verheißende transzendente Visionen flüchtet, ohne dass sich diese erlösende Befreiung vom Schmerz des Verlusts der Kinder wirklich einstellt. Jetzt aber, in diesem liedkompositorischen Finale, wird das Leid auf direkte, harte, geradezu brutale Weise bei seinem Namen genannt: „Ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen.“ Und die Liedmusik bringt das mit einer klanglichen Schroffheit und orchestral geradezu lärmenden Direktheit zum Ausdruck, die der Hörer zwar als schmerzlichen Kontrast zum vorangehenden Lied erfährt, sie aber gerade deshalb als in einem tiefen Sinne wahr, weil den inneren Zustand des lyrischen Ichs schonungslos reflektierend empfindet.

    Aber seinen eigentlichen Kern als Finale im Hinblick auf die musikalisch-künstlerische Aussage des Zyklus in seiner Ganzheit, offenbart dieses Lied erst in seinem zentralen liedmusikalischen Ereignis: Es ist der Schluss, in dem die Singstimme nun zum fünften Mal mit den Worten „In diesem Wetter…“ einsetzt. Dieses Mal aber tut sie es in einem fundamental anderen, aus Dur-Harmonik hervorgehenden klanglichen Umfeld und in der Weiterführung der melodischen Linie mit einer ganz und gar gewandelten, nämlich in den Schmelz der Streicher gebetteten orchestralen Begleitung. Die dreifachen Anschläge des Glockenspiels deuteten ja schon an, was sich nun ereignen wird. Und auch darin besteht ein dezenter Bezug zum ersten Lied. Denn im Zwischenspiel, bevor die Singstimme dort zur Deklamation der Worte „Du musst nicht die Nacht in dir verschränken“ übergeht, meldet sich das Glockenspiel drei Mal.

    Und ein Glockenspiel ist im kompositorischen Schaffen von Mahler grundsätzlich ein klangliches Sich-zu-Wort-Melden der Transzendenz.

    Und das ist es ja auch, was den Kern dieses musikalischen Ereignisses ausmacht: Das Hereintreten der „anderen Welt“ in die reale Welt des abgrundtiefen Schmerzes und hoffnungslosen Leidens, wie sie der Verlust der Kinder mit sich gebracht haben. Das Neue an diesem Ereignis, und das, was es zu einer Antwort auf die im Zyklus aufgeworfenen existenziellen Grundfragen werden lässt, besteht in der Art und Weise, wie es sich ereignet. War die klangliche Verzückung, in der das vorangehende vierte Lied sich am Ende steigert, letzten Endes das Ergebnis eines autosuggestiven Sich-Hineinsteigerns in das visionäre Bild, das sich in den Worten „Der Tag ist schön auf jenen Höh´n“ lyrisch sprachlich verdichtet, die Folge eines aus Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgehenden subjektiven Willensakts also, so mutet das, was sich mit dem letzten deklamatorischen Auftritt der Singstimme ab Takt 99 ereignet und von Mahler mit den Anweisungen „Leise bis zum Schluß“ und „Langsam wie ein Wiegenlied“ versehen ist, an wie ein Geschenk, - wie ein dem leidenden Menschen unverhofft und unerwartet zuteilwerdender Akt der Gnade.

    Hugo Wolf: „Mignon, Heiß mich nicht reden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein melodisches Ausdrucksmittel, das in diesem Lied auffällig stark zum Einsatz kommt, ist die Tonrepetition. In allen drei Strophen stößt man auf sie und empfindet sie als musikalischen Ausdruck der Verschlossenheit des lyrischen Ichs, des Zurückgeworfen-Seins auf sich selbst, das eine gewisse Starre in der dialogischen Äußerung zur Folge hat, - und zugleich eine große Eindringlichkeit. Das vernimmt man in der Melodik dieses Liedes. Alle vier Verse der ersten Strophe werden jeweils im wesentlichen auf nur einer tonalen Ebene deklamiert, allerdings, und das ist typisch für die Melodik dieses Liedes und Reflex der Seelenlage des lyrischen Ichs, mit gleichsam abrupten Ausbrüchen nach oben und nach unten. Man begegnet ihnen allenthalben: In dem verminderten Sextsprung bei dem Wort „Pflicht“, der mit einer Rückung in die Dissonanz eines verminderten Akkords gekoppelt ist, in dem verminderten Septfall, der sich nach der Aufgipfelung der melodischen Linie bei dem Wort „zeigen“ ereignet, um dem Wort „allein“ den gehörigen Nachdruck zu verleihen, und in der insistierenden Beharrlichkeit, mit der die melodische Linie beim letzten Vers der ersten Strophe zu den Worten „will es nicht“ hin absinkt.

    Mit der zweiten Strophe kommt etwas größere Lebhaftigkeit in die melodische Linie. Dem entspricht, dass der Klaviersatz nun fast durchgehend (bis auf den letzten Vers der Strophe) aus einer stets aufs Neue einsetzenden aufwärtsgerichteten Folge von Achtel-Akkorden besteht. Die Singstimme deklamiert silbengetreu in einem Auf und Ab von Achteln in mittlerer Lage. Zu dem Wort „Sonne“ hin sinkt die melodische Linie – bemerkenswerterweise! – in tiefe Lage ab, und das Wort trägt eine Dehnung auf einem tiefen „es“. Bei den Worten „finstre Nacht“ geht es von dort aus weiter abwärts, und nun liegt auf dem Wort „finstre“ eine Dehnung. Es ist, als habe das lyrische Wort „Nacht“ die Vokallinie so unwiderstehlich zu sich herabgezogen, dass selbst das Bild von der Sonne keine eigene Kraft entfalten kann.

    Zu den Worten „und sie muss sich erhellen“ hin macht die melodische Linie dann aber einen ausdrucksstarken Oktavsprung. Und wieder wird zunächst auf einem Ton deklamiert, bevor sich bei dem Wort „erhellen“ ein mit einer harmonischen Rückung verbundener Sextfall nach einem vorangehenden Terzsprung ereignet. Auch dies ist bemerkenswert. Man würde eigentlich erwarten, dass bei diesem Wort die melodische Linie ihren Weg nach oben weiter fortsetzt. Stattdessen dieser Absturz auf der letzten Silbe. Das lyrische Ich scheint an diesem Bild des Erhellens der „finstren Nacht“ innerlich nicht wirklich zu partizipieren.

    Bei den beiden letzten Versen der Strophe kommt starke Expressivität in die Vokallinie. Forte und in Gestalt von in kleinen Sekunden in hoher Lage ansteigenden Tonrepetitionen werden die Worte „Der harte Fels schließt seinen Busen auf“ deklamiert. Danach folgt ein melodischer Absturz über eine ganze Dezime, der, weil er sich gänzlich unrhythmisiert in einer Abfolge von Achteln ereignet, wie ehern wirkt. Bei dem Wort „verborgnen“ hat die melodische Linie ihren tiefsten Punkt erreicht und macht noch auf der letzten Silbe einen Quintsprung, bevor sie bei dem Wort „Quellen“ erst einmal zur Ruhe kommt. Hier akzentuiert das Klavier mit Akkorden die Deklamation.

    Akkordisch ist die Begleitung auch bei der dritten Strophe angelegt, - nun wieder in daktylisch rhythmisierter Weise. Die melodische Linie setzt so ein wie am Liedanfang, sie beschreibt dann aber bei den Worten „des Freundes Ruh“ eine kleine Bogenbewegung im Umfang einer Terz. „Innig“ soll hier deklamiert werden. Beim zweiten Vers geht die Singstimme jedoch wieder – mit einem Crescendo – zur Deklamation auf nur einer Tonhöhe über, wobei ein Terzsprung mit einem doppelten Sekundfall bei dem Wort „ergießen“ eine deutliche Steigerung der musikalischen Expressivität mit sich bringt. Wie in der ersten Strophe wird das Wort „allein“ in tiefer Lage und durch Pausen isoliert deklamiert.

    Bei den Worten „ein Schwur“ macht die Vokallinie einen ausdrucksstarken Sextsprung mit nachfolgender Dehnung und fällt danach in Sekundschritten in tiefe Lage ab. Das Bild von den „Lippen“, die durch einen „Schwur“ zugedrückt werden, erhält auf diese Weise musikalisch die Bedeutung, die ihm vom lyrischen Text her zukommt. Und so ähnlich ist auch die melodische Linie beim letzten Vers angelegt. Die Worte „Und nur ein“ werden forte auf einem hohen „des“ deklamiert. Bei dem Wort „Gott“ macht die Vokallinie einen Terzsprung zu einem hohen „f“, der es melodisch deutlich exponiert. Das Klavier akzentuiert mit einem fortissimo angeschlagenen sechsstimmigen Akkord. Danach macht die Vokallinie wieder ihre Fallbewegung, die wirkt, als würde das lyrische Ich ermattend sich in sich selbst zurückziehen. Ein Decrescendo, das vom eben gerade noch herrschenden Forte ins Piano führt, verstärkt diesen Eindruck.
    Ein dreitaktiges Nachspiel, eingeleitet mit dem Moll-Subdominant-Akkord des Liedanfangs, klingt im Pianissimo aus.

    Hugo Wolf: „Mignon, Heiß mich nicht reden“

    „Sehr getragen“ soll dieses Lied interpretiert werden. Es weist zwar einen Viervierteltakt auf, dieser wird aber durch die rhythmische Diskrepanz zwischen Singstimme und Klaviersatz so überspielt, dass er klanglich nicht zur Geltung kommen kann. Die Komposition ist dreiteilig angelegt: Erste und dritte Strophe sind in ihrer Faktur einander ähnlich, die zweite weicht deutlich davon ab. Und eben dieser Rahmen aus Bekenntnissen des lyrischen Ichs, in den die gleichsam metaphorisch objektivierte zweite Strophe eingebettet ist, ist geprägt von jener rhythmischen Spannung zwischen einem daktylisch strukturierten Klaviersatz und einer Melodik, die sich synkopisch entfaltet. Man möchte diesen Eigensinn der melodischen Linie der Singstimme, wie er sich auf der Grundlage des Klaviersatzes darstellt, als musikalischen Ausdruck der Wesensart von Mignon verstehen, die sich in den Worten verdichtet: „Ein Schwur drückt mir die Lippen zu“.

    Kommt dieser „Schwur“, der diese geheimnisvolle Gestalt „Mignon“ gleichsam auf sich selbst zurückwirft und ihr die Lippen verschließt, auch in dem forte artikulierten und lang gehaltenen Akkord in der Moll-Subdominante zum Ausdruck, der ebenfalls so etwas wie einen Rahmen des Liedes bildet, weil er am Anfang von Vor- und Nachspiel aufklingt? Man möchte das meinen. Ansonsten entfaltet der Klaviersatz vor allem in der zweiten Strophe eine stark ausgeprägte eigene Expressivität, wohingegen er sich in der ersten und der dritten darauf beschränkt, in Gestalt von Akkordfolgen dem Lied seinen daktylischen Rhythmus zu verleihen und der melodischen Linie der Singstimme die vielen harmonischen Rückungen aufzunötigen, die sie durchlaufen muss, um zum Ausdruck zu bringen, was das lyrische Ich zu sagen hat.


    Das freut mich!

    Dieser Thread hier entwickelt sich prächtig. Das Konzept, das ihm zugrunde liegt, war eine gute Idee von astewes.

    Viele längere Zeit in ergiebigem Dialog über ein bestimmtes musikalisches Werk, - das hat es schon lange nicht mehr in diesem Forum gegeben.

    Franz Schubert: „Heiß mich nicht reden“ (III)

    Den Worten „Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ kommt eine Schlüsselfunktion zu, das Wesen Mignons und ihres Verhaltens betreffend. Schubert greift diesen Sachverhalt mit einer Melodik auf, die sich nach einem einleitenden, auf eine Repetition folgenden Terzfall in Gestalt von zwei dreischrittigen, bei zweiten Mal eine Quarte tiefer ansetzenden und in tiefe Lage führenden Fallbewegungen entfaltet, die bei „zu“ mit einem ausdrucksstarken Sextsprung in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage übergeht. Und er lässt diese Melodik, darin abweichend vom bisherigen Klaviersatz, mit einer markanten Folge von Diskant und Bass übergreifenden Lang gehaltenen sechsstimmigen Viertelakkorden begleiten. Die Harmonik vollzieht dabei, nach einer einleitenden Rückung von e-Moll nach G-Dur, eine Rückung von C-Dur über C7-Dur nach F-Dur bei der das Wort „zu“ akzentuierenden Dehnung am Ende.

    Bei den Worten des Schlussverses geht die melodische zur Entfaltung in deklamatorischen Tonrepetitionen über. Darin reflektiert sie den konstatierenden Gestus der diesen Worten innewohnt, Auf „Nur ein Gott“ beschreibt sie einen Quartsprung in hoher Lage, der nach einem Sekundfall bei „Gott“ in eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „E“ übergeht. Hier lässt das Klavier, und das ist bemerkenswert, sforzato einen lang gehaltenen Akkord in verminderter A-Harmonik erklingen. Es handelt sich um einen Neapolitaner, in der musikalischen Tradition Ausdruck von Leid und Schmerz.
    Warum hat Schubert diese Harmonisierung des Wortes „Gott“ vorgenommen? Möglicherweise wollte er damit andeuten, dass für Mignon, so wie er diese Aussage verstanden hat, dieser „Gott“ für sie nicht die Erlösung bringen wird. Hoffnungslosigkeit also. Und das bringt ja auch die Melodik zum Ausdruck, die nach einer dreimaligen Tonrepetition in mittlerer Lage mit einem Quintsprung bei dem Wort „aufzuschließen“ in einen lang gedehnten silbengetreuen Fall in Sekundschritten und eine Terz zur Ebene eines „Gis“ in tiefer Lage übergeht. Die Harmonik vollzieht hier nach einem vorangehenden e-Moll und A-Dur eine Rückung von H-Dur zur Dominantseptversion der Tonart „Cis“. Es ist eine Fortsetzung der Liedmusik zu erwarten.

    Und die ereignet sich auch. Schubert lässt die Worte der beiden letzten Verse noch einmal deklamieren, ohne das einleitende „allein“ allerdings. Nun nimmt die melodische Linie einen energisch konstatierenden Gestus an. Partiell in Tonrepetitionen beschreibt sie, begleitet wieder von lang gehaltenen Akkorden und in F-Dur mit Zwischenrückung in verminderter H-Harmonik, einen Anstieg zu einer Dehnung auf „zu“, vollzieht danach bei „nur ein Gott“ eine Fall- und Anstiegsbewegung in hoher Lage, bei der die Worte „ein Gott“ noch wiederholt werden und das Klavier mit seinen lang gehaltenen H-Dur-Akkorden zum Fortissimo übergeht. Und nach einem regelrechten Sturz abwärts über das große Intervall einer Septe bei „vermag“ beschreibt sie einen Anstieg nun sogar über eine Oktave, um von der Ebene eines „G“ in hoher Lage bei dem Wort „aufzuschließen“ nun wieder in einen lang gestreckten und in e-Moll gebetteten Fall überzugehen, der bei dem Wortteil „schließen“ eine lang dehnende melismatische Figur aus vermindertem Sekundfall, Sechzehntelvorschlag und dann Wiederanstieg über einen Sechzehntel- und einen Sekundschritt zur Ebene eines „E“ in hoher Lage aufweist. Das e-Moll geht dabei in ein die Melodik beschließendes E-Dur über.

    Dieses hochexpressive Ende der Liedmusik lässt in der Struktur der Melodik und ihrer Harmonisierung vernehmen und erkennen, warum Schubert diese Wiederholung vorgenommen hat. Die in eine durch den Schlussakkord des Nachspiels unterstrichene E-Dur-Harmonisierung der nun in hoher Lage sich ereignende und mit einem Melisma versehene Fallbewegung auf dem Wort „aufzuschließen“ will sagen:
    Mignon hat, so wie Schubert sie verstanden hat, doch noch eine Hoffnung auf Erlösung durch einen Gott. Wenigstens einen Funken davon.

    Franz Schubert: „Heiß mich nicht reden“ (II)

    Die zweite Strophe hebt sich von der ersten dadurch ab, dass das lyrische Ich nun nicht von sich selbst spricht, sondern sich in sprachlich-konstatierendem Gestus in Naturbildern ergeht. Das bringt einen markanten Wandel in der Liedsprache mit sich. Sie ist nun bis auf eine einmalige kleine Rückung ausschließlich im Tongeschlecht Dur harmonisiert (C-Dur, F-Dur, G-Dur), und die Melodik entfaltet sich auf den Worten der beiden Verspaare in strukturell ähnlicher Weise. Sie steigt in drei Anläufen von Sekundschritten bis zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage auf und senkt sich danach, wiederum in drei Phasen in tiefe Lage ab, wobei sie dann allerdings beim letzten Vers am Ende eine neue Gestalt annimmt. Das Bild von den „tief verborgnen Quellen“ erfordert es. Während die melodische Linie bei den Worten „und sie muss sich erhellen“ eine einfache zweimalige Fallbewegung in Terzen und Sekunden beschreibt, senkt sich der Fall nun in drei Quart- und Terzschritten bis zur Ebene eines „C“ in tiefer Lage ab, um danach sofort einen ausdrucksstarken Oktavsprung zu vollziehen, dem bei Quellen“ ein legato-kleinschrittig eingeleiteter und dann gedehnter Terzfall zur Ebene eines „E“ in tiefer Lage nachfolgt.

    Die Melodik ist in der zweiten Strophe, darin den Gehalt und sie sprachliche Gestalt des lyrischen Textes reflektierend, in ihrer Struktur deskriptiv angelegt, und darin so weit gehend, dass sie den semantischen Gehalt der Worte „tief verborgene Quelle“ strukturell abbildet. Auch im Klaviersatz unterscheidet sich die zweite Strophe von der ersten. Während dort Im Diskant Akkorde im Wert eines Viertels dominieren, kombiniert mit Oktavfolgen im Bass, was wesentlich zur Anmutung von Ruhe beiträgt, die die Melodik dort aufweist, folgt das Klavier nun der lebhafteren Bewegung der melodischen Linie mit Achtel- und sogar partiell Sechzehntel-Akkorden in Diskant und Bass. Und lässt im eintaktigen Zwischenspiel vor der Melodik auf dem zweiten Verspaar sogar eine lebhafte Sechzehntelfigur erklingen. Die lyrischen Bilder der zweiten Strophe weisen viel affektiv positive innere Bewegtheit auf, und Schuberts Liedmusik reflektiert das in der Struktur ihrer Melodik, deren Dur-Harmonisierung und im Klaviersatz.

    Aber das auf den Ruhe ausstrahlenden und in einer typischen Kadenzrückung Rückung von G7- nach C-Dur harmonisierten Terzfall in tiefer Lage auf dem Wort „Quellen“ folgende Nach- und Zwischenspiel deutet einen Wandel im Geist der nachfolgenden Liedmusik an. Moll-Harmonik tritt wieder in sie. Zwei Figuren aus erst ansteigenden, dann fallenden Sechzehnteln gebildet, folgen aufeinander, wobei die Harmonik eine Rückung von verminderter A-Tonalität über G-Dur und a-Moll nach H-Dur vollzieht, letzteres als Überleitung zur in der Tonika E-Dur einsetzenden Melodik auf den Worten der dritten Strophe.

    Auf den Worten „Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh“ beschreibt die melodische Linie, darin vom Klavier pianissimo mit dreistimmigen Akkorden im Diskant begleitet, ein Auf und Ab in mittlerer Lage, wobei die für das lyrische Ich Mignon bedeutsamen Worte „sucht“ und „Ruh“ eine Hervorhebung durch einen gedehnten Sekundfall erfahren, obwohl sie doch einsilbig sind. Die um das Wort „Klagen“ kreisende Aussage des nachfolgenden Verses bringt eben deshalb gesteigerte Expressivität in die Melodik. Sie greift nun mit Legato-Sprungbewegungen bis zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage aus, wobei sich bei den Worten „die Brust“ erstmals wieder das Tongeschlecht Moll in die Harmonisierung drängt. Das aber ist nur die Vorstufe für den Einbruch hochgradiger Chromatik in sie, wie sie sich bei den Worten „Klagen sich ergießen“ ereignet. Die melodische Linie beschreibt auf dem Wort „Klagen“ einen gedehnten verminderten Sekundfall in hoher Lage, der in Dissonanz gebettet ist. Bei „sich“ ereignet sich ein verminderter Quintfall in cis-Moll-Harmonik, und auf dem Wort „ergießen“ liegt ein auf der Ebene eines „C“ in mittlerer Lage ansetzender silbengetreuer Sekundfall, bei dem die Harmonik eine Rückung von cis-Moll nach fis-Moll vollzieht. Die Akkorde, die diese Bewegung im Diskant mitvollziehen, erfahren im Bass eine Akzentuierung durch einen Anstieg von Achteln und Sechzehnteln.

    Der affektive Gehalt dieser Äußerung Mignons erfährt auf diese Weise starken Ausdruck. Aber weil sie aus deren tiefem seelischen Leid kommen, belässt es Schubert nicht dabei. Er greift zum Mittel der Wiederholung in Gestalt einer Melodik, die eine kleinschrittige, mittels deklamatorischer Legato-Sechzehntel-Figuren erfolgende und nun im Tongeschlecht Dur (H- und E-Dur) harmonisierte Fallbewegung aus der tonalen Ebene eines „Fis“ in hoher Lage bis zu der eines „Gis“ in tiefer sich erstreckt. Das Wort „ergießen“ erfährt dabei eine Akzentuierung in Gestalt eines gedehnten verminderten Sekundfalls. Auch hier setzt Schubert wieder eine gegenläufige Achtel-Sechzehntel-Figur als die Melodik in ihrem Ausdruck akzentuierendes kompositorisches Mittel ein. Auf beeindruckende Weise vernimmt man, wie tief er sich in die Seele von Mignon eingefühlt hat.

    Franz Schubert: „Heiß mich nicht reden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Von Schuberts Umsetzung dieser Mignon-Verse in Liedmusik liegen zwei Fassungen vor. Die erste entstand im April 1821 (D 726), die zweite im Januar 1826 als Teil der „Gesänge aus Wilhelm Meister op. 62“. Auf die Unterschiede soll hier wie in allen Fällen nicht eingegangen werden, weil es ja nicht um das Wesen Schubertscher Liedkomposition geht, sondern um das der literarischen Figur „Mignon“. Die nachfolgende Besprechung bezieht sich auf die zweite Fassung. So viel ist allerdings zu dieser grundsätzlich anzumerken: Ihr liegt ein völlig neues liedkompositorisches Konzept zugrunde. Nur der Grundrhythmus bleibt erhalten, aber selbst dieser ist hier deutlich fließender angelegt. Das zeigt, wie intensiv Schubert sich mit dieser literarischen Figur „Mignon“ auseinandergesetzt hat, wie wichtig für ihn das Anliegen war, ihre Worte und ihr Wesen auf adäquate Weise liedmusikalisch zu erfassen und zum Ausdruck zu bringen.

    „Langsam“ soll die Liedmusik vorgetragen werden, die in e-Moll, bzw. der Dur-Parallele G-Dur als Grundtonart steht. Im viertaktigen Vorspiel erklingt die als Schlüsselfigur fungierende Melodik der Anfangsworte „Heiß mich nicht reden“ in akkordischer Gestalt, um in eine bogenförmige Legato-Fallbewegung überzugehen, der sich eine Folge von drei Akkorden anschließt bei der die Harmonik eine kurze Zwischenrückung nach a-Moll vollzieht. Die melodische Figur auf den Worten „Heiß mich nicht reden“, die mit „heiß mich schweigen“ eine Einheit bildet, ist in ihrer Schlichtheit, ja gerade durch sie, von hoher Eindrücklichkeit. Nach einer Tonrepetition geht sie in einen dreischrittigen Sekundfall über, wobei die Harmonik eine Rückung von e-Moll zur Dur-Dominante H-Dur vollzieht. In dieser Harmonisierung verbleibt die Melodik auch bei dem Legato Sekundanstieg auf dem Wort „heiß“, der diesem eine leichte Akzentuierung verschafft. Auf dem Wort „schweigen“ liegt dann ein einfacher Sekundfall, bei dem die Harmonik wieder zur Tonika e-Moll zurückkehrt.

    Das alles spielt sich in ruhigen deklamatorischen Schritten im Wert einer Viertelnote im Wechsel mit solchen im Wert eines Achtels im kleinen Ambitus einer Quarte in mittlerer Lage ab, vom Klavier im Diskant mittels dreistimmiger Akkorde mitvollzogen. Es weist, darin Schubertschen Geist atmend, eine Anmutung von volksliedhafter Schlichtheit auf und vermag als Ausdruck des menschlichen Wesens der dem einfachen Volk zugehörigen Mignon aufgenommen und verstanden werden. Diesen deklamatorischen Gestus behält die Melodik die ganze erste Strophe über bei, wobei sich am Ende, bedingt durch sie lyrische Aussage, ein Ausbruch in gesteigerte Expressivität ereignet. Der der Bewegung der melodischen Linie innewohnende Pavanen-Rhythmus bleibt dabei aber unverändert erhalten. Schubert verwendet ihn häufig, und das ist hier vielsagend, als Ausdruck unveränderbarer Schicksalhaftigkeit des Geschehens.

    Bei den Worten „Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“ beschreibt die melodische Linie eine Bewegung, die wie eine Fortsetzung derjenigen anmutet, in der sie auf den Worten des ersten Verses eingesetzt hat, nur dass sie sich nun in ihrer anfänglichen Tonrepetition auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene ereignet und in ihrer Harmonisierung bei dem leicht gedehnten Sekundfall auf der zweiten und dritten Silbe von „Geheimnis“ eine Rückung nach Moll aufweist. Aber am Ende kehrt sie wieder zur ihrem tonalen Ausgangspunkt des „G“ in tiefer Lage zurück. Nun allerdings in G-Dur gebettet und von einem lang gehaltenen fünfstimmigen G-Dur-Akkord begleitet. Das Wort „Pflicht“ fordert in seinem semantischen und seinem affektiven Gehalt diesen Übergang zum Tongeschlecht Dur.

    Die Steigerung in melodische Expressivität ereignet sich auf den Worten „das Schicksal will es nicht“. Zuvor hat sich die melodische Linie in der gleichen Weise entfaltet wie auf den Worten des ersten Verses, was wiederum den Eindruck volksliedhafter Strophenhaftigkeit erzeugt. Dass Schubert am Ende der Strophe vom Gestus volksliedhafter Entfaltung der Melodik abweicht, ist der lyrischen Aussage geschuldet, denn in ihr artikuliert sich das Selbstverständnis Mignons als in verhängnisvolle Schicksalhaftigkeit geworfene Existenz, was ihm von seiner Lektüre des Goethe-Romans natürlich sehr wohl bewusst war. Und so lässt er denn die melodische Linie einen anfangs gedehnten dreischrittigen Legato-Anstieg bis zur tonalen Ebene eines „G“ in hoher Lage beschreiben, danach in einen Fall in Sekundschritten zur Ebene eines „Dis“ übergehen, auf dass sich von dort über einen melismatischen Sechzehntelvorschlag und einen verminderten Sekundschritt wieder einen zweischrittigen Sekundanstieg vollzieht. Das alles geschieht, in kleinen Achtel- und Sechzehntelschritten, ist auf komplexe Weise in einer Rückung von G-Dur über a-Moll und H-Dur nach e-Moll harmonisiert und wird vom Klavier, wie üblich in der ersten Strophe, mit einer Folge von Viertelakkorden im Diskant begleitet.

    Fischer geht in seinem Mahler-Buch - das Du ja bestimmt kennst - detailliert darauf ein, warum Alma seine Haltung zum Glauben verzerrt hat. Der Zeitpunkt ihrer Äußerungen spielt dabei eine Rolle.

    Ja, Ja, - kenne ich. Und ich weiß auch, warum man diese Äußerung von Alma Mahler kritisch sehen muss. Sie stellt nämlich eine ärgerliche Reaktion auf den Kommentar von Ludwig Karpath über Mahlers Taufe im Februar 1897 dar.

    Aber die Quellenlage ist ja komplexer. Deshalb die zitierte Frage von Constantin Floros, der diese Quellenlage voll und ganz überblickt. Er kommt nach seiner gründlichen Beschäftigung mit diesem Fragenkomplex zu der Feststellung:

    "Mahler war - soviel lässt sich tatsächlich nachweisen - von der christlichen (speziell katholischen) Dogmatik, Mystik und Eschatologie fasziniert. Sie nehmen in seiner Glaubenswelt einen hervorragenden Platz ein."


    Aber lassen wir´s damit gut sein. Hat ja nur indirekt etwas mit dem im Augenblick hier zur Diskussion stehenden Thema zu tun.

    Es wird ohnehin Zeit, dass ich den Rückzug mache. Habe hier ja eigentlich nichts zu suchen, gehöre nicht zu dem erlesenen Kreis der Mitglieder dieses Projekts.

    Jens Malte Fischer schreibt zu dieser Thematik, dass Mahler nicht christusgläubig im Sinne des Christentums war, dass er sich innerlich zum Christentum distanziert verhielt ...

    In der Mahler-Literatur ist das nicht die einhellige Meinung.

    Immerhin gibt es die Aussage von Alma Mahler: "Er (Mahler) war christusgläubig und hatte sich keineswegs nur aus Opportunismus taufen lassen". In ihren "Erinnerungen" berichtet sie, dass Mahler "mit Inbrunst" ihre freigeistige, von Schopenhauer und Nietzsche geprägte Gesinnung bekämpfte und dass sie sich gewundert habe, "daß ein Jude einer Christin gegenüber sich heftig für Christus ereiferte".


    Auch Natalie Bauer-Lechner vertrat die Auffassung, dass er ein gläubiger Christ war. Sie berichtet von einem mehrstündigen Gespräch Mahlers mit Lipiner über Christus.

    Und Constantin Floros, der Experte in Sachen "geistige Welt Mahlers", stellt dazu die Frage: "Was berechtigt uns dazu, daran zu zweifeln?"


    Ich sehe es so: Mahler war im Grunde ein gläubiger Mensch, der sich eine ganz eigene Form von Pantheismus zusammengebaut hatte, in der auch der christliche Glaube Platz fand. Das natürlich nicht in seinem ganzen theologischen Potential, sondern nur in einer schlichten Christus-Gläubigkeit.

    Anders wäre - aus meiner Sicht - die Komposition des Schlusses von Lied fünf der "Kindertotenlieder" auch gar nicht möglich gewesen.

    ...scheint das Ankerwort des letzten Verses "ruhen" zu sein, in der Verbindung mit der Mutter Haus die glückliche, auch musikalische Wendung ins Tröstliche, Geborgenheit.

    So ist es. Dieses Wort erfährt, zusammen mit "wie in der Mutter Haus" eine mehrfache Wiederholung, und dies entweder in Gestalt einer melodisch bogenhaften Aufgipfelung oder einer langen Dehnung in tiefer Lage:

    sie ruh´n, sie ruh´n als wie in der Mutter, der Mutter Haus,
    von keinem Sturm (R.: Sturme) erschrecket,
    sie ruh´n, sie ruh´n wie in der Mutter Haus, wie in der Mutter Haus.

    Das komparative "als wie", das beide Worte, bzw. Wortgruppen miteinander verbindet, macht deutlich, dass dieses "Ruhen" eines unter Gottes Hand ist, das in seinem Beschützt- und Behütetsein dem in Mutters Haus gleicht. (Dies zu der von Dr. Pingel aufgeworfenen Frage)


    Für Mahler ist das die zentrale Aussage, auf die der ganze Liederzyklus hinausläuft, auf die er kompositorisch-intentional ausgerichtet ist. Deshalb der ungewöhnlich große Raum, den sie im letzten Lied in Gestalt von mehrfachen Variationen des lyrischen Textes einnimmt.

    Franz Schubert: „Mignon, Heiß mich nicht reden“ , op. 62, Nr. 2 (D 877)

    Heiß mich nicht reden, heiß mich schweigen,
    Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht;
    Ich möchte dir mein ganzes Innre zeigen,
    Allein das Schicksal will es nicht.

    Zur rechten Zeit vertreibt der Sonne Lauf
    Die finstre Nacht, und sie muß sich erhellen;
    Der harte Fels schließt seinen Busen auf,
    Mißgönnt der Erde nicht die tiefverborgnen Quellen.

    Ein jeder sucht im Arm des Freundes Ruh,
    Dort kann die Brust in Klagen sich ergießen;
    Allein ein Schwur drückt mir die Lippen zu
    Und nur ein Gott vermag sie aufzuschließen.

    Diese Mignon-Verse beschließen das sechzehnte Kapitel des fünften Buchs des Romans. Dort heißt es vorangehend:
    „Und so lassen wird unsern Freund unter tausend Gedanken und Empfindungen seine Reise antreten und zeichnen hier noch zum Schlusse ein Gedicht auf, das Mignon mit großem Ausdruck einigemal rezitiert hatte, und das wir früher mitzuteilen durch den Drang so mancher sonderbaren Ereignisse verhindert wurden.“

    „Mit großem Ausdruck“ hat Mignon diese Verse mehrmals rezitiert, also nicht gesungen. Nur auf diese Weise, mittels gesprochenem oder gesungenem lyrischen Text, ist sie in der Lage, sich über ihre existenzielle und seelische Befindlichkeit mitzuteilen. Und das muss eben deshalb zwangsläufig dunkel bleiben und über die Andeutung nicht hinauskommen. Wilhelm Meister bemerkt einmal: „Wenn sie den Mund zum Singen auftat, wenn sie die Zither rührte, schein sie sich des einzigen Organs zu bedienen, wodurch sie ihr Innerstes aufschließen und mitteilen konnte“.
    Wenn sie in diesem Zusammenhang in diesem lyrischen Text den Menschen in ihrer Lebenswelt, wozu auch Meister gehört, auffordert „heiß mich schweigen, / Denn mein Geheimnis ist mir Pflicht“ so stellt dieses Wort „Pflicht“ eine Verinnerlichung des Geheimnisses ihrer Herkunft dar, der Tatsache nämlich, dass ihr die Zirkusartisten den Tod androhten für den Fall, dass sie über ihre Entführung sprechen würde. Sie ist zur Sprachlosigkeit verdammt, was sie hier auf nüchtern konstatierende Weise in dem Bild „ein Schwur drückt mir die Lippen zu“ zum Ausdruck bringt.

    Aber in diesen Versen hat sie noch mehr zu sagen. In der zweiten Strophe ergeht sie sich in metaphorischen Imaginationen, die wie die Hoffnung auf Erlösung aus ihrer als „Schicksal“ empfundenen existenziellen Gefangenschaft anmuten. Die Bilder dazu nimmt sie aus der Natur, weil dort eine dem menschlichen Zugriff entzogene Gesetzlichkeit herrscht: Die Sonne erhellt jeden Tag aufs Neue die finstere Nach und selbst der harte Fels missgönnt nicht den tief verborgenen Quellen das Hervortreten. Gerade dieses Bild lässt in seiner metaphorischen Parallelität zu dem der „zugedrückten Lippen“ den Geist der Hoffnung erkennen, dem sich Mignon hier hingibt.

    Aber nur für einen Augenblick. Die Beschwörung der Freundschaft, die die Möglichkeit bietet, sich seiner Klagen zu entledigen, indem man sie ausspricht, wird in den letzten Versen auf geradezu schroffe, nämlich konstatierende Weise als Möglichkeit für Mignon ausgeschlossen. Nur ein überirdisches Wesen, ein „Gott“ nämlich, vermöchte ihre Lippen aufzuschließen. Für Mignon gibt es nur eine einzige Möglichkeit der Erlösung aus der Gefangenschaft ihrer leibhaftigen Existenz. Das ist der Tod.


    Die beruhigende Rückkehr zum Grundton "D" am Ende des letzten Liedes (...) finde ich in seiner Schönheit und tatsächlich tröstenden Wirkung außerordentlich verstörend. So etwas darzustellen ist wohl nur mit einem starken Glauben möglich. Gleichwohl liegt in der Musik ja kein Glauben - und es bleibt nur der Trost.

    Ganz aufgelöst bekomme ich diesen Widerspruch für mich nicht.

    Hierzu eine Anmerkung, Mahlers Musik in Lied fünf und insbesondere ihren Schluss betreffend:


    In vielerlei Hinsicht ist diese Komposition das Finale einer Folge von nur wenigen, eben mal gerade fünf Liedern, die sich zwar schon zuvor als Zyklus ausgewiesen hat, im letzten Lied sich aber als solcher definitiv konstituiert, - und das als einer, der den anderen großen Zyklen der Liedgeschichte würdig zur Seite treten kann. Seine Finale-Funktion zeigt sich unter rein formalem Aspekt schon darin, dass dieses fünfte Lied die Tonart des ersten aufgreift, das d-Moll nämlich. Aber das ist ja doch nur die Oberfläche dessen, was sich hier ereignet: Es greift auch die Thematik des ersten Liedes in unmittelbarer Weise auf, die sich in der erschreckend lapidaren und darin elementare existenzielle Hilflosigkeit ausdrückenden Feststellung lyrisch artikuliert: „Das Unglück geschah nur mir allein, / Die Sonne, sie scheinet allgemein.“

    Diese Rat- und Hilflosigkeit des lyrischen Ichs, wie sie das erste Lied mit dieser in ihrem konstatierenden Gestus tatsächlich erschreckenden und mit einer in d-Moll schwer fallenden Liedmusik zum Ausdruck bringt, wird in den nachfolgenden Liedern zu bewältigen versucht, wobei der Kindestod nur eine behutsame, teilweise metaphorisch eingekleidete Erwähnung erfährt und das lyrische Ich sich in Erlösung verheißende transzendente Visionen flüchtet, ohne dass sich diese erlösende Befreiung vom Schmerz des Verlusts der Kinder wirklich einstellt. Jetzt aber, in diesem liedkompositorischen Finale, wird das Leid auf direkte, harte, geradezu brutale Weise bei seinem Namen genannt: „Ich sorgte, sie stürben morgen, das ist nun nicht zu besorgen.“ Und die Liedmusik bringt das mit einer klanglichen Schroffheit und orchestral geradezu lärmenden Direktheit zum Ausdruck, die der Hörer zwar als schmerzlichen Kontrast zum vorangehenden Lied erfährt, sie aber gerade deshalb als in einem tiefen Sinne wahr, weil den inneren Zustand des lyrischen Ichs schonungslos reflektierend empfindet.

    Aber seinen eigentlichen Kern als Finale, eigentlich im Hinblick auf die musikalisch-künstlerische Aussage des Zyklus in seiner Ganzheit, offenbart dieses Lied erst in seinem zentralen liedmusikalischen Ereignis: Es ist der Schluss, in dem die Singstimme nun zum fünften Mal mit den Worten „In diesem Wetter…“ einsetzt. Dieses Mal aber tut sie es in einem fundamental anderen, aus Dur-Harmonik hervorgehenden klanglichen Umfeld und in der Weiterführung der melodischen Linie mit einer ganz und gar gewandelten, nämlich in den Schmelz der Streicher gebetteten orchestralen Begleitung. Die dreifachen Anschläge des Glockenspiels deuteten ja schon an, was sich nun ereignen wird. Und auch darin besteht ein dezenter Bezug zum ersten Lied. Denn im Zwischenspiel, bevor die Singstimme dort zur Deklamation der Worte „Du musst nicht die Nacht in dir verschränken“ übergeht, meldet sich das Glockenspiel drei Mal. Und es ist im kompositorischen Schaffen von Mahler grundsätzlich ein klangliches Sich-zu-Wort-Melden der Transzendenz.

    Und das ist es ja auch, was den Kern dieses musikalischen Ereignisses ausmacht: Das Hereintreten der „anderen Welt“ in die reale Welt des abgrundtiefen Schmerzes und hoffnungslosen Leidens, wie sie der Verlust der Kinder mit sich gebracht haben. Das Neue an diesem Ereignis, und das, was es zu einer Antwort auf die im Zyklus aufgeworfenen existenziellen Grundfragen werden lässt, besteht in der Art und Weise, wie es sich ereignet. War die klangliche Verzückung, in der das vorangehende vierte Lied sich am Ende steigert, letzten Endes das Ergebnis eines autosuggestiven Sich-Hineinsteigerns in das visionäre Bild, das sich in den Worten „Der Tag ist schön auf jenen Höh´n“ lyrisch sprachlich verdichtet, die Folge eines aus Verzweiflung und Hilflosigkeit hervorgehenden subjektiven Willensakts also, so mutet das, was sich mit dem letzten deklamatorischen Auftritt der Singstimme ab Takt 99 ereignet und von Mahler mit den Anweisungen „Leise bis zum Schluß“ und „Langsam wie ein Wiegenlied“ versehen ist, an wie ein Geschenk, - wie ein dem leidenden Menschen unverhofft und unerwartet zuteilwerdender Akt der Gnade.

    Hört man genau auf die Musik dieses Liedschlusses, einschließlich des Nachspiels, dann fällt auf:

    Darin finden sich Anklänge an das Lied „Urlicht“, dem vierten Satz der Zweiten Symphonie also, und an das Finale der Dritten Symphonie. Und sie erweisen sich als höchst aufschlussreich, die musikalische Aussage dieses letzten Liedes des Zyklus betreffend. Die melodische Linie auf den Worten „In diesem Wetter, in diesem Saus“ (Takte 99-104) ähnelt auffällig der auf den Worten „Da kam ich auf einen breiten Weg“ in „Urlicht“ (Takte 38-41). Und überdies ähneln sich auch die zugehörigen melodischen Figuren der ersten, bzw. der Solo-Violine. Und im Nachspiel des Liedes stimmen die Celli in Takt 128f. eine mit den Anweisungen „senza sord. unis.“, und „hervortretend“ versehene melodische Figur an, die an die Takte eins bis fünf des Finales der Dritten Symphonie erinnert.

    Zu diesem Finale bemerkte Mahler in einem Brief an Anna von Mildenburg (1.7.1896): „Ungefähr könnte ich den Satz auch nennen >Was mir Gott erzählt!<. Und zwar eben in dem Sinne, als ja Gott nur als >die Liebe< gefaßt werden kann“. Und nimmt man den von Mahler kompositorisch ganz gewiss nicht zufällig hergestellten Bezug zu „Urlicht“ hinzu, dann kann man sich ganz sicher sein, wie Mahler dieses letzte Lied seines Zyklus „Kindertotenlieder“ verstanden wissen wollte:

    Als musikalische Evokation des Glaubens an die Überwindung des Todes durch die Liebe in der Gewissheit der Existenz eines die Liebe verkörpernden Gottes.

    Ist dieser Trost nicht doch etwas wie "Abfinden" und schließlich "Akzeptanz"?

    Man kann das so sehen und verstehen. Ich will mich nicht um dieses Wort streiten.

    Bitte aber zu bedenken:

    "Akzeptanz" stellt einen rational bewusst vorgenommenen, also aktiven Akt des Hinnehmens eines Sachverhalts und des Eiverstanden-Seins damit dar. Zu einem solchen Akt ist das lyrische Ich in den "Kindertotenliedern" nicht in der Lage. Das macht das so Bedrückende an diesen Gedichten Rückerts aus. Sie beinhalten ein permanentes und nicht Enden wollendes Sich-Herumquälen und nicht Fertigwerden mit der Kindestod-Erfahrung.


    Das, was sich in der letzten Strophe des fünften Liedes ereignet, ist eben gerade nicht ein bewusstes Hinnehmen und Einverstanden-Sein mit dem Sachverhalt, der Unabänderlichkeit der Gegebenheiten, Akzeptanz also. Vielmehr stellt es eine, wenn man es psychologisch sieht und entsprechend formuliert, emotionale Flucht aus der Unerträglichkeit der situativen Immanenz in die Tröstllichkeit der Transzendenz dar, ein Ruhe und Frieden Finden im Glauben.

    Mahler hat das auch so gesehen und verstanden, wie seine Musik sehr deutlich zu vernehmen und erkennen lässt.


    Die letzte Zeile („Das ist nun nicht zu besorgen“), so meine ich, sehr wohl.

    "Ich sorgte, sie stürben morgen,
    Das ist nun nicht zu besorgen".

    Ich lese das als Feststellung eines Sachverhalts. Die "Erkenntnis" - um deinen Begriff zu benutzen - der faktischen Gegebenheiten.

    Eine Akzeptanz derselben vermag ich nicht daraus herauszulesen. Eine solche findet in diesem Text auch keinen Ausdruck.

    Ich gehe mal interpretierend auf ihn ein:


    In diesem Wetter, in diesem Braus,
    nie hätt´ ich gesendet die Kinder hinaus;
    man hat sie getragen, getragen hinaus; (R.: ohne Wiederholung)
    ich durfte nichts dazu sagen. (R.: dazu nichts)

    In diesem Wetter, in diesem Saus,
    nie hätt´ ich gelassen die Kinder hinaus,
    ich fürchtete, sie erkranken;
    das sind nun eitle Gedanken.

    In diesem Wetter, in diesem Graus,
    hätt´ ich gelassen die Kinder hinaus,
    ich sorgte, sie stürben morgen,
    das ist nun nicht zu besorgen.

    In diesem Wetter, in diesem Graus!
    Nie hätt´ ich gesendet die Kinder hinaus;
    man hat sie hinausgetragen,
    ich durfte nichts dazu sagen! (R.: dazu nichts)

    In diesem Wetter, in diesem Saus, in diesem Braus, (R.: ohne „in diesem Saus“)
    sie ruh´n, sie ruh´n als wie in der Mutter, der Mutter Haus,
    (R.: Sie ruhn als wie in der Mutter Haus)
    von keinem Sturm (R.: Sturme) erschrecket,
    von Gottes Hand bedecket, (hier endet das Rückert-Gedicht)
    sie ruh´n, sie ruh´n wie in der Mutter Haus, wie in der Mutter Haus.

    Das lyrische Ich zeigt sich in diesem Gedicht als in seinem Leid ganz und gar auf sich selbst zurückgeworfen. Es wird sich seiner elementaren Hilflosigkeit bewusst. Die Quelle ist die erschreckende Erfahrung, dass die Kinder in eine grausige Welt außerhalb des sie beschützenden Hauses hinausgetragen werden, ohne dass es etwas dagegen ausrichten kann. Es wird nicht gefragt. „Man hat sie hinausgetragen, / ich durfte nichts dazu sagen!“, so stellt es erbittert fest.

    Alle seine Besorgnis um das Leben der Kinder, alle Fürsorglichkeit, die es für sie aufbrachte, sie konnten den Tod nicht verhindern. Das permanente konjunktivische „Nie hätt´ich“ wirkt wie eine Beschwörung dieser Fürsorge, die sich nun als nutzlos erweist. Es ist das Ausgeliefert-Sein des Menschen an den elementaren, ihm gegenüber gleichgültigen Gang von Natur und Welt, das sich hier lyrischen Ausdruck verschafft.
    Mit diesem Ausgeliefert-Sein kann es sich nicht wirklich abfinden, kann es nicht akzeptieren. Aus den faktischen Gegebenheiten vermag es nur herauszufinden und sich zu trösten in dem Glauben, den es in der letzten Strophe zum Ausdruck bringt: „Sie ruh´n als wie in der Mutter, der Mutter Haus, von keinem Sturm erschrecket, von Gottes Hand bedecket“

    Mahler musste sich in seiner Weltsicht zutiefst davon angesprochen fühlen, - und angesprochen auch von dem in der letzten Strophe vorgefundenen lyrischen Entwurf einer Befreiung und Erlösung von diesem Geworfen-Sein des Menschen in einen übermächtigen Weltenlauf: Es ist das Gefühl und das Wissen eines Geborgen-Seins im Glauben.

    Für mich nicht; Schlafes Bruder hat sie ihm - naturgemäß ohne vorherige einvernehmlich endende Verhandlungen - einfach genommen. Das ist die Erkenntnis und Akzeptanz des Geschehenen.

    Das ist zutreffend als Verständnis dieser Worte. Und es ist "Erkenntnis", "Akzeptanz" aber ist es nicht. Vom Kontext her, in dem sie stehen.

    Loewe, „Mignon, Nur wer die Sehnsucht kennt“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Man kann bei diesem Lied tatsächlich eine Gliederung in zwei Teile feststellen: Der erste umfasst die Verse eins bis sechs, der zweite die Verse sieben bis zwölf. Diese Teile heben sich vor allem durch die Struktur der melodischen Linie der Singstimme voneinander ab. Der Klaviersatz besteht hingegen durchgehend aus Viertel- und Achtelakkorden im Diskant, die allerdings durch die Elemente des Basses rhythmisch und melodisch unterschiedlich akzentuiert werden.
    Festzustellen ist aber: Die Tatsache der Zweiteilung des Liedes nimmt sich angesichts der Tatsache, dass das Gedicht als lyrische Aussage aus einem Zentrum heraus eine Einheit bildet, als eine bemerkenswerte Tatsache aus.

    Im ersten Teil setzt sich die Vokallinie aus kleinen Melodiezeilen zusammen, die genau den Versen entsprechen. Klanglich wirkt ihre Abfolge wie eine knappe Skizze der lyrischen Ausgangssituation: Es ist ein Auf und Ab von Achteln, das durch Achtelpausen oder melodische Längen (punktierte Viertel am Ende) voneinander abgehoben ist.
    Allerdings ist hier schon hörbar, dass die Bewegung der melodischen Linie die Aussage des lyrischen Textes reflektiert. So wird das Bild des „Abgetrennt-Seins von aller Freude“ in seinem emotionalen Gehalt dadurch musikalisch verstärkt, dass ein Sextsprung und ein verminderter Sextsprung aufeinanderfolgen. Und beim lyrischen Bild des Blicks zum Firmament kommt eine lange Dehnung in die bislang sich recht rasch bewegende melodische Linie. In kleinen Sekunden steigt die Vokallinie im Wert von halben Noten bei den Silben „Fir“, „ma“ und „ment“ nach oben und verharrt bei der letzten Silbe forte auf einem hohen „des“. Bei den Worten „nach jeder Seite“ beschreibt sie dann einen expressiven melodischen Bogen in hoher Lage.

    Mit Vers sieben kommt ein anderer Ton in das Lied. Er wird schon durch das dreitaktige Klaviervorspiel mit synkopierten Akkorden eingeleitet. Hatte sich im ersten Teil des Liedes die Vokallinie in chromatisch fallender Linie durch mehrere Tonarten bewegt, so vollzieht sich ihre Bewegung nun durchweg in c-Moll. Und vor allem: Sie ist nicht mehr fallend, sondern durch große Intervallsprünge in hohe Lagen und eingelagerte melodische Dehnungen geprägt.
    So ereignet sich schon vor dem Wort „liebt“ ein Oktavsprung hoch zu einem „g“, das in Form einer halben Note lange gehalten wird. Noch höher hinauf geht es – ganz der Semantik gemäß – bei dem Wort „Weite“. Auch hier wieder ein melodischer Bogen mit Dehnung. Auch bei den Versen 9 und 10 („Es schwindelt mir…“) schlägt sich die lyrische Aussage in der Faktur der melodischen Linie und des Klaviersatzes nieder. Auf einen verminderten Septfall folgt nach einer kurzen Pause ein hektisches Abfallen der melodischen Linie in tiefe Lage (Bei „es brennt mein Eingeweide“). Das Klavier begleitet mit nervösen Staccato-Akkorden im Diskant, und im Bass steigt bogenförmig eine melodische Linie auf und ab. Das wirkt klanglich überaus dramatisch.

    Bei den beiden letzten Versen weicht Loewe vom lyrischen Text ab. Das Wort „weiß“ wird zweimal wiederholt, jeweils in hoher Lage und in Form einer halben Note mit nachfolgender Pause, und auf diese Weise musikalisch stark hervorgehoben. Das letzte Wort „leide“ wird ebenfalls musikalisch deutlich akzentuiert: Auf der Silbe „lei-„ liegt ein hohes „c“ in Form einer ganzen Note, und danach erklingt in der Vokallinie ein ebenfalls lang gedehntes bogenförmiges Melisma.

    Es ist unüberhörbar und aus der Faktur ablesbar, dass der Schwerpunkt des Liedes auf dem zweiten Teil liegt. Er hebt sich vom ersten durch eine große Steigerung der musikalischen Expressivität im Sinne einer Dramatisierung ab. Der lyrische Text, der als Bekenntnis des lyrischen Ichs sozusagen aus einem subjektiv-emotionalen Zentrum kommt und insofern eine innere Einheit aufweist, lässt aber eigentlich eine solche kompositorische Zweiteilung nicht zu.

    Und nun noch eine These Christian Gerhahers, vielleicht als Anregung zur gegenstandsbezogenen Diskussion:


    "Dieser Zyklus ist in seiner Thematik einzigartig und, wie ich finde, auch problematisch. Was hier geschieht und womit man hier konfrontiert wird, ist in meinen Augen am Rande der Indiskretion. Ich habe vor allem mit dem letzten Lied In diesem Winter große Schwierigkeiten, obwohl, vielleicht aber auch weil es mit dem Wiegenlied einen so versöhnlichen Ausgang findet. Dieser Wintersturm, der zum Herzenssturm wird, ist zwar illustrativ gekonnt und eindrücklich dargestellt, geht in der Vereinnahmung des Bildes des trauernden Elternteils in meinen Augen aber zu weit.

    Die Reaktion der Eltern auf den Tod des Kindes wird hier in einer fast manipulativen Weise imaginiert, wie sie dem von Mahler sonst immer gewahrten Geschmack meines Erachtens nicht mehr ganz entspricht. "

    (a. a. O., S. 111)


    Meine Meinung dazu:

    Höchst bemerkenswert ist: Den Liedern geht, bei aller inneren Betroffenheit des Komponisten durch ihren Gegenstand, jegliche Sentimentalität und klangliche Rührseligkeit ab. Der Mahler-Biograph Jens Malte Fischer hat schon recht, wenn er feststellt:

    „Hier spricht und singt jemand, der gelernt hat, seine Gefühle aufs äußerste zu kontrollieren, nicht in Weinkrämpfen zusammenzubrechen.“ Und man möchte hinzufügen: Dieser hochgradig emotional kontrollierte liedkompositorische Umgang mit den von starker emotionaler Betroffenheit geprägten lyrischen Texten Rückerts macht die eigentliche musikalisch-künstlerische Größe dieses Werkes aus.


    Warum aber vermag es dann seine Hörer dennoch so zu erschüttern, dass einer seiner Interpreten, Christian Gerhaher nämlich, zu dem Bekenntnis gelangt:

    „Ich singe diesen Zyklus oft, weil er so großartig ist, aber ich habe immer ein schlechtes Gefühl dabei und denke, wenn sich Menschen im Publikum befinden, die ein Kind verloren haben, kann man ihnen das eigentlich nicht antun.“

    Die Antwort auf diese Frage dürfte in eben diesem liedkompositorischen Konzept Mahlers zu finden sein. Weil es, selbst im letzten Lied, nicht auf die schiere Evokation von Emotionen mit klanglichen Mitteln ausgerichtet ist, sondern die semantische Dimension von Rückerts lyrischen Texten mit einer polyphon strukturierten und darin gleichsam dem Geist der Sachlichkeit verpflichteten Liedmusik auslotet, gewinnt die künstlerisch-musikalische Auseinandersetzung mit der lyrischen Artikulation des Erlebnisses des Kindestods eine solch erschütternde Wirkung.

    Übrigens geht es mir ein bisschen wie Symbol : Seit wir eine Tochter haben, muss ich doch teilweise sehr schlucken bei diesen Texten und ihrer durch die Musik verstärkten Wirkung.


    Symbol: "Seit ich selbst Vater eines kleinen Sohnes bin, kann ich die "Kindertotenlieder" nicht mehr anhören"

    Hierzu Christian Gerhaher:

    "Ich singe diesen Zyklus oft, weil er so großartig ist, aber ich habe immer ein schlechtes Gefühl dabei und denke, wenn sich Menschen im Publikum befinden, die ein Kind verloren haben, kann man ihnen das eigentlich nicht antun (schließlich waren ja auch die um die 400 Gedichte Rückerts über den Tod seiner Kinder und das Leiden der Eltern daran nicht für die Öffentlichkeit gedacht).

    Ich empfinde es fast als eine Art Anmaßung, nicht nur vom Komponisten, sondern auch vom Interpreten, das auf der Bühne darzustellen. Es ist ein schwieriger, dennoch unverzichtbarer Zyklus."

    (Christian Gerhaher, "Halb Worte sind`s, halb Melodie", Gespräche mit Vera Baur. Henschel-Verlag 2015, S. 111/12).


    Hatte Alma Mahler vielleicht doch ein wenig recht mit ihrer Kritik an dieser Komposition Mahlers?

    Carl Loewe, „Mignon, Nur wer die Sehnsucht kennt“

    Loewe geht mit der für ihn typischen kompositorischen Grundhaltung und Intention an Goethes Gedicht heran. Auf einen Nenner gebracht, könnte man sagen: Er bringt eine musikalische Dramatisierung in das Lied, die – wie ich finde - dem Gedicht nicht ganz angemessen ist. Mit seiner Vertonung dieser Mignon-Verse der lyrischen Aussage nicht voll gerecht, weil er die Liedmusik nicht auf deren Zentrum ausrichtet. Alle lyrischen Bilder sind der zentralen Aussage des Leidens in und an der Sehnsucht zugeordnet. Ein Komponist, der sprachlich-lyrisch denkt, sollte dies eigentlich beachten und nicht der Versuchung erliegen, die besonders expressiven Bilder mit einem musikalischen Übergewicht zu versehen, weil andernfalls das Zentrum der lyrischen Aussage verloren geht. Genau dieses ist aber aus meiner Sicht bei der Vertonung durch Loewe geschehen.

    Loewes Lied wurde vermutlich 1818 komponiert. Veröffentlicht wurde es 1828. Es steht im Viervierteltakt, und die Vortragsanweisung lautet: „Nach und nach immer schneller“. Damit ist ein deutlicher Hinweis auf die für die kompositorische Aussage wichtige Steigerung der dynamischen Expressivität gegeben. Als zugrundeliegende Tonart wird c-Moll angegeben. Zu den spezifischen Eigenarten des Liedes gehört jedoch, dass sich diese Tonart erst im zweiten Teil herausbildet und verfestigt.


    Robert Schumann: „Mignon“. Nur wer die Sehnsucht kennt“

    Schumanns Vertonung findet sich als drittes Lied in seinem 1849 erschienen Opus 98a (Lieder und Gesänge aus Goethes Wilhelm Meister“). Es weist einen Dreiviertelakt auf, und die Vortragsanweisung lautet „Langsam, sehr gehalten“. Die zugrundeliegende Tonart ist g-Moll, der klangliche Reiz des Liedes besteht aber in einem ständigen Pendeln der Harmonik zwischen diesem g-Moll und der Paralleltonart B-Dur. Dieses wiederum ist wiederum gleichsam der harmonische Niederschlag eines phasenweise sich ereignenden Ausbruchs der melodischen Linie aus dem wehmütig-innigen Grundton, mit dem das Lied einsetzt, in eine expressivere Artikulation des seelischen Leidens. Damit einher geht auch der mehrfach erfolgende Wechsel in Tempo und Dynamik.

    Schumann hat, um alle seelischen Regungen Mignons, wie sie sich hier lyrisch artikulieren, mit musikalischen Mitteln erfassen und zum Ausdruck bringen zu können, in umfangreicher Weise zum Mittel der Textwiederholung gegriffen. Er fügt der melodischen Linie, die auf den beiden letzten Versen des Gedichts liegt (die ja selbst schon eine Wiederholung der Anfangsverse sind) und die wegen der sie prägenden Oktavsprünge und ihrer Dynamik recht expressiv wirkt, eine ausführliche Reprise an, die, ohne eine Wiederholung der vorangegangenen Melodik zu sein, dennoch Motive derselben aufgreift. Der lyrische Text, der dem zugrunde liegt, lautet: „Nur wer die Sehnsucht kennt, / allein und abgetrennt von aller Freude, / seh ich ans Firmament nach jeder Seite! / Ach, der mich liebt und kennt, ist in der Weite, / nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide.“

    Schumann hat, wie man von ihm selbst weiß, Goethes „Wilhelm Meister“ dreimal gelesen. Er ist – wie Hugo Wolf – ein literarisch ausgerichteter und inspirierter Liedkomponist, - allerdings einer, der – vorwiegend mit den Mitteln der Melodik – darauf aus ist, die literarische Gestalt „Mignon“, so wie sie ihm im erzählerischen Text begegnet in Musik zu setzen, und nicht – wie Hugo Wolf – sie mit allen zur Verfügung stehenden klanglichen Mitteln bis in den letzten Winkel ihrer Psyche auszuleuchten und zu präsentieren. Deshalb wiederholt er lyrischen Text, - eben um Mignon singend ihre seelischen Regungen zum Ausdruck bringen zu lassen. Das geschieht zumeist in melodisch ruhigen Schritten, wie am Liedanfang. Es finden sich in dieser Melodik aber auch expressive Sprung- und Fallbewegungen, dann vor allem, wenn das seelische Leid zum Ausdruck gebracht werden soll, wie etwa bei den Versen „Allein und abgetrennt von aller Freude“ oder – besonders eindrucksvoll – bei den Worten „es brennt mein Eingeweide“ mit dem verminderten Sextsprung und der sich über einem aufgelösten Neapolitaner sich ereignenden Fallbewegung über mehr als eine ganze Oktave.


    Hugo Wolf: „Mignon“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Das achttaktige Vorspiel führt unmittelbar in die hohe musikalische Expressivität des Liedes ein. Mit seinen chromatisch fallenden Oktaven und den Akkordrepetitionen im Bass nimmt es die melodische Linie vorweg, mit der die Singstimme einsetzt, und zugleich bringen diese aus zwei Achteln und einem punktierten Viertel bestehenden Akkordrepetitionen eine insistierend drängende Rhythmik in das Lied, die sich im weiteren Verlauf noch steigert und den Höhepunkt bei jenen Versen erreicht, bei denen die Bekenntnisse des lyrischen Ichs in einem Schmerzensschrei kulminieren: „Es schwindelt mir, es brennt / Mein Eingeweide“. Hier steigert sich auch die Dynamik des Liedes, die sich bis dahin im Piano-Bereich bewegte, ins Forte, und die Sprungbewegungen der Oktaven im hohen Diskant wirken zusammen mit den extremen harmonischen Rückungen wie außer Rand und Band geraten. Hier wirkt das Lied klanglich erschreckend.

    In „innig“ (Anweisung) klagendem Ton setzt die melodische Linie der Singstimme ein. Sie macht bei den ersten beiden Versen eine chromatische Fallbewegung in großen und kleinen Sekunden von einem „c“ in mittlerer Lage herunter zu einem tiefen „des“, und die Oktaven im Klavierdiskant begleiten sie dabei. Mit den beiden folgenden Versen setzt aber bereits die „immer gesteigerte“ (Anweisung) Expressivität ein. Die Worte „allein und“ werden noch silbengetreu auf einem tiefen „es“ deklamiert, wobei eine harmonische Rückung bereits einen Schub in Richtung größerer musikalischer Ausdrucksstärke mit sich bringt. Danach bewegt sich die melodische Linie in lebhafterer und mit einem Crescendo versehener Weise zu höheren Lagen hinauf und gipfelt bei dem Wort „Freude“ auf einem hohen „f“ auf, wobei sie aber auf der zweiten Silbe des Wortes einen ausdrucksstarken verminderten Septfall macht, der klanglich sagen will, dass es „Freude“ für dieses lyrische Ich nicht gibt.

    Bei dem Vers „Seh ich ans Firmament“ setzt die melodische Linie zwar in der gleichen Weise ein wie am Liedanfang, aber sie wirkt von den lebhaften Bewegungen der Oktaven im Klaviersatz wie bedrängt, bewegt sich ihrerseits also ebenfalls immer lebhafter und steigt in kleinen und großen Terzsprüngen wieder zu jenem hohen „f“ empor, das bei dem Wort „Seite“ in Gestalt einer Dehnung gehalten wird, - dieses Mal aber von einem Sekundfall gefolgt. Die Dynamik hat hier erstmals den Forte-Bereich erreicht, und in der viertaktigen Pause der Singstimme wirken die heftigen oktavischen Bewegungen im Klaviersatz zusammen mit den Akkordrepetitionen so, als würde in ihnen die Erregung der Singstimme fort- und langsam ausklingen. Jedenfalls fällt die Dynamik in einem Decrescendo bis ins Pianissimo zurück, und ein fermatierter Akkord bringt ein kurzes Innehalten in das Lied.

    Es ist aber wirklich nur ein kurzes. Denn mit dem einleitenden „Ach“ des nächsten Verses, das auf einem von Achtelpausen eingegrenzten tiefen „es“ deklamiert wird, setzt in der melodischen Linie der Singstimme die Steigerung der inneren Erregung schon wieder ein. In raschem chromatischem Anstieg schwingt sie sich zu einer neuerlichen Dehnung mit dem schon bekannten verminderten Terzfall zu einem hohen „f“ bei dem Wort „Weite“ auf. Danach kommt es zu einer geradezu exzessiven Steigerung der Expressivität bei den Versen, die vom inneren „Schwindel“ und vom „Brennen der Eingeweide“ sprechen. Die melodische Linie steigt zu noch höheren Lagen empor und vollzieht von dort aus extreme Fallbewegungen. Das gilt auch für die Bewegung der Oktaven im Klavierdiskant, und dies bei zur Heftigkeit gesteigerter Repetition der Achtel im Bass und geradezu schroff wirkenden harmonischen Modulationen. Auch hier setzt sich die Erregung der Melodik in einem – dieses Mal noch längeren, nämlich zwölftaktigen – Zwischenspiel fort, „allmählich ruhiger werdend“ und ins Piano ausklingend.

    Die Wiederholung der beiden Anfangsverse auf anfänglich identischer melodischer Linie wirkt wie ein Erschöpfung ausdrückender Nachklang. Bei den Worten „was ich leide“ fällt die Vokallinie aber nicht weiter ab, wie das am Liedanfang der Fall war, sondern sie macht einen Quartsprung mit nachfolgendem Sekundfall, der auf einem „a“ in mittlerer Lage endet. Das ist ein melodisch offenes Ende des Liedes, - genauso wie der im dreifachen Piano artikulierte Akkord auf der Dominante, der am Ende des Nachspiels aufklingt.
    Für das Leiden Mignons gibt es keine Erlösung.

    Hugo Wolf: „Mignon. Nur wer die Sehnsucht kennt“

    Im Unterschied zu Schubert, dessen Lied musikalisch die stille Ergebung Mignons in ihr Schicksal atmet, hat Hugo Wolf seine Komposition darauf angelegt, alle Winkel des seelischen Leidens dieses geheimnisvollen Wesens Mignon musikalisch auszuleuchten, und dies unter Einsatz kompositorischer Mittel, die in der bis in die klangliche Schroffheit gesteigerten Expressivität weit über das hinausgehen, wozu Schubert zu seiner Zeit kompositorisch in der Lage war. Typisch für seine Liedmusik ist die insistierend drängende Rhythmik, die sich im weiteren Verlauf noch steigert und den Höhepunkt bei jenen Versen erreicht, bei denen die Bekenntnisse des lyrischen Ichs in einem Schmerzensschrei kulminieren: „Es schwindelt mir, es brennt / Mein Eingeweide“.

    Die Dynamik des Liedes, die sich bis dahin im Piano-Bereich bewegte, steigert sich hier ins Forte, und die Sprungbewegungen der Oktaven im hohen Diskant wirken zusammen mit den extremen harmonischen Rückungen wie außer Rand und Band geraten. Das Lied wirkt an dieser Stelle klanglich regelrecht erschreckend. Auch bei den Versen, die vom inneren „Schwindel“ und vom „Brennen der Eingeweide“ sprechen, begegnet man dieser kompositorischen Radikalität, mit der Wolf musikalisch in die Psyche dieser literarischen Gestalt „Mignon“ vordringt.

    Die Radikalität der Komposition zeigt sich auch darin, dass sie keine Rücksicht nimmt auf die Orientierung an der Grundtonart, sondern in einer Art uferlosem chromatischen Schweifen permanent harmonische Modulationen durchläuft. Dieses Lied steht zwar in g-Moll, ein g-Moll-Dreiklang kommt aber nirgends in voll ausgebildeter Weise vor, er wird nur in Takt 14 kurz bestreift. In dieser harmonischen „Haltlosigkeit“ erinnert die Komposition ein wenig an die Tristan-Harmonik, und der Wolf-Biograph Kurt Honolka hat zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass die Singstimme in der Struktur ihrer Bewegung eine fast vollständige Zwölftonreihe durchmisst.