Beiträge von Helmut Hofmann

    „Herzeleid“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Langsam“ soll die Liedmusik vorgetragen werden. Ein Dreiachteltakt liegt ihr zugrunde, und als Tonart ist e-Moll, bzw. seine Dur-Parallele vorgegeben. Mit einem zweitaktigen Vorspiel setzt sie ein. Im Piano erklingt ein im Diskant einsetzender und sich im Bass fortsetzender Fall von Sechzehnteln über ein Terzintervall, und mit einem Sekundsprung geht der Oberton dieser Figur zur Fortsetzung derselben im zweiten Takt über, so dass sich über ein Terzintervall fallende Sechzehntel, die sich der Ansatz einer melodischen Linie vernehmen lässt, die sich als der Kern derjenigen erweist, die den Worten des ersten Verses zugrunde liegt. Zumal sich hier und dort die gleiche harmonische Rückung von e-Moll nach H-Dur ereignet.

    Diese Sechzehntel-Figur erweist sich als der substanzielle Kern des Klaviersatzes. In der ersten Strophe begleitet das Klavier die melodische Linie mit Varianten von ihm, ergänzt nun gegen Ende mit vierstimmigen Akkorden. In der zweiten Strophe erfährt er eine weitere Verdichtung durch in ihn eingelagerte bitonale Akkorde, und er reflektiert auf diese Weise die Potenzierung des affektiven Gehalts der lyrischen Bilder. Die Grundgestalt bleibt aber durchweg erhalten, und man kann sie in dem ihr innewohnenden Fall-Gestus als klangliches Äquivalent des das Gedicht einleitenden Bildes von den matt ihre Zweige hängen lassenden Weiden auffassen und verstehen.

    Auch die Melodik dieses Liedes weist - zumindest in der ersten Strophe - im Einklang mit dem Klaviersatz eine starke Prägung durch den mit Mollharmonik einhergehenden Fall auf. Bei den Worten „Die Weiden lassen matt die Zweige hangen“ setzt sie, piano und in e-Moll-Harmonik gebettet, auftaktig mit einer in eine Dehnung übergehenden Tonrepetition auf der Ebene eines „H“ in mittlerer Lage ein, beschreibt bei „Weiden“ einen Sekundschritt aufwärts, geht nach einem Quartfall in einen neuerlichen, sie auf die bereits bei „Weiden“ erreichte Ebene führenden Anstieg über, um sich dann aber bei „die Zweige hangen“, ganz der Semantik dieser Worte entsprechend, einem Sich-Absenken hin zur tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage hinzugeben. Der Sekundfall in tiefer Lage auf dem Wort „hangen“ ist in ein a-Moll gebettet, das ihm als harmonische Rückung vom vorangehenden H-Dur eine starke klangliche Hervorhebung verleiht.

    Beim zweiten Vers, den Worten „Und traurig ziehn die Wasser hin“ verharrt sie dann zwar in einem Auf und Ab von Sekundschritten auf der Ebene eines „G“ in mittlerer Lage, wobei die Worte „traurig“ und „Wasser“ eine leichte Akzentuierung durch einen gedehnten Sekundanstieg, bzw. -fall erfahren, und überdies ist diese wiederum in eine längere Pause mündende Melodiezeile ganz und gar im Tongeschlecht Dur (in der Subdominante C-Dur mit Rückung zur Tonika G-Dur) harmonisiert. Das hat aber seinen Grund im Gehalt des lyrischen Bildes, so wie Schumann diesen aufgefasst hat. Er weist ein geringeres affektives Potential auf, und zudem ist das Bild nicht von dem Verb „fallen“, sondern von „hinziehen“ geprägt. Deshalb das Verharren der melodischen Linie auf der tonalen Ebene.

    Anders ist das nun wieder bei den Versen drei und vier. Schumann zieht sie zu einer Melodiezeile zusammen, weil der vierte Vers eine syntaktische Apposition zum dritten darstellt. Hier ist das affektive Potential nun sehr hoch, weil die lyrische Aussage nicht mehr landschaftlich deskriptiv angelegt ist, sondern auf das lyrische Ich Bezug nimmt und mit dem Bild von den „bleichen Wangen“ ihre existenzielle Gefährdung aufscheinen lässt. Bei den Worten „Sie schaute starr hinab mit bleichen Wangen“ geht die melodische Linie nach einer anfänglich dreimaligen, in C-Dur harmonisierten Tonrepetition auf der Ebene eines „E“ in tiefer Lage in rhythmisierten (punktierte Sechzehntel und ein Zweiunddreißigstel) Anstieg zu Ebene eines „C“ in oberer Mittellage über und gipfelt bei dem Wort „bleichen“ in einer triolischen Bogenfigur auf, wobei die Harmonik eine ausdrucksstarke Rückung von vorangehenden F-Dur zu dissonanter G-Dur-Harmonik vollzieht, die sich in einem erstmals im Klaviersatz erklingenden sechsstimmigen Akkord ausdrückt. Auf dem Wort „Wangen“ liegt dann die Fortsetzung des mit dieser Figur eingeleiteten melodischen Falls in Gestalt eines in a-Moll gebetteten und in eine kleine Dehnung mündenden Sekundschritts abwärts.


    Dieser Thread ist in seinen Liedbetrachtungen darauf ausgerichtet, die spezifische Eigenart von Schumanns Liedmusik in der Spätphase ihrer Entwicklung zu erfassen. Eine solche Entwicklung lässt sich tatsächlich feststellen. Die Lieder, die in der Düsseldorfer Zeit entstanden, also in den Jahren 1851 bis 1853, heben sich von jenen des sog. „Liederjahres“ und der Zeit bis etwa 1849 deutlich ab. Allein schon dadurch, dass ihnen nun meist nicht mehr große Lyrik zugrunde liegt, und dies in Gestalt größerer, jeweils einem Dichter sich widmender Liederzyklen, stattdessen lyrische Texte mit geringerem poetischem Potential, die von weniger bekannten Autoren stammen und häufig Einzelkompositionen oder nur kleine Gruppen von zwei bis drei Liedern darstellen.

    Aber auch die Liedsprache hat sich gewandelt, und um zu erfassen, in welcher Weise sich dies darstellt und der Frage nachzugehen, welche Gründe dafür verantwortlich sein könnten, sollen die beiden in eben jener Düsseldorfer Zeit entstandenen Lied-Opera 107 und 135 liedanalytisch näher betrachtet werden. Die zentrale Frage wird dabei sein, ob und in welchem Grad die für Schumanns Liedsprache so typische und charakteristische Synthese von strukturell hochgradig differenzierter Melodik und autonomem Klaviersatz erhalten blieb, das kompositorische Instrumentarium also, das für die von ihm intendierte Interpretation von Lyrik zum Zweck der Erschließung ihrer affektiven Dimensionen, das, was er „die feineren Züge des Gedichts“ nannte, erforderlich war.

    „Sechs Gesänge op. 107“

    Diese sechs “Gesänge” entstanden im Januar, im Spätsommer 1851 setzte Schumann die kompositorische Arbeit daran fort, und im Januar 1852 war er noch einmal damit befasst. In diesem Jahr wurden sie auch publiziert. Anders als in der Hochzeit seiner Liedkomposition 1841 ging diese ihm nach seinem Umzug nach Düsseldorf im Spätsommer 1850 nicht mehr so flott von der Hand. Seine anwachsenden seelischen Probleme dürften dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben.
    In seinem Tagebuch findet man aus dieser Zeit Notizen wie „Auch Ver- und Umstimmungen“ und „Auch Menschen, die die schwachen Stunden anderer zu benutzen wissen, um sich auf irgendeine Art über sie zu stellen.“
    Er spricht von „einsamen Spaziergängen“, fühlt sich von regelrechten Panikzuständen geplagt und entwickelt sogar Fluchtpläne.
    In diesem Zusammenhang wird hier auch der Frage nachzugehen sein, ob sich davon ein Niederschlag in der Musik dieser „Gesänge“ zu finden ist.

    „Herzeleid“, op.107, Nr. 1

    Die Weiden lassen matt die Zweige hangen,
    Und traurig ziehn die Wasser hin:
    Sie schaute starr hinab mit bleichen Wangen,
    Die unglücksel´ge Träumerin.

    Und ihr entfiel ein Strauss von Immortellen,
    Er war so schwer von Tränen ja,
    Und leise warnend lispelten die Wellen:
    Ophelia, Ophelia!

    (Titus Ullrich)

    Der Verfasser dieser Verse, der Schriftsteller und Literaturkritiker Titus Ullrich (1813 - 1891), wurde von Schumann hoch geschätzt, wie aus einem Brief an Friedrich Hebbel hervorgeht. Darin bekannte er, fast alle Werke von ihm auswendig zu kennen. Er traf mit ihm auch mehrmals in Berlin zusammen. Neben diesem und dem nachfolgend vorgestellten Gedicht „Die Fensterscheibe“ vertonte er von ihm auch noch den lyrischen Text „Zu den Waffen“ in Gestalt eines Werks für Männerchor.

    Das Thema „Herzeleid“ wird hier in einer Analogie zur Shakespeare-Gestalt Ophelia lyrisch abgehandelt, die so weit geht, dass dem lyrischen Ich, das als „unglückselige Träumerin“ vorgestellt wird, Wellen warnend zweimal „Ophelia“ zulispeln, eine Anspielung auf den Bach, in dem diese tot aufgefunden wurde. Das ist ein bisschen weit hergeholt und nicht gerade Ausweis großer Lyrik.
    Das muss man auch für die übrigen lyrischen Bilder feststellen. „Traurig hinziehende Wasser“, „bleiche Wangen“ und der „Strauss von Immortellen“, das stellt im Zusammenhang mit dem lyrischen Thema reichlich abgegriffene Metaphorik dar. Und sie wirkt sogar ein wenig peinlich: Dem lyrischen Ich entfällt der Strauß, er wird ausdrücklich als „schwer von Tränen“ bezeichnet, und man kann sich kaum der Annahme erwehren, dass diesbezüglich eine Kausalität besteht. Mal ganz abgesehen davon, dass das kleine Wörtchen „ja“ nur angefügt wurde, damit hier das für den zweiten Vers der Strophe obligatorische vierfüßig- jambische Metrum mit stumpfer Kadenz eingehalten werden kann.

    Dieses Gedicht wurde deshalb einer ins Detail gehenden kritischen Betrachtung unterzogen, weil es auf den ersten Blick unerklärlich erscheint, warum der literarisch so hochgebildete Robert Schumann dergleichen zu einer Vertonung herangezogen hat. Auf den zweiten Blick stellt sich aber dann doch eine Erklärung ein. Er könnte sich in seiner damaligen, ihn schwer verstörenden und belastenden seelischen Verfasstheit in diesem lyrischen Ich wiedergefunden haben, und dies jenseits aller Beachtung der Kriterien literarischer Qualität. Sie spielten für ihn, anders als in seinem Liederjahr 1840, damals keine Rolle mehr. Und mit einem leichten Schauer kommt einem in den Sinn, dass er sich selbst drei Jahre nach der Komposition dieses Liedes in den Rhein gestürzt hat.
    Solches „Herzeleid“ könnte er damals in Düsseldorf wohl auch empfunden haben. Und so scheint das auch Dietrich Fischer-Dieskau zu sehen, wenn er zu den Aussagen des lyrischen Textes anmerkt:
    „Sie mögen bereits den Gedanken Schumanns zu dieser Zeit entsprochen haben, so kurz vor seinem eigenen Zusammenbruch und dem Versuch, sich im Rhein zu ertränken.“


    Zum Schluss

    Es ist nur ein kleiner Teil aus dem doch recht umfangreichen Liedschaffen Reimanns, der hier vorgestellt wurde. Aber ich denke, dass damit ein Eindruck vom Charakter und Wesen desselben vermittelt werden konnte.
    Ich hatte ursprünglich diesem Thread den Titel gegeben „Aribert Reimann, ein liedmusikalische Außenseiter der Moderne“. Den ersetzte ich nach Einwänden von Werner Hintze und kurzstueckmeister, um in Ruhe meine Liedbetrachtungen fortsetzen zu können, durch den jetzt gültigen.

    Ich möchte nun nicht nachkarten, nur um der Sache willen darauf hinweisen, dass dieser Begriff „Außenseiter“ nicht von mit stammt, sondern von Reimann selbst. Er konnte mit den avantgardistischen Trends, wie sie ihm Darmstadt und Köln begegnet sind und in der seriellen Technik im Grunde auf eine Entemotionalisierung der Musik hinausliefen, nichts anfangen. Seine eigenen Versuche darin empfand er als frustrierend und kam zu der Erkenntnis, dass „die streng reihenbasierte Klangdetermination seinem als >organisch< empfundenen, entwickelnden Denken nicht entspricht“ (H.U. Gumbrecht).
    In Reimanns eigenen Worten:
    „Diese Konfrontation mit der seriellen Sprache hat ungeheuer negativ auf mich gewirkt, aber sehr positiv in dieser negativen Erfahrung, weil ich damals schon wusste, diesen Weg kann ich nicht gehen. Und ich wusste ein halbes Jahr später, ich werde ein Außenseiter sein. Entweder glückt es mir oder nicht. Ich muss den Weg so gehen, wie ich ihn kompositorisch verantworten kann.“

    Er sieht sich also selbst als „Außenseiter“. Seine Überzeugung war, dass es der Musik gelingen würde, „eine Gegenwelt zu schaffen, in der wieder der menschliche Ausdruck in seiner einfachsten oder auch kompliziertesten Sprache sich äußert“ (Reimann). Im Bereich der Liedmusik kommt für ihn dabei dem Melos eine herausragende Rolle und Funktion zu.

    Wie sich diese konkret darstellt, das, so denke ich, sollte in diesem Thread deutlich geworden sein.

    „Auf meines Kindes Tod“ (III)


    Was aber hat darin die melodische Linie der Singstimme noch zu sagen?
    Auf den Worten „Was ist mir denn so wehe?“ beschreibt sie zwar wieder eine Anstiegsbewegung in kleinen Sekundschritten, diese setzt nun aber im einem vorangehenden verminderten Sekundfall ein, und sie endet nicht in der bogenförmigen Legato-Sekundschrittfigur wie beim ersten Mal, vielmehr setzt sie jetzt auf „wehe“ den Aufstiegsgestus in Gestalt zweier Sekundschritte weiter fort, wovon der erste ein im Legato verminderter ist, der zweite dann aber in eine Dehnung auf der Ebene eines „A“ in hoher Lage ist. Der lyrische Ausruf hat seine Anmutung von Kläglichkeit abgelegt und ist zum Ausdruck von tiefer schmerzlicher Klage übergegangen.

    In vier Takten lässt das Klavier ihm nun, auch das viel länger als beim ersten Mal, einen Kommentar nachfolgen. Das geschieht „ppp“ in Gestalt von vier- bis siebenstimmigen Legato-Figuren in Diskant und Bass, die sich allerdings am Ende schon zu vierstimmigen verkleinern. Bei den Worten des letzten Verses beschreibt die melodische Linie eine hochexpressive, darin die Bedeutsamkeit der lyrischen Aussage zum Ausdruck bringende Bewegung. Jeder deklamatorische Schritt wird in gedehnter Weise ausgeführt, und so liegt denn auf den Worten „wie bald“ ein ausdrucksstarker verminderter Septsprung zu tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage, der auf „bald“ in einen Oktavfall mit sich anschließender langer Dehnung übergeht. Bei „wird alles still“ trägt das Wort „wird“ eine Dehnung auf einem „D“ in oberer Lage, ebenso der Vokal „a“ von „alles“.

    Auf „alles“ ereignet sich ein verminderter, ebenfalls gedehnter Oktavsprung, und zur Silbe „-les“ senkt sich die melodische Linie zu einer langen Dehnung auf der Ebene eines „B“ in oberer Lage ab, so dass dieses Wort eine starke Hervorhebung erfährt. Und noch größer ist diese bei dem lyrisch so bedeutsamen und vielsagenden Wort „still“. Hier steigt die melodische Linie im Intervall einer kleinen Sekunde von der tonalen Ebene der langen Dehnung auf der Silbe „-les“ an und überlasst sich anschließend auf der tonalen Ebene eines „H“ einer extrem langen, sich über sechs Takte erstreckenden und darin ohne eine Diminuendo endenden Dehnung.

    Das Klavier begleitet das mit einer Folge von drei- und vierstimmigen Figuren auf drei Ebenen, zweien im Diskant und einer im Bass, wobei die obere im Diskant-Oktav angesiedelt ist, so dass sich infolge der extrem großen Intervalle zwischen dieser Ebenen und der zunehmenden Verkleinerung der Achtelfiguren zu Dreistimmigkeit der Eindruck einer Zersplitterung und eines Zerfalls des Klaviersatzes einstellt. In dem einen Takt nach dem Ausklingen der Dehnung auf „still“ besteht er nur noch aus einer Legato-Sekundsprungfigur im Oktav-Diskant, zweien als Sekundfall angelegten im mittleren Diskant und einem einsamen Achtel-C im Bass.

    Die Struktur der Melodik auf den Worten des letzten Verses und vor allem die Anlage des Klaviersatzes lassen das liedkompositorische Konzept, das diesem Lied zugrunde liegt, in aller Deutlichkeit erkennen: Die Liedmusik verkörpert in ihrer Gestalt den Zerfall und die Auflösung von lebensweltlichem und menschlichem Sein, wie sie, so wie Reimann das aufgefasst hat, Eichendorff bei diesem Gedicht in den Aussagen des lyrischen Ichs und der diese genierenden Metaphorik zum Ausdruck gebracht hat.

    „Auf meines Kindes Tod“ (II)

    Auch bei der melodischen Linie auf den an sich ja syntaktisch denen des dritten und vierten Verses zugehörigen Worten „Es liegt ja wie im Traum“ verfährt Reimann noch nach dem Prinzip der klanglichen Reduktion. Die nach einem verminderten Sekundanstieg eine in ebenfalls in kleinen Sekundschritten sich ereignenden Fall beschreibende, aber am Ende bei „im Traum“ eine diese Worte hervorhebenden Quartsprung mit vermindertem Sekundanstieg vollziehende melodische Linie wird nur im Klavierbass von einer fallend angelegten, also gegenläufigen melodischen Linie begleitet, die bei „Traum“ in eine lange Dehnung übergeht. Aber in eben dieser setzt die Diskantlinie wieder ein, so dass bei der Melodik auf den Worten des dritten Verses wieder Dreistimmigkeit herrscht. Bei dieser beschreibt die melodische Linie auf den Worten „der Grund schon“ eine diese auf markante Weise hervorhebende Kombination aus Quartsprung und Terzfall in hoher Lage, bevor sie dann in der für sie üblichen Weise zu einem in Sekundschritten erfolgenden Fall übergeht.

    Bei den Worten „Die Wälder säuseln kaum / Noch von der dunklen Höhe“ ist der Klaviersatz auf nur eine Linie reduziert. Sie beschreibt im Bass eine weit gespannte, gleichförmig ruhige Legato-Bogenbewegung im Piano, und im gleichen Gestus entfaltet sich auch die melodische Linie der Singstimme. Nur bei dem Wort „kaum“ vollzieht sie, um dieses mit einer Akzentuierung zu versehen, einen verminderten Septsprung zur tonalen Ebene eines „D“ in hoher Lage, um sich dort einer kleinen Dehnung zu überlassen. Auch das Wort „Höhe“ erfährt auf ähnliche Weise eine Hervorhebung: Durch einen ruhigen Anstieg der melodischen Linie in hohe Lage und eine Kombination aus Legato-Terzsprung und Sekundfall auf eben diesem Wort.
    Auf höchst eindrückliche Weise bringt die Melodik die Haltung resignativ-schmerzlicher Klage zum Ausdruck, die den Worten „Es komme wie es will“ innewohnt. Im Mezzoforte beschreibt sie einen Fall in oberer Mittellage, der sich in Gestalt von lang gedehnten Legato-Schritten über verminderte Sekundintervalle abwärts vollzieht. Schleppende Trägheit atmet er, durch die permanente Verminderung der Sekundintervalle überaus schmerzlich anmutend, und das Klavier lässt dazu nur einen ebenfalls stark gedehnten Legato-Fall von Vierteln in verminderten Sekundschritten erklingen.

    Mit der Wiederkehr des Bekenntnisses „Was ist mir denn so wehe“ tritt ein Wandel in die Liedmusik. Schon in den drei Takten vor dem Einsatz der melodischen Linie auf diesen Worten wird er vernehmlich: Entfalteten sich bislang die beiden melodischen Linien des Klaviersatzes in Legato-Schritten im Wert eines Viertels, so geschieht das von jetzt an - und bis zum Ende des Liedes - im Wert von Achteln und erstmals auch „con Ped.“ Das intensiviert ihren ohnehin ja durch das Legato bedingten Melodie-Charakter und lässt einen weitaus stärkeren Zusammenklang von Diskant und Bass entstehen, als dies zuvor der Fall war. Die melodischen Linien des Klaviersatzes verschmelzen gleichsam miteinander und treten nicht mehr so markant als vereinzelte hervor.

    Weil sie sich überdies nun in Gestalt von wechselweise in Diskant und Bass aufeinanderfolgenden Achtel-Gruppen unterschiedlichen Umfangs entfalten, muten diese Linien an, als hätten sie ihre innere Bindung verloren. Und da diese Gruppen im weiteren Verlauf der Liedmusik gegen Ende immer kleiner werden, stellt sich der Eindruck ein, dass die Melodik des Klaviersatzes zerbricht, zu einer Abfolge von melodischen Fragmenten wird. Am Ende, bei der Melodik auf den Worten des letzten Verses, ist er dreistimmig geworden, besteht aus einer Folge von zunächst fünfstimmigen bis schließlich nur noch zweistimmigen Achtelfiguren, die im hohen und mittleren Diskant und im Bass aufeinanderfolgen, bis dann nur noch im Diskant ein Achtel-Sekundfall und im Bass nur noch ein einsames Achtel erklingt und ein mit einer Fermate versehener klanglicher Leerlauf die Liedmusik beschließt.

    „Auf meines Kindes Tod“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    In ruhigen Schritten im Wert eines Viertels (Vorgabe „ca. 58“) entfaltet sich legato und im Piano eine melodische Linie im Klavierdiskant. In Intervallen von kleinen und großen Sekunden steigt sie von einem „A“ in mittlerer Lage bis hoch zur tonalen Ebene eines „Es“, hält dann einen Takt lang inne, derweilen in unter Diskantlage eine neue melodische Linie, ebenfalls „p legato“ einsetzt, die in solchen Viertelschritten über kleine und große Sekundintervalle eine Fallbewegung vollzieht. Vom nachfolgenden Takt an vereinigen sich beide Linien, die obere setzt ihren Anstieg zunächst in der gleichen Weise weiter fort, geht dann aber zu einer wellartigen Entfaltung über, und die andere setzt ihren Weg in tiefe Diskantlage fort, um von dort schließlich aber wieder eine Aufwärtsbewegung zu vollziehen.

    Da beide in gebundenen, aber keineswegs synchronen Schritten sich entfaltenden melodischen Linien sich in autonomer Weise gegenläufig bewegen, generieren sie gleichsam kontrapunktisch zwischen sich einen klanglichen Raum, der durch die wechselnde Größe der Intervalle zwischen den beiden Linien eine innere Bewegtheit in Gestalt von Klanglichkeit und harmonischer Modulation aufweist.
    Das ist das kompositorische Ausdrucksmittel, mit dem Reimann in diesem Lied von Anfang bis Ende arbeitet. Und er nutzt es dazu, das kognitive und emotionale Geschehen, das er in diesem lyrischen Ich wahrnimmt, mit musikalischen Mitteln zu erfassen, zum Ausdruck zu bringen und zu deuten.

    An diesem kompositorischen Konzept ändert auch die melodische Linie der Singstimme nichts, die im zehnten Takt zu den beiden melodischen Klavierlinien hinzutritt. Denn sie ist genauso wie diese angelegt, entfaltet sich im gleichen Gestus wie diese, und dass ihr ein lyrischer Text inhärent ist, stellt einen im Grunde sekundären Sachverhalt dar. Er dient nur dazu, die musikalische Aussage des nun von drei melodischen Linien generierten Klangraums zu verbalisieren und damit zu konkretisieren.
    In der klanglichen Abstraktion, durch die sich dieses Lied auszeichnet, ist es wohl als Dokument einer Entwicklung von Reimanns Liedsprache aufzufassen, die auf eine Tendenz hinausläuft, vom lyrischen Wort weg zu „nicht gegenständlich fixierbaren Sinnkomplexionen zu kommen“ ((David E. Wellberry, Der gestimmte Raum“, München 2011).

    Obgleich die melodische Linie der Singstimme als dritte im Zusammenspiel mit den beiden ihr gleichgeordneten Klavierlinien fungiert, sie also rein musikalisch keine herausragende Rolle spielt, reflektiert sie gleichwohl die lyrische Aussage. Das prägt ihre Struktur, und darin liefert sie auch einen besonderen Beitrag zur musikalischen Aussage der Liedmusik. Die Bewegung, die sie auf den Worten „Was ist mir denn so wehe?“ in syllabisch exakten deklamatorischen Schritten beschreibt, erinnert in ihrem Anstieg in verminderten Sekundschritten an die melodische Linie, in der die Liedmusik im Klavierdiskant einsetzt. Beide bringen also die existenzielle Grundbefindlichkeit tiefen seelischen Leids zum Ausdruck, die im Zentrum der lyrischen Aussage von Eichendorffs Versen steht. Durch die melodische Schmerz-Figur, dieser Legato-Sekundschritt mit nachfolgendem kleinem Sekundfall, wie er auf dem Wort „wehe“ liegt, erfährt dieser Ausdruck eine starke Steigerung.

    Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Reimann hier die hohe Diskant-Melodik schweigen und nur im tiefen Diskant eine vom Forte sich ins Piano zurücknehmende Legato- Folge von vier in verminderten Sekundschritten steigenden und wieder fallenden Viertelschritten erklingen lässt. Das ist das kompositorische Verfahren, das er immer anwendet, wenn einer lyrischen Aussage, wie das hier ja der Fall ist, besondere Bedeutung zukommt. In den vorangehenden Liedern dieses Zyklus hat er in solchen Fällen die melodische Linie der Singstimme a cappella vortragen lassen. Bei der Wiederkehr dieser Worte im dritten Vers der zweiten Strophe verfährt er dann allerdings nicht so. Wie das zu deuten ist, dieser Frage wird an entsprechender Stelle noch kurz nachzugehen sein.

    Die mittels dieser klanglichen Reduktion der Begleitstimmen erfolgende Exposition dieser den ersten Vers beinhaltenden Melodiezeile erfährt eine Bekräftigung dadurch, dass ihr eine zwei Takte einnehmende und darin wie eine Art Pause anmutende Folge von Piano-Legato-Viertelschritten in hoher und tiefer Diskantlage nachfolgt, bevor die melodische Linie auf den Worten „Es liegt ja wie im Traum“ einsetzt. Die eine ist in Terz- und Sekundschritten steigend angelegt, in der anderen ereignet sich nach einem Quartsprung ein bedeutsamer Sturz über einen Oktav- und Terzfall hinab in die Bassregion, wo sich nun bis zum Lied-Ende die zweite Klavier-Linie entfalten wird. Dieser Einschnitt im kompositorischen Satz der Liedmusik ist wohl, dies jedenfalls aus meiner Sicht, als ein nach dieser einleitenden Exposition erfolgendes Hinfinden zur Reflexion des lyrischen Geschehens aufzufassen und zu verstehen.

    Lied 5: „Auf meines Kindes Tod“ (III)

    Was ist mir denn so wehe?
    Es liegt ja wie im Traum
    Der Grund schon, wo ich stehe,
    Die Wälder säuseln kaum

    Noch von der dunklen Höhe.
    Es komme wie es will,
    Was ist mir denn so wehe -
    Wie bald wird alles still.

    Das ist (deshalb die römische Drei im Titel) das dritte Gedicht des 1832 entstandenen und insgesamt zehn Gedichte beinhaltenden Zyklus mit dem Titel „Auf meines Kindes Tod“. In ihm ereignet sich eine monologische Reflexion des lyrischen Ichs in seiner augenblicklichen existenziellen Befindlichkeit angesichts des Todes seines Kindes. Sie verdichtet sich in der Frage „Was ist mir denn so wehe?“, und dass es diese zwei Mal artikuliert, verweist auf die es tief berührende und erschütternde Unfasslichkeit dieser Situation in all ihren existenziell relevanten Dimensionen.

    In den lyrischen Bildern, die eben diese Situation gleichsam veranschaulichen wollen, deutet sich der Verlust des Grundes an, auf dem das Ich existenziell steht und damit das Ende seines Lebens. Dieser „Grund“ ist vage geworden wie ein Traum, von den Wäldern in dunkler Höhe kommt kaum noch ein Säuseln, und bald wird alles still. Angesichts dessen hat das lyrische Ich sich selbst aufgegeben. Es bleibt ihm nur noch der abgrundtief resignative Seufzer: „Es komme wie es will“.

    Reimann hat diese beiden Strophen aus dem zyklischen Kontext herausgelöst. Dass diese lyrischen Worte der reflexiven Auseinandersetzung mit dem Kindstod und dem Versuch einer Bewältigung desselben mit den Mitteln der Kunst entspringen, wird von ihm ignoriert. Im Zentrum seiner Liedmusik steht ein lyrisches Ich in der existenziellen Grenzsituation der potentiell in den Tod mündenden Selbstpreisgabe. Diese stellt sich ihm in seiner Rezeption von Eichendorffs Lyrik in dieser, so wie ich sie verstehe, als prozessuales Geschehen der Auflösung eines menschlich-personalen Seins dar, die sich infolge der Unfähigkeit ereignet, es in all seiner existenziellen Problematik zu bewältigen.

    Dementsprechend ist diese Liedmusik angelegt. Sie entfaltet sich in radikaler Reduktion auf reine melodische Linearität in Klaviersatz und Singstimme, wobei dieser in Diskant, Bass und Singstimmen-Areal sich ereignende Prozess linearer Entfaltung der Musik schrittweise in die Brüche geht und sich damit als musikalische Konkretion dessen ereignet, was mit dem lyrischen ich geschieht: Auflösung und Zerfall von Sein.
    Das aber wäre nun mittels analytischen Sich-Einlassens auf diese Musik aufzuzeigen.


    „Trost“ (III)

    Reimann bringt damit die Nachdrücklichkeit zum Ausdruck, in der diese Fragen angesichts ihrer existenziellen Bedeutsamkeit artikuliert werden müssen. Und um die Melodik darin zu unterstützen, lässt das Klavier Fallbewegungen von Achteln auf dem tiefen Diskant in den tiefen Bass erklingen, die, weil dies fortissimo und nur zwei Mal pro Takt geschieht, wie schwere Peitschenhiebe erklingen. Diese Anlage behält der Klaviersatz bis zum Ausklingen der Liedmusik bei. In ihrer ins Extrem getriebenen klanglichen Eindringlichkeit verleiht sie diesen Fragen ein Gewicht, das weit über das Maß hinausgeht, das ihnen in Eichendorffs Lyrik zukommt.

    Und um diese allgemein gehaltene Charakterisierung und Deutung der Liedmusik auf den beiden Schlussversen zu konkretisieren, sei abschließend noch kurz die Struktur der melodischen Linie beschrieben. Auf den Worten „Wer fährt nun fröhlicher?“ verharrt sie in einer sechsschrittigen, deklamatorisch gedehnten silbengetreuen Tonrepetition auf der Ebene eines „Gis“ in oberer Lage, wobei der dritte und der sechste Schritt mit einem Vorschlag versehen und der fünfte einer eine kleine Sekunde aufwärts ist.
    Das ist es, was die Anmutung eines Bohrens auszulösen vermag. Auf „fröhlicher“ beschreibt die melodische Linie einen dreischrittigen Sekundanstieg, um bei den beiden letzten Silben in eine lange Dehnung auf der Ebene eines „C“ in hoher Lage überzugehen. Die Melodik auf den Worten „der da wacht“ ist ähnlich angelegt. Aber der Anstieg, der sich nach der zweimalig gedehnten Tonrepetition ereignet, mutet eindringlicher an, weil der Sekundanstieg durch eine Rückkehr über einen verminderten Sekundschritt abwärts kurz unterbrochen und dann über eine große Sekunde fortgesetzt wird, um in eine lange Dehnung zu münden.

    In Ihrer Eindringlichkeit noch weiter gesteigert mutet die Melodik auf den Worten „Oder der blinde Passagier bei Nacht?“ an. Wieder das lange Verharren der melodischen Linie auf einer tonalen Ebene am Anfang, dieses Mal der eines „B“ in hoher Lage und sogar mit einer Dehnung auf dem Vokal „o“ des Wortes „oder“. Anschließend ereignet sich bei „blinde“ ein zweischrittiger Abfall zur Eibene eines „Gis“. Bei dem Wort „Passagier“ steigt die melodische Linie in verminderten Sekundschritten zur Ebene eines „H“ in hoher Lage auf, um sich dort wieder einer langen Dehnung zu überlassen. Derweilen erklingen, wie auch zuvor bei der Dehnung auf „blinde“ zwei Fortissimo-Peitschenhiebe im Klaviersatz.

    Danach aber ereignet sich melodisch geradezu Spektakuläres. Auf den Worten „bei Nacht“ vollzieht die melodische Linie einen verminderten Sekundanstieg zu Ebene eines „C“ in hoher Lage. Dort verharrt sie nun in einer Dehnung auf diesem lyrischen Schlüsselwort „Nacht“, und diese Dehnung ist nicht nur, weil sie sich über zwei Takte erstreckt, eine von der Reimann-Gattung „endlos“, sie senkt sich in ihrer Dynamik dabei auch langsam vom anfänglichen Fortissimo über das Forte und das Mezzoforte bis ins Piano ab. Und das tun auch die derweilen insgesamt vier Mal erklingenden Achtelfall-Peitschenhiebe, wobei die melodische Linie ihren Ausklang über den vierten hinaus bis zum völligen klanglichen Ersterben fortsetzt.

    Ein wahrlich beeindruckendes Liedmusik-Ende ist das. Und es reflektiert darin Eichendorffs lyrischen Text. Denn dieser endet ja nur scheinbar in der Offenheit. Es gibt keine Antwort auf die Fragen, in denen er endet, aber diese generieren aus dem Kontext, in dem sie stehen, diese Antwort sehr wohl. Und eben deshalb lässt Reimann seine Liedmusik in dieser Weise enden.
    Sie verfällt langsam ins Schweigen, das Raum schafft für die Antwort, die, nach all dem, was musikalisch gesagt worden ist, keiner expliziten Artikulation mehr bedarf.

    „Trost“ (II)

    Der Klaviersatz, der nach der Melodik auf den Worten des zweiten Verses einsetzt und die des dritten begleitet, erweist sich dem analytischen Blick als ein Krebs. Der Klaviersatz läuft rückwärts, dreht sich um sich selbst und manifestiert in dieser seiner klanglichen Perversion die Sinnlosigkeit des Voranstürmens, das ihn eben gerade noch prägte. Und darin reflektiert er das große „Aber“, mit dem der dritte Vers einsetzt und die lyrische Aussage zu ihrem Kern hinführt. „Aber die Nacht holt beide ein“, von denen eben gerade die Rede war. Und sie macht sie gleich, bei all den großen gesellschaftlichen Unterschieden, die zwischen ihnen bestehen.

    Dieses, die menschliche Lebenswelt überwältigende und damit auch gefährdende Potential der „Nacht“ bringt Reimann damit zum Ausdruck, dass er die melodische Linie im Forte nach einer dreimaligen deklamatorischen Repetition in einen Legato-Anstieg in verminderten Sekundschritten übergehen und in eine lange Dehnung auf der Ebene eines „C“ in hoher Lage münden lässt, die von den vielen Achteln der Ketten in Bass und Diskant auf geradezu bedrohlich anmutende Weise umschwirrt wird. Und die Aussage „holt beide ein“ erfährt dadurch eine starke Akzentuierung, dass die melodische Linie über einen ausdrucksstarken verminderten Oktavsprung wieder zu dieser tonalen Ebene des „C“ aufsteigt, dort sich erneut einer langen Dehnung überlässt, um nach einem Sextfall und einem Terzsprung auf „ein“ eine Dehnung auf der Ebene eines „Gis“ in hoher Lage zu beschreiben.

    Diesen expressiven Gestus des sprunghaften und dabei auf den einzelnen Ebene eine Dehnung beschreibenden Auf und Abs behält die melodische Linie bei den Worten „Setzt jenen im Traume neben die…“ nicht nur bei, sie steigert sich darin sogar noch, weil die Sprung-Intervalle größer werden, und bei dem im Vers zugehörigen Wort „Rosse“ bringt Reimann dann wieder sein kompositorisches Mittel der Endlos-Dehnung eines Vokals zum Einsatz: Die melodische Linie vollzieht, wie zuvor schon bei dem Wort „daneben“ im zweiten Vers, einen Anstieg in vier, jeweils mit einem Vorschlag versehenen deklamatorischen Schritt hoch zur tonalen Ebene eines „D“, um dort auf der Silbe „-se“ eine lang gedehnte Repetition zu beschreiben.

    Hier, schon vor diesem so hochexpressiven Anstieg der melodischen Linie auf dem Wort „Rosse“ ist der Klaviersatz wieder zu seiner Bass und Diskant übergreifenden Auf und Ab-Achtelsprungfigur übergegangen, mit der er am Liedanfang einsetzte, und diese behält er nun auch, dies allerdings ohne die Einlagerung von Achtelketten, bis zum Einsatz der Melodik auf den Worten des letzten Verspaares bei. Die Melodik auf dem fünften Vers, den Worten „Und den andern in seine Karosse“ also, ist strukturell genauso angelegt wie die auf dem vorangehenden, Reimann treibt dabei die Expressivität geradezu auf die Spitze. Nicht nur dass die Intervalle der Sprung- und Fallbewegungen noch weiter gesteigert sind, die Dehnungen sich noch länger und in hoher Lage ereignen, dass wieder am Ende der Melodiezeile der melodischen Dehnung eines Vokals wird nun in einer Weise eingesetzt, die ich - mit Verlaub - für übertrieben halte. Auf dem Wort „Karosse“ beschreibt die melodische Linie eine wahrlich gigantische, sich über vier Takte erstreckende Dehnung in Gestalt von zehn deklamatorischen, aus einem Auf und Ab von Achteln in Sekundintervallen bestehenden Schritten, die auf der Silbe „-se“ in einen lang gedehnten Fall von der Ebene eines hohen „Es“ zu der eines „F“ in Mittellage münden.

    Und um auf mein kritisches Wort „übertrieben“ noch einmal zurückzukommen: Ich halte es für angebracht, weil dem lyrischen Wort „Karosse“ keine Bedeutung in der lyrischen Aussage zukommt, die eine solch exzessive melodische Dehnung auf ihm rechtfertigen könnte. Diese Dehnung mittels zehn deklamatorischer Achtelfiguren scheint nur die Funktion zu haben, das Schütteln einer Karosse im Dahinfahren klanglich zu imaginieren. Und damit würde es sich, und ich glaube, dass dem so ist, um reine kompositorische Effekthascherei handeln.

    Bei der das letzte Verspaar einleitenden und die lyrische Aussage gleichsam auf den Punkt bringenden Frage „Wer fährt nun fröhlicher?“ tritt - und das berechtigter Weise - ein markanter Wandel in die Liedmusik. Die melodische Linie lässt von ihrem Sprung-Gestus ab und verharrt lange im Fortissimo auf einer tonalen Ebene, dies mit nur geringen Abweichungen davon, so dass man den Eindruck gewinnt, sie bohre sich regelrecht in sie hinein, bevor sie am Ende in einen Anstieg übergeht. Diesem aber wohnt ebenfalls die Anmutung eines eindringlichen Bohrens inne, weil er in Schritten von kleinen Intervallen erfolgt, die teilweise mit einem Vorschlag versehen sind oder über ein Sekundintervall zurückgenommen werden, bevor die melodische Linie ihren Anstieg weiter fortsetzen kann.

    „Trost“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Als, wie üblich, einzige kompositorische Vorgabe weist der Notententext die zum Tempo auf, lautend, das Viertel betreffend“ „ca. 104“. Und das läuft im Grunde auf ein Presto hinaus, und es gilt für die ganze Liedmusik. Dem Klaviersatz kommt in ihr eine herausragende Bedeutung zu, und dies nicht nur, weil er quantitativ deutlich mehr Raum einnimmt als die Melodik. Sieben Takte Klaviersatz erklingen, bevor die melodische Linie im achten Takt einsetzt, und nach der Melodik auf den Worten des ersten Verses folgen weitere fünf Takte, bis die Melodik mit den Worten des zweiten Verses fortfährt.

    Aber das für die kompositorische Aussage des Liedes Entscheidende ist, was der Klaviersatz zu sagen hat. Er verkörpert, so könnte man es ausdrücken, nicht nur den Kern derselben, in seinem Verlauf manifestiert sich darüber hinaus die Genese derselben. In Eichendorffs Versen geht es, wie es der erste Vers einleitend metaphorisch zum Ausdruck bringt, im Kern um die Entfaltung menschlichen Lebens in all seiner Hektik und Betriebsamkeit, und in der Aufeinanderfolge der sieben Verse konstituiert sich als letztendliche Aussage, dass dieses Leben, so es sich darin erschöpft, für die Menschen jeglicher gesellschaftlichen Schicht oder Klasse gleichermaßen sinnlos ist. Das bringt die Melodik in ihren Worten und in der Struktur ihrer Entfaltung ja auch zum Ausdruck, aber im Klaviersatz wird es, und das macht die liedmusikalische Größe dieser Komposition aus, gleichsam klanglich sinnfällig. Seine Musik verkörpert das.

    Zwei musikalische Grund-Figuren weist der Klaviersatz auf, und er entfaltet sich daraus in Gestalt vielfacher Variation derselben. Die eine, und dominierende, besteht aus einer Folge von über Diskant und Bass sich in unterschiedlichen Intervallen erstreckenden Auf und Ab-Sprüngen von Achteln, die andere aus einer Kette von in kleineren Intervallen steigend, fallend oder auf der tonalen Ebene innehaltenden und dabei in Diskant und Bass unterschiedlichen Folge von Achteln. Und alle erklingen mindestens im Mezzoforte, zumeist aber im Forte und sich darin, einhergehend zumeist mit einer Intensivierung der klanglichen Dichte, immer wieder bis ins Fortissimo steigernd. In dieser Gestalt, im Presto und in der Dynamik seiner Entfaltung verkörpert der Klaviersatz dieses menschliche Leben, von dem Eichendorffs Verse sprechen.

    Im Presto des Dahineilens, in den Rissen darin, wie es die Achtelketten mit sich bringen, und in der krebsartigen Umkehr, die sich in ihm zu Beginn der Melodik auf den Worten des dritten Verses ereignet, bringt er dessen Sinnlosigkeit zum Ausdruck, beim letzten Verspaar endend in einem Zusammenbruch in Gestalt einer Reduktion auf eine einzige, immer gleiche, vom Fortissimo ins Forte und Mezzoforte übergehende und im Piano versinkende Sprungbewegung.

    Aber natürlich entfaltet sich dieser Klaviersatz, bei all seiner die Autonomie markant hervorhebender Eigenständigkeit, im Dialog mit der Melodik. Diese wiederum reflektiert in ihrer Struktur die lyrische Aussage nicht nur, sie deutet sie in ihrer Semantik auch aus und akzentuiert sie dabei, so dass eine hochkomplexe Liedmusik daraus hervorgeht. Bei den Worten „Der jagt dahin, daß die Rosse schnaufen“ setzt die melodische Linie im Fortissimo mit einem Sekundanstieg in oberer Lage ein, vollzieht bei „dahin“ eine ausdrucksstarke Kombination aus vermindertem Oktavsprung, vermindertem Quartfall und Legato-Anstieg über eine Quinte. Hochexpressiv mutet die Melodik auf den Worten „daß die Rosse schnaufen“ an: Ein Sprung über das große Intervall einer None hin zur tonalen Ebene eines zweigestrichenen „F“, eine lange Dehnung dort, danach ein Fall erst über eine verminderte Quarte, dann eine kleine Sekunde, und schließlich bei „schnaufen“ ein Sturz über eine Septe zur Ebene eines „D“ in mittlerer Lage. Erst bei dem Wort „Rosse“ setzt das Klavier wieder mit seinen Fortissimo-Sprungfiguren wieder ein. Die Melodik auf „dahin, daß“ wird a cappella deklamiert, auf dass die nachfolgende musikalische Expressivität umso stärker zur Geltung kommt.

    Den ersten Vers versteht Reimann als gleichsam programmatische Eröffnung des nachfolgenden lyrischen Geschehens. Deshalb lässt er ihm ein siebentaktiges Nachspiel folgen, das größtenteils, bis auf den letzten Takt nämlich, aus einer Wiederholung des Vorspiels besteht. Im letzten Takt leitet eine vom Forte ins Fortissimo sich steigernde lange Achtelkette in Diskant und Bass zum Einsatz der Melodik auf den Worten des zweiten Verses über. Und diese begleitet das Klavier nun ganz und gar mit diesen Achtelketten, die in Bass und Diskant auf unterschiedliche Weise fortissimo einen überaus hektisch anmutenden und in ein Auf und Ab in kleinen und größeren Intervallen übergehenden leichten Anstieg beschreiben. Auch die Melodik vollzieht einen solchen, dies ebenfalls fortissimo über das Intervall einer Quarte. Aber es ist alles andere als ein linearer. Das lyrische Bild lässt das für Reimann nicht zu.

    Also setzt die melodische Linie zwar erst einmal, wie die vorangehende, mit einem Sekundanstieg ein, dann aber beschreibt sie bei „im Staub“ eine ähnliche Sprungfigur wie dort auf dem Wort „dahin“ und geht dann bei dem Worten „daneben“ in der typischen, einen Vokal geradezu endlos zerdehnenden Reimann-Manier auf dem ersten „e“ erst in einen Sekundfall, dann in einen Anstieg in zwei Sekundschritten über, wobei der letzte auf der Silbe „-ben“ liegt. Und die Expressivität dieser Dehnung steigert er noch dadurch, dass drei von den insgesamt fünf melodischen Schritten mit einem Vorschlag versehen sind, der nicht etwa wie üblich über das Intervall einer Sekunde, sondern über das einer Quarte und sogar einer Quinte erfolgt.
    Ganz offensichtlich will er damit den sozial-ständegesellschaftlichen Aspekt dieses lyrischen Bildes besonders hervorheben: Das zu Fuß im Staub des Armen neben dem Reichen hoch zu Ross. Auf dem Wort „laufen“ liegt deshalb wieder eine ähnliche Sprungfigur wie zuvor auf „Staub“, nur steigt sie in höhere Lage auf und beschreibt am Ende einen ausdrucksstarken Sturz über das große Intervall einer verminderten None hinab in mittlere Lage. Das ereignet sich wieder a cappella. Aber unmittelbar danach setzen wieder im Fortissimo die langen Achtelketten ein, im Diskant in einem Auf und Ab in hoher Lage verharrend, im Bass eine Fallbewegung beschreibend.

    Lied 4: „Trost“

    Der jagt dahin, daß die Rosse schnaufen,
    Der muß im Staub daneben laufen;
    Aber die Nacht holt beide ein,
    Setzt jenen im Traume neben die Rosse
    Und den andern in seine Karosse. -
    Wer fährt nun fröhlicher? Der da wacht,
    Oder der blinde Passagier bei Nacht?

    Eichendorff hat drei Gedichte mit dem Titel „Trost“ verfasst. Dieses, das 1839 entstandene und damit letzte, hat ihn, anders als die anderen beiden, im Grunde nicht verdient. Wie man dieses Gedicht auch immer interpretiert, der Titel kann in seiner Aussage auf keinen Fall auf der Ebene von einfacher Emotionalität angesiedelt werden. Er gehört wohl eher auf die einer von leichtem Sarkasmus angehauchter Rationalität.

    Die beiden ersten Verse stellen die Repräsentanten zweier gesellschaftlicher Gruppen nebeneinander: Da der Vermögende, der mit seinen Rossen in Eile dahinlebt, dort der Arme, der es im Staub laufend verbringt.
    Mit einem „Aber“ wird im dritten Vers dieser lebensweltliche Klassenunterschied im Sinne von Bedeutungslosigkeit annulliert: Beide werden „von der Nacht eingeholt“. Diese Metapher kann nicht die realweltliche Nacht meinen. Sie wird als Aussage im lyrischen Kontext nur schlüssig, wenn man sie im existenziellen Sinn auffasst und interpretiert. Die „Nacht“ wird dabei zum „Tod“.

    Und das wäre dann auch das im rationalen Sinne „Tröstliche“. Die Antwort auf Frage, in die die lyrischen Aussagen in ihrem letzten Vers münden, muss ja doch wohl lauten: „Keiner“. Alle, welcher gesellschaftlichen Klasse sie auch immer angehören mögen, sind in ihrem Sein dem Tod ausgeliefert. Keiner von ihnen „fährt am Ende fröhlicher“.

    Reimann hat dieses Gedicht wohl auch so aufgefasst. Seine Liedmusik darauf lässt, wenn ich sie richtig verstanden habe, dies recht deutlich vernehmen. Sie entfaltet sich auf höchst eindrückliche Weise im Geist des „Dahin-Jagens“, greift den lyrischen Text mit einer Melodik von hochgradig-lebhafter Fortissimo-Expressivität auf und bettet sie in einen Klaviersatz, der sich in seiner Dominanz krebsartig im Kreise dreht und darin musikalisch Sinnlosigkeit zum Ausdruck bringt.


    „Wetterleuchten“ (IV)

    Dieses Prinzip einer Auslotung des semantischen und des affektiven Potentials eines lyrischen Wortes mittels einer hochkomplexen vielschrittigen Melodik setzt behält Reimann bis zum Lied-Ende bei, steigert sich darin sogar noch. So liegt auf dem Wort „Locken“ ein auf der tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage ansetzender melodischer Anstieg in Gestalt von elf (!) deklamatorischen Schritten zu einem „D“ in hoher Lage, über das Intervall einer Dezime also. Und dies, obwohl der Vokal „o“ hier ja gar nicht dehnbar ist, so dass sich die sängerische Gestaltung derselben doch - so jedenfalls mein Eindruck - ein wenig gequält anhört.

    Umso bemerkenswerter ist dann, dass die Melodik auf den Worten des so bedeutsamen letzten Verses vergleichsweise behutsam angelegt ist. Ein Ausbruch in melodisch extreme Expressivität wäre hier auch gar nicht angebracht, handelt es sich doch bei diesen Worten um eine lyrische Aussage, die, obgleich sprachlich mit dem „deine“ als Anrede angelegt, wesenhaft monologisch ist, sich bei dem lyrischen Ich nach innen richtet und ein hohes, schmerzlich aufgeladenes affektives Potential aufweist.

    Und so lässt Reimann die melodische Linie mit einer gedehnten Tonrepetition auf „deine“ in oberer Mittellage einsetzen. Auf „Augen“ beschreibt sie dann einen auf der Ebene eines hohen „C“ ansetzenden dreischrittigen Legato-Fall über zwei Sekunden und eine verminderte Terz, der sich nach einer Dehnung bei „sind“ in Gestalt eines ebenfalls in eine kleine Dehnung übergehenden verminderten Sekundfalls fortsetzt. Bei den Worten „die Nacht“ kehrt die melodische Linie am Ende wieder zu dem Gestus zurück, in dem sie sich in der ersten Strophe entfaltete. Sie beschreibt einen silbengetreuen Anstieg in Gestalt zweier Dehnungen auf der Ebene eines „G“ und eines „H“ in hoher Lage, die Dehnung auf „Nacht“ geht aber mit einem Legato-Quintanstieg in eine extrem lange, sich über vier Takte erstreckende Dehnung auf der hohen tonalen Ebene eines zweigestrichenen „F“ über.

    Zum möglichst weitgehenden liedmusikalischen Erfassen des affektiven Potentials der lyrischen Schlussaussage hat Reimann, seinem kompositorischen Grundkonzept entsprechend, auch den Klaviersatz eingesetzt. Dieser hebt sich nun in seiner Komplexität deutlich vom vorangehenden ab. Die im hohen Diskant und tiefen Bass gegenläufigen Cluster erklingen pianissimo zwar weiterhin, und mit ihnen klingt die Liedmusik im Nachspiel auch aus, bei der Melodik des letzten Verses gesellen sich aber drei Mal Piano-Bewegungen von Diskant und Bass übergreifenden Oktaven hinzu, die als fallende Sekundschritte angelegt sind und darin auch in den Bassbereich absinken.

    Vielleicht, so möchte man vermuten, drückt sich darin das Versinken des lyrischen Ichs in all die Emotionen aus, die sich bei diesem Erlebnis von „Nacht“ im sich assoziativ-plötzlich ereignenden Gedenken an das geliebte „Du“ einstellen.

    „Wetterleuchten“ (III)

    Zwei Takte lang erklingt die Blitzfigur, dies im Pianissimo und in der sechs Oktaven weiten Extremvariante, im zweiten Takt setzt die melodische Linie auf den Worten des ersten Verses der zweiten Strophe ein, und unmittelbar darauf verstummt das Klavier, so dass sie in ihrer ganzen Länge a capella erklingt. Sie weist eine sich deutlich von der Melodik der ersten Strophe abhebende Struktur auf: Kurzschrittig ist sie angelegt, und dies auch in ihren Dehnungen, die sie weiterhin aufweist. Die sich lang auf nur einer tonalen Ebene erstreckenden Dehnungen ereignen sich nur noch am Versende. Und diesen deklamatorischen Gestus, den die Melodik zu Beginn der zweiten Strophe anschlägt, behält sie bis zu deren Ende bei.

    Wenn Reimann die Melodik eines Verses oder Versteils ohne Klavierbegleitung deklamieren lässt und sie damit gleichsam musikalisch exponiert, so deshalb, weil er ihrer Aussage besondere Relevanz beimisst. Bei dem Bekenntnis des lyrischen Ichs „Und ich schaue froh erschrocken“ ist für ihn dieser Fall gegeben, und tatsächlich ereignet sich ja in diesen Worten sein Auftritt, womit alle lyrischen Aussagen, auch die vorangehenden der ersten Strophe, einen sie reflektierenden Bezugspunkt erhalten. Entsprechend expressiv ist die melodische Linie angelegt. Bei den Worten „und ich schaue“ beschreibt sie einen vielschrittigen Sekundanstieg aus mittlere in hohe Lage, vielschrittig deshalb, weil auf dem Wort „schaue“ eine Anstiegsdehnung von sieben deklamatorischen Schritten liegt, wobei der letzte auf dem Vokal „e“ in eine halbtaktige Dehnung übergeht. Auch das Wort „froh“ weist eine solche auf, in Gestalt eines sich über einen ganzen Takt erstreckenden Sekundfalls.

    Bei dem Wort „erschrocken“ lässt sich Reimann, weil diesem ja hinsichtlich der Haltung des lyrischen Ichs in der Begegnung mit der nächtlichen Außenwelt eine Schlüsselfunktion zukommt, wieder zu - aus meiner Sicht - übertriebener melodischer Expressivität hinreißen. Mit einem verminderten Septsprung in hohe Lage setzt sie melodische Linie auf der Silbe „-er“ ein, und nun ereignet sich auf dem Wortteil „-schrocken“ ein geradezu gewaltiger, partiell in einer Repetition kurz innehaltender melodischer Sekundfall in Gestalt von sage und schreibe elf deklamatorischen Schritten. Auf der Schlusssilbe „-en“ wird daraus ein verminderter Sekundanstieg von einem „Es“ zu einem gedehnten „E“ in oberer Lage. Und in diese Dehnung lässt das Klavier pianissimo einen Cluster „con Ped.“ hineinklingen.

    Diese Anlage des Klaviersatzes in Gestalt von nur singulär, im Abstand von zwei Takten in Diskant und Bass pianissimo erklingenden sechsstimmigen Clustern behält Reimann bis zum Ende der Liedmusik bei. Bei der Melodik des letzten Verses ereignet sich aber eine Variation, die dessen lyrischer Bedeutsamkeit geschuldet ist, wie sie auch die Melodik reflektieren muss. Bis dahin bleibt es bei diesem klanglich zurückhaltenden, weil durchweg pianissimo und pedalisierten Auftritt der Cluster, was man wohl als musikalischen Reflex des lyrischen Sachverhalts auffassen und verstehen soll, dass sich das lyrische Ich in der zweiten Strophe ganz und gar aus der Zurückgenommenheit in den seelischen Innenraum monologisch artikuliert. Die Melodik entfaltet dabei aber umso größere Expressivität, muss sie doch das große affektive Potential der entsprechenden lyrischen Aussagen erfassen und zum Ausdruck bringen.

    So beschreibt sie denn bei den Worten „wie eines“ zunächst einen gedehnten verminderten Sekundfall in mittlerer Lage, geht dann aber bei „in eines“ in einen silbengetreuen Anstieg erst über eine kleine Sekunde, dann über eine ebenfalls verminderte Terz über, um sich schließlich mittels eines Quintsprungs in hohe Lage aufzuschwingen und von dort bei dem Wort „Traumes“ in einen lang gedehnten dreischrittigen Sekundfall überzugehen. Aber damit ist es für einen Reimann nicht genug. Es folgt noch ein verminderter Quintsprung mit Dehnung nach, bevor dann die melodische Linie auf der Silbe „-mes“ eine große Quinte tiefer eine neuerliche Dehnung beschreiben kann. Und ähnlich komplex und expressiv ist die Melodik auf dem einsilbigen Wort „Pracht“ angelegt. Um seinen semantischen Gehalt zum Ausdruck zu bringen vollzieht die melodische Linie einen Anstieg in vier Schritten über verminderte Quarten und eine auf einen Sekundfall folgende verminderte Quinte bis zur tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage, um sich dort wieder einer langen Dehnung zu überlassen.

    „Wetterleuchten“ (II)

    Bei der Silbe „-ter“ ereignet sich ein verminderter Nonenfall, dem wiederum eine fast zwei Takte einnehmende Dehnung nachfolgt. Und so verfährt Reimann auch bei dem Wortteil „-leuchten“: Eine über zwei Takte sich erstreckende Dehnung auf der tonalen Ebene eines „E“ in oberer Mittellage auf der ersten Silbe, bei der zweiten ein Sprung über eine verminderte Sexte zur Ebene eines „Es“ in hoher Lage, und eine wiederum zwei Takte in Anspruch nehmende Dehnung daselbst. Dieser Teil der Melodik wird vom Klavier wieder mit sieben Clustern begleitet, aber noch vor dem Ende der Schlussdehnung erklingt wieder die Blitzfigur.

    Dieses Grundmodell einer in unterschiedlich langen Dehnungen auf steigender oder fallender tonalen Ebene behält Reimann die ganze erste Strophe über bei. Und das ist auch beim Klaviersatz in seiner permanenten Aufeinanderfolge der beiden Figuren der Fall, wobei sich diese zumeist während dieser Dehnungen ereignet. Und darin drückt sich wohl der Sachverhalt aus, dass es sich bei den lyrischen Bildern zwar um naturhaft-nächtliche Welt handelt, aber eine, die eine Reflexion in der seelischen Innenwelt des lyrischen Ichs darstellt. In Reimanns Klaviersatz bildet sich dieser Sachverhalt gleichsam ab.

    Die Intervalle, über die die melodischen Sprünge oder Absenkungen erfolgen, die Höhe oder Tiefe der tonalen Ebenen, die damit erreicht werden, und die Länge der jeweiligen Dehnungen dienen Reimann dazu, den semantischen und affektiven Gehalt des lyrischen Textes zu erfassen und in der ihm gebotenen Weise zu akzentuieren. So setzt die melodische Linie bei den Worten „fern im Dunkeln“ mit einem extrem großen Fall über das Intervall einer verminderten None ein, so dass sich die Dehnung auf „im“, die Semantik des Wortes „dunkel“ reflektierend, in tiefer Lage ereignet und danach wieder ein Anstieg über eine jeweils verminderte Sexte und eine Sekunde erfolgt.

    Auf dem Wort „wunderbar“ ereignet sich eine Kombination aus Septfall und Quartsprung, und das Wort „Berge“ bildet die melodische Linie in Gestalt eines Sprungs über das große Intervall einer None hin zu einer Dehnung auf der tonalen Ebene eines „Es“ in hoher Lage und einer nachfolgenden Dehnung auf der Ebene eines „D“ in mittlerer geradezu ab. Und dementsprechend liegen die Vorschlag-Sprünge der Blitzfigur in der Oktav-Diskant- und der tiefen Basslage extrem weit auseinander, über sechs Oktaven nämlich, und sie weisen infolgedessen hohe Expressivität auf.
    Dieses musikalische Wörtlich-Nehmen des lyrischen Textes in Gestalt eines Abbildes seiner Semantik in Gestalt einer melodischen Figur scheint ein spezifisches Merkmal von Reimanns Liedsprache im Stadium zu sein, das sie in ihrer Entwicklung zu dieser Zeit erreicht hat.

    So lässt er zum Beispiel die melodische Linie bei den Worten „Nur die Bäche manchmal funkeln“ nach einem anfänglich nur kurz gedehnten Auf und Ab in mittlerer Lage bei „manchmal“ einen auf beiden Silben lang gedehnten Fall über eine verminderte Oktave beschreiben, dem zu „funkeln“ hin ein Sprung über eine verminderte „None“ zur Ebene eines „Cis“ in hoher Lage nachfolgt. Und hier nun beschreibt sie, den semantischen Gehalt dieses Wortes gleichsam abbildend, einen melismatisch angehauchten kurzschrittig verminderten Legato-Sekundfall mit nachfolgend lang gedehntem Sekundanstieg über eine große Sekunde auf der zweiten Silbe des Wortes. Und ganz dieser liedkompositorischen Intention entspringt auch, dass er die fallend angelegte Melodik auf den Worten nur in relativ kurzen Dehnungen sich entfalten und vom Klavier mit sehr eng beieinander liegenden und im Pianissimo erklingenden Cluster begleiten lässt.

    „Wetterleuchten“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ganz seinem liedkompositorischen Grundkonzept entsprechend, nutzt Reimann den Klaviersatz, um diese lyrische Bipolarität von nächtlich-naturhafter Außenwelt und seelischer Innenwelt liedmusikalisch zum Ausdruck zu bringen. Dieser besteht, wie gleich am Liedanfang vernehmlich wird, aus zwei permanent aufeinanderfolgenden klanglichen Figuren, die gegen Ende, und das ist vielsagend, ineinander übergehen. Die erste erklingt nur einmal ganz kurz am Anfang: Es ist die aus zwei gegenläufigen Clustern im oberen und unteren Diskant gebildete, in der das vorangehende Lied endete. Da sie nun aber fortissimo ausgeführt wird, bringt sie eine ausgesprochen schroffe und scharfe Klanglichkeit in die Liedmusik. Die andere, gleich am Anfang piano erklingend, besteht aus einer Folge von extrem weit, nämlich vier bis später sogar sechs Oktaven auseinander liegenden Folge von einem partiell mit Vorschlage versehenden Auf und Ab in Oktav-Diskant und tiefer Basslage angeschlagenen und lang gehaltenen tonalen Vierteln.

    Unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Cluster-Figur die gebethaft-monologischen Aussage des lyrischen Ichs im vorangehenden Lied begleitete, darf man wohl davon ausgehen, dass sie auch hier die seelische Innenwelt desselben repräsentiert. Dann aber wäre die zweite Figur der Nacht-Welt zuzuordnen, wie sie in der ersten Strophe lyrisch evoziert wird. Und das ist ja auch durchaus naheliegend, mutet sie doch in ihrer blitzartig-schrillen Klanglichkeit wie das musikalische Pendant zu dem „Wetterleuchten“ an, das Unheil signalisierend über dem lyrischen Nachbild steht. Und wenn man den Klaviersatz so deutet, dann wäre von großer Bedeutung, wie die beiden Figuren im Verlauf der Liedmusik auftreten und wie sich ihr Zusammenspiel entwickelt. Neben der spezifischen Struktur der Melodik und der Art und Weise ihrer Entfaltung ist dies also ein Sachverhalt, der in der Betrachtung der Liedmusik Beachtung verdient.

    Lange dauert es, bis in diesem Lied die Melodik einsetzt, ganze sieben Takte nämlich. Und das ist sehr wohl als Beleg dafür zu verstehen, dass Reimann dessen musikalische Aussage dem Klaviersatz anvertraut hat. Sieben Takte lang erklingen die beiden Figuren im Wechsel miteinander. Im zweiten Takt brechen die Cluster fortissimo in das Piano der Blitzfigur, so sei sie nun einmal genannt, auf klanglich schroffe Weise ein, erklingen, sich dabei ins dreifache Forte steigernd, insgesamt dreizehn Mal. Und von meinem Interpretationsansatz her würde das so zu deuten sein, dass die nächtliche Naturwelt und die seelische des lyrischen Ichs zunächst in einem gegensätzlichen und unverbundenen Nebeneinander auftreten. So ganz unverbunden mutet dieses Nebeneinander aber doch nicht an, denn bevor die Blitzfigur ein zweites Mal auftritt, kommt Pedal in die Clusterfigur

    Noch ein weiteres Mal ereignet sich diese klangliche Konfrontation, und dieses Mal erklingen die letzten beiden Cluster nicht nur wieder pedalisiert, beim dritten Auftritt, nach der Blitzfigur, treten sie sogar nicht mehr fortissimo, sondern piano auf. Mit diesem Sich-Zurücknehmen des Klaviersatzes ist gleichsam der Boden bereitet für den Einsatz der Melodik. Dieser ist vielsagend, denn er beschränkt sich, weil ihm eine kurze Pause nachfolgt, auf das Wort „Wetterleuchten“, und die melodische Linie auf diesem weist ein hohes Aussagepotential auf. Reimann versteht es, und das natürlich zu Recht, als ein lyrisches Schlüsselwort, und deshalb erfährt es diese musikalische Exposition in Gestalt einer hochexpressiven, in eine Pause mündenden Melodik. Auf der kurzen Silbe „Wet-“ liegt eine extrem lange, sich über drei Takte erstreckende Dehnung, innerhalb derer der Klaviersatz von der Cluster- zur Blitzfigur übergeht.

    Lied 3: „Wetterleuchten“

    Wetterleuchten fern im Dunkeln;
    Wunderbar die Berge stehn,
    Nur die Bäche manchmal funkeln,
    Die im Grund verworren gehn.

    Und ich schaue froh erschrocken,
    Wie in eines Traumes Pracht,
    Schüttle nur die dunklen Locken, –
    Deine Augen sind die Nacht.

    Zwei prosodisch gleich angelegte Strophen: Vierhhebiger Trochäus, Kreuzreim, klingende und stumpfe Kadenz im Wechsel. Die erste Strophe entfaltet eine nächtliches, typisch Eichendorffsches Naturbild: Ein aus dem Übergang von Ferne in Nähe sich konstituierender Raum, zwielichtiges, weil Unheil bergendes Wetterleuchten in der Ferne, wunderbar stehende Berge in der Nähe, aber Bäche, deren Funkeln Zeichen davon ist, dass sie der Tiefe angehören und dort verworren fließen. Ein Nachtbild also, das in seinem wunderbaren Anschein untergründig ist.

    Das lyrische Ich erlebt, wie es in der zweiten Strophe bekundet, diese Nacht eben deshalb zugleich „froh“ und „erschrocken“. Es fühlt sich wie einem von prächtigen Bildern erfüllten Traum. Wenn es seine „dunklen Locken“ schüttelt, ist das zugleich ein Abschütteln des Traumes und eine Einkehr in die gegenwärtig reale Lebenswelt. Und da stellt sich assoziativ das Bild der Augen eines ihm nahestehenden, lyrisch nicht näher konkretisierten, aber wohl geliebten Menschen sein. Der lapidare, wie isoliert, weil ohne inhaltliches Bindeglied in sprachlich sachlich-konstatierendem Gestus auftretende Schlussvers macht die, poetologisch in Zukunft weisende, Größe dieser Lyrik aus.

    Das lyrische Ich stellt nicht etwa fest: „Deine Augen sind wie(!) die Nacht“. Nein, dieses „wie“ lässt es weg, weil diese Äußerung aus der Betroffenheit durch eine unmittelbare, assoziativ sich einstellende Erfahrung von Realität hervorgeht. Und die lautet: Dieses - doch wohl geliebte - Du ist in seinem Wesen untergründig wie die Nacht, traumhaft prachtvoll zwar, aber wesenhaft wetterleuchtend zwiespältig und letzten Endes unfassbar.

    Zwei lyrische Welten weist dieses Gedicht also in Gestalt seiner zwei Strophen auf, gleichwohl stehen sie in einem Bezug zueinander, weil die eine, die in naturhafter Nächtlichkeit aufscheinende, in der anderen, der subjektiven Ich-Welt reflektiert und affektiv konnotiert wird. Und vernimmt man Reimanns Liedmusik darauf, so stellt sich schon vom ersten Takt an auf geradezu überwältigende Weise der Eindruck ein, dass sie genau darauf angelegt ist: Diese Erfahrung, die das lyrische Ich in der Erfahrung von Nacht macht, in eine Musik zu fassen, die sie in ihrer existenziellen Relevanz zum Ausdruck bringt.


    „Der Umkehrende“ (III)

    Auch bei der Melodik auf den Schlussworten „Was ich nicht will“ stellt sich bei mir, wie das ja auch schon beim ersten Lied dieses Zyklus der Fall war, der Eindruck einer übersteigerten Expressivität durch Nutzung klanglicher Effekte ein. Gewiss, diese lyrischen Worte bringen Trotz zum Ausdruck, eine Auflehnung des lyrischen Ichs gegen das, was ihm schicksalhaft auferlegt wurde. Aber muss eine diesen Sachverhalt aufgreifende Melodik deshalb so angelegt sein, wie das hier der Fall ist?

    Bei den Worten „was ich“ beschreibt sie einen Sextfall in mittlere Lage, zu dem Wort „nicht“ vollzieht sie dann von dort aus einen geradezu gigantischen Sprung über das Intervall einer Oktave hoch zur tonalen Ebene eines „Es“, der aber über einen vorgelagerten Quartschritt auf eben diesem Wort „nicht“ liegt. Danach ereignet sich auf diesem eine endlos anmutende, über vier Takte sich erstreckende Dehnung in Gestalt eines zweimal darin sich ereignenden Achtel-Vorschlags. Und schließlich folgt das Wort „will“, und die Dehnung, die nun auf der tonalen Ebene eines Quinte tiefer auf der tonalen Ebene eines „A“ erklingt, erstreckt sich wieder über drei Takte, begleitet von insgesamt sechzehn teils sechs-, teils fünftönigen Clustern.

    Weitere sechzehn Mal erklingen sie, dabei sich ins Forte-Fortissimo steigernd dann im Nachspiel. Nun aber wandeln sie sich in ihrer Gestalt. Lagen sie bislang in oberer und unterer Diskantlage weit auseinander und erklangen im Wechsel, so rücken sie jetzt in mittlerer Lage nicht nur zusammen, sie laufen, weil oben fallend, unten aber ansteigend angelegt, aufeinander zu und werden überdies nun mit Pedal ausgeführt. Klanglich schroff muten sie aber weiterhin an, wenn auch darin ein klein wenig gemindert.
    Man kann das so deuten, dass das lyrische Ich von seiner Haltung der trotzigen Auflehnung abgerückt ist.

    Diese gegenäufigen sechsstimmigen Cluster klingen beim Einsatz der Liedmusik des dritten Lieds zunächst zwar einmal aus, dies aber nur kurz. Sie bilden die Substanz von dessen Klaviersatz zwar nicht mehr wie hier ganz und gar, aber doch zu einem wesentlichen Teil.

    „Der Umkehrende“ (II)

    Auf dem Wort „Herr“ liegt die erste von den extrem langen Dehnungen, in die die Melodik in diesem Lied immer wieder ausbricht. Sie ereignet sich auf der Ebene eines „Es“ in hoher Lage, erstreckt sich über vier Takte und wird vom Klavier mit insgesamt fünfzehn Clustern in Diskant und Bass begleitet, bevor die melodische ihre Bewegungen auf den Worten „, ich lasse ja das Klagen“ fortsetzen kann. Der Anstieg, den sie hierbei in hoher Lage beschreibt, erfolgt ebenfalls in kleinen Intervallen. Das größte ist der Quartsprung, mit dem sie einsetzt. Auf „lasse ja“, geht sie erst einmal in einen Sekundfall mit Tonrepetition über, danach beschreibt sie einen zweischrittigen verminderten Sekundanstieg, um sich bei „Klagen“ erneut einer langen Dehnung in Gestalt eines kleinen Sekundfalls zu überlassen, der den schmerzlichen Gehalt dieses Wortes reflektiert. Sie erstreckt sich dieses Mal nur über zwei Takte mit sieben Clustern im Klaviersatz, die nun aber in Bass und Diskant fünftönig sind.

    Diese Fünftönigkeit behalten die Cluster auch in der Begleitung der melodischen Linie auf den Worten des dritten Verses bei, wobei sie, und das ist auch zuvor schon mehrmals der Fall gewesen, in ihrem Wechsel zwischen Diskant und Bass in unterschiedlichen Gruppen von zwei bis vier am Ende des langen achttaktigen Nachspiels sogar fünf Clustern erklingen. Auf den Worten „Und das Herz ist still“ behält die Melodik ihren Gestus des Anstiegs in kleinen Intervallen auf der gleichen tonalen Ebene, in der sie sich bislang entfaltete, bei. Eine deklamatorische Tonrepetition auf der Ebene eines „Gis“ in hoher Lage, auf „Herz“ ein eine Terz höher ansetzender verminderter Legato-Sekundfall mit nachfolgender Dehnung, die von vier Clustern begleitet wird, und auf den Worten „ist still“ schließlich ein dieses Mal sogar großer Sekundanstieg, der wiederum in eine, dieses Mal aber nur kleine, einen Takt einnehmende Dehnung mündet. Immerhin aber wird sie mit sechs Clustern akzentuiert. Und diese klingen danach in ihrem so eigenartigen, klanglich schroffen Auftritt weiter fort, insgesamt siebzehn Mal, bevor sich mit der Melodik auf den Worten des vierten Verses ein kleiner Umschlag in der Liedmusik ereignet.

    Tiefgreifend ist dieser nicht, aber immerhin doch deutlich vernehmlich. Das Tempo ändert sich leicht, von der Vorgabe „ca. 84“ für ein Achtel zu nun „ca.76“, und die Dynamik steigert sich vom Forte zum Fortissimo. Und dass gesteigerte Expressivität angesagt ist, lässt schon nach dem Ausklingen des Cluster-Nachspiels am Ende der Melodik des vierten Verses vernehmen. Es ist in der Tat ein Vorspiel in Gestalt einer fortissimo erklingenden Folge von sechs sechstönigen Clustern, denn die danach im Fortissimo einsetzende Melodik bleibt auf den Worten „Nun aber“ ohne Klavierbegleitung.
    Das ist ganz sinnig, denn diesen beiden Worten kommt ja eine auf einen Wandel in der lyrischen Aussage verweisende Einleitungsfunktion zu, und dementsprechend beschreibt die melodische Linie auf ihnen erstmals einen Fall. Er setzt allerdings, eben diesen Einleitungs- und Eröffnungsgestus zum Ausdruck bringend, mit einem ausdrucksstarken Fortissimo-Septsprung zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage ein, und die nachfolgende Dehnung auf dem Wort „nun“ verleiht diesem ungewöhnlich großes melodisches Gewicht. Der sich eine Quarte tiefer ereignende verminderte, nur aus einfachen, deklamatorisch ungedehnten Viertelschritten bestehende Sekundfall auf dem Wort „aber“ wirkt daneben beiläufig. Erst danach setzen die Cluster wieder ein.

    Bei dem Wort „Kraft“ beschreibt die melodische Linie einen stärkeren und schwungvoller anmutenden Anstieg in hohe Lage, dies weil er im Legato erst über eine kleine Sekunde, dann über eine Quarte erfolgt, um dort wieder, wie üblich, in eine lange Dehnung überzugehen. Erst hier setzen die Cluster wieder ein. Das Wort „Kraft“ wird a cappella deklamiert. So ist das auch bei den Worten „zu tragen“. Auf ihnen liegt anfänglich ein Dehnung, der auf „tragen“ dann, und dies a cappella, eine einen ganzen Takt einnehmende Dehnung in Gestalt eines siebenmaligen und um eine Sekunde ansteigenden Auf und Abs in Sekundschritten nachfolgt. Bei dem Terzsprung, den die melodische Linie dann auf der Silbe „-gen“ vollzieht, setzen die Cluster wieder ein und begleiten die melodische Linie auf den Worten „was ich nicht will“ mit einer nur kurzen Unterbrechung. Das Wort „tragen“ erfährt durch dieses lang gedehnte - mir allerdings als schierer Effekt vorkommende - Hin und Her der melodischen Linie eine starke Akzentuierung.

    „Der Umkehrende“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Mit klanglich schroffen, hastig aufeinanderfolgenden, in Diskant und Bass im Wechsel forte angeschlagenen vier- bis fünfstimmigen Clustern setzt das Lied ein. Reimann gibt genaue Anweisungen dazu, lautend „sempre staccato“, „senza Ped.“, „nur den Nachhall mit Ped. halten. Das ist die Struktur des Klaviersatzes bis zum Ende der Liedmusik, er durchläuft darin einige Variationen, die durchaus vielsagend sind. Vom zweiten Vers an werden die Cluster fünfstimmig, vom vierten an sechsstimmig, und sie sind nun im Fortissimo vorzutragen. Dieses steigert sich im Nachspiel sogar ins Forte-Fortissimo, und schließlich verringern sich die Cluster am Ende wieder zu sechsstimmigen, werden aber „con. Ped“ und in Bass und Diskant gegenläufig ausgeführt.

    Wenn man sie als klanglich-musikalischen Ausdruck der emotionalen Grundhaltung des lyrischen Ichs auffasst und versteht, so vernimmt man darin große seelische Erregtheit, einhergehend mit Zorn und Empörung, wobei sich der Grad derselben mit den Worten des vierten Verses steigert und bei den letzten seinen Höhepunkt erreicht, um sich schließlich am Ende des Nachspiels, Ausdruck einer inneren Beruhigung des lyrischen Ichs, wieder abzusenken. Infolge dieser Grundfunktion als klangliche Manifestation der seelischen Befindlichkeit des lyrischen Ichs leistet der Klaviersatz in seinen Varianten dann auch noch eine Akzentuierung der Aussage der Melodik.

    Wie der Klaviersatz weist auch diese eine durchgehende, nur in Gestalt von Variationen sich wandelnde Grundstruktur auf. Von Zeile zu Zeile verharrt die melodische Linie mit nur geringen Abweichungen in Sekundintervallen auf einer tonalen Ebene in oberer Mittellage, um am Ende mit einem Sprung über unterschiedlich große Intervalle zu einer langen Dehnung in hoher Lage überzugehen. Die Musik dieses Liedes weist also eine eigenartige strukturelle Einfachheit auf, aber sie steigert sich gleichsam in sie hinein, indem sie das ihr inhärente Ausdruckspotential benutzt, um ein Höchstmaß an Expressivität zu entfalten. In dieser kompositorischen Anlage, diesem exzessiven, geradezu starr anmutenden Verharren in der anfänglichen Faktur reflektiert sie die in diesen fünf Versen gleichbleibende, darin aber in der Intensität und Expressivität sich steigernde Grundhaltung des lyrischen Ichs.
    Und das macht sie so eindrücklich.

    Der erste Vers tritt im sprachlichen Gestus des sachlichen-nüchternen Konstatierens auf, weist darin aber gleichwohl ein hohes, nicht explizit gemachtes affektives Potential auf, das von Niedergeschlagenheit, über Resignation bis zu Verzweiflung reichen kann. Wie Reimann ihn rezipiert hat, lässt die Melodik erkennen. Auf den Worten „Was ich wollte, liegt zerschlagen“ verharrt die melodische Linie, forte vorgetragen, bis zu dem Wort „liegt“ zunächst in silbengetreuer Deklamation auf der Ebene eines „H“ in hoher Lage, bei dem Wort „zerschlagen“ vollzieht sie anschließend erst einen kleinen, dann einen großen Sekundanstieg, fällt dann auf die Ebene des „H“ zurück, um erneut in einen nun verminderten Sekundanstieg überzugehen. Das mutet, wegen dieser Anstiege über kleine Intervalle und des Rückfalls dazwischen eher wie schmerzliche Resignation an. Und diese Deutung des affektiven Potentials ist ja auch naheliegend angesichts der Aussage, die das lyrische Ich im zweiten Vers tätigt.

    Lied 2: „Der Umkehrende (III)“

    Was ich wollte, liegt zerschlagen,
    Herr, ich lasse ja das Klagen,
    Und das Herz ist still.
    Nun aber gib auch Kraft, zu tragen,
    Was ich nicht will!

    Bei diesen fünf Versen handelt es sich um die dritte Strophe (deshalb das römische III) im Titel des insgesamt fünfstrophischen Gedicht „Der Umkehrende“, das in den Jahren 1819 bis 1837 entstand, diese dritte Strophe 1837.
    Formal betrachtet geht es um einen in der Haltung des Gebets erfolgenden inneren Monolog, der sich in Gestalt von Versen aus vierhebigen Trochäen mit klingender Kadenz und gemeinsamem Reim ereignet. Die prosodische Besonderheit besteht dabei darin, dass der dritte und der letzte Vers aus dieser formalen Grundstruktur ausbrechen, der dritte Vers behält dabei noch das Metrum bei, weist aber nur noch drei Hebungen und eine stumpfe Kadenz auf, der letzte aber entzieht sich in seiner sprachlichen Rhythmik jeglichem metrischen Reglement.

    Eichendorff nutzt diese prosodischen Mittel auf durchaus kunstvolle Weise, um die innere Haltung des lyrischen Ichs zum Ausdruck zu bringen. Im Ausbruch aus dem metrischen Reglement erweist sie sich als eine des zornigen Trotzes. Alles, was dieses lyrische Ich im Entwurf seiner personalen Lebenswelt erschaffen wollte und auch tatsächlich erschuf, ist „zerschlagen“. Seinem „Herrn“ bekennt es im Gebet, dass es nicht klagen wolle und von allen Aktivitäten ablasse, wie wohl die Worte „das Herz ist still“ zu interpretieren sind. Zugleich aber bittet es um die „Kraft, zu tragen“.
    Und an dieser Stelle tritt die poetische Raffinesse in das Gedicht. Man erwartet, dass es lyrisch-sprachlich weitergeht im Sinn von „ … zu tragen, was nun einmal an schicksalhaften Gegebenheiten zu tragen ist“. Stattdessen lässt dieses Ich seinen Herrn wissen, dass es das, was ihm da widerfahren ist, gar nicht tragen will, - und dies in lyrischen Worten, die allesamt eine Hebung tragen, sich also, wie es selbst auch, keinem Reglement unterwerfen wollen. Bei ihm wäre es das der Demut. Stattdessen liegt das Gegenteil vor: Zorniger Trotz.

    So betrachtet und interpretiert heben sich diese fünf Verse deutlich von den übrigen diesem Zyklus zugrundeliegenden Gedichten ab. In allen, selbst in dem, bei dem man es angesichts seines Titels „Auf meines Kindes Tod“ nicht erwarten würde, findet sich in unterschiedlicher lyrischer Gestaltung nächtliche Lebenswelt. Nur hier ist das nicht der Fall.
    Dass Reimann diese fünf Verse dennoch in seinen Zyklus aufgenommen hat, lässt erkennen, wie er das Thema „Nacht“ in diesem Zyklus verstanden und zum Gegenstand einer kompositorisch-reflexiven Auseinandersetzung gemacht hat: Nicht als real-tageszeitliches Phänomen, sondern als existenzielle Grunderfahrung.

    Und so hat er denn diese fünf Verse als lyrischen Ausdruck eines Aufbegehrens gegen schicksalhafte Geworfenheit in existenzielle „Nacht“ gelesen, sich einstellend in der Erfahrung des Scheiterns im Entwurf und in der Realisierung von personaler Lebenswelt. So lässt das - jedenfalls für mich - seine Musik auf diese Eichendorff-Verse vernehmen. Sie strotzt geradezu vom Ausdruck zorniger, trotziger, ja geradezu wütender Expressivität: In der sich vom Forte ins Fortissimo steigernden Folge von dissonanten Clustern als ausschließlicher Inhalt des Klaviersatzes, und in einer Melodik, die, ebenfalls nur forte und fortissimo, wie trotzig auf der tonalen Ebene verharrt, um schließlich einen Ausbruch zu langer Dehnung auf tonal hoher Ebene zu vollziehen.


    Ich glaube schon, dass die Aufnahme mit der man ein Werk kennenlernt oftmals erstmal einen Standard setzt, den andere Aufnahmen dann schon etwas deutlicher übertreffen müssen.

    (...)

    Aber da ich für mich andere ästhetische Standards anlege als damals üblich waren (und irgendwann sein werden), kann ich mir Richter und Co einfach nicht anhören.

    Bei mir war das mit der Richter-Aufnahme so. Seit sie im Handel erhältlich war, hörte ich sie regelmäßig am Karfreitag. Dann geriet ich unter den Zwang des HIP-Trends und setzte die entsprechenden Aufnahmen ein. Eine regelrechte Schock-Erfahrung war die Folge. Bei den schnellen Tempi im Dreivierteltakt fühlte ich mich statt in einen Kirchenraum auf einen Tanzboden versetzt.

    Ich kehrte zu Richter zurück.

    Und jetzt komme ich zu dem Punkt, weshalb ich diese Bemerkung hier mache.

    "Ästhetische Standards" sind für mich im Fall der Matthäus-Passion ein irrelevanter Faktor. Ich höre dieses Werk wegen seines Glaubensinhalts. Und den vernehme ich bei Richter musikalisch in einer Weise zum Ausdruck gebracht, wie das bei den HIP-Aufnahmen auch nicht annähernd so der Fall ist.

    Das gilt besonders für die affektive Dimension, die der Musik Bachs, bedingt durch den pietistisch geprägten Geist der Texte und seine eigene Gläubigkeit, immanent ist.

    „Nachts“ (IV)

    Bei den Worten „Mein irres Singen hier“ beschreibt die melodische Linie im Forte auf „irres“ eine ähnlich wirre Bewegung wie zuvor auf „Gedanken“, in Gestalt eines sechsmaligen und wieder einmal mit Vorschlag versehenen deklamatorischen Auf und Abs in Sekundintervallen auf hoher Lage und geht dann bei „Singen hier“ auf der tonalen Ebene eines „H“ in hoher Lage mit einem verminderten Sekundschritt in eine extrem lange und darin hochexpressive Dehnung in Gestalt eines verminderten Sekundfalls über. Und diese ins Extrem getriebene, den semantischen Gehalt der lyrischen Aussage geradezu verkörpernde Expressivität behält sie auch, nun vom Klavier mit der Sprungfigur im Fortissimo begleitet, bei den Schlussworten „Ist wie ein Rufen nur aus Träumen“ bei.

    Nach einem Sekundanstieg und einem verminderten Quartfall auf „ist wie ein“ springt die melodische Linie über das riesige Intervall einer Dezime zur extrem hohen tonalen Ebene eines zweigestrichenen „F“ und verfällt dort auf dem Vokal „u“ in eine wiederum extrem lange Dehnung in Gestalt einer dreimaligen Repetition, die, weil sie jeweils mit einem Vorschlag vorgetragen wird, wellenartig anmutet und, weil auch noch im Fortissimo erklingt und am Ende in einen Quintfall übergeht, ein tatsächliches „Rufen“ darstellt.

    Und ähnlich ins Extrem getrieben mutet auch der Fall an, den sie auf dem Wort „Träumen“ beschreibt. Wieder ein aus einem verminderten Quintfall in mittlerer Lage hervorgehender Riesensprung, dieses Mal sogar über eine Undezime hoch zur Ebene eines zweigestrichenen „Fis“, und anschließend eine geradezu endlos anmutende Abwärtsbewegung in sechs (!) deklamatorischen Sekundschritten auf dem Diphthong „äu“, die auf der Silbe „-men“ in einen Sekundanstieg zur Ebene eines „A“ in hoher Lage übergeht.

    Weil dieser Ton „A“ auf der Schlusssilbe seinerseits keine Dehnung trägt, reißt die Melodik einfach ab. Das Klavier lässt noch drei Mal seine Sprungfigur erklingen, sie wird dabei aber immer magerer, weil Zahl der Sprünge abnimmt und die Dynamik ins Pianissimo übergeht. Beim dritten Mal ist es nur noch ein zweimaliges Auf und Ab, und das Lied ist zu Ende. Aber typisch für Reimann: Er lässt das Klavier ganz zum Schluss noch ein einsames „Gis“ im Bass anschlagen, und dies im Piano.

    Mit dieser in ihrer Expressivität ins Extrem getriebenen, den semantischen und affektiven Gehalt geradezu sinnlich verkörpernden Melodik auf den Worten „Rufen“ und „Träumen“ bringt Reimann sein spezifisches Verständnis der lyrischen Aussage dieses Gedichts zum Ausdruck. Die sich in dem „irren Singen“ ausdrückenden Gedanken und Gefühle, wie sie sich in der Begegnung mit „Nacht“ einstellen können, sind keine eines Zur-Ruhe-Kommens und Zu-sich-selbst-Findens, vielmehr die einer tiefgreifenden existenziellen Erschütterung und Gefährdung.

    „Nachts“ (III)

    Ganz anders ist dann die Melodik auf den Worten „Dann wieder alles grau und stille“ angelegt. Sie mutet wie eine musikalische Verkörperung dieses lyrischen Bildes an. Erst verharrt sie bei den drei Silben von „dann wieder“ auf der Ebene eines „F“ in oberer Mittellage, bei „alles“ beschreibt sie dann einen verminderter Quartfall in mittlerer Lage, vollzieht zu „grau“ hin einen dieses Wort akzentuierenden ausdrucksstarken Sprung über das große Intervall einer Sexte, und in diesem Gestus setzt sie auf den Worten „und stille“ ihre Bewegung fort: Wieder ein, nun aber eine Sekunde tiefer ansetzender Sextsprung, danach aber ein den semantischen Gehalt von „stille“ reflektierender verminderter Quartfall. Das Klavier begleitet diese Melodiezeile nun, ganz ihrer Aussage entsprechend, mit nur noch hingetupften, über deutlich kleinere Intervalle sich erstreckenden Vierteln.

    Aber ein geradezu klanglich schrill anmutender Einbruch in das Pianissimo dieser Liedmusik ereignet sich danach. Dies in Gestalt einer zweimal vom Mezzoforte ins Forte sich steigernden Figur aus vier, vom tiefen Bass zum hohen Diskant erfolgenden Sprüngen von Vierteln. Und prompt setzt die Melodik auf den Worten des ersten Verses der zweiten Strophe auch im Mezzoforte ein, - nicht aber, ohne dass zuvor das Klavier noch eine schlichte Oktave hat erklingen lassen. Man staunt immer wieder einmal über die - sich allerdings nur aus dem Blick auf den Notentext erschließende - kompositorische Subtilität von Reimanns Liedmusik.

    Das Mezzoforte ist wohl dem emphatischen Ausruf-Gestus, in dem das lyrische Ich hier mit den Worten „O wunderbarer Nachtgesang“ einsetzt, geschuldet. Und die Melodik, die Reimann auf sie legt, reflektiert diesen voll und ganz. Und nicht nur bei ihr ist das der Fall, vielmehr auch beim Klaviersatz. Denn dieser entfaltet nun zunächst in der vom Mezzo ins Forte sich steigernden Figur, mit der das Klavier im kurzen Zwischenspiel vor der zweiten Strophe aufgetreten ist. Und das geschieht bis hin zur Melodik auf dem zweiten Vers auf gleichsam sporadische, weil von Pausen unterbrochene Art und Weise. Bei den Worten „O wunderbarer“ verharrt die melodische Linie in silbengetreuer Deklamation auf der Ebene eines „B“ in hoher Lage, um sich dann bei „Nachtgesang“ nach einem Quartfall über das große Intervall einer verminderten Septe zur Ebene eines „Es“ in Leis Schauern in den dunklen Bäumen hoher Diskantlage aufzuschwingen. Zweimal erklingt danach die Sprungfigur mit der zwischengelagerten Oktave, und die sich anschließende melodische Linie auf den Worten „Von fern im Land der Ströme Gang“ mutet wie eine Wiederkehr derjenigen auf dem ersten Vers an: Wieder das lange Verharren, nun allerdings einen Halbton tiefer und am Ende der Septsprung bei „Gang“ nur noch zur Ebene eines hohen „H“.

    Reimann verleiht diesem lyrischen Bild ein eigenes Gewicht, denn er löst den zweiten Vers aus dem Kontext, in dem er bei Eichendorff steht, indem er anschließend vier Takte lang vier Mal die Sprungfigur erklingen, sie dann aber beim fünften Mal in am Ende in einen Anstieg von Vierteln aus dem Bass in den hohen Diskant übergehen lässt. Man kann das als eine klangliche Evokation der Weite verstehen, die diesem lyrischen Bild des zweiten Verses innewohnt. Das nachfolgende Bild „Leis Schauern in den dunklen Bäumen“ wird dann als ein im Hier und Jetzt stattfindendes Ereignis auf überaus markante Weise davon abgesetzt, weil, Reimann es, darin von den Gegebenheiten im lyrischen Text abweichend, in unmittelbarem kausalem Zusammenhang mit den Worten „Wirrst die Gedanken mir“ stehen sieht.

    So legt er denn auf die Worte „Leis Schauern in den dunklen Bäumen / Wirrst die Gedanken mir“ eine in sich geschlossene Melodiezeile, in der sich die melodische Linie bei dem Wort „wirrst“ auf der gleichen tonalen Ebene fortsetzt, auf der bei „Bäumen“ endet. Sie hebt sich in ihrer deklamatorischen Struktur auf höchst bedeutsame Weise von der der vorangehenden Melodik ab. Das „Wirren“ der „Gedanken“, von dem das lyrische Ich hier bekenntnishaft spricht, stellt für Reimann ganz offensichtlich die zentrale Aussage des Gedichts dar, weil sie das Wesen der Nacht, so wie er es in Eichendorffs Lyrik wahrnimmt, gleichsam schlaglichtartig zum Ausdruck bringt.

    Seine Melodik lässt er das dergestalt reflektieren, dass sie geradezu wirre Bewegungen vollzieht: Erst einen mit Vorschlägen versehenen verminderten Sekundanstieg in hoher Lage, dort dann zunächst dann ein kurzes Auf und Ab mit eingelagertem Vorschlag-Fall über eine Quarte, ein wellenartiger, erneut mit Vorschlag versehener Legato-Aufstieg zur Ebene eines “H“ in hoher Lage (bei „Bäumen“), nachfolgend eine mit Portato-Zeichen (!) versehene Tonrepetition auf „wirrst die“, und schließlich auf dem Wort „Gedanken“ ein geradezu irrwitzig anmutender Legato-Fall in sechs partiell verminderten Sekundschritten, der sich in einem über eine jeweils mit Vorschlag versehene Terz und eine Quarte fortsetzt, um schließlich bei „mir“ in einem verminderten Sekundanstieg zu enden.

    Das Klavier begleitet diese Zeile mit seinen punktuell angelegten Sprüngen aus tiefer Basslage in den extrem hohen Diskant, und diese Figuren behält es auch, bei langsam immer kleiner werdenden Intervallen und mit einem Decrescendo ins Pianissimo übergehend, zwei Takte lang bei, bevor es wieder in dieses Pianissimo seine viermalige Auf und Ab-Sprungfigur regelrecht hineinplatzen lässt, dieses Mal sogar vom Forte ins Fortissimo sich steigernd. Das führt zur Melodik auf den Worten der beiden Schlussverse hin, und diese tritt so auf, wie sich in diesem Vorspiel andeutet.

    „Nachts“ (II)

    Bei den Worten „so heimlich sacht“ geht die melodische Linie dann zwar in eine Abwärtsbewegung über, aber es ist eine bemerkenswert ruhige und zögerliche und ruhige, und damit eine, die im lyrischen Bild bleibt. Sie setzt mit einem verminderten Sekund- und Terzfall ein, geht auf „heimlich“ in ein Innehalten in Gestalt eines gedehnten Sekundanstiegs über und setzt danach die Abwärtsbewegung nur über einen großen und einen kleinen Sekundschritt weiter fort. Aber das ist eine ausdrucksstarke Fallbewegung, denn sie ereignet sich in Gestalt eines lang gedehnten verminderten Sekundfalls, der diesem Wort eine markante Hervorhebung verleiht. Und auch der Klaviersatz beteiligt sich daran dergestalt, dass die Sprungfiguren aus dem vorangehenden Auf und Ab zu einer vom Bass in den Diskant sich erstreckenden Anstiegsbewegung übergehen.

    Es gibt also sehr wohl, hier in Gestalt der melodischen Akzentuierung eines Wortes, eine liedmusikalische Interpretation von lyrischem Text. Und dieser begegnet man, neben dem Einfangen der Gestimmtheit des lyrischen Ichs und des affektiv-atmosphärischen Gehalts der Metaphorik, nachfolgend immer wieder. Bei den Worten „Oft aus der dunklen Wolkenhülle“ verharrt die melodische Linie, weiterhin im Gestus der silbengetreuen Deklamation verbleibend, zunächst in drei Schritten auf der Ebene eines „E“ in hoher Lage, beschreibt dann aber, die Semantik des Worte „dunklen“ reflektierend, einen ausdrucksstarken Quintfall in untere Mittellage, um von dort dann aber, wiederum das in der Höhe angesiedelte Bild von der „Wolkenhülle“ aufgreifend, einen Sprung über das relativ große Intervall einer Sexte hoch zur Ebene eines „G“ in hoher Lage zu vollziehen und dort erst ein einen verminderten Sekundfall, dann aber in einen weiter in die Höhe führenden Sekundanstieg überzugehen. Hier, bei diesem lyrischen Bild, beschränkt sich das Klavier auf eine Folge von abwechselnd in Diskant und Bass hingetupften Vierteln, und es fängt darin, so wie ich das empfinde, die luftig-zarte Aura desselben ein.

    Auf die beiden Verse „Und hin und her im Tal, / Erwacht die Nachtigall“ legt Reimann eine auf gebundene, ohne Pause sich entfaltende Melodiezeile, setzt sich also darin über sie prosodischen Gegebenheiten hinweg. Auch hier behält er die silbengebundene Deklamation bei, und das hat zur Folge, dass die melodische Linie in der weit nach oben ausgreifenden Bogenbewegung, die sie auf diesen Worten beschreibt, eine starke innere Unruhe aufweist. Auf den Worten „und hin und her“ beschreibt sie ein aus eine Dehnung hervorgehendes Auf und Ab, bei „der Mond“ steigt sie mit einem Quintsprung in hohe Lage auf und geht dort in einen verminderten Sekundfall über. In diesem silbengebundenen Fallgestus setzt sie auch ihre weitere Bewegung fort, wobei sie auf den Worten „heimlich sacht“ eine besondere, den semantischen Gehalt derselben reflektierende Subtilität entfaltet: Auf „heimlich“ liegt ein verminderter Terzfall mit nachfolgendem Wiederanstieg um eine kleine Sekunde.

    Danach schwingt sich melodische Linie in hohe Lage auf, und ihre Bewegungen dort erfolgen auf den Worten „Tal“. „erwacht“ und „Nachtigall“ allesamt in Gestalt von lang gedehnten Abwärtsschritten über das Intervall einer kleinen Sekunde, wobei sich dies auf einer Silbe ereignet. Bei „Nachtigall“ ist dieser Gestus besonders ausgeprägt. Drei derartige Fallbewegungen über jeweils eine kleine Sekunde liegen auf diesem Wort, am Ende erfolgt aber ein verminderter Sekundanstieg, und dieser, wie auch der dritte Fall, erfolgt sogar mit einem Achtelvorschlag.
    Vielleicht, so kann man vermuten, will Reimann mit dieser so komplexen Melodik die innere Erregung des lyrischen Ichs angesichts dieses ein besonders hohes affektives Potential aufweisenden Ereignisses zum Ausdruck bringen. Für diese Deutung spräche auch, dass er das Klavier hier eine dichte Folge von Viertel-Sprungbewegungen über geradezu riesige, vom extrem hohen Diskant bis in den tiefen Bass beschreiben lässt und sie mi der Vortragsanweisung „poco cresc.“ versehen hat.

    „Nachts“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Vorgaben, Ausführung und Vortrag der Liedmusik betreffend, gibt es wie üblich nicht. Nur ein Notenzeichen im Wert eines Viertels, versehen mit den Worten „ca. 60“, findet sich am Anfang des Notentextes. Das ist von Bedeutung, weil später, bei der Liedmusik auf den Worten „Leis Schauern in den dunklen Bäumen“ daraus ein „ca. 66“ wird, das ruhige Tempo des Vortrags also eine vorübergehende Beschleunigung erfahren soll.

    Ein zweitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie der Singstimme voraus. Der Begriff „Vorspiel“ ist aber unangebracht, denn es handelt sich hierbei, wie üblich bei Reimann, um den Anfang des völlig eigenständig sich entfaltenden Klaviersatzes. Die Grundstruktur, die er hier aufweist, bleibt in Diskant und Bass bis zum Lied-Ende erhalten, bis zum dritten Vers der ersten Strophe einschließlich tritt aber noch eine Komponente hinzu: Eine Art Cantus firmus in Gestalt einer im Bereich der Kontraoktave sich entfaltende Bewegung von lang gehaltenen Einzeltönen, die eine abgrundtiefe wellenartige Linie beschreibt. Im Diskant und Bass ereignen sich piano, bzw. pianissimo hingetupfte Einzeltöne im Wert eines Viertels, die sich als Sprungbewegungen über wechselnde, zumeist aber sehr große, weil vom tiefen Bass bis zum hohen Diskant sich erstreckende Intervalle darstellen.

    In dieser Grundstruktur durchläuft der Klaviersatz eine Vielfalt von Variationen, die darauf ausgerichtet sind, das Klangbild durch ein Zusammen- oder Auseinanderrücken dieser Sprungfiguren und eine Verkleinerung der Intervalle mehr oder weniger stark zu verdichten oder auszudünnen. Der Wechsel in der Dynamik, der sich vom Pianissimo bis zum Mezzoforte erstreckt, dient in diesem Zusammenhang einer Steigerung oder Minderung der Expressivität. Der im ersten Teil des Liedes zum Einsatz kommende „Cantus firmus“ bewirkt eine Einbettung dieser Sprungfiguren in eine Art klangliche Tiefen- Grundierung der Liedmusik.

    Es wird auf diese Weise, so empfindet man das, ein gleichsam hingetupfter Klangraum geschaffen, der sich weiten und verengen kann, und dies so stark, dass die Aussage der sich in ihm entfaltenden Melodik eine Akzentuierung erfährt, wenn diese Wandlung des Klangraums nicht gar, und das meint man häufig wahrzunehmen, ihrerseits die Aussage des lyrischen Textes reflektiert.
    Das aber ist in hohem Grad Sache der subjektiven Rezeption der Liedmusik, so dass, wenn nun versucht werden soll, Melodik und Klaviersatz in ihrer jeweiligen Aussage und ihrer potentiellen Interaktion zu beschreiben und zu interpretieren, die diesbezüglichen Feststellungen mit allem Vorbehalt aufgenommen werden müssen.
    Das gilt nicht nur für dieses Lied, sondern für alle weiteren dieses Zyklus, und es ergibt sich aus der ihm eigenen, sich in ihrer Modernität von der des vorangehenden so markant abhebenden Liedsprache.

    Bemerkenswert ist, dass Reimann bei all seinem Bestreben, seine Liedsprache dem Geist der siebziger Jahre entsprechend weiter zu entwickeln, sein kompositorisches Grundkonzept einer die lyrische Aussage reflektierenden und darin gebunden sich entfaltenden Melodik nicht aufgeben wollte. Die Musik dieses Liedes, wie auch die des ganzen Zyklus, erfährt dadurch ihre ganz eigene klangliche Prägung und Aussage. Auf den Worten „Ich wandre durch die stille Nacht“ beschreibt die melodische Linie in syllabisch exakter Deklamation einen langsamen Anstieg in verminderten Sekundschritten von der Ebene eines „Cis“ in mittlerer Lage zu der eines „B“ in hoher. Die Anmutung von großer Ruhe geht auf diese Weise von ihr aus, und sie lässt so die Wanderschaft dieses lyrischen Ichs zu einer werden, die der Stille der Nacht gemäß und von ihr erfüllt ist. Dementsprechend erklingen die in Diskant und Bass hingetupften Viertel nur vereinzelt im Pianissimo, und von den lang gehaltenen, nur in Sekunden sich auf und ab bewegenden Tönen in extrem tiefer Basslage geht eine ganz eigene Suggestion von Ruhe und Stille aus.

    Hierin manifestiert sich Reimanns grundlegende liedkompositorische Intention. Sie richtet sich nicht primär auf die mit musikalischen Mitteln erfolgende interpretatorische Ausdeutung der Semantik des lyrischen Textes, als vielmehr auf das Einfangen der lyrisch evozierten Aura und Atmosphäre der Metaphorik. Gleichwohl reflektiert sie auch in der jeweils angezeigten Weise den semantischen Gehalt der lyrischen Aussage, wie gleich die Melodik auf den Worten des zweiten Verses erkennen lässt. Bei den Worten „Da schleicht der Mond so heimlich sacht“ bewegt sich die melodische Linie im gleichbleibend ruhigen Gestus der deklamatorischen Entfaltung nur auf der hohen tonalen Ebene, die sie mit der Anstiegsbewegung beim ersten Vers eingenommen hat, und sie reflektiert darin dieses Bild vom „Schleichen“ des Mondes, das ja in überaus ruhiger Weise auf der hohen Himmelsebene stattfindet. Das Wort „Mond“ erfährt dabei eine Akzentuierung in Gestalt eines verminderten Quintsprungs zur tonalen Ebene eines „H“ in hoher Lage und eines nachfolgenden lang gedehnten Sekundfalls.

    Nachtstück II
    für Bariton und Klavier
    (Eichendorff)


    Diese fünf Lieder, die in ihrem Titel an den Zyklus „Nachtstück“ anbinden und wie dieser Eichendorff-Lyrik zur Grundlage haben, entstanden im Spätsommer 1978 auf Naxos, zwölf Jahre später also als der erste Zyklus. Reimann widmete dieses Werk Barry McDaniel.
    Unüberhörbar ist: In dieser Zeit hat Reimanns Liedsprache einen tiefgreifenden, geradezu radikalen Wandlungsprozess in Richtung maximaler Expressivität durchlaufen. Reste traditioneller Liedsprache, wie sie sich im ersten Zyklus etwa noch in Gestalt von Akkorden im Klaviersatz finden, gibt es nicht mehr. Nun arbeitet Reimann dort ausschließlich mit linearen taktübergreifenden Eintonklängen, punktuellen, über Bass und Diskant sich erstreckenden Sprungfiguren und Tonclustern.

    Geblieben aber ist sein kompositorischer Ansatz an der Zwielichtigkeit von Eichendorffs Nacht-Metaphorik und dem in „irres Singen“ verfallenden lyrischen Ich darin. Hinzu treten aber in diesem Zyklus noch die Aspekte „Tod“, „Klage“ und „Trauer“. Die ausgewählten Eichendorff-Texte sind umfangreicher, zwei davon sind sogar zweistrophig, und sie unterscheiden sich deutlich in ihrer Prosodie. Reimann verfuhr hier aber, wie man den vorliegenden Skizzen und Entwürfen entnehmen kann, genauso wie im ersten Zyklus: Erst wurden die Texte zusammengestellt, dann erst ging es an die Vertonung.


    Lied I: „Nachts“

    Ich wandre durch die stille Nacht,
    Da schleicht der Mond so heimlich sacht
    Oft aus der dunklen Wolkenhülle,
    Und hin und her im Tal
    Erwacht die Nachtigall
    Dann wieder alles grau und stille.

    O wunderbarer Nachtgesang:
    Von fern im Land der Ströme Gang,
    Leis Schauern in den dunklen Bäumen --
    Wirr'st die Gedanken mir,
    Mein irres Singen hier
    Ist wie ein Rufen nur aus Träumen.

    Eine in ihrer Prosodie kunstvoll angelegte Lyrik. Der Jambus herrscht als Metrum vor. Die ersten drei Verse sind vierhebig, bei dritten wird die anfangs stumpfe Kadenz zu einer klingenden, die Verse vier und fünf verengen sich gleichsam im Metrum, da sie, bei stumpfer Kadenz, nur drei Hebungen aufweisen, und der letzte Vers ist wieder wie der dritte angelegt, vierhebig also und mit klingender Kadenz. Diese Anlage hat ihren guten Sinn: Die ersten drei Verse führen zum lyrisch bedeutsamen Geschehen hin, das sich in den metrisch verdichteten Versen vier und fünf ereignet, und der letzte Vers fungiert als die vorangehenden lyrischen Aussagen beschließender Rahmen.

    In typisch Eichendorffscher Metaphorik wird wesenhaft stiller und weiter nächtlicher Raum evoziert, in dem der Mond „heimlich sacht“ aus der Wolkenhülle schleicht und fern im Tal da und dort die Nachtigall erwacht. Aber ihr Schlagen stört die Stille nur einen Augenblick lang, die Nacht kann wieder in ihre graue Stille zurückkehren.
    Das lyrische Ich fühlt sich in den wunderbaren Nachtgesang einbezogen. In den von fern im Land kommenden Gang der Ströme und in das leise Schauern der dunklen Bäume. Aber er wirrt ihm die Gedanken, und sein eigenes Singen wird zu einem „Irren“, das ihm wie ein Rufen aus Träumen anmutet.
    Dem „wunderbaren Nachtgesang“ wohnt also ein irrationales, das Denken verstörendes und wirre Emotionalität auslösendes Potential inne, das wie ein Rufen wahrgenommen wird, in die abgründige Welt der Träume einzutauchen.

    Die wesenhafte Zwielichtigkeit der Nacht wird hier von Eichendorff thematisiert, allerdings auf nur behutsame Weise lyrisch abgehandelt. Nur als „Rufen aus Träumen“ meldet sich die die Individuation des Ichs gefährdende Irrationalität, aber immerhin so stark, dass sie ein innerliches Singen zu einem „irren“ werden zu lassen vermag.
    Und damit sind alle Gründe dafür gegeben, dass Reimann diese Eichendorff-Verse für seinen zweiten Zyklus zum Thema „Nacht“, so wie er sie sieht, herangezogen hat.


    „Hier steh ich wie auf treuer Wacht“ (III)

    Es sind die für die musikalische Aussage dieses Zyklus´ konstitutiven Worte „Du schöne Welt, nimm dich in Acht!“. Und weil ihnen infolge ihrer Stellung am Anfang und am Ende eine so bedeutsame Schlüsselfunktion in diesem zukommt und sie durch die musikalischen Aussagen der dazwischenliegenden Lieder eine Bereicherung und Akzentuierung ihres semantischen Gehalts erfahren haben, kann Reimann am Schluss des Zyklus nicht einfach die Melodik vom ersten Lied noch einmal aufklingen lassen. Er muss sie variieren. Aber vielsagend ist, wie er das tut.

    Er legt keine in ihrer Grundstruktur ganz und gar neue Melodik auf sie, vielmehr behält er den ihr im ersten Lied innewohnenden und am Ende in einen Sekundanstieg übergehenden Fall-Gestus bei, steigert aber in der Art und Weise, wie er diese Struktur nun anlegt, den Warnruf-Appell ins Hochexpressive.
    Nun setzt die Fallbewegung der melodischen Linie mittels eines Sekundsprungs viel höher an, auf der Ebene eines zweigestrichenen „Fis“ nämlich. Danach senkt sie sich in gewichtigen, weil allemal gedehnten, vor „Welt“ sogar mit einem Vorschlag versehenen Sekundschritten ruhig ab, legt danach vor dem Wort „nimm“ eine die nachfolgende Aussage mit Bedeutung versehende Achtelpause ein und vollzieht anschließend bei den Worten „nimm dich in“ einen regelrechten triolischen Sturz über eine jeweils verminderte Quinte und eine Terz hin zur tonalen Ebene eines „Cis“ in mittlerer Lage.

    Und am Ende, bei dem lyrisch so hoch gewichtigen Wort „Acht“ wird nun aus dem melodischen Sekundstieg in mittlerer Lage ein hochexpressiver Sprung von der tonalen Ebene eines „Cis“ in mittlerer zu einem „Es“ in hoher Lage, über das große Intervall einer Dezime also. Und die kleine melodische Dehnung in Gestalt eines punktierten deklamatorischen Viertels im ersten Lied wird nun zu einer ebenfalls riesigen. Sie erstreckt sich über zwei Takte.

    Immerzu begleitet wird die ihrerseits ebenfalls nun forte vorzutragende melodische Linie vom Klavier in dieser ihrer letzten Zeile mit den partiell lang gehaltenen Fortissimo-Terzenakkorden. Und diese dominieren als Repetition auch ganz und gar das neuntaktige Nachspiel und klingen in ihm aus. Reimann lässt aber in ihrer Abfolge zwei Mal einen Fortissimo-Sekundfall in Gestalt eines „Cis“ und „C“ in hoher Diskantlage erklingen und drei Mal ebenfalls fortissimo ein zwei gestrichenes „A“ im tiefen Bass.

    Die Terzenakkorde wirken durch Sekundreibung mittels eines oben beigefügten „Gis“ dissonant, und die in der Repetition von ihnen ausgehende Anmutung von Bedrohlichkeit erfährt durch den zweimaligen Sekundfall in hoher Lage und den dumpfen A-Bass noch eine Intensivierung.
    Unüberhörbar ist: „Nacht“, wie sie in diesem Zyklus thematisiert und in ihrem Wesen dargestellt und ausgelotet ist, kann zu einer existenziellen Bedrohung für den Menschen werden.

    „Hier steh ich wie auf treuer Wacht“ (II)

    Aus dem Aufbruch zu Wacht ist nun eine Rückkehr aus dieser geworden. Aber auf die Worte „auf treuer Wacht“ hat Reimann, eben darin bewusst die Anbindung an das erste Lied betonend, genau die gleiche melodische Linie wie auf die dortigen „auf die Wacht“ gelegt. Anders als dort lässt er aber nun die Melodik a cappella erklingen. Das ist wohl so zu verstehen, dass dort, in der Aufbruch-Situation zur Wacht, die melodische Linie in ihrem Anstiegs-Gestus die Unterstützung durch einen entsprechend expressiven Sechzehntel-Klaviersatz benötigt, nun aber, am Ende der „Wacht“ ist das nicht mehr der Fall. Das lyrische Ich spricht auf fallender melodischer Linie frei von der Anspannung durch die Wacht monologisch vor sich hin.

    Aber die Erfahrungen der „dunklen Nacht“ klingen in ihm noch nach. Die zweite, nach der erwähnten zweitaktigen Pause einsetzende Melodiezeile lässt das auf eindrückliche Weise vernehmen. Auf den Worten „vergangen ist“ beschreibt die melodische Linie einen ruhigen Anstieg über partiell verminderte Sekundschritte in oberer Mittellage, dann aber, bei „ist die“ geht sie, eine Quarte tiefer neu ansetzend, in einen sich zu dem Wort „dunkle“ hin fortsetzenden Anstieg in hohe Lage über.
    Und nun ereignet sich auf den Worten „dunkle Nacht“ eine komplexe, die Semantik in ihrem affektiven Potential zu Ausdruck bringende expressive Bewegung. Auf „dunkle“ ist das ein ausdrucksstarker gedehnter Legato-Septfall aus hoher Lage in mittlere, dem ein mit Vorschlag versehener Quintsprung nachfolgt. Auf „Nacht“ beschreibt die melodische Linie dann einen lang gedehnten Fall über eine kleine Sekunde von der tonalen Ebene eines „E“ zu der eines „Es“ in oberer Mittellage. Und das alles ereignet sich erneut a cappella. Das Klavier beschränkt sich bei den ersten beiden Melodiezeilen darauf, deren Aussage in den nachfolgenden Pausen mit seiner ersten Figur zu kommentieren.

    Erst bei der dritten, den dritten lyrischen Vers beinhaltenden Melodiezeile, tritt es wieder begleitend auf. Aber diese Begleitung besteht aus der Variante der ersten Klavierbassfigur, wie sie bereits nach der Melodik auf den Worten des ersten Verses erklungen war. Und sie dauert auch, darin ihre Autonomie bekundend, in der Viertelpause fort, die die melodische Linie nach den Worten „Wie blitzt nun auf“ einlegt. Deren semantischen Gehalt reflektiert diese, indem sie auf „blitzt“ einen expressiven, weil mit einem eine Terz höher einsetzenden Vorschlag versehenen verminderten Quintfall beschreibt, also eigentlich über das Intervall einer Septe, und danach einen Sprung zu eben dieser tonalen Ebene vollzieht, auf der der Vorschlag ansetzt, um sich dort einer Dehnung zu überlassen. Aber diese Ebene ist um eine kleine Terz vermindert. So viel zu der hochgradigen Reflexivität, in der Reimann seine Melodik anlegt.

    Die nach einer Viertelpause auf den Worten „der Länder Pracht“ einsetzende melodische Linie beschreibt einen mit einem zweischrrittigen Sekundfall eingeleiteten verminderten Quintsprung zur tonalen Ebene eines hohen „C“, um dort auf „Pracht“ in eine lange, dieses Wort mit einem starken Akzent versehende Dehnung überzugehen. Diesem Sprung wird dadurch besonderer Schwung verliehen, dass er mit einem Achtelvorschlag einsetzt.
    Und nun ereignet sich in der nachfolgenden eineinhalbtaktigen Pause für die Singstimme das, was man, weil es sich unerwartet, im Fortissimo und in Gestalt einer fremden klanglichen Figur ereignet, als geradezu erschreckenden klanglichen Einbruch in die Liedmusik empfindet: Zweimal wird im Diskant der sechsstimmig dissonante Terzenakkord angeschlagen. Seine Funktion ist wohl, den positiven affektiven Gehalt des Wortes „Pracht“, das gerade mittels einer langen Dehnung eine Hervorhebung erfuhr, auf massive Weise zu verfremden und zugleich vorbereitend überzuleiten zu dem, was die letzte Melodiezeile zu sagen hat.

    „Hier steh ich wie auf treuer Wacht“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Im viertaktigen, ohne Pause aus dem fünfstimmigen Schlussakkord des Nachspiels von Lied vier hervorgehenden Vorspiels erklingt nichts Anderes als ein gedehntes Legato-Auf und Ab zwischen einem „C“ und einem „Cis“ in unterer Diskantlage, das erst am Ende zu einer mit einem Vorschlag versehenen Triole aus einem „C“ und einem „D“ wird. Wenn man das als eine klangliche Evokation der Situation versteht, in der das lyrische Ich die Worte des ersten Verses ausspricht, dann wäre diese eine von leicht angespannter Ruhe. Zu wirklicher innerer Ruhe kann dieses Ich nicht finden, denn es hält die „Wacht“, von der der lyrische Text des ersten Liedes spricht, eine Wacht, die sich gegen die dunklen, unergründlichen und nicht fassbaren Mächte der Nacht richtet.

    Dass das Wissen darum auch am nun angebrochenen Morgen noch da ist, das könnte diese Klaviersatz-Figur zum Ausdruck bringen. Und so abwegig scheint mir diese Interpretation auch nicht zu sein, stellt sie doch, wie schon erwähnt, eine Übernahme aus dem zweiten Takt des ersten Liedes dar und erweist sich nun als eine der beiden die Substanz des Klaviersatzes bildenden Figuren. Die andere ist der zur Vielstimmigkeit ausgewachsene Terzenakkord, der im ersten Lied nur vereinzelt in tiefer Bass-Untergründigkeit aufklingt und dort als punktuelle Evokation der Bedrohlichkeit von Nacht interpretiert wurde.

    Hier nun ist es vorbei mit dem vereinzelten, wie ein Wetterleuchten anmutenden Auftritt dieses nur maximal vierstimmigen Akkordes, der unbeschadet seiner Terzenhaftigkeit allemal ein dissonanter ist. Nun ist er sechsstimmig geworden, mit einer Sekundreibung am Kopf, und der beherrscht den Klaviersatz vom Ende der Melodik der dritten Strophe an bis einschließlich des Nachspiels ganz allein, und dies im Fortissimo. Und sehe deshalb einen Zusammenhang zwischen der ersten und der zweiten Figur, diese gleichsam als Fortsetzung von jener. Die innere Unruhe, die der ersten innewohnt, manifestiert sich in der zweiten, tritt nun unverhüllt, offen und überdies auch laut auf.

    Denn die Unruhe, die man in der ersten Figur vernehmen kann, bleibt ja eine untergründig immanente, weil sie sich nur in Gestalt von Ausbrüchen aus der durchweg erhalten bleibenden tonalen Ebene des „C“ in tiefer Lage ereignet. Sie steigert sich zwar in der Weise, dass diese Ausbrüche im Intervall über die Sekunde hinaus bis zur verminderten Quarte anwachsen, aber darüber hinaus nicht. Das ereignet sich in der zweitaktigen Pause nach der Melodik des ersten Verses, und mit dieser Version der ersten Figur begleitet das Klavier auch die Melodik auf den Worten des dritten Verses. In der viertaktigen Pause nach der des zweiten Verses erklingt diese Figur, nun durch eine Achtelpause unterbrochen, in ihrer dritten Version. Sie mutet als in ihrer Unruhe noch weiter gesteigert an, weil sich die Sprungbewegungen häufiger und zwischen der Ebene eines „C“, „Cis“ und „D“ ereignen. Aber auch hier ereignet sich kein wirklicher Ausbruch aus diesem Gestus. Der findet erst mit dem Auftritt des dissonanten Terzen-Akkords statt.

    Wenn in der einleitenden Vorbemerkung zu diesem Zyklus und in der Betrachtung der ersten vier Lieder desselben darauf hingewiesen wurde, dass dem Klaviersatz in Reimanns Liedmusik eine Schlüsselrolle zukommt, dergestalt, dass sich in ihm zu einem wesentlichen Teil die musikalische Aussage konstituiert, so liefert dieses letzte Lied auf eindrückliche Weise noch einmal einen Beleg dafür. Der Übergang der ersten Figur des Klaviersatzes in die zweite und die Dominanz derselben am Ende der Liedmusik macht, so ist das wohl zu deuten, die Berechtigung der Warnung im ersten Lied, die Bedrohlichkeit der Nacht betreffend, manifest.

    Aber es bedarf eines Zusammenspiels von Klaviersatz und Melodik, um diesen Sachverhalt auf der Grundlage des lyrischen Textes zu konkretisieren. Und wie eng dabei das fünfte Lied an das erste anbindet, das zeigt sich nicht nur in diesem, sondern auf markante Weise auch in der ihn aufgreifenden Melodik. Gleich die erste, den ersten Vers beinhaltende Melodiezeile lässt das erkennen. Die melodische Linie setzt im ersten Lied bei den Worten „wir ziehen“ mit einem Anstieg über eine Terz und eine Quinte in hohe Lage ein. Bei den Worten „Hier steh ich“ beschreibt sie nun gleichsam eine Umkehr dieser Bewegung in Gestalt eines Falls von der tonalen Ebene eines „C“ in hoher Lage über eine verminderte Sexte und eine Quarte hinab zur Ebene eines „B“ in mittlerer Lage.

    Lied 5: „Hier steh ich wie auf treuer Wacht“

    Hier steh ich wie auf treuer Wacht,
    Vergangen ist die dunkle Nacht.
    Wie blitzt nun auf der Länder Pracht!
    Du schöne Welt, nimm dich in Acht!

    Mit dieser Strophe hat sich gleichsam ein Rahmen für diesen Zyklus gebildet. Sie mutet in ihrer lyrischen Sprachlichkeit wie eine Wiederkehr der ersten an, nur dass nun aus dem „vor der Nacht“ ein „nach der Nacht“ geworden ist, aus dem späten Abend der Morgen. Und als beide Strophen verbindendes Element und damit als zentrale lyrische Aussage des ganzen Zyklus erweist sich der unverändert auftretende letzte Vers. „Nacht“ wird wesenhaft als Gefahr erfahren, und da es sich dabei nicht um eine beiläufig und zufällig auftretende potentielle Gefährdung menschlichen Lebens, sondern eine grundsätzlich existenzielle, wird sie in der ersten Strophe zur „ewigen Nacht“, die „der Länder Pracht“ auszulöschen vermag, so dass eine Warnung vor ihr geboten ist und der Mensch „auf die Wacht“ vor ihr ziehen muss.

    Dieser Sachverhalt bleibt, eben weil es sich dabei um einen existenziell grundsätzlichen handelt, auch bestehen, wenn am neuen Morgen „der Länder Pracht“ wieder aufblitzt. Damit erweist sich, dass Reimann in seiner Montage von Eichendorff-Lyrik, das natürliche Realphänomen „Nacht“ als „Nachtseite der menschlichen Existenz“ verstanden hat, und dies durchaus im Einklang mit Eichendorff selbst. Der erste Vers verrät es: Aus dem „Wir“ der ersten Strophe, das „treulich auf die Wacht“ zieht, ist hier ein lyrisches Ich geworden, das sich „wie auf treuer Wacht“ vorfindet. Und damit sind die am Anfang sprachlich allgemeinen gehaltenen lyrischen Aussagen nun am Ende des Zyklus zu Ich-Erfahrungen geworden. Und dies einschließlich der Warnung des Schlussverses.

    Und so nimmt es denn nicht wunder, dass sich auch in der Liedmusik der letzten Strophe eine Wiederkehr ereignet. Dies natürlich, wie könnte es anders sein bei einem Aribert Reimann, nicht in Gestalt einer einfachen Wiederholung melodischer Figuren und gar eines gleich angelegten Klaviersatzes. Aber während man in der Melodik nur so etwas wie eine vereinzelte Wiederkehr und partielle Umkehr von deklamatorischen Schritte wahrzunehmen vermeint, begegnet man im Klaviersatz tatsächlich zwei Figuren wieder, die man vom ersten Lied her kennt.

    Und das ist ein bemerkenswerter Sachverhalt, manifestiert sich darin doch die bedeutende Rolle, die diesem im Reimanns Liedkomposition zukommt. Es handelt sich um die Auf und Ab-Figur in Sekundschritten, wie sie erstmals im zweiten Takt des Vorspiels des ersten Liedes erklingt und in diesem eine bedeutende Rolle spielt, und um den im tiefen Bass erklingenden Terzen-Akkord, für den das gleiche gilt. Beiden Figuren kommt auch in diesem Lied eine wichtige Funktion zu. Dem terzbetonten Akkord sogar in ganz besonderer Weise, beherrscht er doch auf geradezu überdimensionale Weise die Melodik des letzten Verses und bildet fast ganz allein das lange, ganze neun Takte einnehmende Nachspiel.