Franz Schubert, “Mignon”, D 321
Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möchte ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.
Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
Was hat man dir, du armes Kind, getan?
Kennst du es wohl?
Dahin! Dahin
Möchte ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.
Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
Es stürzt der Fels und über ihn die Flut;
Kennst du ihn wohl?
Dahin! Dahin
Geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn!
Das Gedicht findet sich am Anfang des „Dritten Buches“ des Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, war aber schon in dessen Urfassung, die „Theatralische Sendung“ aufgenommen. Im sich anschließenden Romantext heißt es
„Melodie und Ausdruck gefielen unserem Freunde besonders, obgleich er die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.
Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das >Kennst du es wohl?< drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem >Dahin! Dahin!< lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr >Laß uns ziehn!< wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.“
Dieser Text, in den das Lied erzählerisch-kommentierend eingebunden ist, wurde deshalb zitiert, weil er für den Liedkomponisten für die Art und Weise der Vertonung richtungweisend ist. Vor allem ist von Bedeutung, dass Mignon dieses Lied nicht direkt an Wilhelm richtet. Sie kann auch gar nicht direkt verstanden werden in ihrem holprigen Italienisch. Es handelt sich, und das ist für jeden Komponisten, der diesen Text in Liedmusik setzt, von grundlegender Bedeutung, hier um ein wesenhaft monologisches Lied, darin durchaus typisch für Mignon in der autistischen Verschlossenheit ihres Auftretens. Der Refrain-Vers stellt zwar formal-sprachlich eine Anrede dar, de facto ist er das aber, so wie die Situation im Roman sich darstellt, nicht. Schon hier sei angedeutet, dass Schubert mit seiner Liedkomposition genau darin dem lyrischen Text nicht gerecht wird.
So klar strukturiert die Strophen in ihrem Aufbau sind, so rätselhaft wirken sie auf Leser, denen Goethes Roman unbekannt ist. Dem Kenner desselben, der um die Biographie Mignons weiß, erschließt sich die Metaphorik ohne größere Probleme. Die erste Strophe entwirft in meisterhaft prägnanten, weil das Wesen der Sache treffenden lyrischen Bildern das Land der Sehnsucht: Italien. Sie weisen deshalb ein so hohes evokatives Potential auf, weil die Bilder nicht nur typisch für typisch für italienische Natur und Lebenswelt sind, sondern von Goethe als gleichsam handelnde, Aktivität entfaltende angelegt wurden. Die Zitronen „blühn“, die Orangen „glühn“ in dunklem Laub, der sanfte Wind „weht vom blauen Himmel“, Myrte und Lorbeer „stehen“ nicht einfach da, sie tun es „still“. Das ist - typisch für Goethe“- von nüchterner Sachlichkeit angehauchte, gleichwohl darin aber auf dezente Weise poetisch gestaltete lyrische Sprache. Das sehnsuchtsvolle „Dahin, dahin“ am Ende der ersten Strophe wird, weil auf eindrückliche Weise induziert, für den Leser voll und ganz nachvollziehbar. Für Mignon aber drückt sich darüber hinaus die Sehnsucht nach dem Land ihrer Geburt und frühen Kindheit aus.
Und das ist auch bei der zweiten Strophe der Fall. „Das Haus“ könnte durchaus das ihrer Geburt sein. Es wäre dann, nach den repräsentativ in die lyrische Aussage gesetzten Worten „Säulen“, „Saal“ und „Marmorbilder“, eines von römisch-antiker Architektur und Räumlichkeit. Hier tritt erstmals der Faktor Biographie in die lyrische Ich-Aussage. Aber, wie für Mignon bezeichnend, auf dunkel-rätselhafte Weise in Gestalt einer in den Raum gestellten Frage „Was hat man dir, du armes Kind, getan?“. Das, was ihr in ihrer Kindheit angetan wurde, die Entführung nämlich, bleibt für sie eine nicht bewältigte existenzielle Erfahrung. Deshalb die Frage. Gleichwohl aber wiederholt sich hier, und das steigert die Rätselhaftigkeit der Aussage dieses Textes, der emphatische Dahin-Refrain.
Was ist nun aber mit den ganz und gar rätselhaften Bildern der dritten Strophe? Man könnte es sich leicht machen und darin den Weg über einen Alpenpass lyrisch skizziert sehen. Es wäre zu einfach, denn den Bildern wohnt Wildes, Urtümliches und Bedrohliches inne: Das Maultier muss mühsam seinen Weg im Nebel suchen, Fels stürzt, Flut wallt über ihn hin und Drachen wohnen in Höhlen. Warum will Mignon diesen Weg nach Italien gleichwohl nehmen?
Das Gedicht ist in der Sehnsucht, die es zum Inhalt hat, als Ausdruck der Identitätssuche zu verstehen, die Mignons existenzielles Grundproblem darstellt. Darin erschöpft es sich aber auch. Anders als in den drei nachfolgenden lyrischen Textes gibt Mignon darin nichts weiter über ihr inneres Wesen preis. Das monologisch, also nicht direkt angesprochene Du, bei dem es sich um Wilhelm handelt, ist aus diesem Grund nicht allein „Geliebter“, - es ist Beschützer und Vater überdies. Es ist Begleiter des lyrischen Ichs auf dem Weg der Suche nach sich selbst, das in der Idylle einer südlichen Landschaft, dem Ort seiner Geburt und Jugendzeit, das ersehnte Zuhause zu finden hofft, - wenn es denn erreichbar ist. Daher dieses immer wiederkehrende Drängen: „Dahin, dahin“. Die Erfahrungen des Gefährlichen, Unwirtlichen und Bedrohlichen müssen als Stationen des Weges dahin in Kauf genommen werden.
Schuberts Liedkomposition entstand am 23. Oktober 1815. Bemerkenswert daran ist: Anders als bei den drei anderen Vertonungen der Mignon-Text gibt es von dieser keine weiteren Bearbeitungen. Und er hat sie auch nicht in den Zyklus D 877 (op. 62), den diese in ihrer jeweils letzten Fassung bilden, aufgenommen.
Könnte es sein, dass er diesen lyrischen Text, eben weil er sich im Ausdruck von Sehnsucht erschöpft und keine lyrischen Ansatzpunkte zur Erschließung des Wesens der Mignon-Gestalt aufweist, nicht als liedkompositorische Herausforderung empfand? Ich halte das durchaus für eine Erklärung dieses Sachverhalts.
Fakt ist jedenfalls: Es handelt sich hier aus meiner Sicht um das mit Abstand schwächste der vier Mignon-Lieder. In diesem Urteil stehe ich nicht allein. Hans Joachim Kreutzer drückt sich vorsichtig aus, wenn er meint, diese Komposition würde „vielleicht nicht in die vorderste Reihe seiner Wilhelm Meister-Vertonungen gehören“. Fischer-Dieskau wird da schon deutlicher, wenn er feststellt, sie wirke „verhältnismäßig schwach“. Er meint, man müsse Schumann zustimmen, wenn er sagt:
„Die Beethovensche Komposition ausgenommen, kenne ich keine einzige dieses Liedes, die nur im mindesten der Wirkung, die es ohne Musik macht, gleich käme. Ob man es durchkomponieren müsse oder nicht, ist eins; laßt es euch von Beethoven sagen, wo er seine Musik herbekommt.“
Vielleicht hat Schubert ja versucht, die Beethoven-Vertonung, die ihm bekannt gewesen sein muss, liedkompositorisch zu übertreffen, so vermutet man in „Reclams Liedführer“ jedenfalls. Wie auch immer, eine liedanalytische Betrachtung der Liedmusik unter dem Blickwinkel dieser Kritik an ihr ist angesagt.