Beiträge von Helmut Hofmann

    Danke für diesen Hinweis, lieber Christian.

    Ich werde so verfahren, dass ich Deine Beiträge als Bereicherung des Threads dankbar zur Kenntnis nehme und sie nur dann kommentiere, wenn ich die Sache anders sehen oder anderer Meinung sein sollte.

    Fasse also bitte mein Nicht-Reagieren also nicht als Desinteresse meinerseits auf. Es geht mir grundsätzlich um die Sache und nicht ums Palavern hier im Forum.

    Franz Schubert, “Mignon”, D 321

    Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
    Im dunkeln Laub die Gold-Orangen glühn,
    Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht,
    Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht,
    Kennst du es wohl?
    Dahin! Dahin
    Möchte ich mit dir, o mein Geliebter, ziehn.

    Kennst du das Haus? Auf Säulen ruht sein Dach,
    Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach,
    Und Marmorbilder stehn und sehn mich an:
    Was hat man dir, du armes Kind, getan?
    Kennst du es wohl?
    Dahin! Dahin
    Möchte ich mit dir, o mein Beschützer, ziehn.

    Kennst du den Berg und seinen Wolkensteg?
    Das Maultier sucht im Nebel seinen Weg,
    In Höhlen wohnt der Drachen alte Brut,
    Es stürzt der Fels und über ihn die Flut;
    Kennst du ihn wohl?
    Dahin! Dahin
    Geht unser Weg! O Vater, laß uns ziehn!

    Das Gedicht findet sich am Anfang des „Dritten Buches“ des Romans „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, war aber schon in dessen Urfassung, die „Theatralische Sendung“ aufgenommen. Im sich anschließenden Romantext heißt es
    „Melodie und Ausdruck gefielen unserem Freunde besonders, obgleich er die Worte nicht alle verstehen konnte. Er ließ sich die Strophen wiederholen und erklären, schrieb sie auf und übersetzte sie ins Deutsche. Aber die Originalität der Wendungen konnte er nur von ferne nachahmen. Die kindliche Unschuld des Ausdrucks verschwand, indem die gebrochene Sprache übereinstimmend und das Unzusammenhängende verbunden ward. Auch konnte der Reiz der Melodie mit nichts verglichen werden.
    Sie fing jeden Vers feierlich und prächtig an, als ob sie auf etwas Sonderbares aufmerksam machen, als ob sie etwas Wichtiges vortragen wollte. Bei der dritten Zeile ward der Gesang dumpfer und düsterer; das >Kennst du es wohl?< drückte sie geheimnisvoll und bedächtig aus; in dem >Dahin! Dahin!< lag eine unwiderstehliche Sehnsucht, und ihr >Laß uns ziehn!< wußte sie bei jeder Wiederholung dergestalt zu modifizieren, daß es bald bittend und dringend, bald treibend und vielversprechend war.“

    Dieser Text, in den das Lied erzählerisch-kommentierend eingebunden ist, wurde deshalb zitiert, weil er für den Liedkomponisten für die Art und Weise der Vertonung richtungweisend ist. Vor allem ist von Bedeutung, dass Mignon dieses Lied nicht direkt an Wilhelm richtet. Sie kann auch gar nicht direkt verstanden werden in ihrem holprigen Italienisch. Es handelt sich, und das ist für jeden Komponisten, der diesen Text in Liedmusik setzt, von grundlegender Bedeutung, hier um ein wesenhaft monologisches Lied, darin durchaus typisch für Mignon in der autistischen Verschlossenheit ihres Auftretens. Der Refrain-Vers stellt zwar formal-sprachlich eine Anrede dar, de facto ist er das aber, so wie die Situation im Roman sich darstellt, nicht. Schon hier sei angedeutet, dass Schubert mit seiner Liedkomposition genau darin dem lyrischen Text nicht gerecht wird.

    So klar strukturiert die Strophen in ihrem Aufbau sind, so rätselhaft wirken sie auf Leser, denen Goethes Roman unbekannt ist. Dem Kenner desselben, der um die Biographie Mignons weiß, erschließt sich die Metaphorik ohne größere Probleme. Die erste Strophe entwirft in meisterhaft prägnanten, weil das Wesen der Sache treffenden lyrischen Bildern das Land der Sehnsucht: Italien. Sie weisen deshalb ein so hohes evokatives Potential auf, weil die Bilder nicht nur typisch für typisch für italienische Natur und Lebenswelt sind, sondern von Goethe als gleichsam handelnde, Aktivität entfaltende angelegt wurden. Die Zitronen „blühn“, die Orangen „glühn“ in dunklem Laub, der sanfte Wind „weht vom blauen Himmel“, Myrte und Lorbeer „stehen“ nicht einfach da, sie tun es „still“. Das ist - typisch für Goethe“- von nüchterner Sachlichkeit angehauchte, gleichwohl darin aber auf dezente Weise poetisch gestaltete lyrische Sprache. Das sehnsuchtsvolle „Dahin, dahin“ am Ende der ersten Strophe wird, weil auf eindrückliche Weise induziert, für den Leser voll und ganz nachvollziehbar. Für Mignon aber drückt sich darüber hinaus die Sehnsucht nach dem Land ihrer Geburt und frühen Kindheit aus.

    Und das ist auch bei der zweiten Strophe der Fall. „Das Haus“ könnte durchaus das ihrer Geburt sein. Es wäre dann, nach den repräsentativ in die lyrische Aussage gesetzten Worten „Säulen“, „Saal“ und „Marmorbilder“, eines von römisch-antiker Architektur und Räumlichkeit. Hier tritt erstmals der Faktor Biographie in die lyrische Ich-Aussage. Aber, wie für Mignon bezeichnend, auf dunkel-rätselhafte Weise in Gestalt einer in den Raum gestellten Frage „Was hat man dir, du armes Kind, getan?“. Das, was ihr in ihrer Kindheit angetan wurde, die Entführung nämlich, bleibt für sie eine nicht bewältigte existenzielle Erfahrung. Deshalb die Frage. Gleichwohl aber wiederholt sich hier, und das steigert die Rätselhaftigkeit der Aussage dieses Textes, der emphatische Dahin-Refrain.

    Was ist nun aber mit den ganz und gar rätselhaften Bildern der dritten Strophe? Man könnte es sich leicht machen und darin den Weg über einen Alpenpass lyrisch skizziert sehen. Es wäre zu einfach, denn den Bildern wohnt Wildes, Urtümliches und Bedrohliches inne: Das Maultier muss mühsam seinen Weg im Nebel suchen, Fels stürzt, Flut wallt über ihn hin und Drachen wohnen in Höhlen. Warum will Mignon diesen Weg nach Italien gleichwohl nehmen?

    Das Gedicht ist in der Sehnsucht, die es zum Inhalt hat, als Ausdruck der Identitätssuche zu verstehen, die Mignons existenzielles Grundproblem darstellt. Darin erschöpft es sich aber auch. Anders als in den drei nachfolgenden lyrischen Textes gibt Mignon darin nichts weiter über ihr inneres Wesen preis. Das monologisch, also nicht direkt angesprochene Du, bei dem es sich um Wilhelm handelt, ist aus diesem Grund nicht allein „Geliebter“, - es ist Beschützer und Vater überdies. Es ist Begleiter des lyrischen Ichs auf dem Weg der Suche nach sich selbst, das in der Idylle einer südlichen Landschaft, dem Ort seiner Geburt und Jugendzeit, das ersehnte Zuhause zu finden hofft, - wenn es denn erreichbar ist. Daher dieses immer wiederkehrende Drängen: „Dahin, dahin“. Die Erfahrungen des Gefährlichen, Unwirtlichen und Bedrohlichen müssen als Stationen des Weges dahin in Kauf genommen werden.

    Schuberts Liedkomposition entstand am 23. Oktober 1815. Bemerkenswert daran ist: Anders als bei den drei anderen Vertonungen der Mignon-Text gibt es von dieser keine weiteren Bearbeitungen. Und er hat sie auch nicht in den Zyklus D 877 (op. 62), den diese in ihrer jeweils letzten Fassung bilden, aufgenommen.
    Könnte es sein, dass er diesen lyrischen Text, eben weil er sich im Ausdruck von Sehnsucht erschöpft und keine lyrischen Ansatzpunkte zur Erschließung des Wesens der Mignon-Gestalt aufweist, nicht als liedkompositorische Herausforderung empfand? Ich halte das durchaus für eine Erklärung dieses Sachverhalts.
    Fakt ist jedenfalls: Es handelt sich hier aus meiner Sicht um das mit Abstand schwächste der vier Mignon-Lieder. In diesem Urteil stehe ich nicht allein. Hans Joachim Kreutzer drückt sich vorsichtig aus, wenn er meint, diese Komposition würde „vielleicht nicht in die vorderste Reihe seiner Wilhelm Meister-Vertonungen gehören“. Fischer-Dieskau wird da schon deutlicher, wenn er feststellt, sie wirke „verhältnismäßig schwach“. Er meint, man müsse Schumann zustimmen, wenn er sagt:
    „Die Beethovensche Komposition ausgenommen, kenne ich keine einzige dieses Liedes, die nur im mindesten der Wirkung, die es ohne Musik macht, gleich käme. Ob man es durchkomponieren müsse oder nicht, ist eins; laßt es euch von Beethoven sagen, wo er seine Musik herbekommt.“
    Vielleicht hat Schubert ja versucht, die Beethoven-Vertonung, die ihm bekannt gewesen sein muss, liedkompositorisch zu übertreffen, so vermutet man in „Reclams Liedführer“ jedenfalls. Wie auch immer, eine liedanalytische Betrachtung der Liedmusik unter dem Blickwinkel dieser Kritik an ihr ist angesagt.



    Dieser Thread war, anders als meine übrigen Thread-Beiträge zum Kunstliedforum, nicht geplant. Er ist auf eine wunderliche Weise zustande gekommen, zu der ich nur sagen kann: Mignon ist schuld.

    Im Thread „Johann Wolfgang von Goethe in der Musik“ stellte Christian B. vor einiger Zeit die Frage, ob hier im Forum auf die Vertonung von Goethe-Lyrik durch Schubert eingegangen worden sei. Ich meldete mich und verwies auf den Thread „Schubert und Goethe“ im Kunstliedforum. Nachdem Christian Einblick in diesen genommen hatte, drückte er sein Bedauern darüber aus, dass darin nur einer von den Mignon-Texten besprochen worden sei, „Kennst du das Land“ nämlich. Ich antwortete ihm, dass ich mich bemühen würde, diesem Mangel abzuhelfen, indem ich eine Besprechung der drei übrigen Schubert-Vertonungen nachliefern würde. Das könne aber einige Zeit dauern, da ich zurzeit ja mit einem anderen Thread beschäftigt sei.

    Und nun geschah das, was ich in seinen Folgen in keiner Weise vorausgesehen habe. Es ging an sich ja nur um drei Lieder. Als ich mich aber zur Vorbereitung der nun anstehenden liedanalytischen Betrachtungen und zur Fundierung derselben in Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ vertiefte, geschah etwas, was ich eigentlich, weil es mir schon einmal geschah, hätte wissen müssen, aber vergessen hatte: Ich wurde von dieser Mignon-Gestalt regelrecht gepackt und in Bann geschlagen.

    Und da wurde mir klar: Mit den drei dem Thread „Schubert und Goethe“ hinzugefügten Liedern wird das nichts. Diese so faszinierende und so viele Fragen aufwerfende „Mignon“ hat einen eigenen Thread verdient, in dem ich mich nicht nur gründlich auf alle Schubert-Vertonungen der vier lyrischen Äußerungen von ihr einlasse, sondern darüber hinaus auch der Frage nachgehe, wie andere Komponisten diese literarische Figur aufgefasst und die entsprechenden lyrischen Texte in Liedmusik gesetzt haben.
    Es wurde zum Erlebnis für mich.

    Mignon, diese Gestalt in Goethes Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, beeindruckt wie keine andere literarische Figur Goethes sonst durch ihre Unergründlichkeit und Rätselhaftigkeit. Kein Wunder also, dass sie eine Flut von literaturwissenschaftlichen Interpretationen ausgelöst hat. Man sieht in ihr einen Gegenpol zu Wilhelm Meister im Sinne von dessen „abgespaltener Bestimmung zur Kunst“ und versteigt sich etwa zu der These: „Mit der Präsentation des italienischen Kindes wird eine Allusion auf ein autonomes Kunstschaffen gegeben. Mignon ist also Konfiguration der Autonomie des schöpferischen Individuums, sowie einer in der Antike hervorgebrachten Kunstwahrheit.“

    Das muss uns hier glücklicherweise nicht interessieren. Es wurde nur zitiert, um zu zeigen, welch spekulative Gedankengänge eben dieses Geheimnisvolle und Rätselhafte dieser Figur ausgelöst hat, deren Biographie lange dunkel bleibt, von Goethe ganz bewusst erst spät und nur andeutungsweise aufgedeckt wird. Erst nach ihrem Tod stellt sich heraus, dass sie, von einer vornehmen italienischen Familie stammend und aus einem inzestuösen Akt hervorgegangen, als Kind geraubt und nach Deutschland verschleppt wurde. Der Harfenspieler ist ihr Vater.

    Goethe führt sie mit den Worten ein:
    „Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen. Seine Augen und sin Herz wurden unwiderstehlich von dem geheimnisvollen Zustand dieses Wesens angezogen. Er schätzte sie zwölf bis dreizehn Jahre; ihr Körper war gut gebaut, nur, daß ihre Glieder einen stärkeren Wuchs versprachen, oder einen zurückgehaltenen ankündigten. Ihre Bildung war nicht regelmäßig, aber auffallend; ihre Stirn geheimnisvoll, ihre Nase außerordentlich schön, und ihr Mund, ob er schon für ihr Alter zu sehr geschlossen schein, und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch immer treuherzig und reizend genug.“

    Aber sie wird im Roman schon gleich am Anfang als „Rätsel“ vorgestellt. Sie ist eine Figur, die zwischen männlich und weiblich changiert, wenig spricht, und wenn ja, dann stotternd und partiell unverständlich, und auf fast autistische Weise in sich zurückgezogen wirkt. Die Art, wie sie sich bewegt, wirkt künstlich-maschinenhaft wie ein nichtmenschliches Wesen. Der „Eiertanz“, den sie einmal aufführt, zeigt das und lässt einerseits dieses Gefangen-Sein in ihrer Existenz, anderseits aber auch ihr Erlösungsbedürfnis daraus erkennen. Das „Ei“, das sie umtanzt, verkörpert die Gefangenheit in ihrer irdischen Existenz.

    Sehnsucht nach Erlösung daraus erweist sich als Kern ihres Wesens. Und dieses erschließt sich, allerdings dabei ebenfalls dunkel und rätselhaft bleibend, allein in der Art und Weise, wie sie sich auszudrücken vermag: Im Gesang, im Lied. Und wie die literarische Gestalt die Literaturwissenschaftler auf magische Weise anzog und noch -zieht, so ereignet sich das bei den Texten der Mignon-Gesänge bei den Komponisten. Unzählige haben sich bemüht, diese in ihrer Aussage liedkompositorisch zu erschließen. Darunter auch ein Franz Schubert. Und es ist vielsagend, wie das geschah. Über lange Zeit, von 1815 bis 1826, hat er sich mit den Lied-Texten der Mignon und des Harfenspielers auseinandergesetzt, und von allen, mit Ausnahme des ersten („Kennst du das Land“) gibt es mehrere Fassungen der Vertonung, z.T. gar bis zu sechs.

    Ich finde es gerade bei Schumann unerlässlich, zum Verständnis seiner Musik die persönlichen Hintergründe zu studieren. Um mal nur eine Äußerlichkeit zu nennen: Die ganzen "Nimm sie hin denn, diese Lieder"-Zitate in der C-Dur-Fantasie, der zweiten Symphonie usw. sind doch z.B. nur vor dem Hintergrund der heimlichen Verlobung, konfliktreichen Eheschließung usw. wirklich verständlich, aber auch die leidenschafltiche Gespanntheit, ja Überspanntheit der Musik.

    Das ist eine das Wesen von Schumanns vor allem früher Musik in seinem Kern treffende Feststellung. In seiner Liedmusik liegt dieser enge Konnex von subjektiver psychischer Disposition, personalen lebensweltlichen Gegebenheiten und kompositorischer Produktion ungewöhnlich offen zutage. In seinem mit dem Titel "Myrthen" versehenen Opus 25 etwa.


    Dieses ist „seiner geliebten Braut“ gewidmet und sollte ihr zur bevorstehenden Hochzeit geschenkt werden. Deshalb eröffnet er es in vielsagender Weise mit Rückers Gedicht „Du meine Seele, du mein Herz“ und gibt dem Lied den Titel „Widmung“. Mit der Komposition begann er im Januar 1840, wurde aber erst Anfang April fertig. Das aber reichte hin, Clara das Werk in einer mit einem grünen Myrtenkranz auf dem Deckblatt versehenen Ausgabe einen Tag vor der Hochzeit feierlich zu überreichen.

    Der hohe Grad an personaler Emotionalität, der in dieses Opus eingeflossen ist, manifestiert sich z. B. in dem Brief an Clara vom Februar 1840:

    „Seit gestern früh habe ich gegen 27 Seiten Musik niedergeschrieben, von dem ich Dir weiter nichts sagen kann, als daß ich dabei gelacht und geweint vor Freude. Das Tönen und Musizieren macht mich beinahe tot jetzt; ich könnte darin untergehen. Ach Clara, was das für eine Seligkeit ist, für Gesang zu schreiben; die hatte ich lange entbehrt.“

    Zum Schluss

    In der jüngsten Ausgabe von „Reclams Liedführer“ wird Edvard Grieg zu „den besten Meistern des romantischen Lieds“ gezählt. In der hier vorgelegten Präsentation einer - im Umfang zwar beschränkten, aber dafür repräsentativen - Auswahl seiner Liedkompositionen wurde in Gestalt einer analytischen Betrachtung der Versuch unternommen, die Gültigkeit dieser Feststellung unter Beweis zu stellen.
    Gleichwohl dürfte sich der Bekanntheitsgrad seines Liedschaffens hierzulande in Grenzen halten. Das mag gewiss damit zu tun haben, dass sich seinem bemerkenswert umfangreichen, 180 Titel umfassenden Lied-Opus nur 22 Vertonungen deutscher Texte finden, aber selbst in Norwegen, so entnehme ich der Grieg-Biographie von Patrick Dinslage, „sind Griegs Gesangskompositionen - einmal abgesehen von den Schlagern wie >Solveigs Lied< aus Peer Gynt, >Ein Schwan<, „>Letzter Frühling< und dem Zyklus >Haugtussa< - wenig bekannt.

    Das hat mich überrascht und erstaunt, und ich vermag keine Erklärung dafür zu finden. Griegs norwegische Biographen Finn Benestad und Dag Schjelderup-Ebbe verweisen darauf, dass es Grieg zwar „nur selten gelang, zu schwachen Texten gute Musik zu komponieren“, dass er aber „von wertvoller Poesie (…) zu Höchstleistungen stimuliert wurde“. Und zu dem (hier ja vorgestellten) Lied „Letzter Frühling“ meinen sie:
    „Schöner und verklärter als in >Letzter Frühling< ist Griegs melodische Ader nie geflossen. Er schildert einen sprießenden Frühling, jedoch nicht malend naturalistisch. Im Gegenteil: Es ist die dankbare Freude des Menschen, der noch einmal, bevor die Lebensflamme erlischt, das ewig junge Wunder der Natur erleben darf. In perfekter Weise widerspiegelt die Musik das innere Leben des Gedichts. Sie glänzt in allen Details, frei von schwülstiger Sentimentalität und ist, obwohl in Dur geschrieben, ganz ernst.“

    Damit ist, beispielhaft an diesem Lied, die Griegs Liedern zugrundeliegende kompositorische Intention treffend charakterisiert: Das Erschließen und In-Musik-Fassen der dem lyrischen Text innewohnenden, das Wesen menschlicher Existenz zum Ausdruck bringenden affektiven Dimensionen.
    In einem Brief an Julius Röntgen von 1894 bekannte er:
    „Ich frage mich immer in den letzten Jahren, was ist die sogenannte Originalität, die sogenannte Neuheit? Denn das Wichtigste ist sie nicht. Denn das Wichtigste ist die Wahrheit. Die Wahrheit der Empfindung.“

    Diese „Wahrheit der Empfindung“ ist mir in Griegs Liedern immer wieder begegnet. Und deshalb wurde die Beschäftigung mit ihnen, wie sie sich in diesem Thread niedergeschlagen hat, für mich zu einem großen liedmusikalischen Erlebnis.

    „Zur Rosenzeit“ (III)

    „Poco a poco meno mosso e dim.” lautet die Vortragsanweisung für die Melodik auf den Worten „Und vor deinem Angesichte“. Unter Beibehaltung ihres in der dritten Strophe eingenommenen deklamatorischen Gestus´ von Dehnung und Viertelschritt pro Takt beschreibt die melodische Linie einen Anstieg in verminderten Sekundschritten in tiefer Lage und senkt sich auf den vier Silben von „Angesichte“ wieder ab, nun aber um eine große Sekunde.
    Wenn von einer F-Dur-Harmonisierung gesprochen wurde, so ist das nicht ganz richtig, denn hier ereignet sich wieder die schon erwähnte Verstörung von Dur-Harmonik durch Dissonanz generierende Tonbewegungen im Klaviersatz. Dieses Mal geschieht das sogar auf geradezu massive Weise, denn in die repetitiven dreistimmigen F-Dur-Akkorde im Diskant drängen sich taktlang gehaltene punktierte Halbe, die im Diskant und als Oktaven im Bass die Bewegung der melodischen Linie mitvollziehen. Das heißt, es erklingt erst ein lang gehaltenes „F“, dann ein „Ges“, des Weiteren ein „As“ und schließlich ein „G“. Die auf diese Weise klanglich verstörte lange, weil vierschrittige Dehnung auf dem Wort „Angesichte“ erfährt auf diese Weise eine dissonante Harmonisierung, die Niederschlag der schmerzlichen Emotionen ist, die die Vergegenwärtigung des Angesichts des verlorenen geliebten Menschen auslöst.

    Bei den Worten des letzten Verses setzt sich die in dieser Weise harmonisierte und deklamierte Abwärtsbewegung der melodischen Linie fort, wobei die sie mitvollziehenden lang gehaltenen Akkorde (denn das stellen sie ja in ihren Diskant uns Bass übergreifenden Dreistimmigkeit ja dar), nun zwar keine dissonante Verstörung mehr bewirken, stattdessen sich aber eine ausdrucksstarke harmonische Rückung ereignet. Auf dem Wort „Hoffnung“ liegt ein gedehnter, auf der Silbe „-nung“ in eine Repetition mündender Sekundfall, es folgt, wie zuvor bei den Worten „zu deinen“ eine dreischrittige deklamatorische Repetition auf der nun aber viel tieferen tonalen Ebene eines „E“ in unterer Lage, und bei dem Wort „Herzen“ vollzieht die melodische Linie „più rit. e dim.“ einen Fall über eine kleine Sekunde zur Ebene eines „Des“ in tiefer Lage, und die Harmonik folgt dem, indem sie hier zu einem im Quintenzirkel weitab liegenden, gleichwohl dabei aber die Grundtonart verkörpernden Des-Dur übergeht. Auf diese Weise erfährt das Wort „Herzen“ eine starke Akzentuierung. Dies auch deshalb, weil die nachfolgende Dehnung eine Sekunde tiefer auf dem Wort „trug“ wieder in F-Dur harmonisiert ist.

    So viel zur Komplexität der sich so volkstümlich einfach präsentieren wollenden Liedmusik Griegs. Die Liedmusik der vierten Strophe erklingt als identische Wiederkehr derjenigen der ersten Strophe. Grieg will sie als auf die Rezeption der Mittelstrophen rückwirkenden Rahmen aufgefasst und verstanden wissen. Nur noch ein kurzes viertaktiges Nachspiel folgt, in dem die dreistimmigen Akkorde, mit denen das Klavier zuvor die melodische Linie begleitete, in es-Moll du b-Moll harmonisiert in hohe Lage aufsteigen und in eine Dehnung übergehen. Ein fermatierter vierstimmiger Pianissimo-b-Moll-Akkord in tiefer Basslage beschließt die Liedmusik.

    „Zur Rosenzeit“ (II)

    Im letzten Vers der ersten Strophe macht das lyrische Ich seine existenziell-emotionale Befindlichkeit erstmals explizit. Und auch das findet in der Melodik und ihrer Harmonisierung den adäquaten Niederschlag. Bei den Worten „dem der“ beschreibt die melodische Linie nach einer Viertelpause, noch gebettet in das vorangehende Des-Dur, einen auf der Ebene eines tiefen „Des“ ansetzenden Sextsprung, geht, nun in b-Moll harmonisiert“, bei den Worten „Gram die“ in einen dreischrittigen, mit einem Crescendo verbundenen und damit das Wort „Gram“ akzentuierenden Sekundanstieg über, vollzieht zu dem Wort „Seele“ hin einen Sturz über eine Quarte, um von der Ebene eines „As“ in mittlerer Lage einen gedehnten Sekundanstieg zu beschreiben, der in Gestalt einer Repetition in eine lange Dehnung auf „bricht“ mündet. Das b-Moll, in das diese melodische Bewegung gebettet ist, vollzieht dabei eine kurze Rückung nach F-Dur.

    Mit der zweiten Strophe wandelt sich die lyrische Perspektive von der Ansprache an die Rosen zur Vergegenwärtigung der Zeit des Werbens um die Liebe der jetzt als „Engel“ empfundenen Frau. Damit tritt auch ein Wandel in die Liedmusik. Wohnte der Melodik der ersten Strophe in ihrem sprunghaften Auf und Ab und ihrer Entfaltung in kleinen Zeilen ein statischer Geist inne, so kommt nun ein dynamischer in sie. Auf den Worten „Jener Tage denk' ich trauernd“ beschreibt sie „poco più mosso“ und mit einem Crescendo einen kontinuierlichen repetitiven Anstieg in rhythmisierten Sekundschritten im Wert von halben und Viertelnoten von der Ebene eines „As“ in mittlerer zu einem „Des“ in oberer Lage. Die Harmonik vollzieht dabei zwei Mal eine Rückung von f-Moll nach b-Moll, und das Klavier begleitet nun, diesen dynamischen Impetus der Melodik unterstützend, im Bass mit aus tiefer in hohe Lage aufsteigenden und im nächsten Takt in eine Dehnung mündenden Achtelketten.

    Bei den nachfolgenden Worten „Als ich, Engel, an dir hing“ behält die melodische Linie diesen Expressivität entfaltenden deklamatorischen Gestus des kontinuierlichen Anstiegs bei, endend in drei Legato-Viertelschritten auf der Ebene eines „Fes“ in hoher Lage und von dort über einen Sekundschritt abwärts in eine lange Dehnung auf „hing“ übergehend. Dabei steigert sich die Dynamik ins Forte, und die Moll-Harmonisierung, zuletzt ein as-Moll, schlägt ins Dur (As-Dur) um. Grieg will damit wohl die Haltung des lyrischen Ichs zum Ausdruck bringen, dass es diesem nämlich, so wie er das in seiner Rezeption des lyrischen Textes ausgefasst hat, mit den Worten „an dir hing“ hochgradig ernst war.

    Mit den Worten des dritten und vierten Verses gibt sich das lyrische Ich retrospektiv einer lieblich-lyrischen Szenerie hin, was zur Folge hat, dass die melodische Linie von diesem energischen Anstiegs-Gestus ablässt und, zum Piano zurückkehrend, bei den Worten „Auf das erste Knöspchen lauernd“ unter Beibehaltung ihres repetitiven Gestus´ einen nur kleinen Anstieg in Sekundschritten über das Intervall einer Quarte in mittlerer Lage vollzieht, dies in fis-Moll mit einer kurzen Zwischenrückung nach G-Dur gebettet. Aber die nachfolgenden Worte „Früh zu meinem Garten ging“ weisen wieder, wie das „an dir hing“ eine affektive Komponente der Aktivität auf, und so steigt die melodische Linie nun wieder im Forte und in den Legato-Viertelsekundschritten zum hohen „Fes“ empor, um nach einem Sekundfall in einer Dehnung zu enden. Das ist nun aber nicht wie dort eine auf einem hohen „Es“, sondern einem „E“, denn diese kleine Melodiezeile auf dem letzten Vers der zweiten Strophe ist ganz und gar im Tongeschlecht Dur harmonisiert. Seine Aussage, dieser frühe Gang zum Garten, weist keinerlei affektive Komponenten von Wehmut und Seelenschmerz auf.

    Diese vernimmt Grieg dann aber wieder im ersten Verspaar der dritten Strophe. Denn da geht es wieder um das „Du“, dem all das, was das lyrische Ich in seinem Garten vorfand, zu Füßen gelegt wurde. Und so entweicht all der energisch-dynamische Geist der zweiten Strophe nun aus der Melodik, sie entfaltet sich wieder in kleinen Zeilen, wird vom Klavier im Bass nun mit taktlang gehaltenen Oktaven begleitet und geht, in einer Rückung von C-nach Es-Dur harmonisiert, auf „alle Blüten“ in ihrem repetitiven Gestus einen Anstieg über eine kleine Sekunde beschreibend, nach einer Viertelpause in deklamatorisch gleicher Weise nun in einen großen Sekundfall über. Die Harmonik wird dabei dissonant, in repetitive C-Dur-Akkorde im Diskant drängt sich erst ein lang gehaltenes „Es“, dann ein „D“. Diese die Harmonik in die Dissonanz drängenden Töne setzen sich im Klaviersatz bei den nachfolgenden Versen fort und reflektieren wohl den seelischen Schmerz, der sich beim lyrischen Ich, so wie Grieg den lyrischen Text der dritten Strophe interpretiert, beim lyrischen in der Erinnerung an vergangene Zeiten einstellt.

    Entsprechend stellt sich die Melodik in der Aufeinanderfolge der kleinen Zeilen als Fallbewegung dar. Bei „alle Früchte“ ist das erstmals der Fall, und der dieser Zeile zugrundeliegende deklamatorische Gestus des Absinkens in repetitiven Sekundschritten setzt sich nach einer Viertelpause auf den Worten „noch zu deinen Füßen fort. Eine Sekunde tiefer als bei „Früchte“ beschreibt die melodische Linie, wiederum nun in dissonante D-Harmonik gebettet, einen gedehnten Sekundfall, verharrt auf der damit eingenommenen tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage in einer dreischrittigen Tonrepetition, um bei „Füßen“ in eine weitere, eine Sekunde tiefer und nun gedehnte überzugehen, wobei die Harmonik eine Rückung nach des-Moll vollzieht, und auf dem Wort „trug“ liegt dann schließlich, nach einem weiteren Sekundfall, eine lange Dehnung auf der tonalen Ebene eines „G“ in tiefer Lage.

    Diese Dehnung ist, und das ist bemerkenswert, weil es - wieder einmal - die Komplexität der von Grieg in seinen späten Liedkompositionen als konstitutives musikalisches Ausdrucksmittel genutzten Harmonik zeigt, in C7-Harmonik gebettet. Auch wenn sich der Grund dafür bei der Melodik des dritten Verses zeigt, denn diese ist in F-Dur harmonisiert, entfaltet die vorangehende harmonische Rückung von des-Moll nach der Dominantseptversion der Tonart „C“ doch eine ganz eigene Wirkung im Sinne einer Akzentuierung der melodischen Aussage.

    „Zur Rosenzeit“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein zweitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der Melodik voraus, in dem eine Folge von zwei schlichten dreistimmigen b-Moll-Akkorden mit einem des-Moll-Akkord dazwischen in Dreiergruppen erklingt. Es sind zwei Akkorde im Wert eines Viertels und einer im Wert eines Achtels, und sie erklingen pro Takt erst nach einer Achtelpause, derweilen schon der Bass-Klaviersatz eingesetzt hat. Das ist die Art und Weise, wie die Melodik in diesem Lied durchgehend bis zum Ende begleitet wird. Vom Diskant her betrachtet mutet der Klaviersatz strukturell einfach an, im Bassbereich ist das aber in keiner Weise der Fall. Dort entfaltet er eine große strukturelle Vielfalt, vom mit einem Vorschlag einsetzenden gedehnten Legatofall oder -prung in der ersten und letzten Strophe bis zu steigend angelegten und über große Intervalle sich erstreckenden Achtelketten in der zweiten und lang gehaltenen Oktaven in der dritten Strophe. Die Kombination der Figuren von Diskant und Bass erweist sich, zusammen mit der harmonischen Rückungen als wesentliches kompositorisches Mittel zum musikalischen Ausloten der affektiven Dimension des lyrischen Textes, wobei dem akkordisch-repetitiven Diskant die Funktion zukommt, das die Melodik tragende klangliche Bett in seinen harmonischen Wandlungen hervortreten zu lassen.

    Allein schon vom Klaviersatz her erweist sich dieses Lied als komplexe Komposition. Und das gilt auch für die Melodik. Denn obgleich es sich hier, formal betrachtet, um ein variiertes Strophenlied handelt, weil sich die Liedmusik der ersten Strophe auf den Worten der vierten Strophe wiederholt, stellt dieser Sachverhalt gerade darin das die musikalische Aussage konstituierende kompositorische Konzept dar, denn die erste und die vierte Strophe bilden einen Rahmen für die in ihrer kompositorischen Faktur markant von ihnen abweichende zweite und dritte Strophe. Rahmen in dem Sinn, dass sich in ihm die existenziell situative Befindlichkeit des lyrischen Ichs konstituiert, in der sich die Vergegenwärtigung vergangenen Liebeslebens ereignet.

    Diese Rahmen-Struktur ist zwar vom lyrischen Text vorgegeben, aber Grieg nutzt sie, um mittels eben dieser Disparität zwischen Rahmen- und Mittelstrophen die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs in einer Eindrücklichkeit musikalisch zu konkretisieren und damit erfahrbar werden zu lassen, wie Goethe das mit den Mitteln der lyrischen Sprachen nicht vermochte. Diese Feststellung hätte ihm gewiss nicht gefallen und er hätte ihr vehement widersprochen, gleichwohl ist es eine, wie nachfolgend aufzuzeigen ist, in ihrer Gültigkeit sachlich nachweisbare.

    Die Syntax des ersten Verspaares mit ihrer Anrede-Einfügung „süße Rosen“ schlägt sich in der Gestalt der es beinhaltenden Melodik nieder. Aber nicht nur bei der Syntax ist das der Fall, auch der affektive Gehalt des lyrischen Textes prägt sie maßgeblich. Sie ist in drei, von Viertelpausen eingehegte Zeilen untergliedert, in denen die melodische Linie sich im Ambitus großer Sprünge entfaltet, darin offensichtlich die große innere Erregtheit des lyrischen Ichs reflektierend. Auf den Worten „ihr verblühet“ beschreibt sie, in b-Moll harmonisiert, anfänglich einen Sextsprung, geht danach auf der damit erreichten tonalen Ebene eines „Des“ in hoher Lage in eine Dehnung über, um danach einen Quartfall zu vollziehen. Das zutiefst betrübliche Faktum des Verblühens findet darin den angemessenen Ausdruck. Nach einer Viertelpause folgt die Melodik auf „süße Rosen“, und diese ist nun bemerkenswerterweise fallend angelegt: Sie senkt sich aus hoher Lage über einen leicht gedehnten Terzfall ab, geht in eine gedehnte Tonrepetition über und setzt den Fall bei „Rosen“ über das Intervall einer Quarte fort. Und sie ist in verminderte Es-Harmonik gebettet.
    Ganz offensichtlich reflektiert sie darin die schmerzlichen Empfindungen, die sich beim lyrischen Ich, so wie Grieg diese lyrischen Worte gelesen hat, beim Anblick der Rosen einstellen.

    Bei den Worten „Meine Liebe trug euch nicht“ geht das lyrische Ich wieder zum deklamatorischen Gestus der Anfangszeile über, setzt sogar anfänglich mit dem gleichen Sextsprung ein. Danach folgt aber auf „Liebe“ ein gedehnter und in f-Moll gebetteter Quintfall, und die damit eingeleitete Abwärtsbewegung setzt sich über einen Sekundschritt weiter zu einer Dehnung auf der tonalen Ebene eines „E“ in tiefer Lage fort. Bei „trug euch nicht“ vollzieht die melodische Linie dann von dort aus erneut eine Sprungbewegung, nun über eine Quinte, und sie endet in einer Dehnung eine Sekunde tiefer. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung von C-Dur nach F-Dur, man kann diese Einbettung der in großem Ambitus sich entfaltenden Melodik in Dur-Harmonik wohl so auffassen und verstehen, dass sich darin der Bekenntnis-Charakter des lyrischen Textes niederschlägt.


    Der sprunghafte Ambitus weitet sich bei den Worten „Blühet, ach! dem Hoffnungslosen“ sogar noch, und das ist ja auch durchaus angebracht, handelt es sich doch hier um einen affektiv aufgeladenen Anrede-Ausruf des lyrischen Ichs, bei dem in den Wunsch ein klägliches „Ach“ eingelagert ist. Und Grieg findet natürlich bei seiner grundsätzlichen Ausrichtung der Liedmusik am lyrischen Wort die treffende Melodik. Bemerkenswert dabei ist, dass er eine Anbindung an die Eingangsworte „Ihr verblühet“ vornimmt, indem er nun auf die Worte „blühet, ach, dem“ die strukturell gleiche melodische Figur legt, das Intervall der Fallbewegung aber deutlich von der Quarte zur Septe erweitert und die Harmonik überdies eine Rückung von b-Moll nach der Dominantseptversion der Tonart „Ais“ vollziehen lässt, darin das „ach!“ in seinem affektiven Gehalt reflektierend. Und bei den Worten „dem Hoffnungslosen“ setzt sich diese Entfaltung der melodischen Linie im Gestus von Sprung- und Fallbewegungen über große Intervalle fort, und dies sogar in ihrer Expressivität dadurch gesteigert, dass sie in gedehnter Weise erfolgen. Auf „Hoffnungslosen“ liegt eine ausdrucksstarke Kombination aus gedehntem Sextsprung und Septfall, die mit einer harmonischen Rückung von As-nach Des-Dur einhergeht. Für Grieg ist, das wird hier wieder einmal deutlich, die Harmonik ein wesentliches liedkompositorisches Ausdrucksmittel.

    . . . damit Helmut Hofmann merkt, dass hier auch mitgelesen wird.

    Und wie der das merkt und sich freut... Du kannst es nicht ahnen, lieber hart.

    Aber Du hast recht, wie ich eben gerade noch einmal im vergleichenden Hören festgestellt habe: Anne Sofie von Otter lässt die große Schönheit dieses Liedes noch ein wenig stärker erklingen als Barbara Bonney, wie mir sich das besonders an der Melodik der dritten Strophe zeigt.

    Deshalb soll sie hier singen:


    „Zur Rosenzeit“, op.48, Nr. 5

    Ihr verblühet, süße Rosen,
    Meine Liebe trug euch nicht;
    Blühet, ach! dem Hoffnungslosen,
    Dem der Gram die Seele bricht!

    Jener Tage denk' ich trauernd,
    Als ich, Engel, an dir hing,
    Auf das erste Knöspchen lauernd
    Früh zu meinem Garten ging;

    Alle Blüten, alle Früchte
    Noch zu deinen Füßen trug
    Und vor deinem Angesichte
    Hoffnung in dem Herzen schlug.

    Ihr verblühet, süße Rosen,
    Meine Liebe trug euch nicht;
    Blühtet, ach! dem Hoffnungslosen,
    Dem der Gram die Seele bricht.

    (J. W. Goethe)

    Dieser lyrische Text stammt aus Goethes Libretto zu dem Singspiel „Erwin und Elmire“, das erstmals 1775 in Frankfurt aufgeführt wurde. Er wird darin von Erwin gesprochen. Goethe zitiert ihn auch in „Dichtung und Wahrheit“ (Teil IV, 19. Buch) und bringt ihn damit in Zusammenhang mit seiner Liebe zu Lili Schönemann. Dort heißt es diesbezüglich: „Nachstehendes Gedicht drückt eher die Anmut jenes Unglücks aus, und sei deshalb hier eingeschaltet.“

    Der Titel des Liedes stammt also von Grieg, und er geht in seiner Rätselhaftigkeit eigentlich an der poetischen Aussage des Gedichts vorbei, verfehlt diese sogar. Denn hier geht es nicht um eine mit positiven Emotionen konnotierte Rosenzeit, vielmehr wird die verblühende Rose zur Metapher für das Scheitern der Liebe eines lyrischen Ichs, das sich in ihrem Anblick trauernd dieser Liebe erinnert und sich als „Hoffnungslosen“ erlebt, dem der Gram die Seele bricht. Grieg scheint sich mit diesem Begriff auf die Zeit zu beziehen, in der das lyrische Ich „alle Blüten, alle Früchte“ der Geliebten zu Füßen legte, aber diese wird ja in diesem Gedicht nur in der Retrospektive vergegenwärtigt.

    Glücklicherweise lässt Griegs Liedmusik vernehmen, und dies auf beeindruckende Weise, dass sie Goethes Verse in ihrer Semantik und Metaphorik voll und ganz reflektiert und in ihren affektiven Dimensionen bis in die Tiefe auslotet, so dass sie das seelische Leid des lyrischen Ichs auf anrührende Weise zum Ausdruck bringt. Ein Dreivierteltakt liegt ihr zugrunde, sie soll als „Allegretto serioso“ vorgetragen werden, und b-Moll ist als Grundtonart vorgegeben.


    „Die verschwiegene Nachtigall“ (II)

    All das wurde so detailliert beschrieben, um aufzuzeigen und bewusst zu machen, wie hochgradig komplex und melodisch artifiziell die im Geist des Volksliedes sich präsentieren wollende Liedmusik in Wirklichkeit kompositorisch angelegt ist. Und das ist auch bei der Liedmusik auf dem gleichsam als Refrain fungierenden letzten Verspaar der einzelnen Strophen der Fall. Die Melodik auf den Worten „Vor dem Wald mit süßem Schall“ ist als eine Art Eröffnung und Hinführung zu der Aussage dieses Tandaradei-Verspaares angelegt. Dazu lässt Grieg hier auch das Metrum vom vorangehenden Dreiviertakt zu einem mit vier Vierteln übergehen. Die melodische Linie beschreibt nach einer ganztaktigen Pause auf den Worten „süßem Schall“ die gleiche Bewegung wie zuvor auf „Vor dem Wald mit“, dieses nun aber in der tonalen Ebene eine Terz tiefer, jedoch ebenfalls in einer Rückung von G-Dur über F-Dur, also den beiden Dominanten, nach der Tonika C-Dur harmonisiert.

    Wieder folgt eine ganztaktige Pause nach, in der das Klavier die Bewegung der melodischen Linie, die es ja wie üblich hier gerade in Gestalt von dreistimmigen, Diskant und Bass übergreifenden Akkorden mitvollzogen hat, nach unten hin weiter fortsetzt. Nun erklingt „leggiero“ der „Tandaradei“-Ruf, und Grieg verfährt hier so, wie bei der Hinführungs-Melodik zu ihm: In beiden Fällen liegt die gleiche melodische Figur auf ihm, nur dass sie im zweiten Fall um eine Terz abgesenkt auf der tonalen Ebene eines „D“ in tiefer Lage ansetzt, und nun nicht wie die erste vom Klavier mit einem taktlang gehaltenen und um ein Achtel zuvor angeschlagenen F-Dur-Akkord begleitet wird, sondern mit einem in D-Dur, in das sich ein „Fis“ eingeschlichen hat. Überdies wird sie nun nicht im Piano, sondern im Pianissimo vorgetragen. Sie besteht aus einem dreischrittigen, steilen und stark rhythmisierten (ein Viertel, zwei Sechzehntel) Anstieg über Terz und eine Quarte, dem über einen Sekundfall eine lange Dehnung nachfolgt. Die harmonische Rückung und das Pianissimo machen, so fasse ich das auf, das zweite Tandaradei zu einer Art Echo-Nachklang des ersten.

    Die Viertelpause, die nun nachfolgt, macht den zweimaligen Tandaradei-Ruf, wie ihm das gebührt, zu einem exponierten musikalischen Ereignis. Die Melodik des letzten Verses hat ihren Schwerpunkt natürlich auf dem Wort „Nachtigall“. Bei den vorangehenden Worten „sang im Tal die“ lässt Grieg sie deshalb in repetitiven Schritten auf der tonalen Ebene eines „A“ in mittlerer Lage verharren, allerdings mit einer Dehnung auf „sang“ am Anfang. Das Wort „Nachtigall“ erfährt eine starke Dehnung. Auf den beiden ersten Silben liegt ein gedehnter, auf der Ebene eines hohen „D“ ansetzender Quartfall, den das Klavier mit einem taktlang gehaltenen arpeggierten G-Dur-Akkord begleitet. Auf der dritten Silbe „-gall“ liegt eine sich fast über den ganzen Takt erstreckende Dehnung im Grundton „C“ in hoher Lage, die das Klavier allerdings „dolce“ mit einem zwei Takte einnehmenden F-Dur-Akkord begleitet, aus dem sich die Legato-Sprungfigur des Vorspiels erhebt.

    Die Einbettung des Grundtons in die harmonische Subdominante deutet an, dass sich die Liedmusik fortsetzt. Sie tut dies allerdings zwei weitere Takte lang in genau der gleichen Gestalt und endet schließlich ohne weiteres Nachspiel in einem fermatierten Pianissimo-C-Dur-Akkord, der in tiefer Basslage angesiedelt ist. Darin reflektiert er wohl den Gehalt der Worte „das wird wohl verschwiegen sein.“

    „Die verschwiegene Nachtigall“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Allegretto (sempre con mezza voce“, so lautet die Vortragsanweisung für die Liedmusik. Ein zweitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der Melodik voraus. Im Pianissimo erklingt auf der Grundlage eines Viervierteltakts eine melismatische, in eine Dehnung mündende Achtel-Sechzehntelfigur im hohen Diskant, die nach einer Viertelpause in einem lang gehaltenen sechsstimmigen F-Dur-Akkord einsetzt. Wenn damit der Raum für das nachfolgende Geschehen eröffnet und dieses charakterisiert werden soll, so wird es ein ungestört idyllisches sein.

    Und in der Tat besteht die Melodik auf den Worten der ersten vier Verse ausschließlich aus einer Figur, die mit einem Sekundfall einsetzt, in den ein melismatischer Sechzehntelvorschlag eingelagert ist, und der sich anschließend in einem dreischrittigen Sekundfall fortsetzt, der bei der ersten Silbe von „Linden“ und „Heide“ und bei dem Wort „saß“ über einen weiteren Sekundschritt abwärts in eine Dehnung mündet. Diese Figur erklingt in ununterbrochener Folge, wiederholt sich zunächst zwei Mal in ihrem Ansatz auf der tonalen Ebene eine „E“ in hoher Lage und senkt sich danach in der tonalen Ebene erst über eine Terz, dann eine Sekunde ab, so dass die Dehnung auf dem Wort „saß“ am Ende genau eine Oktave tiefer, also auf einem „E“ in unterer Lage erklingt. Als Bindeglied dient im zweiten und dritten Fall jeweils ein Quartsprung.

    Anders als das im Vorspiel der Fall ist, liegt dieser melodischen Fallbewegung ein Dreivierteltakt zugrunde, und das gilt auch für den weiteren Verlauf der melodischen Bewegungen auf den nachfolgenden drei Versen, was diesen eine Anmutung von innerer Beschwingtheit verleiht. Das Klavier folgt den deklamatorischen Schritten mit der Oberstimme von bitonalen Akkorden, die sich jeweils über zwei Takte in ihrem Intervall von der Vierstimmigkeit bis zur Zweistimmigkeit in Gestalt einer Terz. Die Dehnung auf „saß“, die diese als eine Einheit angelegte Melodiezeile beschließt, wird allerdings mit einem vierstimmigen Akkord in der Tonart E-Dur begleitet, und das ist bemerkenswert, ist doch die vorangehende Melodik in der Grundtonart C-Dur und ihren beiden Dominanten harmonisiert. Damit wird in der Abwärtsbewegung der Melodik auf den ersten drei Versen, die Grieg als Aufriss der Grundsituation des in den Aussagen des lyrischen Ich sich konstituierenden Geschehens gelesen hat, gleichsam ein Schlusspunkt gesetzt. Indem er diesen in der weitab liegenden Tonart E-Dur erklingen lässt, will er wohl deutlich machen, dass dieses nachfolgende Geschehen ein höchst bedeutsames ist.

    Und prompt treten Veränderungen in die Liedmusik auf der sich anschließenden Vers-Dreiergruppe, die wieder als eigenständige, ungebrochene Melodiezeile angelegt ist: In die Struktur der Melodik, ihre Harmonisierung und in die Grundstruktur des Klaviersatzes. Nur dass dieser weiterhin an die melodischen Schritte angebunden ist und mit dem Oberton seiner Akkorde deren Bewegung folgt. Auf den Worten „ Da mögt ihr finden“ setzt die melodische Linie wieder wie in der ersten Zeile auf der tonalen Ebene eines hohen „E“ ein, nun aber in a-Moll harmonisiert und anschließend nicht einen direkten Sekundfall beschreibend. Sie senkt sich zwar auch hier zu einem gedehnten Sekundfall in mittlerer Lage auf „finden“ ab, das geschieht aber in Gestalt eines Auf und Abs von Sekundschritten, was ihr durch die Einbettung in das von einer kurzen Rückung zur Dur-Dominante unterbrochenen Harmonisierung in a- Moll eine Anmutung von wehmütiger Lieblichkeit verleiht. Und weil die Melodik dieser Zeile bis zu ihrem Ende bei dem Wort „Gras“ diesen Gestus des langsamen Sich-Absenkens in einem Auf und Ab von Sekundschritten beibehält, geht auch diese Anmutung weiterhin von ihr aus. An die Stelle des wehmütigen Untertons tritt aber ein eher freudiger dadurch, dass von den Worten „Blumen brachen“ die Moll-Harmonierung durch eine in Dur tritt.

    Diese Verse beschreiben ja im Original auf viele dezentere Weise als hier eine vielsagende Situation („da mugt ir vinden / schône beide / gebrochen bluomen unde gras“), und Grieg greift das auf, indem er die langsame Fallbewegung der Melodik mit melismatischen Strukturelementen versieht, die eben diese Anmutung von klanglicher Lieblichkeit bewirken. Es sind Dehnungen von Silben mittels eines mehrschrittigen Sekundfalls und zweimal sogar wieder ein Achtel-Vorschlag. Und im Klaviersatz tritt ebenfalls zwei Mal, nämlich bei dem Wort „da“ am Anfang, bei „Blumen“ und bei „brachen“ im Klaviersatz ein arpeggierter Akkord hinzu. Fast jedes Wort erfährt eine solche melodisch-deklamatorische Dehnung. Auf dem einsilbigen „mögt“ liegt ein Achtel-Sekundschritt aufwärts, auf „finden“ ein lang gedehnter (halbe und Viertelnote) Sekundfall, auf „wie“ („wir) liegt ein dreimaliger Sekundfall, bei „beide“ beschreibt die melodische Linie auf der Silbe „bei-“ einen Achtel-Sekundfall, auf der Silbe „-de“ folgt ein weiterer, nun aber mit Vorschlag versehener nach, auf „Blumen“ liegt ein vierschrittiges Legato-Auf und Ab. Das Wort „brachen“ erfährt eine geradezu extreme und es stark akzentuierende Dehnung. Auf der Silbe „bra-“ liegt ein stark gedehnter, vom Klavier mit einem arpeggierten begleiteter Sekundfall, dem über einen Terzsprung ein dreischrittiger, in eine Repetition mündender Sekundfall nachfolgt.

    Das alles ereignet sich melodisch tatsächlich auf dem einfach zweisilbigen und im lyrischen Text die schlichte Funktion eines Verbs aufweisenden Wort „brachen“. Und - natürlich, möchte man sagen - liegt am Ende auf der Konjunktion „und“ ein Achtel-Sekundfall und auf „das Gras“ ein mit Achtelvorschlag versehener weiterer Achtel-Sekundfall, der bei „Gras“ in eine Repetition auf der tonalen Ebene eines „G“ in tiefer Lage übergeht. Bei all diesen deklamatorischen Dehnungen vollzieht die Harmonik von dem Wort „Blumen“ an eine Rückung von D-Dur nach G-Dur, und so ist das auch bei „das Gras“ der Fall. Zuvor, bei den Worten „wie wir beide“ weist die Harmonik deine komplexere Struktur auf. Sie vollzieht eine Rückung von a-Moll über D-Dur und E-Dur zurück nach a-Moll und reflektiert darin die Emotionen, die sich beim lyrischen Ich durch die Worte „wir beide“ einstellen.

    „Die verschwiegene Nachtigall“, op. 48, Nr. 4

    Unter der Linden,
    An der Haide,
    Wo ich mit meinem Trauten saß,
    Da mögt ihr finden,
    Wie wir beide
    Die Blumen brachen und das Gras.
    Vor dem Wald mit süßem Schall,
    Tandaradei!
    Sang im Tal die Nachtigall.

    Ich kam gegangen
    Zu der Aue,
    Mein Liebster kam vor mir dahin.
    Ich ward empfangen,
    Als hehre Fraue,
    Daß ich noch immer selig bin.
    Ob er mir auch Küsse bot?
    Tandaradei!
    Seht, wie ist mein Mund so rot!

    Da ging er machen
    Uns ein Bette
    Aus süßen Blumen mancherlei,
    Des wird man lachen
    Noch, ich wette,
    So Jemand wandelt dort vorbei.
    Bei den Rosen er wohl mag,
    Tandaradei!
    Merken wo das Haupt mir lag.

    Wie ich da ruhte,
    Wüßt' es Einer,
    Behüte Gott, ich schämte mich.
    Wie mich der Gute
    Herzte, Keiner
    Erfahre das als er und ich.
    Und ein kleines Vögelein,
    Tandaradei!

    (Walther von der Vogelweide)

    Das ist eine für einen, der das Original nicht nur kennt, sondern mit dem Mittelhochdeutschen vertraut ist, auf geradezu schmerzliche Weise unzulängliche Übertragung ins Neuhochdeutsche. Walthers Verse verkörpern auf exemplarische Weise den Einbruch der sog. „nideren minne“ in das zu seiner Zeit die höfische Kultur prägende und beherrschende Konzept der „hôhen minne“, das heißt die im Gesang als „hêre frouwe“ angesprochene, verehrte und auf diese Weise geradezu vergöttlichte, also unerreichbare adelige Frau. Hier aber wird das Mädchen aus dem Volk besungen, und - das war geradezu ein Sakrileg damals - zur „hêren frouwe“ gemacht.

    Und nicht nur das: In seiner Metaphorik deuten Walthers Verse auf sprachlich höchst subtile und überaus reizvolle Weise an, dass es hier zur Erfüllung der Liebe gekommen ist. Das war ein minnesängerisch geradezu revolutionärer Akt. Dies vor allem durch seinen letzten Vers: „daz mac wol getriuwe sîn“. Denn er adelt mit dem Begriff der „triuwe“ ethisch das, was da geschehen ist und stellt auf diese Weise das Konzept der „hôhen minne“ infrage. Die Übersetzung desselben mit „Das wird wohl verschwiegen sein“ ist völlig deplatziert.
    Wie geradezu unsinnig diese Übersetzung ist, das zeigt sich an den ersten Versen der letzten Strophe. Die Worte „Wie ich da ruhte, / Wüßt' es Einer“ geben das Original falsch wieder. Und das ist ein gravierender Mangel, denn hier geht es um den Kern der lyrischen Aussage, das Wesen der „nîderen minne“ betreffend. Denn bei Walther heißt es: „Daz er bî mir laege, / wessez iemen / (nu enwelle got!), so schamt ich mich“. Es fand also tatsächlich ein Beischlaf in freier Natur statt. Dieses, wenn auch in Gestalt der dezenten Metaphorik der letzten Strophe lyrisch auszusprechen, war zu seiner Zeit eine Kühnheit.

    Was mag Grieg wohl bewogen haben, liedkompositorisch zu diesem Walther-Gedicht zu greifen? Dass es, aus dem Mittelalter kommend, zu überzeitlicher Berühmtheit gelangt ist, mag ein Grund gewesen sein, wohl aber nicht der eigentliche. Eher verweist die Überschrift auf diesen. Er hat diese Verse als alte und darin originäre Volkslied-Dichtung gelesen, sie darin allerdings verkannt und infolgedessen seine Liedmusik auf das Erfassen der ländlichen Szenerie des Treffens mit der Trauten „unter den Linden, an der Heide“ ausgerichtet, nicht aber auf die emotionale Befindlichkeit des lyrischen Ichs, wie sie sich textlich und metaphorisch niedergeschlagen hat. Denn ein solches lyrisches Ich gibt es hier literaturhistorisch erstmals. Auch das ist das bedeutsame Neue an Walthers Lyrik.

    Dass es Grieg hier, und das ist ja typisch für seine liedkompositorische Grundintention, um die Realisation von musikalischem Volkslied-Geist ging, das zeigen die mit aus dem norwegischen Volkslied genommenen Verzierungselementen angereicherte Melodik, der strukturell einfache, an die deklamatorische Gestalt der melodischen Linie strikt gebundene, ihren Bewegungen also folgende Klaviersatz, und im übrigen auch, dass die Komposition als reines, also nicht variiertes Strophenlied angelegt und darin die drittes Strophe des Walther-Gedichts ausgespart ist. Darin kommt, aber das interessierte Grieg ja nicht, ein wesentlicher Aspekt der emotionalen Befindlichkeit des lyrischen Ichs zum Ausdruck.


    „Dereinst, dereinst“ (III)

    Auf den ersten beiden Versen der dritten Strophe liegt die gleiche und ebenso harmonisierte Melodik wie auf dem Verspaar der ersten, - mit zwei Abweichungen. Die eine ist bedeutungslos, weil textbedingt. Der Sekundfall am Ende der zweiten Melodiezeile mündet nicht in eine Dehnung, sondern, weil es nun statt „sein“ um die zwei Endsilben von „gefunden“ geht, in eine Tonrepetition. Aber die andere Variation ist interessant: Nach dem Wort „nicht“ hat Grieg dieses Mal eine Viertelpause in die melodische Linie gesetzt. Sie soll diesem Wort größeres Gewicht verleihen, was zeigt, dass für ihn dieser lyrischen Aussage große Bedeutung zukommt. Und dass dem so ist, wird daraus ersichtlich, dass er dieses Verspaar als einziges in einer neuen Melodik noch einmal deklamieren lässt, versehen mit der Anweisung „cresc. ed agitato“.

    Nun wird diesen Worten in ihrer Aussage mittels der Liedmusik stärkerer Ausdruck verliehen. Die melodische Linie senkt sich nach einer in dis-Moll gebetteten Tonrepetition und einem Sekundsprung in Gestalt eines verminderten Sekundschritts zur tonalen Ebene eines „Eis“ in tiefer Lage ab, wobei die Harmonik eine Rückung von Fis- nach Cis-Dur vollzieht. Und auf den Worten „nicht hast gefunden“ liegt nun eine deklamatorische Tonrepetition einen Halbton höher, die auf ausdrucksstarke Weise in ein im Quintenzirkel weitab liegendes a-Moll gebettet ist, und auf der zweiten und dritten Silbe von „gefunden“ beschreibt die melodische Linie, nun auf der Grundlage eines Zweiviertel- anstatt des bislang vorherrschenden Viervierteltaktes einen sie auf die tonale Ebene eines „Dis“ in tiefer Lage führenden und in H-Dur gebetteten Sekundfall. Durch den Wandel im Metrum und das Crescendo gewinnt der Sekundfall auf „gefunden“ ein höheres Gewicht als in der ersten Version. Das „Nicht-gefunden-Haben“ ist für Grieg ganz offensichtlich der Kern des Leidens des lyrischen Ichs.

    Bei den Worten „Wenn es entschwunden“ beschreibt die melodische Linie die gleiche Bewegung wie im dritten Vers der zweiten Strophe auf „kühler Erden“, einen in tiefer Lage ansetzenden Legato-Sextsprung, der nach einer Repetition in einen Legato-Quintfall übergeht, und wie dort ist er in Dis-Harmonik gebettet. Damit greift er zum kompositorischen Prinzip der Wiederholung, und das behält er bis zum letzten Vers der dritten Strophe bei. Das gilt auch für die Harmonik, den Klaviersatz, ja sogar für die dynamischen Anweisungen. Die Abweichungen von der Melodik sind ausschließlich textbedingt.

    Dass Grieg auf die letzten vier Verse der dritten Strophe die gleiche Melodik legt wie auf die entsprechenden Verse der zweiten, hat durchaus seinen guten Sinn. Denn weil diese durch die permanenten Repetitionen auf wechselnden tonalen Ebenen eine hohe Eindringlichkeit entfaltet, ist sie bestens geeignet, dem Versprechen, dass einem all das, was im Leben nicht gefunden wurde, im Grab ohne Pein und Wunden nun zuteilwerde, den ihm gebührenden Nachdruck zu verleihen.

    Auch die Liedmusik auf dem letzten Verspaar ist, einschließlich des Nachspiels, mit der der zweiten Strophe identisch. Nur dass nun noch ein Takt hinzugefügt wird, auf dass der dem in hohe Diskantlage ausgreifenden sechsstimmigen Piano-Pianissimo-Dis-Dur-Akkord in tiefer Basslage nachfolgende nun zwei Takte lang erklingen kann. Das ist ja auch angebracht, will er doch in seinem Kontrast zum vorangehenden als klangliche Verkörperung des in diesem Lied beschworenen Glücks der Grabesruhe verstanden werden.

    „Dereinst, dereinst“ (II)

    In diesem vom Fallgestus geprägten repetitiven Verharren der melodischen Linie und dem Wechselspiel zwischen den Tongeschlechtern Moll und Dur in ihrer Harmonisierung reflektiert sie auf eindrückliche Weise die seelische Befindlichkeit des lyrischen Ichs in der Ambiguität zwischen situativ gegenwärtigem Leiden und dem Wunsch nach Erlösung aus, der, wie es sich dies monologisch-suggestiv einredet, im „Schlaf in kühler Erde“ Erfüllung findet. Und deshalb lässt Grieg hier arpeggierte Akkorde erklingen und die Liedmusik in ein Crescendo-Agitato übergehen, das anschließend, bei der, wieder in zwei kleinen Zeilen untergliederten, Melodik auf den Worten der Verse drei und vier der zweiten Strophe in ein Forte übergeht. Das mutet an, als habe er diesen Prozess des Sich-Einredens als einen in seinem suggestiven Charakter sich permanent steigernden verstanden. Denn bei den Worten „In kühler Erden“ beschreibt die melodische Linie, in einer Rückung von g-Moll nach Dis-Dur harmonisiert, auf diese Weise das Wort „Erden“ akzentuierend und „molto ten. dim.“ vorzutragen einen ausdrucksstarken Legato Sextsprung aus einer Repetition in tiefer zu mittlerer Lage, der anschließend in einen Legato-Quintfall übergeht.

    Bei den Worten „da schläfst du gut“ verharrt sie, in Dis- und Ais-Dur gebettet, auf rhythmisierte und in eine lange Dehnung mündende Weise repetitiv auf der Ebene eines „Ais“ in mittlerer Lage. Dabei geht aber das Forte in ein Pianissimo über. Schlägt sich darin, und in dieser Arretierung der Melodik auf der „Ais“-Ebene ein Nachlassen der autosuggestiven Kraft nieder, oder ist es vielmehr so zu verstehen, dass das lyrische Ich in die Imagination des Ruhens in tiefer Erde zu versinken scheint?
    Die Melodik auf den nachfolgenden Versen der zweiten Strophe sollte die Antwort auf diese Frage geben, und das tut sie auch. Bei den Worten „dort ohne Lieb“ beschreibt die melodische Linie einen mit Portato-Zeichen versehenen, anfänglich repetitiven Sekundanstieg, der auf „Lieb“ in eine Dehnung mündet und dadurch, und durch den Übergang von g-Moll nach Fis-Dur eine starke Akzentuierung erfährt, wobei die Liedmusik aber weiterhin im Pianissimo verharrt.

    Auf den Worten „Und ohne Pein / Wirst ruhig sein“, die erstmals zu einer pausenlosen Melodiezeile zusammengefasst sind, geht die melodische Linie, ganz und gar in Moll-Harmonik (dis-Moll ) gebettet, im Piano-Pianissimo in einen sich um eine Sekunde zur „Ais“-Ebene absenkenden repetitiven Gestus über, um bei „ruhig sein“ einen ausdrucksstarken und in eine Dehnung auf tiefer Dis-Ebene mündenden Quintfall in Gestalt einer in eine Dehnung übergehenden Tonrepetition zu beschreiben. Die Harmonik vollzieht dabei eine Rückung von Dis-Dur nach gis-Moll. Wie schon in der ersten melodischen Fassung dieses eine Schlüsselrolle einnehmenden Refrain-Verses endet die melodische Linie in ihrem Fall auch in dieser zweiten in einer Moll-Harmonisierung. Man sollte eigentlich, weil das ja die als Verheißung auftretende zentrale Aussage des Gedichts ist, erwarten, dass hier Dur-Harmonik angesagt ist. Aber Grieg verfährt anders.

    Das Moll soll hier die Grabesruhe suggerieren, und das Dur folgt dann nach, und zwar in Gestalt eines zweitaktigen Nachspiels, in dem am Ende einer steigend angelegten Folge eines dis-Moll-Akkordes und zweier in gis-Moll ein lang gehaltener und in hohe Diskantlage reichender sechsstimmiger Dis-Dur-Akkord erklingt, dem ein in tiefer Basslage angesiedelter wiederum sechsstimmiger in Dis-Dur nachfolgt.
    Das ist subtile Liedkomposition, denn darin schlägt sich nieder, dass es sich bei diesem Schlüssel-Refrainvers nicht um eine von außen an das lyrische Ich gerichtete Verheißung handelt, sondern um eine monologisch-autosuggestive, die als solche im einem gewissen Grad an Ungewissheit verbunden ist.
    So möchte ich diese kompositorische Gestaltung des Schlussverses der zweiten Strophe deuten, dem ja, weil sie sich am Ende der dritten Strophe wiederholt, hinsichtlich der Aussage des ganzen Liedes eine zentrale Bedeutung zukommt.

    „Dereinst, dereinst“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    „Molto Andante“, so lautet die Tempo- und Vortragsanweisung für die Liedmusik. Ein zweitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der Melodik voraus. Vier lang gehaltene Akkorde in den Tonarten gis-Moll, Fis-Dur, E-Dur und H-Dur folgen im Diskant pianissimo aufeinander. Da sie sich von der Terzen-Dreistimmigkeit zu Fünfstimmigkeit über Quintintervalle erweitern, und überdies ein Übergang vom anfänglichen Tongeschlecht Moll nach stattfindet, kann man dieses Vorspiel als klangliche Imagination des Vorgangs auffassen und verstehen, der hier lyrisch beschworen wird: Der Übergang von der von , Leid Last und Pein erfüllten irdischen Existenz in die kühle, von all dem befreite Ruhe des Grabes.

    Aber der letzte Akkord, der nach dem fünfstimmigen und in der tonalen Ebene hochreichenden H-Dur-Akkord erklingt, ist ein dreistimmiger gis-Moll-Akkord in tiefer, erstmals in den Bassbereich ausgreifender Lage. Und in diesem setzt auch die Melodik auf den Worten des ersten Verses ein, in der sich allerdings dann eine Zwischenrückung nach E-Dur ereignet. Und das gilt für alle nachfolgenden Melodiezeilen bis zum Lied-Ende.
    Will heißen: Grieg versteht, und das zu Recht, alle lyrischen Aussagen als im Spannungsfeld von irdisch-diesseitiger und transzendent jenseitiger Existenz erfolgend, was sich in permanenten Rückungen zwischen den Tongeschlechtern in der Harmonisierung der Melodik niederschlägt, bis dann, dies aber erst am Ende des Nachspiels, ein langes, über drei Takte gehaltenes, helles und nicht mehr von Mollharmonik verstörtes Dis-Dur erklingt, die tiefe existenzielle Ruhe also Einkehr gehalten hat. Nicht de facto natürlich, sondern in den Visionen des mit seinem inneren Monolog immer noch mit zwei Beinen in der Malaise irdischer Existenz stehenden lyrischen Ichs.

    Auf den Worten „Dereinst, Gedanke mein, beschreibt sie melodische Linie einen ruhigen, weil in deklamatorischen Schritten im Wert eines Viertels über Terzintervalle erfolgenden, in tiefer Lage ansetzenden und in einer gedehnten Tonrepetition kurz innehaltenden Anstieg zu einer Dehnung auf dem Wort „mein“, wobei ein Crescendo in sie tritt und das Wort „mein“ eine Akzentuierung erfährt. Diese melodische Anstiegsbewegung wird von Klavier mit lang gehaltenen Akkorden mitvollzogen, und in der gis-Moll-Harmonisierung ereignet sich, wie erwähnt, eine kurze Zwischenrückung nach E-Dur. Eine Viertelpause folgt nach, darin dem für das ganze Lied geltenden kompositorischen Grundkonzept entsprechend, jedem Vers durch eine eigene, in eine Pause mündende Melodiezeile in seiner poetischen Aussage das ihm gebührende musikalische Gewicht zu verleihen.

    Die melodische Linie auf den Worten „wirst ruhig sein“ ist, wie könnte es anders sein, eine fallende. Sie erklingt auf mittlerer tonaler Ebene, weist aber erneut, wie auch die erste, ein retardierendes Moment in Gestalt einer gedehnten Tonrepetition auf. Harmonisiert ist sie erneut in einer Dur-Moll-Rückung, nur erklingt das Fis-Dur nun am Anfang, und es folgt eine Rückung von gis-Moll nach dis-Moll nach. In der Viertelpause danach erklingt ein lang gehaltener arpeggierter Moll- Akkord. Er verschafft dieser Weissagung Nachdrücklichkeit. Und das ereignet sich gleich noch einmal nach der Melodik auf den Worten „Läßt Liebesglut“, die aus zwei, sich in der tonalen Ebene in tiefer Lage sich um eine verminderte Sekunde sich absenkenden Tonrepetitionen besteht, die „cresc. ed agitato“ vorzutragen sind. Danach schlägt das Klavier einen arpeggierten a-Moll-Akkord im Wert einer halben Note an, in den auch die melodische Linie auf den Worten „die still nicht“ gebettet ist, wobei diese mit einer Repetition auf einer um eine kleine Sekunde angehobenen tonalen Ebene ansetzt und einen Sekundschritt nach oben beschreibt. Bei dem Wort „werden“ geht sie dann aber wieder in einen Sekundfall über, der nun in H-Dur harmonisiert ist.

    „Dereinst, dereinst“, op. 48, Nr. 2

    Dereinst, dereinst,
    Gedanke mein,
    Wirst ruhig sein.

    Läßt Liebesglut
    Dich still nicht werden,
    In kühler Erden,
    Da schläfst du gut,
    Dort ohne Lieb'
    Und ohne Pein
    Wirst ruhig sein.

    Was du im Leben
    Nicht hast gefunden,
    Wenn es entschwunden,
    Wird's dir gegeben,
    Dann ohne Wunden
    Und ohne Pein
    Wirst ruhig sein.

    (Emanuel Geibel)

    Ein Gedicht des auf ästhetische Virtuosität und klanglichen Wohllaut ausgerichteten Spätromantikers Geibel, der nach Heine die meisten Komponisten zur Vertonung seines lyrischen Werks gefunden hat. Seine poetische Könnerschaft zeigt sich hier darin, wie er die Verse im jambischen Metrum fließend sich entfalten lässt, dabei aber mit verschiedenen Reimschemata und stumpfen und klingenden Kadenzen operiert, den rhythmischen Fluss durch metrische Störungen unterbricht, um die lyrische Aussage zu akzentuieren, und diese am Ende aller Strophen in Gestalt von sich wiederholendem Text auf den Punkt zu bringen.
    Dieser Punkt, die zentrale Aussage also ist, in Gestalt eines inneren, an die eigene Gedanklichkeit als Verheißung sich richtenden Monologs beschworen, die Vision einer Erlösung von aller Erdenpein und die Erfüllung aller im irdischen Leben versagt gebliebenen Wünsche durch den Tod.

    Griegs Vertonung dieser Verse ist das zweite des insgesamt sechs Lieder auf Texte von deutschen Lyrikern umfassenden und zwischen 1884 und 1889 entstandenen Opus 48. Es ist der norwegischen Sängerin und bedeutenden Wagner-Interpretin Ellen Gulbranson gewidmet. Im Vergleich mit den ebenfalls Vertonungen deutschsprachiger Lyrik enthaltenden Jugend-Opera 2 und 4 zeichnen diese sich durch eine den lyrischen Text in seinen semantischen und effektiven Dimensionen tiefer erfassenden Melodik aus, die, obgleich, wie für Griegs Liedmusik typisch, im deklamatorischer Wortgebundenheit sich entfaltend, gleichwohl kantable Gebundenheit aufweist. Hier, im Fall des Geibel-Gedichts, evoziert sie, und dies auf beeindruckende Weise, die von diesem verheißene Ruhe, Stille und Geborgenheit im Tod. Mit welchen kompositorischen Mitteln Grieg dabei verfährt, ist in der nachfolgenden analytischen Betrachtung aufzuzeigen.


    „Letzter Frühling“ (II)

    Bei den Worten „den Winter zertauen“ vollzieht die melodische Linie bei dem Wort „Winter“ mit einem dieses akzentuierenden gedehnten, in Dis-Dur harmonisierten Sekundschritt einen Aufstieg in hohe Lage, und geht von dort aus mit einem Crescendo in einen ausdrucksstarken, über eine Terz, eine verminderte Sekunde und eine Quinte sich erstreckenden Fall über eine ganze Oktave über, wobei die Harmonik eine Rückung nach f-Moll vollzieht. Darin findet, so kann man das auffassen und verstehen, die Macht des Frühlings ihren musikalischen Ausdruck.

    Nun verfährt Grieg, ganz beseelt vom Volkslied-Geist, beim zweiten Verspaar so wie in der ersten Strophe. Auf den Worten „lieblich die Seen und die“ beschreibt die melodische Linie die gleiche, wieder in dis-Moll gebettete Bewegung wie auf den Worten „Durfte noch einmal“, bei „ Ströme erblaun“ ist ihre Fallbewegung nun aber expressiver angelegt. Nun erfolgt sie, in Ais-Dur harmonisiert, in hoher Lage ansetzend über Terzintervalle und endet in einer kleinen Dehnung auf der Ebene eines „Ais“ in mittlerer Lage. Bei „ergrünen die Auen“ entfaltet die Melodik große Emphase. Weiterhin in Ais-Dur gebettet, beschreibt sie einen Quintsprung in hohe Lage, geht von dort aus auf „grünen“ in einen stark gedehnten Terzfall über, um am Ende auf „Auen“ über einen neuerlichen Terzfall in eine lange Dehnung zu münden.

    „Cresc. e più tenuto poco a poco“ lautet die Anweisung für den Vortrag der Melodik auf dem ersten Verspaar der dritten Strophe. Auf den Worten „Hören noch einmal“ liegt ein in Fis-Dur harmonisierter Fall über eine Terz zwei Sekunden, der, weil er in tiefe Lage führt, den affektiven Gehalt der Worte „noch einmal“ reflektiert. Danach geht die melodische Linie in einen nun in H-Dur harmonisierten Anstieg über, denn nun geht es um morgendliches Erwachen und Schalmeienklang. Auf „des Morgens“ liegt eine bogenförmige, in oberer Mittelage angesiedelte und in gis-Moll gebettete melodische Bewegung in lebhaften Achtelschritten, zu dem Wort „Schalmeien“ hin beschreibt die melodische Linie einen Fall in tiefe Lage, um dort in einen stark gedehnten Terzanstieg überzugehen, der in dis-Moll harmonisiert ist. Und den damit eingeleiteten Anstieg setzt sie bei „erklingen“ auf markante, mit der Anweisung „cresc. molto“ versehene Weise fort, über drei Terzen nämlich bis hoch zur tonalen Ebene eines „Eis“. Das ist ein in seinem affektiven Gehalt überaus liebliches Bild, und Griegs Liedmusik verleiht ihm voll angemessenen und deshalb so eingängigen Ausdruck.

    Dann aber steigert sich das lyrische Ich in seiner Vergegenwärtigung von vergangenem Frühlings-Erleben aufs Neue in das „noch einmal“, und nun ist es ein Wunsch mit noch höherem affektivem Gehalt: Noch ein letztes Mal im Entschlummern die Nachtigall singen zu hören. Die Melodik, mit der Grieg die Worte „einmal noch hören, entschlummernd zur Nacht,
    die Nachtigall singen“ in ihrem semantischen und affektiven Gehalt liedmusikalisch einfängt, ist in ihrer Melodik und deren Harmonisierung so treffend und eingängig, dass man meint, sie, wie etwa „am Brunnen vor dem Tore“, immer schon mit sich zu tragen. Im Fortissimo soll sie vorgetragen werden. Auf der höchsten tonalen Ebene des Liedes, der eines „Fis“, setzt sie mit einer Repetition ein, geht in einen zweischrittigen Fall über, schwingt sich aber wieder auf, um bei „entschlummernd“ einen melismatischen Abwärtsbogen zu beschreiben, der auf „zur Nacht“ in einen in dis-Moll gebetteten Fall über eine Terz und eine Quarte übergeht. All das wird vom Klavier mit lang gehaltenen sieben- und fünfstimmigen Akkorden begleitet.

    Auf den Worten „die Nachtigall singen“ geht die melodische Linie im Pianissimo mit einem Quartsprung zu einer langen, eineinhalb Takte einnehmenden Dehnung auf der tonalen Ebene eines „Cis“ in hoher Lage über, derweilen darin die Harmonik eine Rückung von Fis-Dur nach Cis-Dur vollzieht und das Klavier zwischen den beiden entsprechenden lang gehaltenen Akkorden im Diskant aufsteigende Viertel erklingen lässt. Ein wenig Nachtigall-Gesang klingt da auf. Eindrücklich ist auch das Ausklingen der Melodik gestaltet. Sie beschreibt nicht einfach einen Sekundfall hin zum gedehnten Grundton „Fis“, vielmehr vollzieht sie, als wolle sie gar nicht enden, einen Doppelfall: Erst auf den Silben „-tigall“ einen über eine Sekunde zur tonalen Ebene über dem Grundton, und dann, von der gleichen Ebene wie zuvor ansetzend, einen über eine Terz, der dann aber nun in eine Dehnung auf dem Grundton „Fis“ in tiefer Lage mündet und in Fis-Dur gebettet ist.

    Ein siebentaktiges Zwischenspiel erklingt, bevor sich die Liedmusik auf den drei nachfolgenden Strophen in unveränderter Weise wiederholt. Sogar das Nachspiel stellt eine Wiederholung des Zwischenspiels dar. Staccato-Achtel beschreiben darin einen zweimaligen, in einer Rückung von dis-Moll nach Fis-Dur harmonisierten Aufstieg in Oktav-Diskantlage, zwei lang gehaltene Fis- und Cis-Dur-Akkorde folgen nach, und dann klingt die Figur des Vorspiels auf, die im Zwischenspiel als Überleitung zur Wiederholung fungiert, im Nachspiel dann aber als Ausklang der Liedmusik. Nur ein mit einem Legato-Anstieg von Vierteln aus tiefer Bass- in hohe Diskantlage arpeggierter siebenstimmiger und mit einer Fermate versehender Pianissimo-Akkord folgt noch nach.
    Das ist ein Nachspiel, das in seiner klanglichen Lieblichkeit den, wohl norwegischen, Geist dieses so tief beeindruckenden Liedes verkörpert.

    „Letzter Frühling“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Viervierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, im „Andante espressivo“ soll sie vorgetragen werden, und als Grundtonart ist „Fis-Dur“ vorgegeben. Ein zweitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der Melodik voraus. In der, in einer Rückung von dis-Moll über Fis- nach Dis-Dur harmonisierten Entfaltung der Achtel und Viertel, die im Diskant lang gehaltene Terzen im Legato mit einander verbinden, zeichnet sich eine bogenförmige, am Ende sich wieder erhebende melodische Linie ab, die in ihrer Gestalt und ihrer Anmutung von zarter, leicht wehmütig angehauchter klanglicher Lieblichkeit die Grundstruktur und das Wesen der Melodik dieses Liedes verkörpert. In den einzelnen, mit Ausnahme der dritten Strophe jeweils zwei Verse beinhaltenden Melodiezeilen entfaltet sich dann in den deklamatorischen Einzelschritten der norwegische Volkslied-Geist, der ihr innewohnt und sie so tief beeindruckend macht.

    Auf den Worten „Ja, noch einmal ist das Wunder geschehn“ beschreibt die melodische Linie eine wellenartige Bewegung, die wie eine Entfaltung dieses Bogens anmutet, der im Vorspiel aufklingt. Sie steigt nach einem auftaktigen Terzfall über zwei Terzen in hohe Lage empor und geht nach einem Fall erneut in einen Anstieg über, um auf der zweiten Silbe von „geschehn“ in Gestalt einer kleinen Dehnung innezuhalten. Das Klavier begleitet das mit lang gehaltenen und legato miteinander verbundenen Akkorden und einer Oktave, und die Harmonik vollzieht eine Rückung von Fis-Dur über Cis- nach H-Dur. Auf „das Glück mir beschieden“ liegt dann ein in eine Dehnung mündender Terzfall, der dem Wort „Glück“ eine Akzentuierung verleiht, und dann beschreibt die Melodik erneut einen Anstieg, der zwei Sekunden und ein Terz auf der letzten Silbe von „beschieden“ in einer Dehnung endet.

    Diese melodische Bewegung ist einer Rückung von Fis- nach Cis-Dur harmonisiert, in die ein kurzes dis-Moll eingelagert ist. Dieser kurze Einbruch des Tongeschlechts Moll in die Dur-Harmonisierung der Melodik ereignet sich in diesem Lied immer wieder und prägt dadurch wesentlich ihren zwischen Lieblichkeit und Wehmut changierenden und sie darin so anrührend machenden klanglichen Charakter. Das ist wohl dieser norwegische Ton, den Grieg nach seinen Worten in seinem Opus 33 angeschlagen hat. Er will ja mit seiner Liedkomposition „den geheimsten Intentionen des Dichters gerecht werden“, und hier, in den Versen des Dichters Vinje, ist das die sich in der Situation des Lebensendes sich einstellende Wehmut der Retrospektive auf die letztmalige Erfahrung von Frühling.

    In der zweiten Melodiezeile, beschreibt die melodische Linie auf den Worten des dritten Verses eine strukturell ähnliche Bewegung wie bei der ersten, nur dass dies nun auf einer um eine Sekunde angehobenen und in E-Dur mit Rückung nach Dis-Dur und cis-Moll geschieht, und wieder begleitet das Klavier mit lang gehaltenen Akkorden. Bei den Worten „den Frühling hienieden“ geht sie dann aber, und dies, um die Strophe liedmusikalisch zu beschließen, zu einem Fall-Gestus über. Sie setzt mit einem Terzfall aus hoher Lage ein, beschreibt bei „Frühling“ einen gedehnten Sekundfall und endet, nach einem kurzen Sekundanstieg, bei „hienieden in einem in eine Dehnung mündenden Terzfall.

    Diese Bewegung ist, bis auf die Schlussdehnung auf der letzten Silbe von „hienieden“ ganz und gar in Moll-Harmonik gebettet, gis-Moll und cis-Moll nämlich, und die Vortragsanweisung „dolcissimo“ für den gedehnten Sekundfall auf „Frühling“ verrät, wie Grieg dieses Moll verstanden wissen will: Als musikalischer Niederschlag der beglückenden und zugleich wehmütigen Emotionen, die sich im lyrischen Ich bei diesem Wort einstellen. Ähnlich war das ja schon zuvor bei dem in dis-Moll gebetteten Wort „Glück“ in der ersten Melodiezeile. Das Fis-Dur am Ende, die Grundtonart also, setzt dann nur noch den Schlusspunkt unter die melodische Aussage der ersten Strophe, und das eineinhalb Takte lange Nachspiel bekräftigt das mit einer in einer Rückung von der Subdominante zur Tonika harmonisierten Fis-Dur harmonisierten Fallbewegung von Terzen und Achteln. Volkslied-Geist weht hier.

    Erfolgten die Aussagen der ersten Strophe noch ganz aus der Situation des unmittelbaren Erlebens von Frühling, so stellen die der zweiten und der dritten Strophe eine retrospektivische Vergegenwärtigung vergangenen Erlebens von Frühling dar. Das bedingt einen Wandel in der Struktur der Melodik und ihrer Harmonisierung. Und Griegs hochgradige Sensibilität für die affektive Dimension von Lyrik zeigt sich darin, dass der nun in der Struktur und der Harmonisierung die Anmutung von Wehmut deutlich anhebt. Auf den Worten „Durfte noch einmal beseliget schaun“ beschreibt die melodische Linie nach einem auftaktigen dreischrittigen und in dis-Moll harmonisierten Sekundanstieg zwei Mal eine Sekundfallbewegung, wobei die zweite, in eine kleine Dehnung mündende bei „beseliget schaun“ eine Sekunde höher ansetzt und nun in Ais-Dur gebettet ist, dies, wie auch der Anfang dieser Melodiezeile, in Gestalt von lang gehaltenen, den ganzen Takt ausfüllenden vierstimmigen Akkorden.

    „Letzter Frühling“, op. 33, Nr. 2

    Ja, noch einmal ist das Wunder geschehn,
    das Glück mit beschieden,
    wieder in all seiner Wonne zu sehn
    den Frühling hienieden!

    Durfte noch einmal beseliget schaun
    den Winter zertauen,
    lieblich die Seen und die Ströme erblaun,
    ergrünen die Auen.

    Hören noch einmal, des Morgens erwacht,
    Schalmeien erklingen,
    einmal noch hören, entschlummernd zur Nacht,
    die Nachtigall singen.

    Schöner, als jemals zuvor ich es sah,
    bedünkt mich das Blühen,
    schön, wie die Sonne dem Untergang nah
    im letzten Erglühen.

    Düfte der Blumen, sie hauchen so süß,
    so lind wehn die Lüfte,
    gleich als ob fernher ihr Atem schon grüß
    von jenseits der Grüfte.

    Wandle, als träte mein zagender Schritt
    nicht irdische Matten,
    zöge im Fluge der Wolken schon mit,
    ein seliger Schatten.

    (Aasmund Olafsson Vinje, Deutsch von Hans Schmidt)


    Der 1813 geborene und 1901 verstorbene Volksschullehrer Aasmund Olafsson Vinje verfasste in seiner Verbundenheit mit dem einfachen ländlichen Volk als erster norwegischer Dichter Literatur in der auf norwegischen Bauerndialekten beruhenden Sprache „Landsmal“. Diese seine menschliche und poetische Grundhaltung zog, weil er sie im Grunde ja teilte, ihrerseits auch Grieg an, so dass er Gedichte von ihm vertonte. Er hielt sie, zusammen mit den Vertonungen der sozialkritischen Lyrik von Arne Garborg, für seine besten Liedkompositionen.
    Zu den Vinje-Vertonungen bemerkte er gegenüber Henry Finck:
    „In dem Album Band IV weht die Luft der Heimat. In diesen Liedern, welche sich von allen meinen früheren unterscheiden, schlug ich einen damals neuen Ton norwegischer Volkstümlichkeit an. Ich war begeistert, als ich im Frühjahr 1880 die von tiefer Lebensweisheit erfüllten Gedichte von Vinje kennenlernte (…). A. O. Vinje war ein Bauer von Geburt. Er versuchte, durch seine Prosaschriften das norwegische Volk aufzuklären, und erlangte durch dieselben sowohl wie durch seine Gedichte eine große nationale Bedeutung.“

    Dieses Lied, das im Original den Titel „Varen“ (Frühling) trägt, woraus später „Letzter Frühling“ wurde, ist Bestandteil des 1880 unter dem Titel „12 Melodier til digte av A. O. Vinje“ erschienenen Opus 33. „Noch einmal“ ist das sprachliche Leitmotiv dieser Verse, in denen ein lyrisches Ich aus der Retrospektive, also im sprachlichen Imperfekt sein Erlebnis von Frühling zum Ausdruck bringt, das von ihm als ein „Wunder“ gesehen wird. Im Verlauf der Strophen, in denen zunächst Seen und Ströme, die Vogelstimmen, die Blumen und das Wehen der Lüfte besungen werden, zeichnet sich ab, dass es sich hier um Abschiedsworte handelt. Die Düfte der Blumen und das Wehen der Lüfte werden als grüßender „Atem von jenseits der Grüfte“ empfunden, und der eigene „zagende Schritt“ dünkt dem Ich nicht als einer über „irdische Matten“, sondern als einer, der wie ein „seliger Schatten“ im „Fluge der Wolken“ erfolgt.

    Griegs Vertonung dieser Verse hat, und dies zu Recht, vor allem in ihrer orchestrierten Fassung den höchsten Bekanntheitsgrad unter den zwölf Liedern des Opus 33 erreicht. Grieg hat es später, zusammen mit „Der Verwundete“ für Streichorchester instrumentiert. Dazu schreibt er im Jahr 1900 an Finck:
    „Die tiefe Wehmut der Gedichte erklärt die ernsten Klänge der Musik und veranlaßte mich, in der Bearbeitung für Streichorchester, wo die Gedichte nicht vorhanden sind, den Inhalt derselben durch ausdrucksvollere Überschriften zu verdeutlichen. Daher „Letzter Frühling“ …“. Dieser Titel stammt also von Grieg selbst und wurde nachträglich - wohl von Hans Schmidt (?) - für die Klavierliedfassung übernommen.


    „Geschieden“ (II)

    Auf den Worten „die Abschiedsworte / im Nachtwind verflogen“ vollzieht die melodische Linie die gleiche Bewegung wie auf den beiden ersten Versen der ersten Strophe. Bei den Worten „Und ringsum drückte“, mit denen die zweite Strophe einsetzt, ist das melodische Hauptmotiv, nun im Mezzoforte vorgetragen, auf der tonalen Ebene eines „F“ in hoher Lage mit Fall zu einem „H“ in mittlerer angesiedelt und ist in F-Dur mit Rückung nach eine G-Oktave harmonisiert. Allerdings schleicht sich in diese, kaum hat das Klavier sie engschlagen, erst ein „Fis“ und dann ein „F“ hinein, so das eine chromatische Brechung der Dur-Harmonisierung der melodischen Linie erfolgt, in der auf den Worten „entsetzliches Schweigen“ die zweite Figur in variierter Gestalt einsetzt. Nun besteht sie aus einer dreimaligen Repetition auf der tonalen Ebene, auf die der Fall der Hauptfigur mündete, und nach einem Sekundanstieg beschreibt sie auf „Schweigen“ ihre beiden gewichtigen Schlussschritte dieses Mal als Sekundfall, wobei ein bitonaler „E“-„Gis“-Akkord erklingt, dem in der Achtelpause eine lang gehaltene „C“-Oktave nachfolgt. In dem Umschlag von Dur-Harmonik in die Chromatik schlägt sich in diesem Fall der affektive Gehalt der Worte „entsetzliches Schweigen“ nieder.

    Beim zweiten Verspaar der zweiten Strophe erklingt das melodische Hauptmotiv auf den Worten „wo erst entzückte“ nun auf einer um eine Quarte abgesenkten tonalen Ebene, begleitet vom Klavier mit einer lang gehaltenen „C“-Oktave im Diskant. Aber nun geschieht Ungewöhnliches. Der ihr eigene, in eine Repetition mündende Quintfall am Ende ist jetzt ein verminderter, er ereignet sich in einem Diminuendo und geht einher mit einem Absinken der „C“-Oktave in eine „Fis“-Oktave in tiefer Diskantlage, in die sich, wie üblich in diesem Lied, ein dissonantes „Cis“ hineindrängt, so das erneut Chromatik in die Liedmusik einbricht. Die an sich affektiv positiv konnotierten Worte „der frohe Reigen“ tragen hier aber syntaktisch eine schwere Last, die Worte „entsetzliches Schweigen“ nämlich, und so bricht in den D-Dur-Akkord, der die zweite, dieses Mal eine ähnliche Struktur wie auf diesen Worten aufweisende melodische Figur anfänglich begleitet, ein Dissonanz generierendes „Dis“ im Bass ein, kombiniert mit einem tiefen „H“ im Diskant.

    Auf allen vier Versen der dritten Strophe liegt in Melodik und Klaviersatz die gleiche Liedmusik wie auf der ersten, mit einer bedeutsamen Variante allerdings. Die melodische Hauptfigur auf den Worten „sie war ein Gast nur“ soll nun „più andante“ vorgetragen werden, und in der Achtelpause darauf erklingt nicht wie dort ein F-Dur-Akkord, sondern ein abgrundtiefer, mit einer Fermate versehener Fis-Dur-Akkord. Auf dem Wort „geschieden“ beschreibt die melodische Linie denselben Sekundanstieg wie auf „verflogen“, und sie bricht wie dort ihren Anstiegs-Gestus auf der tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage ab. Dieses Mal wird das aber zu einem Verstummen, so, als wolle und könne sie zu der sachlichen Feststellung „nun ist sie geschieden“ nichts weiter sagen.

    Und wie um das zu bekräftigen erklingt im eintaktigen Nachspiel der deklamatorische Terzschritt auf der zweiten und dritten Silbe von „geschieden“ noch einmal, und das im Pianissimo und in hoher Diskantlage. Grieg hat die - für Ibsen typische - sachliche Lakonie, in der hier die existenziell erschütternde Erfahrung eines nicht genannten lyrischen Ichs ins lyrische Wort gefasst ist, nicht nur liedmusikalisch voll erfasst, er hat sie potenziert. Und das macht diese Liedmusik zu einer tief berührenden und damit großen.

    „Geschieden“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ohne Vorspiel setzt die Liedmusik ein. „Andante e ben tenuto“ lautet die Tempo- und Vortragsanweisung, ein Viervierteltakt liegt ihr zugrunde, G-Dur ist als Grundtonart vorgegeben. Die Melodik ist durchgehend in kleine Zeilen untergliedert, die jeweils einen Vers beinhalten und in allen Fällen in eine Achtelpause münden. Sie entfaltet sich in Gestalt von zwei Motiven, von denen das erste unverändert erklingt, dies allerdings auf sich wandelnden tonalen Ebenen, das zweite aber vereinzelte Variationen durchläuft.
    Die beharrliche Wiederkehr des Hauptmotivs verleiht dem Lied seinen spezifischen Charakter und bewirkt seine hohe Eindrücklichkeit. Depressivität und schmerzliche Resignation bringt es zum Ausdruck. Das gründet in seiner Struktur, seiner harmonisch-klanglichen Einbettung, wie sie der ihm zugeordnete Klaviersatz zum Ausdruck bringt, und dies auch das, wie die Melodik, in der radikal-ökonomischen Beschränkung auf nur eine, allerdings höchst ausdrucksstarke Grundstruktur.

    Auf den Worten „Hinaus zur Pforte“ erklingt die melodische Hauptfigur. Sie besteht aus einer dreischrittigen, hier auf der tonalen Ebene eines „H“ in mittlerer Lage angesiedelten Tonrepetition, die rhythmisiert ist, weil sie aus einer deklamatorischen Folge eines Achtels, eines punktierten Achtels und eines Sechzehntels besteht. Ihr folgt auf den beiden Silben von „Pforte“ ein ausdrucksstarker Sturz über das Intervall einer Quinte zu einer neuerlichen, nun aber gewichtigeren, weil im Wert von Viertelnoten erfolgenden zweischrittigen Repetition.

    Diesem Quintfall wohnt, weil er im deklamatorisch-repetitiven Gestus verbleibt und nicht in eine Dehnung mündet, an sich schon die Anmutung von depressiver Resignation inne, sie erfährt aber eine hochgradige Verstärkung durch den ihr zugeordneten Klaviersatz. Der beschreibt einen chromatischen Fall in Gestalt von zwei lang gehaltenen, den ganzen Takt einnehmenden Oktaven, der im nächsten Takt in einen mehrstimmigen, Diskant und Bass übergreifenden Moll-Akkord mündet.
    Das ist die musikalische Verkörperung von klanglicher Schmerzlichkeit, die sich in dieser, zwar variierten, aber die Grundstruktur beibehaltenden Gestalt immer wieder ereignet. Zwar setzt diese Folge von oktavisch geprägten Akkorden anfänglich meist in wechselnder Dur-Harmonisierung ein, aber dann fährt gleich ein diese klanglich störender Akkord oder auch nur ein dissonanter Einzelton dazwischen, wie zum Beispiel ein „Dis“ in einen D-Dur-Akkord bei den Melodik auf den Worten „der frohe Reigen“. Dur-Harmonik kann sich nicht halten, die lyrische Aussage fordert immer wieder aufs Neue einen schrittweisen Niedergang von Dur-Harmonik in die Chromatik.

    Auf den Worten des zweiten Verses erklingt die zweite melodische Figur. Nach einer Repetition auf der tonalen Ebene eines „Fis“ in tiefer Lage, beschreibt die melodische Linie ein triolisches Auf und Ab im Intervall einer Sekunde auf dieser Lage und geht auf „gezogen“ in einen Sekund- und einen Terzanstieg über. Dabei ereignet sich eine Rückung in dissonante A-Harmonik. Im Vergleich zur klanglich harten Statik der ersten Figur mutet diese wie schweifend flüchtig an. Dies deshalb, weil die melodische Linie gerade auf den beiden gewichtigen, weil nicht im Wert von Achteln wie vorangehend, sondern nun als Viertel vollzogenen deklamatorischen Schritten am Ende ihre Bewegung abbricht und in eine Pause übergeht. Diese Anmutung behält sie auch dort bei, wo diese beiden letzten Schritte, wie in der zweiten Strophe der Fall ist, abwärts gerichtete sind.

    „Geschieden“, op. 25, Nr. 5

    Hinaus zur Pforte
    war alles gezogen,
    die Abschiedsworte
    im Nachtwind verflogen.

    Und ringsum drückte
    entsetzliches Schweigen,
    wo erst entzückte
    der frohe Reigen.

    Es war ein Fest nur
    vor nächtlichem Frieden;
    sie war ein Gast nur, -
    nun ist sie geschieden.

    (Henrik Ibsen, Deutsch von W. Henzen)

    „Borte!“, so lautet der Titel dieses Gedichts im Original. Und es ist, das kann man sagen, auch wenn man es darin nicht voll und ganz lesen und verstehen kann und auf die Übersetzung angewiesen ist, ein poetisch durchaus gelungenes und beeindruckendes: In der sprachlichen Knappheit der auf den Kern reduzierten Aussage und der mit nur wenigen, aber darin treffenden Skizzierung der lyrischen Bilder.
    Die Szene der Trennung zweier in einem gemeinsamen Leben wohl ehedem verbundener Menschen wird aus der Perspektive der „Pforte“ entworfen, durch die die daran Beteiligten davonziehen. Zurück bleibt „entsetzliches Schweigen“ dort, wo früher „froher Reigen“ sich ereignete. Der Frieden, der auf das als „Fest“ erfahrene gemeinsame Leben folgt, ist ein „nächtlicher“, und die, die da gegangen ist, wird zu einem „Gast“, der nun geschieden ist.

    Griegs Vertonung dieses Ibsen-Gedichts ist ein liedkompositorisches Meisterwerk. Es legt Zeugnis ab von seiner hochgradigen Sensibilität für lyrische Sprache. Die Liedmusik mutet an, als habe sich diese lyrische Sprache in ihrer spezifischen Gestalt reduktiver Verknappung in ihr unmittelbar niedergeschlagen und sei auf diese Weise in ihrer tiefe Trost- und Hoffnungslosigkeit beinhaltenden affektiven Dimension erschlossen worden und zu sinnlicher Erfahrbarkeit gekommen.

    Dieses Lied lässt einen, hat man sich ihm einmal voll und ganz hörend geöffnet, nicht unberührt zurück. Darin, in seiner spezifischen, radikal reduzierten liedmusikalischen Sprachlichkeit, erinnert es - mich jedenfalls - an Schuberts „Winterreise“.
    In seiner deklamatorischen, sich jeglicher melodiösen Entfaltung verweigernden und auf kleine Zeilen reduzierten und darin sich auf nur zwei Motive beschränkenden Melodik steht es dem „Leiermann“ nahe.


    „Mit einer Wasserlilie“ (II)

    Die zweite Strophe stellt eine unveränderte Wiederkehr der Liedmusik der ersten dar. Erst mit der dritten nimmt die Melodik eine neue Gestalt an, wohingegen der Klaviersatz seine Grundstruktur beibehält, und dabei auch seine Funktion, mit dem Oberton seiner Sprungfiguren im Diskant den Bewegungen der melodischen Linie zu folgen. Bedingt ist dieser Wandel in der Liedmusik dadurch, dass der lyrische Text vom Gestus der Beschreibung zu dem der reflexiven, mit einer moralischen Komponente versehenden Betrachtung übergeht.
    Aber auch hier verfährt Grieg kompositorisch in der gleichen Weise, wie das in den ersten beiden Strophen der Fall ist: Er arbeitet mit nur einer melodischen Figur, die in den einzelnen, jeweils einen Vers beinhaltenden und durch ein- und zweitaktige Zwischenspiele gefolgten Melodiezeilen auf ansteigender tonaler Ebene erklingen, wobei die einzige Variation darin besteht, dass im dritten und vierten Fall diese Figur nicht auftaktig einsetzt. Dieses Wiederholungsprinzip zielt, weil es mit einem Anstieg der tonalen Ebene, einer Rückung in der harmonischen Tonalität und dem Übergang vom Tonschlecht Moll zum Dur einhergeht, auf eine Steigerung der Expressivität und Eindringlichkeit der melodischen Aussage ab, und die kommt auch tatsächlich zustande.

    Auf den Worten des ersten Verses der dritten Strophe erklingt diese melodische Figur erstmals. Auf dem Wort „hüte“ setzt die melodische Linie mit einem silbengetreuen, auf der Ebene eines „E“ in tiefer Lage ansetzenden Quartsprung ein und geht danach im Staccato in einen repetitiven Sekundfall über, der sie auf der zweiten Silbe von „träumen“ wieder zur Ausgangsebene „E“ zurückführt. Harmonisiert ist dieser ihr erster Auftritt in a-Moll. Und das Klavier, das ihr in ihrer Bewegung nicht nur mit dem Oberton seiner Sprungfiguren im Diskant, sondern auch mit Achteln im Bass folgt, greift diese Fallbewegung im Nach- und Zwischenspiel auf, geht damit aber im zweiten Takt in einen Anstieg über und leitet damit den Anstieg der tonalen Ebene um eine Terz ein, auf dem die melodische Linie, versehen mit der Anweisung „poco ten.“, und nun in c-Moll harmonisiert, zum zweiten Mal, und wieder auftaktig eingeleitet, diese ihre Fallbewegung vollzieht. Auf den Worten „Neck ist still, als wenn er schliefe“ setzt sie mit dieser, wiederum durch das zweitaktige Zwischenspiel gleichsam dazu geleitet, dieses Mal aber ohne Quartsprung am Anfang auf der tonalen Ebene eine hohen „F“ ein und ist deshalb in f-Moll harmonisiert.

    Weil aber die Metaphorik des letzten Verses in der „Tiefe“ angesiedelt ist, beschreibt das nun nur eintaktige Zwischenspiel einen Sekundfall, die melodische Figur setzt auf einer um eine Terz abgesenkten, also der eines „D“ ein, und sie ist jetzt in Dur-Harmonik gebettet, G-Dur nämlich. Darin reflektiert sie die Bedeutsamkeit der Feststellung „Lilien spielen ob der Tiefe“. Die „Wasserlilie“ schwebt als schönes und reines Wesen über einer abgründigen, vom gefährlichen „Neck“ besiedelten und die existenzielle Gefährdung durch das Traumhaft-Unbewusste verkörpernden „Tiefe“. Und weil die um diesen Sachverhalt kreisenden Verse der dritten und vierten Strophe mit dem mahnenden „Hüte dich, am Strom zu träumen“ eingeleitet wird und dieser Geist der Warnung somit allen Versen innewohnt, ist die Melodik auf diesem ersten Vers der dritten Strophe als partiell repetitiver und in Moll-Harmonik gebetteter Staccato-Sekundfall angelegt und kehrt in dieser Gestalt auf allen weiteren Versen beider Strophen mit nur einer kleinen und darin unerheblich Variation wieder, um nach einer a-Moll, c-Moll und f-Moll-Harmonisierung jeweils in einer Rückung von G-Dur nach B-Dur zu enden. Die warnende Mahnung erfährt auf diese Weise eine starke Intensivierung.

    Am Ende des Liedes erklingt die Liedmusik der ersten Strophe mitsamt dem zugehörigen Text in unveränderter Weise noch einmal und klingt in einem viertaktigen Nachspiel in der Weise aus, dass das Klavier in dem Satz, mit dem es bislang die melodische Linie begleitete, innehält und nach je einer Viertelpause im Pianissimo zwei in der tonalen Ebene ansteigende A-Dur-Akkorde erklingen lässt. Das ist ein einfaches und schlichtes Ende, darin dem Geist entsprechend, der das ganze Lied in seiner Melodik und seinem Klaviersatz prägt.

    Man kann ihn als musikalischen Niederschlag des Wesens dieses lyrischen Ichs, der lyrischen Szenerie seines Auftritts in den an die geliebte „Marie“ sich richtenden einfach-schwärmerischen und zugleich mahnenden Worten auffassen und verstehen. Und darin gründet der Reiz, der diesem Lied innewohnt.

    „Mit einer Wasserlilie“. Zur Faktur der Komposition und ihrer liedmusikalischen Aussage

    Ein Zweivierteltakt liegt der Liedmusik zugrunde, A-Dur ist als Grundtonart vorgegeben, als „Allegro grazioso“ ist sie angelegt. Ein zweitaktiges Vorspiel geht dem Einsatz der melodischen Linie voraus, im Diskant besteht es aus einem mezzoforte vorzutragenden Auf und Ab von einem Einzel-Sechzehntel und einer Sechzehntel-Terz, im Bass bewegen sich Achtel nach einem Sekundfall in Sekundschritten aufwärts. Das ist die Grundstruktur des Klaviersatzes in der Begleitung der Singstimme durchgehend und mit nur wenigen Abweichungen davon bis zum Liedende, und die Variationen bestehen dabei, abgesehen von der tonalen Ebene der Entfaltung, im Intervall, das das Sechzehntel zu den Terzen einnimmt und ferner darin, dass die Terzen sich vereinzelt zu Quinten ausweiten.

    Ein schlichter und strukturell einfacher Klaviersatz also, der über die Bereitstellung eines klanglichen Bettes, den Mitvollzug der Bewegung der melodischen Linie und deren Akzentuierung hinaus, wenig Eigenständiges zur Liedmusik beizutragen hat. Was er in erster Linie leistet ist, dieser den Geist lebhafter, leicht wellenartiger Bewegtheit einzugeben, und man liegt wohl nicht falsch in der Annahme, dass Grieg mit ihm das dem Ibsen-Gedicht metaphorisch zugrundeliegende Bild vom bewegten Wasser kompositorisch aufgegriffen hat.

    Im Piano setzt die melodische Linie im dritten Takt ein, und die Bewegung, in der sie sich auf den Worten „Sieh, Marie, was ich dir bringe“ entfaltet, ist in ihrer Grundstruktur diejenige, die allen, jeweils die Worte eines Verses beinhaltenden Melodiezeilen der ersten, der zweiten und der fünften Liedstrophe zugrunde liegt. Griegs Liedmusik geht über die Vierstrophigkeit des Gedichts hinaus, weil er dessen vierte Strophe noch einmal erklingen lässt. Bei den Worten des ersten Verses beschreibt die melodische Linie, in A-Dur harmonisiert, eine vom Klavier mit dem Oberton der Sprungfiguren im Diskant mitvollzogene wellenartige, ein Auf und Ab in Sekundschritten beschreibende Bewegung in tiefer Lage, die bei dem Wort „bringe“ nach einer Tonrepetition in eine Legato-Kombination aus Sekundfall, Quintsprung und Rückkehr zur Ausgangsebene übergeht, wobei die Harmonik zur Dominante E-Dur rückt.

    Bei den Worten „Blume mit der weißen Schwinge“, dem zweiten Vers also, beschreibt die melodische Linie nach einer eintaktigen Pause, in der das Klavier die melodische Figur auf „bringe“ wieder erklingen lässt, diese Bewegung auf exakt die gleiche Weise noch einmal, dies allerdings auf einer um eine Sekunde angehobenen tonalen Ebene und nun in h-Moll harmonisiert, wobei dann die Sprungfigur auf „Schwinge“ in Fis-Dur-Harmonik gebettet ist. Und wieder klingt diese in der, nun allerdings zweieinviertel Takte einnehmenden Pause auf. Grieg will mittels dieser Wiederholung der Melodik und der Anhebung der tonalen Ebene dabei die Grundhaltung des lyrischen Ichs charakterisieren und der dieser innewohnenden Hinwendung und Zuneigung der geliebten „Marie“ gegenüber.

    Die Worte des dritten und vierten Verses bringen einen Wandel in der Struktur der Melodik mit sich, allerdings keinen grundsätzlichen, denn sie behält ihre wellenartige Entfaltung im Auf und Ab in Gestalt von Achtel-Sekundschritten bei. Nur dass diese, dieses Mal mit der Anweisung „Cresc. molto“ versehen und in d-Moll harmonisiert, auf mittlerer tonaler Ebene verharrt, um, nach einer Viertelpause, bei den Worten „kam sie träumerisch gezogen“ im Ritardando forte eine wellenartige Bewegung in hoher Lage zu beschreiben, die bei „gezogen“ in einen lang gedehnten, auf der tonalen Ebene eines „Cis“ ansetzenden, über drei Takte sich erstreckenden und in Gestalt von Sekundschritten am Ende sich ereignenden Fall übergeht.
    Begleitet wird er mit einem lang gehaltenen arpeggierten H-Dur-Akkord, unter dem im Bass „fz“ Achtel aus tiefer und hohe Lage aufsteigen, und die Harmonik vollzieht bei dem zweischrittigen, und wieder in eine kleine Dehnung auf der Silbe „-gen“ mündenden Sekundfall eine Rückung über E-Dur zur Tonika A-Dur. Diese auf hohe Expressivität angelegte Melodik will das tiefe Beeindruckt-Sein des lyrischen Ichs durch die Begegnung mit der „Wasserlilie“ zum Ausdruck bringen.

    „Mit einer Wasserlilie“, op. 25, Nr. 4

    Sieh, Marie, was ich dir bringe:
    Blume mit der weißen Schwinge,
    auf des Stromes stillen Wogen
    kam sie träumerisch gezogen.

    Wenn sie deinen Buse schmückte,
    kehrte heimwärts die Beglückte,
    denn auf stillem Wellenthrohne
    ruhte selig ihre Krone.

    Hüte dich, am Strom zu träumen,
    furchtbar können Fluten schäumen!
    Neck ist still, als wenn er schliefe;
    Lilien spielen ob der Tiefe.

    Gleich der See dein Busen klar ist,
    wo ein jeder Traum Gefahr ist;
    Lillien ob der Tiefe,
    Neck ist still, als ob er schliefe.

    (Henrik Ibsen, Deutsch von W. Henzen)

    Nicht so recht verständlich bleibt dieses Ibsen-Gedicht, wenn man es nicht in der Originalsprache lesen kann. Macht der Konjunktiv das, was die beiden ersten Strophen zu sagen haben, zum Traum?
    Setzen die beiden anderen Strophen daran an, in dem Sinn, dass Träumen allemal eine Gefahr darstellt, weil man sich dem „Neck in der Tiefe“, dem wesenhaft triebhaft chaotischen Unterbewusstsein ausliefert?
    Dann stünde die Wasserlilie für Reinheit und gehörte darin der als „Marie“ angesprochenen Geliebten zu. Das lyrische Ich träumt davon, dass er sie der als „Marie“ angesprochenen Geliebten schenkt, auf dass sie ihren Busen damit wie mit einer Krone schmückte, der ausdrücklich als „klar“, also frei von dem ist, was sich in der „Tiefe“ abspielt, über der „Lilien spielen“. Auf der Geliebten Busen aber ruhte diese Wasserlilie nicht wie über den „schäumenden Fluten“ des Stromes, sondern „auf stillem Wellenthrone“.
    Das Gedicht wäre also als Lobpreis einer Geliebten zu verstehen, der sich träumerisch in der Metaphorik in der Bipolarität von Reinheit verkörpernder „Wasserlilie“ und der existenziellen Gefährdung durch den „Neck“ in der Tiefe der Selle ereignet.

    Dass Grieg diese Verse so - oder so ähnlich - rezipiert und verstanden haben dürfte, lässt sich daraus hörend entnehmen, dass sich seine Komposition auf sie fast ausschließlich aus einem einzigen musikalischen Motiv speist. Es klingt gleich im zweitaktigen Vorspiel und in der Melodik auf den Worten des ersten Verses auf, und es erweist sich, als wesenhaft wellenartig, als musikalische Verkörperung der Metaphorik des Ibsen-Gedichts, die sich auf der Grundlage von ruhendem („Gleich der See dein Busen klar ist“) und wellenartig gefährlich auftretendem Wasser („furchtbar können Fluten schäumen“) entfaltet und darin ihre poetische Aussage generiert.
    Dass in der Melodik der dritten und vierten Strophe eine andere melodische Figur in die Liedmusik tritt, Grieg aber dann die erste Strophe wieder holt, ist ein klarer Beleg für diese seine Rezeption der Grieg-Verse.


    „Ein Schwan“ (III)

    Grieg versteht die lyrische Aussage der letzten Strophe als monologisch-introvertierten Kommentar zu dem von ihm selbst, und deshalb im sprachlichen Imperfekt dargestellten, aber es tief berührenden Geschehen des Singens im Sterben. Deshalb verbleibt die Melodik fast durchweg im Pianissimo. Aber weil die Betroffenheit durch das Geschehen so tief war, klingt sie nach. Das drückt sich in der Melodik darin aus, dass sie aus der anfänglichen Entfaltung in kleinen Intervallen so einer solchen in größeren übergeht, sich im Ambitus also ausweitet und einmal sogar mit einem Crescendo ins Piano übergeht. Auf vielsagende Weise geschieht das bei den Worten „Du sang i døden“, also in dem Augenblick, in dem das Erlebnis sich beim lyrischen Ich in der Erinnerung noch einmal unmittelbar vergegenwärtigt.

    Die melodische Linie, die auf dem vorangehenden Vers „du slutted din bane“ („du schlossest deine Bahn“, - die irdische) zwei Mal eine mit einem Terzsprung einsetzende, auf dem gleichen „A“ in mittlerer Lage einsetzende, im ersten Fall aber triolische Fallbewegung beschreibt, die in einer Rückung von F-Dur in die Verminderung harmonisiert ist, vollzieht diese Bewegung nun noch einmal. Dies nun aber auf einer um eine verminderte Terz angehobenen tonalen Ebene und in das im Quintenzirkel weitab liegende Des-Dur gebettet, das das Klavier in Gestalt eines lang gehaltenen, den ganzen Takt ausfüllenden arpeggierten Akkordes erklingen lässt. Auch der Klaviersatz fällt hier aus dem Rahmen. Erst auf dem Sekundfall auf dem Wort „døden“, der dieses Mal ein verminderter ist, bei dem die Harmonik eine Rückung aus der Verminderung nach Des-Dur vollzieht, folgen wieder in der üblichen Weise die zwei Akkorde aufeinander.

    Bei den Worten des letzten Verses, „du var dog en svane!“ also, die Ibsen erneut mit einem Ausrufezeichen versehen hat, vollzieht die melodische Linie diese Bewegung vom zweiten und dritten Vers in ihrer Grundstruktur noch einmal, die sogar auf einer erneut um eine Terz angehobenen tonalen Ebene, aber sie kehrt dabei ins Pianissimo zurück und verlässt in ihrer Harmonisierung das dunkle, dem Tod zugehörige Des-Dur. Sie ist nun in einen taktlang gehaltenen arpeggierten F-Dur-Akkord gebettet. Der Sekundfall auf „en svane“ ist nun kein verminderter und in Dissonanz harmonisierter mehr, sondern ein großer, bei dem die Harmonik eine Rückung von G-Dur nach der Grundtonart F-Dur vollzieht.

    Nach einer Achtelpause erklingt eine Folge von einem auftaktigen Achtel und zwei arpeggierten Akkorden in G-, bzw. F-Dur, die die melodische Figur auf „en svane“ nachvollzieht. Das Lied könnte hier Zu Ende sein, ist es aber nicht. Grieg lässt nach einer Achtelpause diese melodische Figur mit ihrem Legato-Sekundfall auf der tonalen Ebene eines „F“ in tiefer Lage noch einmal deklamieren und sie „lento“ und mit einem Decrescendo im Pianissimo ausklingen.
    Er will die lyrische Aussage „Du warst ein Schwan doch!“ („du var dog en svane!“) mit einer besonderen Hervorhebung versehen. Und das zeigt seine tiefgreifende, Ibsens poetische Aussag-Absicht erfassende Rezeption des Gedichts.
    Im Sterben bekundet und behauptet der Schwan das Wesen seiner Existenz. In seinem Singen ereignet sich das, - über und durch das Medium musikalische Kunst.

    „Ein Schwan“ (II)

    Ein zweitaktiges Zwischenspiel folgt nach, das mit seinem partiell triolisch angelegten Bogen aus Achteln, einem Sechzehntel und Vierteln im Diskant klanglich lieblich anmutet. „Dolce“ und „poco animato“ lautet hier die Vortragsanweisung. In der zweiten Strophe wird der Schwan als einsames Wesen geschildert, das abseits von den Andern stumm seine Kreise zieht. Die Melodik reflektiert das, indem sie auf den Worten „Angst beskyttende / alfen, som sover, nun in g-Moll gebettet, zwei Mal, anfänglich aus einer dreischrittigen Tonrepetition hervorgehende lebhaftere, weil vorwiegend aus deklamatorischen Achtelschritten bestehende und sie beide Male zur tonalen Ebene eines tiefen „D“ führende Fallbewegungen beschreibt. Das Klavier begleitet hier mit lang gehaltenen, den ganzen Takt ausfüllenden g-Moll-Akkorden. Die Melodik setzt ihre Entfaltung auf dem zweiten Verspaar nicht unmittelbar danach fort. Ein eintaktiges Zwischenspiel unterbricht sie, in dem im Diskant die Fallbewegung auf den Worten „gled du henover“ aufklingt, im Bass aber Achtel aus tiefer in extrem hohe Lage aufsteigen.

    Grieg will die Emotionen, die sich beim lyrischen Ich in Betrachtung des Schwans einstellen, im Klaviersatz noch einmal musikalisch konkretisieren und akzentuieren. Und in dieser kompositorischen Absicht steigert er sich noch, indem er auf die Worte des zweiten Verspaares, auf „„altid lyttende / gled du henover““ also, die gleiche, und wiederum von den siebenstimmigen g-Moll-Akkorden begleitete Melodik legt, nur dieses Mal auf einer um eine Terz angehobenen tonalen Ebene und mit einem „Crescendo“ versehen. Und sogar das Zwischenspiel erklingt in identischer Gestalt nun als Nachspiel vor der Melodik auf den Worten der dritten Strophe.

    Und diese setzt nun wieder mit den gleichen Repetitionen wie beim zweiten Verspaar der zweiten Strophe ein, nun aber auf einer um eine weitere Terz angehobenen tonalen Ebene und versehen mit der Anweisung „f agitato“. Und sie ist auch nicht mehr in Moll-Harmonik gebettet, sondern wird vom Klavier bis zum dritten Vers einschließlich mit taktlang gehaltenen und forte angeschlagenen achtstimmigen G-Dur-Akkorden begleitet. Die melodische Linie entfaltet sich nach den anfänglichen vierschrittigen Tonrepetitionen in einer viermaligen Folge von Fallbewegungen über je eine Sekunde und eine Quarte, wobei die erste und die dritte triolische sind. In dieser im Forte-Agitato auf Steigerung der Expressivität angelegten Entfaltung, Harmonisierung und Klavierbegleitung bringt die Melodik die Empfindungen zum Ausdruck, die sich angesichts des erschütternden Gedankens einstellen, dass sich da ein Schwan sich lebenslang zum Schweigen gezwungen hat, um dann im Sterben ins Singen überzugehen.

    Davon spricht der vierte Vers in den Worten „ja da, da lød det!“. Und die Liedmusik erreicht in diesem von Ibsen mit einem Ausrufezeichen versehenen und das Zentrum des Gedichts bildenden Ausruf „Da, da sangst du!“ zu Recht den Höhepunkt ihrer Expressivität. Die melodische Linie setzt mit einem ausdrucksstarken, im Fortissimo ausgeführten auftaktigen Quintsprung zur tonalen Ebene eines „E“ in hoher Lage ein. Ein ebenfalls fortissimo ausgeführter fünftaktiger und lang gehaltener f-Moll-Akkord begleitet sie dabei. Von dort aus beschreibt sie einen in eine kleine Dehnung mündenden Sekundfall. Auf den Worten „da sangst du“ vollzieht sie, nun eine Terz tiefer einsetzend, erneut eine Sprungbewegung, nun sogar über das Intervall einer Sexte, aber in einem Ritardando, wobei die Harmonik zur Dominantseptversion der Tonart „C“ rückt. Auf „du“ liegt dann eine lange Dehnung auf einer um eine Sekunde abgesenkten tonalen Ebene. Das ist (als „C“) die Quinte zur Tonika und in der C7-Harmonisierung ein offenes Ende. Das lyrische Ich hat noch etwas zu sagen dazu.

    Das geschieht nach einer Fünfachtelpause, in der das Klavier „pp tranquillo“ erst einen F-Dur, dann einen lang gehaltenen B-Dur erklingen lässt, in der Melodik auf den Worten des letzten Verses, und diese hebt sich schon formal dadurch von der vorangehenden ab, dass sie in versgebundene Zeilen untergliedert ist, die sich durch Pausen voneinander abheben, wobei die erste davon wieder fünf Achtel einnimmt, die übrigen aber Achtelpause darstellen. Allen kommt aber dadurch ein starkes Aussagegewicht zu, und dem entspricht der Klaviersatz, indem er nun durchgehend rein akkordisch angelegt ist, in Gestalt einer dem Dreivierteltakt entsprechenden Folge von Akkorden im Wert eines Viertels und einer halben Note pro Takt.

    Gut und überaus begrüßenswert, dass dieser so bedeutende Bestandteil des Tamino-Forums, offensichtlich erfolgreich repariert und rekonstruiert, wieder da ist.
    Er ist ja alles andere als ein simpler „Thread“, alles andere auch als ein Begräbnisstätten- Bilderbuch, er stellt eine einzigartige, inzwischen lexikalischen Rang erreicht habende Dokumentation von künstlerischem Leben und Schaffen aus der Perspektive des Rückblicks dar.

    Ihren Wert könnte man mit Hölderlins Wort „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ erhellen, das Wort „Dichter“ – durchaus in seinem Sinn – durch „Künstler" ersetzend.
    Dieses, was da „gestiftet“ wurde, wird hier – oft aus der Vergessenheit – zurück ins Bewusstsein der Nachwelt zurückgerufen, und dies nicht einfach nur durch schlichtes Benennen und Auflisten, sondern in Gestalt eines detaillierten Aufzeigens seiner Genese aus dem künstlerischen Leben und Schaffen.

    Ein großartiges Werk ist daraus geworden.
    Unserem Mitglied hart sein Dank!