Lieber Alviano,
insgesamt lässt mich die Premiere vom Sonntag etwas ratlos zurück. Viele Bilder, das sehe ich ganz genauso wie Du, sind wirklich stark, und die bleiben auch nach dieser Vorstellung haften:
Das fängt an bei der "Ankunft" des Goryantchikoff, der ja eigentlich kein Neuer ist. Er ist bereits am Anfang einer der Gefangenen, trägt die "Uniform" von Jeans und Sweatshirt, versucht sich dann aber abzugrenzen, indem er statt der Einheitskleidung einen weißen Anzug und glänzende Schuhe anlegt. Ein kleines Detail, das mir hier gut gefallen hat: Dem Sänger des Goryantchikoff, Jin-Ho Yoo, bleibt für den Rest der Vorstellung die Masse, die aus dem Eimer über ihn entleert wird, im Haar kleben - Zeichen dafür, dass die Demütigung Einzelner bei diesen bleibende Spuren hinterlässt.
Den zweiten und dritten Akt hat Kosky als einheitliches Geschehen inszeniert, den Zeitsprung hat er ignoriert, sieht man einmal ab von den sprießenden Blumen, die mich nicht gestört haben. Aljeja, der am Ende des zweiten Akts vom jungen Sträfling (so etwas wie der Lagerprolet) brutal misshandelt wird, leidet noch im Schlussakt unter den zugefügten Verletzungen und erholt sich von diesen bis zum Ende der Oper nicht mehr vollständig. Die sich entwickelnde Freundschaft zwischen Goryantchikoff und Aljeja ist in der Inszenierung gut herausgekommen. Indem Goryantchikoff im letzten Akt Aljeja pflegt, revanchiert er sich für dessen Verhalten im ersten Akt, als nämlich Goryantchikoff Hilfe benötigt hat: Es ist Aljeja gewesen, der ihm zumindest Jeans und Sweatshirt zurückgebracht hat, nachdem er im ersten Akt gedemütigt und zusammengeschlagen worden war. Es war bewegend zu sehen, wie sich dann im letzten Akt der Kreis schließt.
Auch die Idee, den Adler mit einem Statisten zu besetzen, war nicht ganz schlecht umgesetzt, einem alten Mann, der zumindest insoweit befreit wird, als er als einziger die Einheitskleidung ablegen darf und sich fortan nur mit einer Unterhose bekleidet ein wenig unsicher über die Bühne bewegt. Das einzige, was an ihm an einen Vogel erinnert, ist eine einzelne Feder, die nach Indianerart mit einem Stirnband am Hinterkopf befestigt wird. Auch er wird, wie so viele, grundlos zusammengeschlagen, nimmt dies aber - Indianer kennen keinen Schmerz? - klaglos hin. Später hat dieser Statist nicht mehr wirklich viel zu tun, aber vielleicht passt das auch zu dem phlegmatischen Charakter, der ihm von der Regie beigemessen wurde.
Natürlich ist es auch eine große Herausforderung für die Regie, wenn etwa 50 Männer - Kosky verzichtet vollständig auf Frauen - ständig auf der Bühne sind. Die Bühne ist praktisch kahl. Alles spielt sich auf einer schiefen Ebene ab. Meistens treten die Gefangenen en bloc auf. Nur manchmal treten Einzelne heraus, die für einen kurzen Augenblick so etwas wie Individualität zeigen, dann aber wieder in der Menge verschwinden. Das ist Kosky meines Erachtens insgesamt gut gelungen.
Trotzdem bleibt bei mir das Gefühl, dass die Stärke der Inszenierung eher bei der Darstellung von Einzelschicksalen liegt als bei der des Systems. Ungewöhnlich war ja hier, dass auch Platzmajor und Wachen Teil dieses Kollektivs sind, das Einzelne, die sich zu emanzipieren versuchen, brutal unterdrückt. Der Platzmajor führt das Wort, obwohl er, zumindest von der Kleidung her, auch ein Gefangener ist. Woraus sich seine Macht über die anderen ergibt, bleibt im Dunkeln. Einmal kurz Sonnenbrille aufsetzen, das reicht ja wohl nicht. Dass er sich am Ende bei Goryantchikoff entschuldigt, ist sinnlos. Die Rolle der Wachen ist für mich zumindest nicht ganz deutlich geworden. Ohnehin hatte ich gerade zum letzten Akt hin den Eindruck, dass bei den vielen einzelnen Ideen der rote Faden etwas verloren gegangen ist.
Schwächen gibt es auch bei dem derben Theaterstück, das die Gefangenen im zweiten Akt aufführen. Das ist alles wild und drastisch, aber es wirkt einfach nicht. Bei den Gefangenen entladen sich unterdrückte Begierden, Sexualität, Aggressionen, das ist klar, aber ich gebe zu – mir wurde nach einigen Minuten dieses Gehampels kurz mal langweilig. Irgendwie kam da doch der Eindruck auf, diese bunte Farce in anderem Kontext schon einmal gesehen zu haben. Auf mich wirkte das leider etwas billig.
Letztlich habe ich aber nicht bereut, die Vorstellung besucht zu haben. Es gibt genug zu sehen, was den Besuch dieser Oper rechtfertigt - und auch zu hören: An der musikalischen Wiedergabe habe ich nichts auszusetzen. Es kann schon sein, dass das Orchester phasenweise zu laut war; jedenfalls hatte ich auch den Eindruck, dass sich das Orchesterspiel im Laufe des Abends verbessert hat, kann das aber an nichts Konkretem festmachen. Insbesondere möchte ich aber auch die Ensembleleistung herausheben: Fast alle der zahlreichen Solisten sind fest in Hannover engagiert, und auch darstellerisch gelingt ihnen das alles wirklich gut.