Hallo Roland,
Die Frage läßt sich wohl nicht so einfach beantworten, denn egal, ob konservativ oder modern, für Interpretation und Ausdeutung gibt es unendlich viele Möglichkeiten. Wer glaubt, alles sei schon getan, sitzt einfach im falschen Dampfer. Dieser Thread ist umfangreich und berührt sich auch mit anderen, daß ich keinen Überblick mehr habe und im folgenden vielleicht nur Gedanken formuliere, die andere schon früher geäußert haben.
Konservative Inszenierungen/Ausstattungen etc. (ich trenne das einfachheitshalber jetzt nicht, obwohl man hier jeweils noch differenzieren müßte) können langweilig sein, am Werk vorbei, kitschig, aufgedonnert und was weiß ich noch. Allerdings will sich in der Regel dabei niemand vor das Werk stellen und sich selbst wichtiger nehmen. Für eine gute konservative Inszenierung bedarf es nicht nur vieler Kenntnisse, sondern auch großer künstlerischer Begabung. Die Gefahren des Verstaubens oder des Talmi-Glanzes sind sehr groß.
Für mich sind auch die klassischen Werke nicht unbedingt sakrosankt. Aber wer sich umwertend oder radikal "vergegenwärtigend" ihrer bemächtigt, der darf das meines Erachtens nur tun, wenn er/sie ein adäquates künstlerisches Potential einbringt - dann entsteht nämlich ein neues Kunstwerk. Das Problem, daß viele sogenannte Konservative mit dem Regietheater haben, liegt wohl vor allem darin, daß sich in diesem Sektor viel zu viele Leute austoben, die vielleicht hier und da einen guten Einfall haben und sich deswegen gleich überschätzen oder die allenfalls durchschnittliche Handwerker sind. Das kann in einer Auseinandersetzung mit Mozart, Verdi oder Offenbach - wurscht, wem (ich wähle beliebige Beispiele und habe nichts Konkretes im Sinn) - nicht gut gehen. Man darf auch großartig scheitern, auch achtbar scheitern, aber wenn man kläglich scheitert, dann sind die Schelte berechtigt und verdient. Rotzige Provokationen gibt es sicher, aber denen gegenüber sind nicht nur Alfred und Cie. allergisch.
Experimente sind für mich nicht grundsätzlich verboten, sondern eine sinnvolle Alternative, aber bitte daraus keinen Alleinseligmachungsanspruch ableiten. Klarerweise haben sie es auch nicht leicht. An kleinen Bühnen kann ein Reinfall fatale wirtschaftliche Folgen haben, an große Bühnen kommt man vielleicht nur schwer heran, weil da ja auch schon eine Clique den Markt dominiert. Mancher Theaterchef hat ab und und zu ein Skandälchen außerdem nicht so ungern, denn das bringt Medienecho. Kurzfristig funktioniert das oft, langfristig wirkt es sich natürlich verheerend aus. Aber wie lange bleiben denn Theaterdirektoren an einem Wirkungsort? Das ist wie die Manager in der Wirtschaft. Die krempeln um, sparen ein, hauen die Leute über fünfzig hinaus (denn die sind erfahren, aber teuer) und liefern einige Zeit bessere Dividenden ab. Dann ziehen sie weiter zur nächsten Firma, um dort zu "sanieren". Inzwischen greifen am alten Ort die Nachteile (die erfahrenen Alten fehlen auf die Dauer und können durch unroutinierten Nachwuchs nicht 1:1 ersetzt werden; eine Zeitlang kann man darüber hinwegturnen, aber nicht ewig - so erhebt sich dann das Geschrei nach einem neuen Sanierer). Ioan Holender in Wien ist bekanntlich eine sensationelle Ausnahme in punkto Wirkungsdauer.
Ich kann nicht glauben, daß es weniger Regietalente gibt als früher, aber ich bin mir sicher, daß der Großteil der Begabten sich nicht so sehr für die Bühne interessiert als für den Film, der nicht nur mehr technische etc. Möglichkeiten bietet, sondern normalerweise auch ein viel größeres Publikum erreicht. Ein geschickter Selbstinszenierer wie Karajan hat daher manche Produktionen schon von vornherein so angelegt, daß sie a priori fernsehtauglich waren oder im Grund vor allem dafür ausgerichtet waren.
Operndirektoren müßten eigentlich Wunderwuzis sein, sowohl auf künstlerischem wie auf wirtschaftlichem Gebiet - daher viele Doppel- oder (verborgene) Teamleitungen mit all ihrer Problematik. Holender z.B. versteht meiner Meinung nach sehr viel von Stimmen, aber im Vergleich viel weniger von Austattung und Inszenierungen. Da ist er keineswegs so geschmackssicher. Das führt dazu, sozusagen jeden Geschmack bedienen zu wollen, nur eben manchmal mit untauglichen Mitteln ("Lohengrin") oder mit Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Produktionen ("Manon").
Mir persönlich ist ehrlicher, braver (d.h. mit immerhin mindestens durchschnittlichem Qualitätspegel) Konservativismus im Zweifelsfall lieber als halbvergorene Neusicht, die oft - nicht immer natürlich - einfach aus der Faul- oder Feigheit resultiert, sich mit Bedeutendem zu messen bzw. sich die nötigen Voraussetzungen anzueignen. Es ist wie mit den heutigen Großstädten. Manche Architekten wollen alles Alte abreißen, weil sie ahnen, wie mies sie daneben ausschauen. Das Problem der vielzitierten "Unwirtlichkeit unserer Städte" wird niemand bestreiten können. Trotzdem gibt es auch großartige moderne Architektur. Ich sehe das im Theater auch so.
Lg
Waldi