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Original von Theophilus
Nun ja, es ist eine Frage des Abwägens. Tatsächlich ist Micaela eine Rolle, die zumeist von lyrischen Sopranen gesungen wird, die mit den hohen, engelsgleichen Kantilenen mehr schlecht als recht zurande kommen. Schnell überschlagen dürfte Mirella Freni die letzte wirklich überzeugende Vertreterin gewesen sein (von denen, die ich gehört habe). Und das ist verflixt lange her. Da sehnt man sich geradezu danach, diese Rolle wieder einmal schön gesungen zu hören.
Ich habe Hyon Lee einmal die Arie der Gilda singen hören. Und nach diesem beeindruckenden Feuerwerk bin ich mir ziemlich sicher, dass sie die Micaela sehr gut singen könnte (obwohl man erst dann wirklich sicher sein kann, wenn man es tatsächlich gehört hat; diese langen Kantilenen haben es in sich). Dass sie die weniger intensive Darstellerin ist, will ich nicht bestreiten. Aber bei welcher Rolle ist das leichter zu verkraften als bei Micaela?
Für mich ist das fehlen von Intensität gerade bei einer Micaela absolut unverzeihlich. Diese Rolle lebt von ihrer inneren Enttäuschung und Hoffung, ist innerlich zerissen von der unerfüllten Liebe zu Don José, wenn diese Rolle einfach nur "schön" gesungen wird fehlt der Partie ein überaus wichtiger Teil ihrer Persönlichkeit --> Oper ist nicht nur schöne Musik, sie ist IMO Intensität pur!
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Original von Theophilus
1. So einfach ist das nicht. Carmen ist nicht einfach eine Spieloper, sondern zeichnet sich durch das meisterhaft gekonnte Changieren zwischen offen zur Schau getragener Leichtigkeit und innerem Drama aus. Spätestens ab Mitte des 2. Aktes tritt die Leichtigkeit zurück und die ernsten Töne überwiegen. Hier hatten wir zwei Akte lang überwiegend Klamauk. Dieser bildete quasi eine Hypothek für den Rest der Aufführung, denn man kann dann gar nicht mehr erfolgreich auf "Ernst" umschalten, zu präsent sind noch die Eindrücke der ersten beiden Akte. Außerdem kam der Beginn des 2. Bildes des 3. Aktes hinzu, wo wir die männliche Hauptfigur als Maler auf der Bühne haben, und das Geschehen im riesigen Bilderrahmen abläuft. Das war sehr originell gelöst und das Publikum hat sich hörbar amüsiert. Da konnte dann das Auftauchen unserer als Carmen verkleideter Putzfrau und der letal ausgehende Streit mit dem Maler dramaturgisch nicht mehr recht überzeugen. Es war sicherlich der dramatisch schwächste Carmen-Schluss, den ich je gesehen oder gehört habe. Der Regisseur hat die eigentlich zwingende dramaturgische Verdichtung seinem Einfallsreichtum geopfert.
2. Ganz falsch. Genau das Gegenteil ist richtig. Der echte "Carmen-Neuling" konnte sich unvoreingenommen dieser seltsamen Geschichte hingeben. So er zuvor eine Inhaltsangabe gelesen hat, wird er sich eine Zeit lang vielleicht gewundert haben, aber dann die Inhaltsangabe als netten Versuch abgetan und sich der Geschichte gewidmet haben, die ihm da erzählt wurde. Ihm wird zwar klar geworden sein, dass das, was ihm da geboten wurde, sicher nicht alles von Bizet & Co. stammte, aber was soll's, es war letztlich ein unterhaltsamer und sehenswerter Abend.
Auf der anderen Seite werden eher jene damit ein Problem haben, die das Stück einigermaßen gut kennen. Da schließe ich mich mit ein. Ich kenne diese Oper so gut, wie es ein reiner Amateur eben kann (schließlich steht Carmen unverrückbar auf der Liste meiner drei Lieblingsopern). Ich hänge an den Fäden meiner Erlebnisse, meiner Erknntnisse und meiner Erwartungen an dieses Werk und muss permanent versuchen, dieses Kaleidoskop neuer Eindrücke mit bisherigem Wissen in Einklang zu bringen, was in diesem Fall ein mehrmaliges Anschauen unabdingbar macht. Das halte ich für eine Schwäche einer Operninszenierung. Sie soll durchaus intellektuell reizen, wenn aber intellektuelle Durchdringung Voraussetzung dafür ist, dass man das Geschehen überhaupt fassen kann, führt sich Oper ad absurdum. Nicht umsonst sind die wirklich guten Opernstoffe sehr klar und einfach geschildert. Jede künstliche Verkomplizierung macht das Produkt in Summe schlechter.
Deinen letzten Satz finde ich überhaupt vollkommen daneben. Oper ist vor allem Vermittlung eines emotionellen Gehalts einer Geschichte auf den Zuschauer (bzw. Zuhörer). Deshalb funktioniert Oper von der Schallplatte, deshalb funktioniert Oper auf einer fast leeren Bühne. Auch die Geschichte selbst ist gar nicht so wichtig, es geht mehr darum, wie sie vermittelt wird. Und gerade da haperte es, da mehr bunte Eindrücke als Emotion vermittelt wurden. Einer der dramatischsten Stoffe der Opernliteratur blieb einigermaßen auf der Strecke. Es war mehr die Geschichte der Wahnvorstellungen des Don José, von meinen oben angeführten Vorschlägen erscheint also Die Leiden des jungen Museumswärters vielleicht am angemessensten. Carmen - die Oper fand nicht statt.

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1. Der Anfang des dritten Aktes, bzw. das Vorspiel und die beiden großen Chöre, zeigen mMn in großartigster Weise den Versuch Don Josés sich in die Welt von Carmen und ihrem Gefolge einzufügen, er will sie um jeden Preis für sich gewinnen, verlässt dafür seine angestammte Rolle und will zum Künstler werden. Er scheitert offensichtlich an dem Versuch mit Escamillo gleichzuziehen und wird dafür von den Kunstfiguren im großen Raum des Museums ausgelacht, was ist daran Klamauk?
2. Diese Inszenierung ist deshalb für "Carmen-Einsteiger" nicht geeignet da man, um sie zu verstehen, die Grundlagen der Handlung wissen muss. Ohne diese verkommt es, wie du richtig sagst, zu einem Bilderrätsel ohne sichtlichen Zusammenhang.
Aber selbst dies reicht nicht, um sich darin einzuleben braucht es nunmal die Offenheit und unbefangenheit die dir offensichtlich fehlt. Wenn man die Oper nur als Zigeunerdrama sehen will wird man enttäuscht sein --> "Self-fulfilling Prophecy"
Ich komme gerade von der 3. Vorstellung und kann dir in dem Punkt absolut zustimmen, dass man die Inszenierung beim ersten Ansehen nicht verstehen kann, nur sehe ich das nicht als Schwäche sondern ganz im Gegenteil. Ich brauche bei einem Opernabend Intelektuelle Ansprüche, am liebsten will ich noch 2 Wochen später darüber nachdenken wie er dies nun gemeint hat ( solange es einen Bezug zum Stück hatte ), darin liegt auch, glaube ich, der Hauptunterschied zwischen uns. Ich will mich nicht 3 1/2 Stunden berieseln lassen und dann nach einem hübschen Abend nach Hause gehen, ich will gepackt und mit Fragen überworfen werden, erst dann bin ich zufrieden, wenn dies nicht so ist halte ich dies für einen Fehler der Inszenierung.
Wenn man nur Augen für das bunte und offensichtliche hat wird man nie hinter die Grenzen blicken können sondern ewig in seiner kleinen, eingebildeten und vielleicht sogar für sich idealen Welt eingeschlossen bleiben und nie neues, großartiges entdecken, wenn dies dein Wunsch ist entschuldige ich mich dafür das ich überhaupt angefangen habe zu diskutieren, jedoch ist dies für mich eine absolut unmögliche Lebensweise die ich nie führen möchte. Die Oper ( wie auch das Leben ) lebt vom neuen, interessanten nur braucht man, um dies zu verstehen, Phantasie und Offenheit die leider vielen Zusehern fehlt.
LG,
Michael