Ein “königlicher Auftritt“ – der in dieser Oper gar nicht stattfindet…
Hallo zusammen,
eine verrückte Sache hat es mit einer Oper auf sich, die eigentlich überhaupt und genau nur Eines zum Ziele hat: einen „königlichen Auftritt “zu feiern, und zwar die Krönung eines Monarchen. Die Vorbereitungen für die Feier laufen von der Ouvertüre bis zum Finale auf Hochtouren, die Damenwelt hat, wie im wahren Leben - und die Oper handelt, wie wir noch sehen werden, im wahren Leben – kaum Anderes im Kopf als die entscheidende Frage, wie man sich dem Anlass entsprechend zu kleiden hat. Insbesondere das Hutproblem stellt sowohl das antreibende wie das retardierende Motiv für eine großartige Handlung dar, die darin besteht, dass sie nicht stattfindet. Ehrlich, eigentlich passiert gar nichts! Nebenher gibt es ein paar durch die aufgekratzten Ladies verursachte Streitigkeiten zwischen den männlichen Handlungsträgern, die sich aber letzten Endes ohne Blutvergießen nur in Worten äußern, von denen allerdings einige, wahrscheinlich durch erhöhte Testosteronwerte bedingt, auf dem hohen „C“ gesungen werden.
Es handelt sich um die Oper „Il Viaggio a Reims“ – „Die Reise nach Reims“ - von Gioacchino Rossini. Das Werk spielt in dem Badeort Plombières, und es handelt von einer zusammengewürfelten Gruppe vorwiegend adliger Damen und Herren, die auf der Reise zur Krönung des französischen Königs Charles X., die 1825 in Reims historisch stattfand, in einem Hotel gestrandet sind, und, da die halbe Welt auf dem Wege nach Reims ist, keine Pferde für die Weiterreise bekommen. Und damit ist auch schon so ziemlich die gesamte Handlung erzählt.
„Königlich“ an dieser Oper ist gleich Mehreres: die Dekadenz der gezeigten Gesellschaft hält jeden Wettbewerb aus, sogar den mit unserer Zeit, die sich in dieser Hinsicht weiß Gott nicht verstecken muss - die britischen „Royals“ und die „Yellow Press“ lassen grüßen. Und die Ironie, mit der Rossini das Alles vorführt , ist ebenfalls königlich, und die Musik sowieso. Staatliche Präsentation kommt nicht zu kurz, Rossini hat nämlich musikalisch viele europäische Nationalhymnen verarbeitet. Dabei hat er - wohlgemerkt, bereits im Jahre 1825 - vorausgesehen, welches die "deutsche" Nationalhymne werden würde, nämlich Haydns gutes altes "Gott erhalte Franz, den Kaiser...", obwohl es einen deutschen Nationalstaat zu jener Zeit bestenfalls als Vision in einer Handvoll politischer Köpfe gab.
Vom Gesang her ist dies eine der am problematischsten zu besetzenden Opern, die es überhaupt gibt: es gibt genau genommen zehn Hauptrollen, in denen so ziemlich die schwierigsten Partien gemeistert werden müssen, die Rossini je geschrieben hat, denn die Oper war tatsächlich für das Rahmenprogramm der historischen Feierlichkeiten zu Charles X. Amtseinführung gedacht, da durfte der Maestro bei der Besetzung tief in die Tasche greifen, und bei der Komposition hat er das weidlich ausgenutzt. Auch in unserer Zeit, in der das Rossini-Singen wieder „in“ ist, schafft es kaum ein Haus, ein adäquates Gesangsteam zu stellen, schließlich könnte zum Beispiel Juan Diego Florez nur eine Rolle singen, aber eine Besetzung dieser Güte braucht es für die anderen neun Hauptrollen auch. Übrigens, am Rande bemerkt: dies ist die einzige Oper, die ich kenne, in der gejodelt wird. Und welcher Opernstar kann das schon?
Noch schwieriger als das Besetzungsproblem dürfte das der Regie zu lösen sein: was macht ein Regisseur aus einem Werk, in dem Nichts passiert?
Wie auch immer: wer die Chance hat, „Il Viaggio a Reims“ auf der Bühne zu sehen, sollte sie nutzen – die kommt so schnell nicht wieder. Ein „königliches Vergnügen“ wird es allemal sein, Ehrenwort! Und in Hinsicht auf die anstehenden Amtseinführungsfestivitäten im Weißen Haus wäre ein solcher Opernbesuch die denkbar beste Abhärtung: danach weiß man, welcher Jahrmarkt der Eitelkeiten zum Beispiel im Fernsehen auf uns zukommen wird, und Nichts wird Einen mehr erschrecken.
Gruß
Pylades
P.S.: Es gibt eine mehr als ordentliche Aufnahme des Werks mit dem „Chamber Orchestra of Europe“ unter Claudio Abbado aus dem Jahre 1985. Gesungen wird von einem richtigen Starensemble, u.a. mit Lella Cuberli, Cecilia Gasdia, Katia Ricciarelli, Lucia Valentini-Terrani, Edoardo Gimenez, Francisco Araiza, Leo Nucci,Samuel Ramey, Ruggiero Raimondi und Enzo Dara – hochachtbar , wie ich meine, obwohl sich seither einige Rossini-Stimmen entwickelt haben, die manches besser singen würden: