Beiträge von Pylades

    Zu Hummels Freundschaft mit Beethoven - zur Ergänzung


    Hallo zusammen,


    Zitat

    Original von Stefan.M:
    […]Zu diesem Zeitpunkt begann seine lange und intensive Freundschaft mit dem großen Rivalen Beethoven.
    […] In den zwanziger Jahren des 19. Jh. unternahm er weite Konzertreisen auf denen er u. a. 1827 erneut nach Wien kam. Er tat dies aber hauptsächlich, um seinen sterbenden Freund Beethoven zu besuchen, auf dessen Wunsch er ein Gedenkkonzert gab,[…]


    Tatsächlich kannten Hummel und Beethoven einander und waren vielleicht auch schon früh nach Beethovens Ankunft in Wien befreundet. Laut „Beethoven Lexikon“ von Heinz von Loesch und Claus Raab, erschienen 2008 im Laaber-Verlag, gab es aber um 1810 einen Bruch der Freundschaft, eventuell auf Grund von Intrigen Dritter (was Hummel nicht daran hinderte, Klaviermusik Beethovens öffentlich zu spielen und zur Verbreitung des Werkes seines großen Konkurrenten beizutragen). Erst kurz vor Beethovens Tod kam es zur Versöhnung, und Hummel war dann einer der Sargträger bei Beethovens Beerdigung und improvisierte, wie von Stefan.M berichtet, bei einem Gedenkkonzert über Beethoven-Themen.



    Zitat

    Original von Stefan.M:
    […]Von 1804 bis 1811 stand er als Stellvertreter bzw. Nachfolger Joseph Haydns in Diensten der Familie Esterházy in Eisenstadt[…]


    Dazu ist zu bemerken, dass Fürst Esterházy bei Beethoven eine Messe in Auftrag gegeben hatte, nämlich die 1807 vollendete Missa in C-Dur, op. 86, die dem Auftraggeber (gemäß Anton Schindlers Darstellung) bei der ersten Aufführung in Eisenstadt gar nicht gefiel, und der dann Hummel mit der Komposition geistlicher Musik beauftragte, was in der Folge zu dessen Anstellung zum Hofkompositeur führte. (Dabei ist unklar, ob Schindlers Bericht korrekt ist - immerhin schrieb Beethoven nach der Uraufführung der C-Dur-Messe an seine Verleger Breitkopf & Härtel, dass die Messe in Eisenstadt mit großem Beifall aufgenommen worden sei.)

    Gruß
    Pylades

    Mendelssohns Klavierkonzerte

    Hallo zusammen,


    Zitat von JR

    Zu einigem davon wurde oben schon vereinzelt Positives (und weniger Positives) gesagt; hat jemand vielleicht mehrere davon oder gar alle gehört?


    Vielleicht nochmal zur Erläuterung: Ich bin nicht unzufrieden mit Katsaris und das ist kein Repertoire, bei dem ich wirklich nach Alternativen suche. Ich komme hauptsächlich wegen des Schirmer-Threads, wegen der Rekonstruktion bei Kirschnereit und weil ich die drei o.g. Angebote heute im Merkheft entdeckt habe, darauf.
    Repertoiremäßig wären Kirschnereit und Schirmer wegen der zusätzlichen Werke für mich am Interessantesten.


    Der hochbetagte Claudio Arrau fragte einmal einen Interviewer, der ihn zur vorgeblich ganz besonderen Prokofjew-Interpretation eines bestimmten Pianisten gefragt hatte, maliziös zurück:
    „Haben Sie schon mal jemanden gehört, der Prokofjew schlecht spielt?“


    Nun ist Prokofjews Klaviermusik sauschwer, insofern ist sie, und das wusste auch Arrau, bestimmt auch schon schlecht gespielt worden, aber was er wohl meinte, das war, dass, wenn ein Pianist das technische Rüstzeug hat, das Ergebnis nicht wirklich ganz schlecht sein kann, weil diese Musik dann nämlich - mit natürlichem Fluss und präzise taktiert gespielt – bereits für sich „spricht“.


    Ähnlich gelagert dürfte es um Mendelssohns Klavierkonzerte stehen. Auch die sind technisch nicht leicht, aber, wie aus zeitgenössischen Quellen bekannt, strebte Mendelssohn als Pianist selbst danach, seine Musik einigermaßen rasch und ohne größere Temposchwankungen zu spielen, und zwar mit klarem und perlendem Ton – und dafür ist die Musik auch ausgelegt. Insofern kenne ich auch keine schlechte Aufnahme, und einige von denen, die ich kenne, sind brillant, und ich würde zwischen „besser“ und „schlechter“ überhaupt nicht abwägen wollen. Dazu gehören die Aufnahmen von Rudolf Serkin, Andras Schiff, Cyprien Katsaris, dazu Martha Argerich mit dem g-Moll-Konzert op. 25. Ich würde die Kirschnereit-Aufnahme in der „selben Liga“ sehen – mit dem Vorteil der heutigen Aufnahmetechnik (die das besonders engagierte und farblich differenzierte Orchesterspiel der Chemnitzer gut hörbar macht) und dem „Bonus“ der Rekonstruktion des „dritten“ Klavierkonzerts.


    Gruß
    Pylades

    “Der Gefangene“ - „Leben um Leben“ - „Die Rache eines Wilden“


    Hallo zusammen,


    und jetzt stellen wir mal jemanden an den Marterpfahl.


    Verdis frühe Oper Alzira beginnt nämlich mit der Szene, in der der spanische Gouverneur Alvaro zur Zeit der südamerikanischen „Conquista“ in die Hände der feindlichen Inkas gefallen ist, die ihn gerade - übrigens zu den Klängen eines ziemlich forsch-fröhlichen italienischen Herrenchors – an einen Baum fesseln und dann genüsslich langsam ins Jenseits foltern wollen. Gottseidank taucht, während die Indios bereits mit ihren Messern und Speeren singend um den Marterpfahl tanzen, noch rechtzeitig der von Allen für tot gehaltene junge Häuptling Zamoro auf, der dem Spuk ein Ende bereitet und den Gefangenen knapp vor dem Mord losbindet und nach Hause schickt. Zamoro ist soeben der Gefangenschaft Gusmanos, des Sohns von Alvaro, entkommen, der ihn gefoltert hatte, und er weiß genau, dass Alvaro ein brutaler Despot ist, aber als humanistisch gebildeter Wilder will er dem grausamen Eroberer, der sich „christlich“ nennt, beweisen, dass in Wirklichkeit die Inkas die „Zivilisierten“ in diesem Kampf sind.
    Als Zamoro dann allerdings erfährt, dass Gusmano seine, Zamoros, Geliebte Alzira gefangen genommen hat, schwört er Rache an den Weißen, und er geht, um seine Krieger um sich zu scharen und einen Angriff auf Lima vorzubereiten.


    Im Folgenden stellt sich heraus, dass sich Gusmano - inzwischen als Gouverneur der Nachfolger seines Vaters - ebenfalls unsterblich in Alzira verliebt hat, aber Zamoro kann seine Geliebte zeitweise zurückgewinnen , um dann, bei der großen Schlacht zwischen den Inka-Kriegern und den spanischen Eroberern, den Kürzeren zu ziehen und, gemeinsam mit Alzira, in die Hände des Gusmano zu fallen. Der verspricht Alzira, dass er Zamoro nicht hinrichten, sondern freilassen werde, wenn sie ihn heiratet, was diese ihm, da sie Zamoro innig liebt und nur so seinen Tod verhindern kann, natürlich zusagt, worauf der gedemütigte Zamoro gehen muss. Bei der Hochzeitsfeier schleicht er sich dann aber, in eine spanische Uniform verkleidet, unter die Gäste, und kurz vor dem Ja-Wort sticht er Gusmano nieder. Gusmano hatte inzwischen von seinem Vater erfahren, dass Zamoro diesen vor dem sicheren Tod gerettet hatte, und, sich auf seine christlichen Tugenden besinnend, befiehlt er sterbend, dass Zamoro und Alzira freigelassen werden sollen, um in Frieden glücklich zu werden, und endet, wie es sich für einen richtigen Verdi’schen Helden gehört, mit dem obligaten „L‘ultima addio!“.


    Insgesamt erinnert das Beziehungsdreieck zwischen Alzira, Zamoro und Gusmano sehr stark an jenes, welches Leonora, Manrico und Luna in Il Tovatore bilden, und sowohl die sprunghafte Handlung der Librettos wie auch die farbendurchglühte Musik beider Opern weisen manche Ähnlichkeit auf, auch wenn in Alzira nicht das Liebespaar dran glauben muss, sondern der abgewiesene Liebhaber. Im Grunde raubt das banale „Fast-Happy-End“ dem Finale einen Großteil seiner Tragik - diesen Fehler hat Verdi im Trovatore nicht wieder begangen.


    Der Prolog und die beiden Akte der Oper tragen (wie die Akte des Trovatore) Titel gemäß Libretto: „Der Gefangene“, „Leben um Leben“ und „Die Rache des Wilden“. Bedenkt man, dass zusätzlich zu den Folterungen und zum Mord an Gusmano in den kriegerischen Auseinandersetzungen wohl ziemlich viele Kämpfer ihr Leben aushauchen (auch wenn dies angesichts des persönlichen Schicksals der Hauptfiguren eher eine „quantité négligeable“ darstellt), so wird man sagen müssen, dass Alzira sogar für Giuseppe Verdi eine eher blutrünstige Oper ist, und das will was heißen!


    Gruß
    Pylades


    P.S.: Es gibt eine höchst empfehlenswerte Aufnahme der Alzira aus dem Jahre 1982 mit dem Münchner Rundfunkorchester unter Lamberto Gardelli; in den Hauptrollen singen Renato Bruson, Franzisco Araiza, Ileana Cotrubas und Jan-Hendrik Rootering. Die Sänger sind allesamt in großer Form, und Gardelli schürt ein Feuer, dem man sich, dem kruden Operntext zum Trotz, nicht entziehen kann.


    Hallo zusammen,


    es gibt eine brandneue Aufnahme (erschienen bei Arte Nova Classics) der Mendelssohn-Klavierkonzerte mit Matthias Kirschnereit als Solisten und der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz unter der Leitung von Frank Beermann, die uneingeschränkt zu empfehlen ist:


    Die drei bekannten Stücke, das Jugendkonzert in a-Moll sowie die beiden mit Opuszahlen versehenen Konzerte, werden ungemein farbenprächtig und dabei elegant und hochvirtuos dargeboten, mit herrlichem "Klaviergesang" in den langsamen Sätzen. Das mir bislang unbekannte Orchester macht seine Sache ebenfalls großartig, äußerst engagiert und präsent. Und die Aufnahmetechnik liefert ein klares und transparentes, zwischen Klavier und Orchester perfekt ausbalanciertes und gut durchhörbares Klangbild dazu.


    Was ich bislang nicht wusste: von Mendelssohn gibt es Entwürfe zu zwei Sätzen eines weiteren Klavierkonzerts, entstanden fast parallel zum Vioninkonzert, die den Klavierpart sowie Skizzen zum Orchesterpart beinhalten. Diese Skizzen wurden von dem Musikwissenschaftler Larry Todd, Professor an der Duke University of Durham, North Carolina, der auch eine Biographie über Mendelssohn (bei Reclam erschienen) verfasst hat, vervollständigt und mit einer Klavierfassung des Schlusssatzes des Violinkonzerts (einschließlich des Übergangs zum Finale) versehen. Wie die vorliegende Aufnahme beweist, funktioniert das sehr gut und ist sehr hörenswert.

    Fazit: eine wunderbare Aufnahme, sehr empfehlenswert - und dazu noch spottbillig.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    das Thema hat mich in den letzten Tagen doch sehr zum Nachdenken veranlasst, ist es doch gerade die Musik Johannes Brahms‘, die mich wie die weniger anderer Komponisten beschäftigt, in der ich immer wieder Neues finde, die mich gewissermaßen, nach nicht ganz einfachem Kennenlernen, emotional bindet.
    Frage ich mich dann, was es eigentlich ist, was an dieser Musik dran sein mag, was mich so beeindruckt, dann ist das nur schwer in Worte zu fassen – und das mag wesentlich zur Liebe zu dieser Kunst beitragen. Brahms‘ Musik wirkt nicht durch zu ihrer Zeit extreme Modernismen in Hinsicht auf Sensuelles - sie ist nicht extrem dissonant, nicht extrem neu in ihrer Klangfarblichkeit, nie extrem laut, selten extrem leise - sie ist insofern, wenn nicht auf Texte geschrieben, im besten Sinne „absolut“, sie wirkt aus sich selbst und aus ihren eigenen Gesetzen heraus, und dennoch hat sie eine Bedeutung für mich, ist in dieser Hinsicht keine „abstrakte“ Kunst: in einigen Werken, ich nenne als Beispiel das Andante der dritten Sinfonie, fühle ich bei Brahms eine künstlerisch gestaltete Todesahnung, wie ich sie sonst nur bei Schubert zu finden glaube. Bei aller kompositorischen Rationalität sind solche Sätze im wahrsten Sinne „romantisch“. Brahms ist in diesem Sinne kein Klassizist, sondern Romantiker, sein Klassizismus ist wohl eher eine Maske, die ihm als Schutz vor allzu deutlicher Selbstentblößung dient. Der Vergleich mit Beethoven, wiewohl in mancher Hinsicht naheliegend, ist eigentlich nicht stimmig.


    Innovativ ist Brahms meiner Auffassung nach dennoch. In diesem Thread wurde bereits darauf hingewiesen, dass ihn Schönberg für einen der fortschrittlichsten Komponisten überhaupt hielt, und er gibt dafür den Grund an, dass Brahms die Technik der Variation auf kleinste Teile der Komposition erweitert habe und in dieser Hinsicht die Musik um ein Mittel bereichert habe, Zusammenhänge zu stiften (ganz entfernt kann man bei Schönbergs Argumentation anklingen hören, dass er dies als eine Vorstufe zu dem sah, was er, Schönberg, selbst später mit der Reihentechnik eingeführt hatte).



    Wie sind nun Edwins Beiträge, die, genau genommen, einen Brahms-Verriss darstellen, zu sehen? – im Detail hat er ja nicht wirklich Falsches geschrieben. Sein eigener "mathematischer" Vergleich hilft vielleicht weiter:



    Was Edwins Mathe-Professor sagte, weiß ich nicht. Richtig ist, dass Pythagoras, Kepler und Euler das sagten – sie wussten es nicht besser. Dass Einstein das ohne weitere Ausführungen gesagt haben soll, glaube ich eher nicht, denn der wusste ganz genau: bereits seit Anfang des neunzehnten Jahrhundert ist auf Grund der Arbeiten von Gauß, Bolyai und Lobatschewski klar, dass die Euklidische Geometrie, in der der Satz von Pythagoras gültig ist, nicht die einzige denkbare Geometrie ist, und gerade Einstein nutzte die daraus entstandenen Erkenntnisse in der allgemeinen Relativitätstheorie mit der Folge, dass wir heute wissen, dass unsere Welt eben nicht euklidisch ist.
    Mir scheint, dass Edwin mit seinem Beispiel aber sehr wohl die Parallele zur Beurteilung von Brahms‘ Kunst gezogen hat: wie bei Pythagoras auf den geometrischen, so kommt es bei Brahms' Musik auf den ästhetischen Rahmen an. Sieht man als Indikator für die Fortschrittlichkeit der Musik in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Eigenschaften der Musik, immer dissonanter oder klangfarblich immer extremer und raffinierter zu werden, dann ist Brahms tatsächlich ein Konservativer, mit den von Edwin durchaus zugegebenen handwerklichen Fähigkeiten, aber letzten Endes eben doch ein Langweiler.


    Was Edwins Analyse Brahmsscher Musik angeht: er sieht diese selbst nicht als objektiv – ich verweise auf den Thread „Musikalische Analyse - Möglichkeiten und Grenzen“, in dem er schreibt:



    Dass ihm etwas auf Grund von eigenem Wissen und eigener Sensibilität nicht gefällt: warum nicht? Meiner Liebe zu Brahms Musik muss dies keinen Abbruch tun.


    Eine abschließende Bemerkung zu Brahms als Liederkomponist:
    Tatsächlich sehe ich es auch so, dass Brahms‘ Liedschaffen über lange Zeit nicht ganz auf der selben Höhe stattfindet wie jenes von Schubert, wobei dies aber auch der höchste denkbare Maßstab ist, und die Ursache m.E. tatsächlich die ist, dass Brahms' Textvorlagen doch sehr zeitgebunden sind und nicht die "Universalität" guter Schubert-Vorlagen haben.. Allerdings: mit den „ernsten Gesängen“ op. 121 erreicht Brahms – jedenfalls nach meiner Auffassung – dann doch ein Niveau, und zwar auch bei der Auswahl der literarischen Vorlage, bei dem man höchstens noch über „mir gefällt es“ oder „mir gefällt es nicht“ diskutieren kann, aber nicht mehr, ob es sich um Liedkunst höchsten Grades handelt,… es sei denn, und dafür gibt es gute Gründe, dass man diese vier Stücke gar nicht als "Lieder" auffasst.


    Gruß
    Pylades

    Hallo Theophilus,


    Zitat

    Original von Theophilus:


    Furtwängler [hätte] schon [eine herausgehobene Sonderstellung gehabt].


    ja, er hätte eine herausgehobene Sonderstellung gehabt, die er aber sicher mit Arturo Toscanini und evt. Bruno Walter hätte teilen müssen. Und es wäre nicht die Sonderstellung einer "quasi-religösen" nationalen Ikone gewesen, sondern "nur" die eines Ausnahmemusikers. Die ganz jungfräulich-reine politische Unschuld und Unwissenheit kann ich eigentlich bei niemandem uneingeschränkt glauben, der sich so sehr in Repräsentationsaufgaben für das nationalsozialistische System hat einbinden lassen und gleichzeitig die politischen Größen seiner Zeit, allesamt Schwerverbrecher, so gut persönlich kannte. Das macht niemanden selbst zum Nationalsozialisten und erst recht nicht zum Verbrecher, aber dass bei der Abwägung zwischen Befriedigung der persönlichen Eitelkeit und einem moralischen "Hier-stehe-ich", einer Zivilcourage, wie sie z.B. Fritz Busch demonstriert hatte, die Eitelkeit bei Furtwängler und Gründgens das höhere Gewicht hatte - na ja, sagen wir: vom Gegenteil hat mich bislang noch kein Argument wirklich überzeugt.


    Gruß
    Pylades


    Gruß
    Pylades

    Hallo Edwin,


    das sehe ich grundsätzlich auch so. Sicher versuchten die Nationalsozialisten ganz besonders bei zwei Künstlern, diese im Lande zu halten: bei Gründgens und bei Furtwängler. Und beide wussten darum und schafften es bei allem Beugen unter das Joch, ein Minimum an innerer Distanz zu wahren - allerdings bin ich überzeugt, dass beide (aber insbesondere Furtwängler) auch deshalb geblieben sind, weil sie in Deutschland in ihrem Fach unangefochten "Primus" waren, und zwar nicht "inter pares". Beide hatten schon ein sehr hohes Selbstwertgefühl - ganz zweifellos ging es nicht nur um den "Dienst an der Kunst". Im Ausland hätten beide ihre herausgehobene Sonderstellung so nicht gehabt.


    Nun haben wir es heute leicht, Zivilcourage zu zeigen - und tun wir es? - Also: wer wirft den ersten Stein? - ich möchte das nicht sein, und deswegen bin ich auch nicht an einem "Bashing der Großen" interessiert, sondern eher daran zu wissen, was denn historisch wirklich passiert ist. Denn auch, wenn ich nicht eigentlich glaube, dass Menschen aus Geschichte lernen, wenn sie sie nicht selbt erlebt haben: vielleicht ist ja doch was dran...


    Problematisch an Gründgens' Verhalten finde ich aber schon, wie er sich in der Zeit nach dem Kriege zu diesen Problemen gestellt - oder eher nicht gestellt - hat. Das Vermeiden jeder öffentlichen Erörterung des Themas hatte er natürlich mit der damaligen Gesellschaft gemein - insofern war er hier wieder einmal der Repräsentant. Im oben von mir empfohlenen Buch kann man nachlesen, wie jeder Versuch Erika Manns zur Veröffentlichung des Mephisto, dessen Rechte sie nach Klaus Manns Tod im Jahre 1949 inne hatte, von Gründgens torpediert wurde. Gründgens nutzte dazu alle Beziehungen, die er hatte. Und als hoch angesehener Intendant presste er den an der Veröffentlichung interessierten Verlagen Blanvalet, Europäische Verlagsanstalt, Bärmeier und Nikel, Film- und Publizistik GmbH Frankfurt, ab, dass sie auf eine Veröffentlichung verzichteten, wahrscheinlich bis hin zur Drohung, dass Werke aus einem Hause, welches Mephisto veröffentlichen würde, auf keiner einflussreichen Bühne mehr aufgeführt würden (dies ist jedenfalls die Darstellung Erika Manns in einem Briefverkehr). Man kann dieses Verhalten sehr wohl als Missbrauch von Amtsbefugnissen sehen.
    An dem Verbotsprozess gegen Mephisto nach seinem Tod war Gustaf Gründgens aber nicht mehr beteiligt, da er bereits vor dessen Einleitung verstorben war.


    Gruß
    Pylades


    P.S.:
    Lieber Edwin,
    nebenbei: wenn ich oben schrieb:" Das sehe ich auch so" - dann bezieht sich das explizit nur auf dieses Thema, nicht auf deine Argumentation im "Brahms"-Thread - da teile ich deine Meinung ganz entschieden gar nicht.

    Hinweis auf Literatur zum Thema


    Hallo zusammen,


    zum Thema des Threads gibt es (so im Untertitel ausgedrückt)


    "einen dokumentarischen Bericht aus Deutschland und dem Exil 1925 - 1981":


    Eberhard Spangenberg:
    Karriere eines Romans - Mephisto, Klaus Mann und Gustaf Gründgens

    Edition Spangenberg im Ellermann-Verlag (erschienen 1982)


    Gegenstand des Buchs ist die "Biographie" des Romans Mephisto von der Entstehung bis zur (bis heute formal illegalen!!) Veröffentlichung in Deutschland im Jahre 1981. Natürlich sind, dem Thema entsprechend, auch die Biographien von Gustaf Gründgens und Klaus Mann dokumentiert, wobei "dokumentiert" bedeutet, dass versucht wird, alle bekannten Fakten durch Dokumente zu belegen. Darüber hinaus beinhaltet das Buch einen ausführlichen Quellennachweis.


    In Hinsicht auf Gustaf Gründgens Verhalten während des Nationalsozialismus gibt es in diesem Zusammenhang zwei Fakten, die, wie man sie auch immer bewerten mag, zur Kenntnis nehmen muss:


    - Zum Ersten muss man um seine Homosexuailität wissen, welche für ihn in jener Zeit zweifellos eine besondere Gefahr darstellte.
    - Zum Zweiten muss man aber auch zur Kenntnis nehmen, dass er in der Zeit nicht nur als Theatermann Karriere gemacht hatte, sondern durchaus auch eine politische. Gustaf Gründgens war Mitglied des preussischen Staatsrats (wie übrigens auch Wilhelm Furtwängler), und auch wenn die politische Führung sich sicher nicht von diesem Gremium das Gesetz des Handelns vorschreiben ließ, sondern, im Gegenteil, dieses eine Marionette Hermann Görings war: diese Institution war von ihren Statuten her eine politische, zur Beratung der Regierung, wenn auch vorwiegend in wissenschaftlichen und kulturellen Fragen. Zwar behauptete Gründgens später: "[...1936 war] der Titel eines Staatsrats noch bedeutungsloser als [...] 1933. ... In der Zeit, in der ich den Titel bekam, ist diese Körperschaft nie und in keiner Weise in Erscheinung getreten."; geführt hatte er ihn aber der "Bedeutungslosigkeit" zum Trotz und durchaus mit Stolz, hatte das Amt doch zur Folge, dass er sich bei politischen Anlässen wie Staatsbesuchen ausländischer Gäste präsentieren konnte.


    Selbst wenn man Künstlern wie Furtwängler oder Gründgens noch glauben mag, dass sie, wollten sie in Deutschland verbleiben, wo sie zum Einen als Künstler etabliert waren, zum anderen aber auch ihre Wurzeln hatten (was bei einem Schauspieler sicher schon rein sprachlich eine große Rolle spielen musste), so fragt sich doch, ob die Mitgliedschaft in der politischen Instanz des Staatsrats sich damit auch erklären lässt. (Ich habe nirgends explizit gefunden, dass jemand zur Mitgliedschaft genötigt worden sei - möglich wäre dies aber natürlich schon.)
    Letztlich wäre das Motivgewirr aus Angst, aus Anspruch, Opportunismus, teilweisem Mitläufertum und mangelnder Zivilcourage jeweils im Einzelfall zu klären - ich bin persönlich überzeugt, dass im Falle Gründgens' dies Alles eine Rolle spielte; welches Motiv mit welchem Gewicht, das wird sich aber wohl nie mehr klären lassen.


    Gruß
    Pylades

    Reger: Klavierkonzert op.114 - Bach/Busoni: Klavierkonzert nach BWV 1052


    Hallo zusammen,


    liest man im Internet oder in der Literatur über Max Regers op.114, so wird einem immer wieder der Hinweis auf das erste Klavierkonzert von Johannes Brahms begegnen mit dem Tenor, dass Regers Werk in vieler Hinsicht vergleichbar sei - zum Beispiel sehr schwer zu spielen, dabei aber in dem Sinne pianistisch undankbar, dass man mit virtuoser Beherrschung alleine noch lange keine erfolgreiche Darstellung hinbekommen könne, was bei beiden Konzerten dazu geführt habe, dass sie anfangs eklatante Misserfolge waren. Im Übrigen sei das Regersche Werk, was die musikalischen Motive und Themen anginge, wie das Brahms-Konzert sehr spröde.


    Zwar hatte ich das Reger-Konzert früher schon einmal gehört, war aber ziemlich achtlos an dem „unverdaulichen Brocken“ vorbeigegangen. Nachdem ich mich nun länger mit der neuen Aufnahme befasst habe, möchte ich dem Brahms-Vergleich eigentlich nicht zustimmen: schließlich beeindruckt dessen Konzert in d-moll letztlich doch sehr stark selbständig auf der emotionalen Ebene, es spricht zum Hörer, ohne dass dieser verstanden habe müsste, „wie es konstruiert ist“, und ein Misserfolg beim Publikum war es auch nicht für sehr lange Zeit. Bei dem Reger-Konzert geht dies eher nicht so einfach, bevor ich mit dessen Musiksprache in Kontakt kam, musste ich mich ziemlich intensiv mit den musikalischen Motiven und dem Aufbau der Sätze befassen (zumindest gilt das für die Ecksätze). Wollte ich also für mich selbst Analogien zu anderen Werken bilden, dann würde ich diese zum Reger-Konzert eher finden in Brahms‘ vierter Sinfonie oder vielleicht in Bruckners fünfter, beides Stücke, bei denen man m.E. auch nicht durch „ein paar Mal anhören“ zum Verständnis kommen kann. (Hilfreich ist das Booklet zur Aufnahme, welches eine gute Werkeinführung von Charles K. Tomicik beinhaltet unter dem Titel „Eine Straßenkarte durch Regers Klavierkonzert“.)


    Nun beinhaltet der Vergleich mit den beiden Sinfonien so ziemlich die höchste Einschätzung für ein Konzert, die ich mir überhaupt vorstellen kann, und tatsächlich habe ich in dieser Aufnahme ein Stück kennengelernt, das mich begleiten wird, mit dem ich mich noch oft auseinandersetzen muss, wobei ich sicher bin, dass sich das lohnt.


    Zur Aufnahme kann ich wenig sagen – (um diese fair zu beurteilen müsste man m.E. mindestens die Aufnahmen von Rudolf Serkin und Gerhard Oppitz kennen, da diese beiden Pianisten sich über lange Zeit massiv für das Werk eingesetzt haben, und eigentlich auch die Aufnahme der uraufführenden Pianistin Frieda Kwast-Hodapp, die allerdings aus dem Jahre 1948, kurz vor ihrem Tode, stammt, als die Interpretin bereits 68 Jahre alt war, und man müsste auch den Notentest zur Verfügung haben). Immerhin ist mein Eindruck, dass sowohl Pianist wie Orchester eine überaus klare, umriss-scharfe Darstellung gelingen, in der die spieltechnischen Probleme des Werks geradezu selbstverständlich gelöst werden und überhaupt nicht im Mittelpunkt stehen.


    Das andere Werk auf der CD, die Bearbeitung des Klavierkonzerts BWV 1052 von Bach durch Ferruccio Busoni (wobei bereits das Bachsche KK eine Bearbeitung eines eigenen Violinkonzerts darstellt), lohnt das Kennenlernen ebenfalls: Busoni war ja der Meinung, dass jede Interpretation auch immer bereits eine Transkription darstellt, dass „gute, große, […] universelle Musik die selbe Musik bleibt, […] verschiedene Mittel der Darstellung [eines Werks] eine verschiedene, ihnen eigene Sprache haben, in der sie den nämlichen Gehalt in immer neuer Darstellung verkünden.“
    Die Interpretation durch Korstick/Schirmer und das Münchner Rundfunkorchester bleibt, bei aller Bearbeitung durch Busoni, glasklar, transparent und zuerst dem Bachschen Original verpflichtet. Interessanterweise gibt es wenige Aufnahmen, die der (nicht transkribierten) Darstellung durch Gould/Bernstein/Columbia Symphony Orchestra, 1957 aufgenommen, klanglich so nahe kommen.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,



    Zitat

    Original von Joschi Krakhofer:


    Weiters ist mir noch eine Aufnahme bekannt, aber ich besitze sie noch nicht. Wenn jemand diese Aufnahme besitzt, wäre ich sehr dankbar für eine „Kritik“:

    Ich bin mir fast sicher, dass diese Aufnahme ein Hit ist, alleine wegen des Dirigenten und der Bartoli, lediglich der hohe Preis, der weit über meiner Schmerzgrenze liegt, hält mich davon ab diese Aufnahme in meine Sammlung aufzunehmen.


    die Aufnahme des Rinaldo der Academy of Ancient Music unter Hogwood mit Bernarda Fink als Goffredo, Cecilia Bartoli als Almirena, David Daniels als Rinaldo und den beiden Bösewichtern Luba Orgonasova (Armida) und Gerald Finley (Argante) schätze ich außerordentlich hoch. Allerdings: nicht nur "alleine wegen des Dirigenten und der Bartoli", obwohl die wirklich gut sind. Die "Restbesetzung", man muss auch Daniel Taylor (Eustazio) und Bejun Mehta ((Mago) erwähnen, singt nicht in einer niedrigeren Liga, und man bedenke, dass selbst die Nebenrolle des Herolds (un aroldo) mit Mark Padmore "luxusbesetzt" ist.


    Trotz der imitierten Bühnengeräusche ist diese Aufnahme allerdings ein "Kunstprodukt", und das liegt auch an der herausragend transparenten und direkten Aufnahmetechnik - auf der Bühne eines "real existierenden" Opernhauses ließe sich eine solche klangliche Direktheit nie erzielen. Auf der anderen Seite: die Barockoper a la Händel verträgt diese ästhetische Künstlichkeit ausgezeichnet, und durch sie vermittelt sich rein akustisch so etwas wie die Atmosphäre, die die "Zeigefunktion" im Sinne Bertolt Brechts auf der Bühne zu erreichen versucht - immer bleibt dem Hörer bewusst, dass die Sänger die handelnden Figuren nur spielen, und jede etwaige Identifikation des Hörers mit einer der Figuren wird immer wieder aufgebrochen. Eigentlich witzig, dass die extreme klangliche Direktheit eine gefühlsmäßige Indirektheit und Ironie erzeugt.


    Jedem, der das nicht ablehnt, sei die Aufnahme wärmstens empfohlen.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    am Dienstag, dem 27.01.2009, spielte der Pianist Herbert Schuch ein Solokonzert im Herkulessaal der Münchner Residenz (meines Wissens zum ersten Mal dort):


    - Beethovens Bagatellen op. 126 und die „Appassionata“, op. 57,


    und nach der Pause:


    - Mozarts Adagio KV540,
    - Skriabins Sonate Nr. 9 „schwarze Messe“ sowie
    - Ravels „Gaspard de la Nuit“,


    Dies ist ein ungemein ambitioniertes Programm, sowohl musikalisch wie technisch. Herbert Schuch spielte es insgesamt unter dem Aspekt des Nachtstückhaften und Albtraummäßigen, und in diesem Sinne bat er sich aus, dass er die drei Werke nach der Pause unmittelbar hintereinander, ohne Unterbrechungen spielen dürfe, weil es zwischen ihnen innere atmosphärische Bezüge gebe, die auf diese Art besser erkennbar würden (was das Publikum akzeptierte, es hob sich den Applaus für das Ende auf).


    Schuch ist mittlerweile neunundzwanzig Jahre alt, und von daher, an heutigen Maßstäben gemessen, als „Newcomer“ auf den großen Podien eher schon fast „alt“, was sicher auch daran liegt, dass er bescheiden-selbstbewusst auftritt, ohne jedes medienwirksame Star-Gehabe. Und: der Reifungsprozess hat sich gelohnt! Was geboten wurde, war nicht nur technisch auf höchstem Niveau, sondern auch musikalisch. Es war sogar so, dass Schuch die technische Schwierigkeit des Programms fast vergessen ließ, so selbstverständlich und ohne außermusikalische Manieriertheit war das Alles gemeistert, und die musikalisch-stimmungsmäßigen Prozesse der Werke und der großen Bogen standen im Mittelpunkt. Und in dieser Hinsicht ist ihm vor Allem mit dem Teil nach der Pause ein unvergesslicher Klavierabend geglückt, ein ganz großes, düsteres „Goya-haftes“ Stimmungsbild, welches mit zwei Zugaben von Nachtstücken Heinz Holligers abgerundet wurde, zu denen er jeweils vorher das vom Komponisten mitgegebene Motto aus Gedichtzeilen des österreichischen Lyrikers Georg Trakl mitteilte.
    In einigen Kritiken nach der Veröffentlichung seiner ersten drei CDs hatte ich über Schuch gelesen, er sei ein Pianist von der Statur Alfred Brendels, einer, der die philosophischen Hintergründe der Werke ausleuchte und dem es um die lyrischen Qualitäten der Musik gehe. Nach diesem Live-Abend kann ich sagen, dass da zwar etwas dran ist, dass Schuch aber sehr wohl auch eine „Pranke“ hat, die keinen Vergleich scheuen muss - in der Appassionata zum Beispiel brachte er den (übrigens wunderbar sonor klingenden) Steinway-Flügel dynamisch bis an die Grenze, und zwar bei durchweg eher raschen Tempi. Dennoch stand auch hier der musikalische Prozess im Mittelpunkt.


    Nun kann man als „vorbelasteter“ Hörer in jeder Interpretation etwas finden, was man sich „eigentlich“ anders vorstellt. Für mich war dies die Tatsache, dass Schuch sich nicht ganz entscheiden wollte, den langsamen Satz der Appassionata entweder als lyrischen Ruhepunkt der Sonate zu spielen oder als Fortsetzung der Stimmung der beiden Außensätze „mit anderen Mitteln“, sondern versuchte, beides zu vereinen, was aber in meinen Ohren dazu führte, dass die Ruhepunkte eher etwas isoliert und zusammenhanglos in der Sonatenlandschaft des op. 57 auftauchten. Aber es war wohl Absicht, den Bogen von den dunklen Beethoven-Bagatellen zu immer finstereren, angsterfüllteren Stimmungen hin zu spannen, und in diesem Sinne das Zerstörerische des Werks nicht voll auszuspielen.


    Fazit: ein großartiges, wohlüberlegtes Programm, von einem fabelhaften Pianisten furios dargeboten. – Das Publikum im nicht ganz ausverkauften Herkulessaal spendete zu Recht begeistert Applaus. Sollte dieser Pianist künftig in München auftreten, dann ist der Saal wohl ausverkauft, und um Karten wird man sich rechtzeitig bemühen müssen. Ich jedenfalls bin dann wieder dabei.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    der Rezension von operus stimme ich weitestgehend zu - tatsächlich ist die Neuausgabe der "Großen Sänger" von Jürgen Kesting weitaus mehr als eine Überarbeitung. Und operus schreibt richtig, dass Kestings Urteil in dieser Neuausgabe "weiter greift" als in der früheren, und dass er deswegen manchmal "milder" erscheint, wobei er aber m.E. nach wie vor erste Priorität auf "gutes Singen" setzt. Im weitesten Sinne ist damit gemeint, dass in der Gesangskunst technisch richtiges Singen nicht durch schauspielerische Qualitäten ersetzt werden kann. Immerhin ist er heute eher bereit zuzugestehen, dass auf der Bühne Schauspielkunst pure Stimmschönheit ersetzen kann, und insofern kann Kesting heute auch z.B. einer Sängerin wie Nathalie Dessay gerecht werden, die in der Ausgabe aus den achziger Jahren mit ziemlicher Sicherheit einen Verriss bekommen hätte.
    Darüber hinaus ist die rein sprachliche Formulierung in der neuen Ausgabe viel reifer als früher - den manchmal "leicht besserwisserischen" Unterton der alten Ausgabe (zum Beispiel im Abschnitt über Dietrich Fischer-Diekau) empfinde ich nicht mehr.


    Einziger Nachteil der großartig ausgestatten vier Bände: ein Index findet sich nur im letzten Band. Das ist zwar insofern verständlich, als allein das Sängerverzeichnis einen Umfang von 43 Seiten hat - allerdings kann man auf diese Art nicht einen einzelnen Band z.B. mit in den Urlaub nehmen (wann aber sonst soll ein normaler berufstätiger Mensch sich mit solch einem Werk beschäftigen?) - für ein vernünftiges Lesen muss Band 4 immer dabei sein. Aber diese Kritik ist angesichts der imponierenden Gesamtqualität schon reichlich beckmesserisch...


    Gruß
    Pylades

    Hallo Martin,


    Zitat

    Original von Philhellene:


    Der Sänger des Großinquisitors darf auf keinen Fall jugendlich klingen, aber ich stelle es mir sehr apart vor, wenn er stimmlich deutlich über seinen Zenit hinaus ist. Er muss allerdings mit schauspielerischer und stimmlicher Autorität aufwarten können, das schon. Aber er darf ruhig grob, ohne Agilität, mit Mühe, hässlich singen, um diese Rolle auszuloten - und dafür brauche ich keinen Star, oder nur einen ehemaligen.


    Dass der Sänger der Partie des Großinquisitors kein „Schönsänger“ sein muss, kann ich nachvollziehen, dass er eine „alte“ Stimme haben und also über seinen stimmlichen Höhepunkt hinaus sein darf, finde ich auch, wobei das aber eher die Frage der Stimmfarbe ist als die „hässlichen“ Singens oder fehlender Agilität - zumindest die richtigen Töne sollte er schon treffen. Aber was ich eigentlich in meinem Beitrag weiter oben meinte ist, dass er vom Volumen mindestens mithalten kann: ín dieser Hinsicht muss der Großinquisitor dem Philipp Paroli bieten oder ihn an den Höhepunkten sogar überbieten können.


    Es gibt eine Gesamtaufnahme des Don Carlo aus dem Jahre 1965 unter Georg Solti, in der Nikolai Ghiaurov den Philipp und Martti Talvela den Großinquisitor singt – für mich eine Traumbesetzung. Dieser Großinquisitor lässt Philipp in keiner Weise die Oberhand, und sein schwarzer Bass verbreitet eine Aura von absoluter Unnachgibigkeit, Einseitigkeit und Härte. Darüber hinaus wird immer gesungen und nie mit außermusikalischen Mitteln gearbeitet.


    Auch die Aufnahme (in der französischen Originalsprache) unter Claudio Abbado von 1984 mit Ruggero Raimondi als Philipp und Nikolai Ghiaurov als Großinquisitor „passt“ stimmlich: der Großinquisitor verströmt deutlich mehr „Autorität“ als der König, obwohl Ghiaurov zu dieser Zeit über seinen sängerischen Höhepunkt hinaus war.


    Gruß
    Pylades

    Die „wirkliche“ Macht im Staate


    Hallo zusammen,


    Macht lässt sich auf viele Arten beweisen. In Don Carlo demonstriert Filipp II. in der Autodafé-Szene die Macht seiner Königsherrschaft: die Granden der spanischen Monarchie stehen bei seinem Auftritt Spalier, und zur Abschreckung werden Todesurteile auf dem Scheiterhaufen vollstreckt, und das Volk hat zuzuschauen und zu jubeln, aber bei all dem hat gerade diese Szene etwas Hohles, etwas Unwirkliches und nicht recht Überzeugendes. Das zeigt sich an diversen Kleinigkeiten, z.B. daran, dass es überhaupt Ketzer gibt, die gemäß der Vorstellung des Königs verbrannt werden müssen. Offensichtlich reicht sein Terror nicht aus, um auch in Glaubensfragen die „absolute“ Herrschaft nicht nur zu beanspruchen, sondern sie auch zu erreichen. Und dann: vor dem Adel und dem Volk wird Philipp vorgeführt, dass er nicht einmal seinen Sohn wirklich im Griff hat. Trotz allem Pomp, trotz der Hinrichtungen, am Ende des dritten Akts (nimmt man die fünfaktige Fassung des Werks) ist klar, dass es um Philipps Anspruch auf absolute Macht nicht gut steht.


    Der nächste Akt rückt dann auch die Verhältnisse zurecht: bereits in der Eingangsszene zeigt sich, dass Philipp „eigentlich“ ein alternder Mann ist, dem das Leben zwischen den Händen zerrinnt, und er weiß dies auch. „Macht“ hat er nur auf Grund seiner ererbten Rolle, nicht auf Grund seiner Person – und es macht einen Teil seiner natürlich trotz Allem vorhandenen Größe aus, dass er sich dessen auch völlig bewusst ist. In der zweiten Szene dieses Akts gibt es dann allerdings eine Machtdemonstration der besonderen Art zu bewundern, die allerdings zelebriert nicht Philipp, sondern der steinalte und blinde Großinquisitor, der, nur von zwei Mönchen geleitet, Philipp in seinem Palast aufsucht, um ihm ganz klar zu zeigen, wer das Reich, in dem die Sonne nicht untergeht, regiert. Dazu benötigt er keinerlei Aufwand und er braucht auch keine Zuschauer bei der Szene. Was der Großinquisitor Philipp voraus hat, ist genau genommen Eines: die Idee des von Gott gewollten Staates ist bei ihm von keinerlei Gewissen angekränkelt – für diese Idee ist er zu jeder Grausamkeit bereit. Beide wissen darum, dass das für Philipp nicht gilt, dass es in Philipp eine „weiche“ Seite gibt, ein Bedürfnis nach Liebe und Freundschaft, der Großinquisitor hat diesen Anspruch nicht, und das gibt ihm die Stärke, Philipp, auf dessen Weigerung, den Freigeist Rodrigo auszuliefern, ins Gesicht zu schleudern:


    „König, wäre ich heute nicht hier in diesem Palast: beim lebendigen Gott; morgen stündet Ihr selbst vor mir im obersten Tribunal!“


    Zwar begehrt Philipp auf:


    „Priester, zu lange duldete ich deinen verbrecherischen Hochmut...“


    Aber der Großinquisitor stellt klar:


    „Ich!! habe diesem Reich zwei Könige gegeben!“


    und Philipp weiß, dass das stimmt, und er akzeptiert.


    Musikalisch ist die Rolle Philipps geprägt von dunklen Klangfarben, die allerdings vielfältig schimmern und irisieren. Von „Klangfarben“ kann man bei der Partie des Großinquisitors hingegen kaum reden, was diese Rolle braucht, ist „Schwärze“ und sonst nichts. Was nicht zu dem Irrtum verleiten darf, dass diese Partei „leicht“ zu bewältigen sei, im Gegenteil: der Sänger des Großinquisitors darf nicht jugendlich klingen, aber auch nicht „alt“ im Sinne irgend einer Schwäche. Er muss im Streit mit Philipp auch stimmlich die Oberhand behalten – was nicht einfach ist, wenn man bedenkt, dass Philipp meist von einem großen Star gesungen wird, der Sänger des Großinquisitors aber oft ein „Comprimario“ ist. Rafael Kubelik sagte einmal in einem Interview über die Partie des Komtur in Don Giovanni, sie müsse gesungen werden wie ein großer, schwerer Balken, der in das Theater rage – für die des Großinquisitors gilt das auch.


    Gruß
    Pylades

    Ein “königlicher Auftritt“ – der in dieser Oper gar nicht stattfindet…


    Hallo zusammen,


    eine verrückte Sache hat es mit einer Oper auf sich, die eigentlich überhaupt und genau nur Eines zum Ziele hat: einen „königlichen Auftritt “zu feiern, und zwar die Krönung eines Monarchen. Die Vorbereitungen für die Feier laufen von der Ouvertüre bis zum Finale auf Hochtouren, die Damenwelt hat, wie im wahren Leben - und die Oper handelt, wie wir noch sehen werden, im wahren Leben – kaum Anderes im Kopf als die entscheidende Frage, wie man sich dem Anlass entsprechend zu kleiden hat. Insbesondere das Hutproblem stellt sowohl das antreibende wie das retardierende Motiv für eine großartige Handlung dar, die darin besteht, dass sie nicht stattfindet. Ehrlich, eigentlich passiert gar nichts! Nebenher gibt es ein paar durch die aufgekratzten Ladies verursachte Streitigkeiten zwischen den männlichen Handlungsträgern, die sich aber letzten Endes ohne Blutvergießen nur in Worten äußern, von denen allerdings einige, wahrscheinlich durch erhöhte Testosteronwerte bedingt, auf dem hohen „C“ gesungen werden.


    Es handelt sich um die Oper „Il Viaggio a Reims“ – „Die Reise nach Reims“ - von Gioacchino Rossini. Das Werk spielt in dem Badeort Plombières, und es handelt von einer zusammengewürfelten Gruppe vorwiegend adliger Damen und Herren, die auf der Reise zur Krönung des französischen Königs Charles X., die 1825 in Reims historisch stattfand, in einem Hotel gestrandet sind, und, da die halbe Welt auf dem Wege nach Reims ist, keine Pferde für die Weiterreise bekommen. Und damit ist auch schon so ziemlich die gesamte Handlung erzählt.


    „Königlich“ an dieser Oper ist gleich Mehreres: die Dekadenz der gezeigten Gesellschaft hält jeden Wettbewerb aus, sogar den mit unserer Zeit, die sich in dieser Hinsicht weiß Gott nicht verstecken muss - die britischen „Royals“ und die „Yellow Press“ lassen grüßen. Und die Ironie, mit der Rossini das Alles vorführt , ist ebenfalls königlich, und die Musik sowieso. Staatliche Präsentation kommt nicht zu kurz, Rossini hat nämlich musikalisch viele europäische Nationalhymnen verarbeitet. Dabei hat er - wohlgemerkt, bereits im Jahre 1825 - vorausgesehen, welches die "deutsche" Nationalhymne werden würde, nämlich Haydns gutes altes "Gott erhalte Franz, den Kaiser...", obwohl es einen deutschen Nationalstaat zu jener Zeit bestenfalls als Vision in einer Handvoll politischer Köpfe gab.


    Vom Gesang her ist dies eine der am problematischsten zu besetzenden Opern, die es überhaupt gibt: es gibt genau genommen zehn Hauptrollen, in denen so ziemlich die schwierigsten Partien gemeistert werden müssen, die Rossini je geschrieben hat, denn die Oper war tatsächlich für das Rahmenprogramm der historischen Feierlichkeiten zu Charles X. Amtseinführung gedacht, da durfte der Maestro bei der Besetzung tief in die Tasche greifen, und bei der Komposition hat er das weidlich ausgenutzt. Auch in unserer Zeit, in der das Rossini-Singen wieder „in“ ist, schafft es kaum ein Haus, ein adäquates Gesangsteam zu stellen, schließlich könnte zum Beispiel Juan Diego Florez nur eine Rolle singen, aber eine Besetzung dieser Güte braucht es für die anderen neun Hauptrollen auch. Übrigens, am Rande bemerkt: dies ist die einzige Oper, die ich kenne, in der gejodelt wird. Und welcher Opernstar kann das schon?


    Noch schwieriger als das Besetzungsproblem dürfte das der Regie zu lösen sein: was macht ein Regisseur aus einem Werk, in dem Nichts passiert?


    Wie auch immer: wer die Chance hat, „Il Viaggio a Reims“ auf der Bühne zu sehen, sollte sie nutzen – die kommt so schnell nicht wieder. Ein „königliches Vergnügen“ wird es allemal sein, Ehrenwort! Und in Hinsicht auf die anstehenden Amtseinführungsfestivitäten im Weißen Haus wäre ein solcher Opernbesuch die denkbar beste Abhärtung: danach weiß man, welcher Jahrmarkt der Eitelkeiten zum Beispiel im Fernsehen auf uns zukommen wird, und Nichts wird Einen mehr erschrecken.


    Gruß
    Pylades


    P.S.: Es gibt eine mehr als ordentliche Aufnahme des Werks mit dem „Chamber Orchestra of Europe“ unter Claudio Abbado aus dem Jahre 1985. Gesungen wird von einem richtigen Starensemble, u.a. mit Lella Cuberli, Cecilia Gasdia, Katia Ricciarelli, Lucia Valentini-Terrani, Edoardo Gimenez, Francisco Araiza, Leo Nucci,Samuel Ramey, Ruggiero Raimondi und Enzo Dara – hochachtbar , wie ich meine, obwohl sich seither einige Rossini-Stimmen entwickelt haben, die manches besser singen würden:


    Hallo zusammen,


    von Michael Korstick gibt es zwei neue Einspielungen:


    bei OEHMS erschienen ist „Vol. 5“ der im Entstehen begriffenen Gesamtaufnahme der Beethoven-Sonaten und Variationswerke für Klavier solo, diese CD enthält die Sonaten Nr. 11, 13, 14, 19 und 20:



    und bei hänssler die erste CD einer geplanten Reihe mit Werken für Klavier solo des französischen Komponisten Charles Koechlin:



    Nicht oft wird man vom selben Solisten in derart kurzer Zeit zwei so unterschiedliche Veröffenlichungen hören können!


    Die Beethoven-CD bietet insofern wenig Überraschungen, als die Einspielungen die gleichen Tugenden – manche im Forum werden sagen: Untugenden – haben, wie die ersten vier „Volumes“ der Serie: extreme Ausleuchtung der Dynamik (welche die klare, analytische Aufnahmetechnik gut unterstützt) und auch extreme Deutung der Tempi: sehr langsam in den langsamen Sätzen, vergleichsweise rasant in den schnellen, wobei die einmal gewählten Tempi kaum verändert werden, es sei denn, Tempowechsel sind notiert. Vergleicht man die Neueinspielung mit anderen Beethoven-Gesamtaufnahmen der letzten Zeit, so würde ich – sehr holzschnittartig und grob - das Spiel klassifizieren als vergleichsweise „perkussiv“ mit der Tendenz, alles Poetisch-Lyrische strikt zu vermeiden, zumindest, wenn es nur episodisch vorkommt und nicht den ganzen Satzcharakter bestimmt. Dieser Ansatz ist völlig anders als der von Andras Schiff, der sehr den Details der Sonaten nachspürt, und auch anders als die „orchestralen“ Aufnahmen Oppitz‘. Korsticks Beethoven-Auffassung am Nächsten kommt noch die Ronald Brautigams, wobei diesem angesichts der Verwendung des historischen Instruments eine andere und weitere Klangfarbenpalette zur Verfügung steht, allerdings nicht die dynamische Spannweite , die auf dem Steinway-Flügel möglich ist, so dass, obwohl Brautigams Tempi meist noch ein ganz kleines bisschen rascher sind als die Korsticks, die Dramatik bei diesem eher noch gesteigert ist.
    Allerdings: in einem Satz weicht Korstick massiv von der Lesart Brautigams ab. Ausgerechnet den ersten Satz aus Op. 27, Nr. 2, nimmt er sehr langsam. Was hier „richtig“ sein mag? – von der Tempoangabe „adagio sostenuto“ sind m.E. beide Lesarten gedeckt (eine Metronomisierung Beethovens liegt nicht vor), die Sicht Korsticks fördert den Eindruck einer Beschleunigung des musikalischen Prozesses über die gesamte Sonate und damit den einer zielbewussten Entwicklung, allerdings „zieht sich“ der erste Satz etwas.
    Die Sonaten op. 49, Nr. 1 und 2, sind sehr frühe Werke Beethovens, und Beethoven hat sie selbst nicht veröffentlichen wollen – die Veröffentlichung war ungefragt durch seinen geschäftstüchtigen jüngeren Bruders Carl erfolgt, was wohl zu einem massiven Krach zwischen den beiden geführt hatte. In Korsticks Darstellung sind die beiden Sonaten „vollgültige“ Werke, nicht nur Lehr- oder „Jugend“-Werke.
    Was mich an der CD stört: die Tatsache, dass der Name des Interpreten auf dem Cover größer gedruckt ist als der des Komponisten. Und dass auf „Vol 5“ schon wieder ein Porträt des Pianisten abgebildet ist, wäre auch nicht unbedingt nötig gewesen. Eigentlich sollte so etwas langsam aus der Mode kommen.


    Charles Koechlin, 1867-1950, Kompositionsschüler von Massenet und Fauré (Mitschüler waren unter Anderem Enescu und Ravel), wurde erst in den letzten Jahren einem breiteren Publikum bekannt. Michael Korstick schreibt in einem Text im (übrigens sehr informativen) CD-Begleitheft, dass er in seiner Jugend einmal ein Werk Koechlins in einem Konzert des Dirigenten Günter Wand erleben durfte, dann vor knapp zehn Jahren Klaviermusik für vier Hände kennen lernte und dass ihn seither der Komponist fasziniere. Koechlin, in eine musikalische Familie im Elsass geboren, studierte Ingenieurwesen, musste dieses Studium aber wegen einer schweren Erkrankung (Tuberkulose) abbrechen, und fand zur Komposition. Man kann ihn im weitesten Sinne bei all seiner Originalität als Spät-Impressionisten, als einen Musiker in der Nachfolge Debussys sehen, seine Kompositionen sind sehr vom Orchesterklang beeinflusst, den er meisterlich zu nutzen verstand, und der auch die vorliegenden Werke für Klavier solo prägt, die kennen zu lernen unbedingt lohnt!
    Wie Korstick schreibt, sind die vorliegenden Stücke teils außerordentlich schwierig zu spielen, weil der Komponist zwecks Erzeugung eines orchestral inspirierten Klangbilds durch Nutzung der gesamten Klaviatur fast keine Rücksicht darauf nimmt, was Pianistenhände noch „greifen“ können. Diese Schwierigkeiten äußern sich aber nie durch virtuoses Donnern – aufs erste Hören kling das eigentlich Alles eher leicht, nie „schwitzend“, sondern immer duftig, und mittlere Lautstärke wird kaum einmal erreicht und fast nie überschritten. Hat man die Beethoven-CD im Ohr, man glaubt nicht, dass der selbe Interpret diese oft pastellenen Klänge produziert. Französische Musik des zwanzigsten Jahrhunderts scheint Korstick zu liegen, wie schon seine Aufnahme der Werke für Klavier und Orchester von Darius Milhaud bewies.
    Einziger Wermutstropfen an der auch klangtechnisch großartig gelungenen CD: dass nicht vermerkt ist, welcher Flügel bei der Aufnahme benutzt wurde (- ich vermute, dass es sich um einen Steinway handelt, bin aber angesichts der Klangfarbigkeit nicht ganz sicher. Zumindest ist das Klangbild deutlich anders, „weicher“ als das der Beethoven-CD.) Schließlich ist eine Aufnahme von solchem editorischen und interpretatorisch-klaviertechnischen Rang immer das Ergebnis einer Teamarbeit, nicht nur das der Arbeit eines Pianisten, und neben diesem und den Verantwortlichen für Produktion und Technik gibt es auch noch den Lieferanten für das Instrument und einen Zuständigen für dessen Technik, darüber hinaus auch noch eine Redaktion für das Booklet. Ich finde, alle Beteiligten sollten namentlich genannt sein.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    wenn es um Dinge geht, die "eigentlich" objektivierbar sein sollten, bin ich immer wieder erstaunt zu lesen, "was Andere hören", und daher bin ich dementsprechend dankbar, wenn jemand - in sparachlicher Beschreibung wiedergegeben, anders geht es ja nicht - Ähnliches zu hören glaubt wie ich selbst.


    Lese ich, wie von Christian zitiert, dass Brautigams Beethoven-Darstellung unter "fehlender Transparenz" leide, dann würde ich die Kritikerin gerne fragen, was sie denn nun genau meint. Man mag ja über seine Einspielung unterschiedlicher Meinung sein, aber "fehlende Transparenz"???


    Gerade heute morgen gibt es zur neuesten Einspielung (Vol. 6) der Brautigam-Serie auf Klassik.com eine Kritik zu lesen, in der man vom Autor, Tobias Pfleger, findet: "So schöpft Brautigams Lesart der so genannten ‘Waldstein-Sonate’, der C-Dur-Sonate op. 53, ihre im musikalischen Material angelegte Kontrastschärfe in hohem Maße aus den Klangdimensionen des McNulty-Hammerflügels. Vor allem der deutliche Unterschied zwischen den klanglichen Registern, die staubtrockene Attacke im Bass, der kernige Diskant und die Möglichkeit der Klangveränderung mittels der Pedale stehen für die Klangschattierungen in der Interpretation Ronald Brautigams ein." Das kann ich gut nachvollziehen, denn das höre ich auch so: Kontrastschärfe, unterschiedliche Register. Dazu passt "fehlende Transparenz" nicht wirklich.


    Auch eine Beschreibung "nervös-ausgeklügelt" für die Interpretationen Michael Korsticks halte ich für absurd: wenn es eine Eigenschaft in Korsticks Darstellungen gibt, dann doch die der Konsequenz in der Stetigkeit von Tempo und Klang. Von einigen Forumsmitgliedern (nicht von mir, ich finde diese sowohl intellektuelle wie auch "pianistisch-handwerkliche" Konsequenz großartig und höchst Beethoven-adäquat) wird seinem Spiel doch eher "Sturheit" oder "mangelnde Sensibilität" attestiert.


    Mit anderen Worten: auch wenn man sich durchaus für die Sicht professioneller(?) Kritiker interessiert: selbst hören und ein eigenes Urteil bilden bleibt einem nicht erspart (dem Himmel sei Dank!).


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    von La Valse gibt es eine Fassung für Soloklavier, eingerichtet vom Interpreten auf Basis der Klavierskizze Ravels, des peruanischen Pianisten und Celibidache-Schülers Juan José Chuquisengo (aufgenommen im Jahre 2002, erschienen bei Sony):



    Diese Fassung, davon bin ich überzeugt, hätte auch Ravel gefallen, insbesondere, wenn sie so gespielt wird wie von Chuquisengo: fulminant virtuos, dabei aber enorm klangsinnlich, bis in den Absturz in die Katastrophe, wie ihn auch ein Orchester kaum soghafter hätte darstellen können - unterstützt von einer adäquaten Klangtechnik.


    Die CD enthält weitere Werke Ravels:
    - la mère l'oye,
    - gaspard de la nuit,
    - pavane pour une infante défunte und
    - jeux d'eau,
    alle auf gleichem Niveau interpretiert. Eine ganz große Aufnahme eines eher unbekannten Pianisten.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    ich finde es geradezu großartig, dass Wotans Rolle ambivalent bleibt in Hinsicht auf die Frage, ob er denn nun "(Staats-)Macht zu repräsentieren" oder eher für seine "individuellen Probleme" einzustehen hat - es ist sicher von beidem etwas daran: als oberstem Gott ist ihm zweifellos große Macht zu eigen, wenn diese auch in erheblichem Rahmen gezügelt ist. Und dass die eigentliche Herrin im Hause Fricka ist, daran gibt es, wie in jeder anständigen Ehe, natürlich auch keinen Zweifel...


    Mein Beispiel aus dem Eröffnungsposting war aber schlecht gewählt: Wotans erstes Auftreten in der Walküre zeigt ihn tatsächlich nicht "Macht repräsentierend", sondern zutiefst in sein eigenes Versagen verstrickt. Die Stelle in der in der Walküre, in der sich (Staats-)Macht geradezu unverschämt äußert, wenn auch nicht in einer statischen Präsentation, sondern mitten in dynamischer Ausübung, ist natürlich der Walkürenritt! - nicht umsonst die Idealmusik für jede Militärparade, finde sie in Nürnberg, in Moskau, in Washington oder in Pjöngjang statt. Und mit dieser Musik beweist Wagner, dass er dies Feld auch im "Ring" nicht kampflos seinem italienischen Konkurrenten überlassen wollte.


    Gruß
    Pylades

    "Königlicher Auftritt“ – oder: wie die Staatsmacht sich in der Oper feiert


    Hallo zusammen!


    Zitat

    Original von Gurnemanz:
    Mir fällt da spontan Mussorgskis Boris Godunow ein, die Krönung des Boris ganz am Anfang. Allerdings wird nicht verschwiegen, daß das Volk zum Feiern geprügelt wird (zumindest mit entsprechenden Drohungen), daß es hungert und verzweifelt ist und sich nach dem Retter sehnt, vergeblich. Die Krönungszeremonie im Kreml höchst pompös - und eine Oper, die das Auftreten staatlicher Macht so sehr thematisiert, daß das nicht einmal, wie sonst in Opern üblich (Verdi...), durch Liebesgeschichten modifiziert und personalisiert wird.


    - Wunderbar! Im Boris findet tatsächlich eine staatliche Machtdemonstration "pur" statt - quasi als Konzentrat der Sache, und das im allergrößten Stile.


    - Ein Beispiel dafür, dass "staatliche Machtentfaltung" nicht nur im Großen, bei den obersten Machthabern, stattfindet, sondern auch im Kleinen, lässt sich in Bizets Carmen verfolgen, und zwar im ersten Akt, bei der Wachablösung. Parallel zum militärischen Zeremoniell wird genau dieses Zeremoniell durch die Gassenjungen, die die Soldaten nachspielen, aufs Köstlichste ironisiert, und die doppelbödige Musik tut das ihrige, indem sie den durchaus ernst gemeinten Militärmarsch auch als Kindermusik klingen lässt. Die Soldaten ertragen das erstaunlich gelassen - so etwas hätte sich das Volk beim Zar Boris nicht erlauben dürfen - offensichtlich sind deren Gedanken eher beim Feierabend als beim Parademarsch. Dem Offizier Zuniga gibt das von Anfang an etwas Humanes - in einer Inszenierung der Carmen habe ich einmal gesehen, wie dieser als der Bösewicht der Oper dargestellt wurde, als Verursacher für all das Schlimme, was Carmen und Don José passiert, was nach dieser Szene eigentlich nicht sein kann, und was natürlich auch das individuelle Schicksal der Protagonisten banalisiert.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    für Opernszenen, in denen die Staatsmacht sich selbst feiert und sich zugleich feiern lässt, ist meiner subjektiven Meinung nach Giuseppe Verdi der größte aller Komponisten. Allein schon das, was er in Don Carlo auffährt, würde für diese Beurteilung voll und ganz ausreichen: mal ganz abgesehen vom Tableau der Autodafé-Szene gibt es auch noch die Szene im Kloster von San Yuste zwischen Posa und dem Infanten, in die der Auftritt des Herrscherpaars hereinplatzt –und was für ein Auftritt! – der echte Philipp II wird nicht spektakulärer erschienen sein. Der musikalische und szenische Aufwand ist enorm, und er ist auch für uns noch überaus mitreißend.


    Nun ist es aber so, dass derartige Szenen bei Verdi auch fast immer einen kritischen Beigeschmack haben. Der Maestro wusste zwar, dass die Staatsmacht sich feiern lässt und dass ihr bei Machtdemonstrationen keine musikalische und erst recht keine finanzielle Investition zu hoch ist, aber immer ist dem Nonkonformisten Verdi klar, und das ist auch hörbar, dass mit dem Aufwand etwas „Unechtes“ verbunden ist, etwas, was Menschen, auch Königen, eigentlich nicht zusteht.


    Und Verdi hat eine Menge solcher Momente komponiert, von seinen frühesten Opern an, sei es die Eingangsszene aus Alzira oder , ebenfalls als Eingangsszene, das Triumphgelage des Attila, bis hin zur Senatsszene des Simon Boccanegra, der Siegesfeier in Aida und der Empfangsszene des Ludovico im Otello.


    Vergleicht man mit Philipps Auftritt zum Beispiel den des Wotan im zweiten Aufzug der Walküre, dann wird man zugeben müssen, dass Wagner es, all dem ihm oft unterstellten Bombast zum Trotz, deutlich bescheidener angehen lässt. Beethoven dagegen lässt es sowohl bei Pizarros wie dann später auch bei des Ministers Auftritt mächtig krachen – da hat Verdi schon ziemlich gut hingeschaut.


    Wem fallen weitere „Repräsentationsszenen der Macht“ ein? – und wie kann man deren Funktion im Drama einordnen? – kann man sie vielleicht klassifizieren? Und gibt es am Ende gar Hörempfehlungen? – und wie man diese auch noch therapeutisch einsetzen kann?


    Ein Beispiel: wenn ich mich wieder mal an einer Verdi’schen Prunkszene sattgehört habe und das Fernsehen einschalte, dort beim Zappen auf einem Nachrichtenkanal lande, auf dem ein Politiker sich und seine Partei feiert für all die Wohltaten, die er mir durch seine selbstlose Tätigkeit hat zukommen lassen, dann muss ich mich einfach abreagieren, und dann landet der Auftritt der griechischen Könige – „Vioci les rois de la Gréce!“ - aus La belle Hélène im CD-Player, eine der wahrhaft königlichsten Veralberungen aller Machtauftritte, die jemals geschrieben wurden. Was Offenbach dabei aus seinem kleinen Orchester holt ist umwerfend und zeugt von höchster Instrumentierungskunst, und er kennt seine Pappenheimer Verdi und Berlioz. Und wenn dann in der darauf folgenden Rätselszene die verstimmten Kindertröten dazukommen (in der Minkowski-Aufnahme einfach hinreißend), dann geht es mir wieder besser.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    von guten Sachen - hier vom Heiraten - kann man bekanntlich nie genug haben. Daher mein Vorschlag: gleich zweimal wird in Don Pasquale geheiratet, was ja vielleicht noch nicht wirklich ungewöhnlich ist, aber in diesen Falle beide Male die selbe Frau! - zumindest steht die zweite Eheschließung ganz zum Ende der Oper kurz bevor. Wäre doch vielleicht auch mal ein Vorbild für real existierende Tamino-Mitglieder...


    Wobei man allerdings beim Heiraten stets daran denken sollte, dass nach dem Heiraten das Verheiratetsein kommt, dass auch nach der schönsten Hochzeit ein Alltagsleben zu zweit bewältigt werden muss. Aber auch dafür bietet die Oper hervorragende Beispiele, sowohl dafür, wie man das richtig macht - ich nenne jetzt nur mal Les deux Journées von Cherubini - wie auch solche, die vorführen, wie man es besser nicht tun sollte: das überzeugendste Beispiel hierfür stellt sicher der Ehealltag des Oberboss aus dem Ring der Nibelungen dar.


    Will man die Hochzeitsfeier tatsächlich mit einer Oper beschließen, gleichzeitig etwas zu Lachen haben, trotzdem dabei fürs Leben lernen, dann schlage ich Il Turco in Italia vor. Denn wenn auch zwischen Fiorilla und Geronio nicht Alles zum Besten läuft, ein Hauptspaß ist es doch, wobei daran Rossinis Musik allerhöchsten Anteil hat. Und wirklich schlecht geht's ja auch nicht aus. Viel Vergnügen!


    Gruß
    Pylades

    Lieber Peter,


    Zitat

    Original von Peter:
    [...] Er [Verdi] bekam ja zumeist vom Impressario das Textbuch und er musste komponieren, das auch beim "Alzira", aber auch den anderen Opern der "Galeerenjahre", wie er sie retorspektiv bezeichnete.


    so einfach ist es meiner Meinung nach nicht - auch wenn der Meister selbst das gerne im Rückblick so darstellte. Verdi legte in dieser Zeit, zwischen 1840 und 1850, den Grundstein für seinen später beträchtlichen Reichtum, und 1845 war er schon kein armer Mann mehr. Es gab, was die Qualität der Libretti anging, sicher Komponisten, die mehr Skrupel hatten als der junge Verdi, und zwar sogar solche, denen es schlechter ging.


    Dennoch glaube ich nicht, dass Verdi "wahllos" zur Sache ging und dass ihm die Qualität egal war. Verdi wollte diese Texte vertonen, und zwar deshalb, weil ihm die Handlung in gewisser Weise gleichgültig war. Er wollte, ganz im frühromantischen Sinne, Emotionen vertonen, die Logik der Stoffe interessierte ihn nicht so sehr, und "Alzira" ist eine Vorlage, die ihm dafür geeignete Bilder und Schablonen bot. Ich vermute, dass er sich über das Alles auch völlig im Klaren war, Verdi war nämlich weder ungebildet noch unbelesen (obwohl er nach Außen hin gerne das Image des "einfachen Mannes vom Lande" pflegte).


    Erst etwas später begann Verdi, das "Schablonenhafte" zu meiden, und so griff er zu literarischeren Libretti - wobei aber selbst in einem späten Werk wie im "Simon Boccanegra" das emotional Bildhafte, die Darstellung der großen Gefühle, noch Vorrang vor einer stringenten Handlung haben. Und noch in seiner "logischsten", folgerichtigsten Oper überhaupt, im Otello, versuchte Verdi seinen Librettisten Boito zu bewegen, zum Ende des zweiten Akts, als "Höhepunkt" vor der Pause, einen Überfall der Türken in den Shakespeare-Stoff zu montieren. Boito hat Verdi überzeugen können, dass dies denkbar ungeeignet gewesen wäre (nachzulesen im Briefwechsel zwischen Verdi und Boito). Ich persönlich glaube (und halte das auch für einen sympathischen Zug des verehrten Maestro), dass er in Hinsicht auf die Stoffwahl seiner Opern ein "Überzeugungstäter" war...


    Gruß
    Pylades

    Hallo Peter ("oper337"),


    dein Tipp, in die Aufnahme der Alzira unter Lamberto Gardelli (mit Ileana Cotrubas, Francisco Araiza, Renato Bruson und Jan-Hendrik Rootering in den Hauptrollen) nicht nur hinein- sondern sie ganz anzuhören, ist auf fruchtbaren Boden gefallen: ich habe mir die Aufnahme beschafft, und bin begeistert!


    Natürlich ist das Textbuch, wenn man es genau nimmt, ein Schmarren und nichts Anderes als ein Gerüst "moralisch-dramatischer Situationen", an denen Verdi seine emotionsgeladene Musik aufhängen kann - immerhin hat der Librettist Salvatore Cammarano schön dahinrollend klingende Verse geschrieben, aber auf den Inhalt konzentriert man sich besser nicht allzu genau.


    Gesungen wird jedenfalls in dieser Aufnahme (aus dem Jahre 1982) überragend: Araiza war noch in richtig guter Verfassung, Cotrubas in Top-Form, Bruson "at his best", was bei den Qualitäten gerade dieses Baritons etwas heißen will, und selbst Rootering, dessen eigentlich höchst beeindruckende Stimme ich "live" auf der Bühne öfter als ziemlich ungefüge und roh empfunden habe - was in den richtigen Rollen durchaus großartig sein kann - singt stilistisch sehr schön.


    Zur Zeit der Entstehung der Oper (1845) war der "Spät-Belcanto" im Sinne Bellinis oder Donizettis im Untergang begriffen, und einer der Hauptverursacher dafür war Verdi. Immerhin dürften sowohl Verdi wie auch das damalige Publikum eine Erinnerung an den Gesang dieses Stils gehabt haben. Uns erlaubt diese Aufnahme eine Ahnung dessen, was wohl in jenen Zeiten des Umbruchs des Gesangs auf höchstem Niveau zu hören gewesen sein mag. Ein Fest für jeden Stimm-Fetischisten!


    Gruß
    Pylades

    Appassionata-Einspielung von R. Brautigam


    Hallo zusammen,


    Zitat

    Original von Caesar73:
    …Nun hat Ronald Brautigam den Interpretationen eines Friedrich Gulda, eines Emil Giles, eines Svjatoslav Richter eine ebenbürtige Lesart (soweit hänge ich mich jetzt einmal aus dem Fenster) hinzugefügt…


    Kann man sich höheres Lob für eine neue Aufnahme vorstellen? – ich nicht. Aber es stimmt!! Auch wenn die bisherigen Einspielungen im Rahmen der Gesamtaufnahme der Beethoven-Sonaten durch Ronald Brautigam bereits überzeugten (wobei meine persönliche Ansicht ist: nicht wegen – eher sogar trotz - der verwendeten historischen Instrumente, sondern wegen der kompromisslosen und wie ich finde sehr „Beethoven-nahen“ Sicht auf die Kompositionen), so stellt die Einspielung der Appassionata bislang den Höhepunkt der Reihe dar. Dem Posting von Christian kann ich mich nur anschließen – und vielleicht ergänzen, dass das, was er über das Andante sagt, eher unter- als übertrieben ist: für mich ist eben dieses Andante in Brautigams Interpretation tatsächlich das Zentrum der ganzen Sonate. Das Destruktive und der Pessimismus dieses Satzes übertreffen noch die beiden Außensätze, weil darin nichts durch manuellen Aufwand oder rasende Energie überspielt werden kann. Und genau dadurch, dass das Andante keinen lyrischen Ruhepunkt bietet, hat Brautigams Darstellung der Appassionata als einem musikalischen Prozess, der sich zu seinem Ende hin entwickelt, etwas ungeheuer Konsequentes.


    Eine herausragende Aufnahme! Und wenn sie auch vom interpretatorischen „Mainstream“ denkbar weit entfernt ist: künftige Einspielungen werden sich, wie auch immer, an ihr messen lassen müssen.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    Zitat

    Original von musicophil:
    ...bleibt die Frage ob man andere Gesichtspunkte sowieso vertreten muß. Ob nicht das Libretto ausreicht. Und ob es heute nicht mehr möglich ist, Beethovens Gesichtspunkt noch darzustellen.


    Natürlich muss man nicht. Aber zum Wesen der Kunst gehört auch, neue Wege einzuschlagen, wenn sie plausibel und dabei vom vorhandenen Material gedeckt sind. Und natürlich reicht das Libretto aus - ich will duchaus nicht, dass völlig neue Texte in die Opern montiert werden! Auf der anderen Seite: kein Libretto der Welt ist, was die Regie angeht, so eindeutig, dass damit bereits Alles getan wäre. Dieses Problem der Inszenierung gibt es bereits bei der Uraufführung und auch schon bei jeder Aufführung zu Lebzeiten des Komponisten.



    Zitat

    Original von Fairy Queen:
    ...was fehlt deines Erachtens der Musik der Clemenza an wesentlicher Qualität?


    Liebe Fairy Queen, es ist genau das, was das Libretto der "Clemenza" nicht zulässt, und was es sonst bei Mozart so reich wie bei keinem anderen Komponisten zu bewundern gibt: die Nutzung der Musik als dem Medium, welches die tiefsten Schichten der handelnden Charaktere offenlegt, kommentiert und häufig ironisch bricht.


    Wenn zum Beispiel Figaro dem Cherubino im "Non piu andrai..." die Glorie des Soldatenlebens ironisch vorführt, weil er sich damit dafür rächen kann, dass der junge Mann ja gerade eben noch seine, Figaros, Braut angebaggert (und geküsst) hatte, dann fährt Mozart eine grandiose militärische Musik auf, die diese Glorie tatsächlich als erreichber, fast bereits als gegeben nimmt - vor dem zynischen Text der Arie kann man dies aber doch wohl nur als Zynismus noch höheren Grades bezeichnen. Leben und Kunst, Lüge und Wahrheit kommen in diesem Moment auf höcht humane Weise zusammen - und für uns ist dieser Moment nicht wirklich auslotbar.


    Das Libretto der "Clemenza", das statt Charakteren eigentlich nur handelnde Typen, man kann auch sehr negativ sagen: Pappkameraden, zur Verfügung stellt, gibt Mozart gar nicht die Möglichkeit, seine Differenzierungskunst anzuwenden, und es bleibt daher bei der schematischen Zeichnung der barocken Affekte. Dass Mozart trotz alldem eine Musik geschrieben hat, die in Ihrem Erfindungsreichtum, ihrer Orchestrierung und ihrer Luzidität großartig ist, bestreite ich in keiner Weise.


    Gruß
    Pylades

    Lieber Ulli,


    vorweg: deine Sicht achte ich sehr hoch, und ich halte es auch für wichtig, dass dieser Standpunkt immer wieder mal vertreten und in den Opernalltag umgesetzt wird. Es handelt sich um einen wissenschaftlichen-historischen Standpunkt, der die Verbindung zu den Wurzeln eines Kunstwerks erhält.


    Auf der anderen Seite: würde nur dieser Standpunkt zählen, dann wäre die Oper heute nurmehr eine museale Kunst und es gäbe keine heutige aktuelle Opernkunst mehr (mit Ausnahme der paar zeitgenössischen Werke, die zu unserer Zeit gerade entstehen). Und dieser Gedanke ist mir doch einigermaßen fremd. Muss man wirklich Beethovens Sonaten heute so spielen, wie sie "damals" gepielt worden sind? Und was ist dann mit der "utopischen" Kraft solcher Werke? - Mit Verlaub: ich glaube nicht, dass die Sicht auf das "...wie es der Komponist beabsichtigt hat!" wirklich "differenzierter" ist als eine Sinnsuche für unsere Zeit - große Kunstwerke bieten nämlich so einen Sinn.


    Erfolg ist als Qualitätsmaßstab für Kunst völlig ungeeignet, denn wäre dies der richtige Maßstab, in "Tamino" würde ausschließlich über Britney Spears oder Michael Jackson geschrieben. Und dennoch: im Falle der "Clemenza" und der Da-Ponte-Opern bin ich geneigt zu sagen: die Da-Ponte-Opern sind besser als der Titus, der eben nicht so genial ist, eben weil die "Seria" bereits toter als tot war und Mozarts Charakterisierungkunst keinen Angriffspunkt bot - Wesentliches der Qualität Mozartscher Opernmusik fehlt eben doch, und als Folge ist der Titus weniger "erfolgreich" geworden.


    Und was das "Feeling" des heutigen Publikms für "Krönungsopern" bedeuten könnte, habe ich im Mord-und-Totschlag-Thread bereits ironisiert: zuletzt wird es wohl das Feeling eines Parteitags vor der nächsten Wahl sein...


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    Zitat

    Original von Ulli:
    …Daß eine "Regie" eingreifen muß, dazu noch massiv, ist kompletter Unfug. Aber Du bist mit Deiner Meinung nicht alleine…


    Oper ist eine Mischkunst, wenn man will, eine „Gesamtkunst“,, welche Musik, Literatur, Theater im weitesten Sinne sowie Bilder zusammenführt. Aus dem Anteil „Theater“ folgt meines Erachtens unwiderleglich, dass „Regie“ eine äußerst wichtige Teilkomponente der Oper darstellt. Bei alldem glaube ich nicht, lieber Ulli, dass unsere Sichtweisen sehr weit auseinander liegen. Ich plädiere nämlich überhaupt nicht für jeden „Modernisierungs“-Schwachsinn, den sich Regisseure einfallen lassen können. Ich plädiere allerdings dafür, dass die Aussage eines Stücks für das Publikum unserer Zeit sichtbar werden soll, selbst wenn das mit einer Deutungsverschiebung gewisser Einzelheiten erkauft werden muss.
    Zur Illustration: in Fidelio geht es meines Erachtens auch und vor Allem um das Thema „Liebe“ zwischen zwei Menschen. Diese Liebe konnte sich Beethoven nur als „Gattenliebe“ vorstellen – ich denke, dass angesichts der Änderungen in der Sichtweise seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts hier auch andere Gesichtspunkte möglich sind. Und insofern, wenn ein Regisseur aus der Gattenliebe eine homosexuelle Liebe werden lässt, aus der Leonore einen Leo, dann ist das vielleicht Blödsinn, aber immer noch richtiger, als wenn er, wie ich es selbst auf der Opernbühne gesehen habe, daraus eine rein gesellschaftskritische KZ-Geschichte macht (die zu einem Teil auch in der Oper steckt), aber das Thema der Liebe zwischen zwei Menschen außen vor lässt.


    Nun geht es im vorliegen Thread um die Verständlichkeit bzw. Unverständlichkeit von Libretti. Und da behaupte ich von „La Clemenza di Tito“, dass er als „Krönungsoper“ heute nicht mehr verstanden werden kann – und das liegt auch und vor Allem am Libretto. Nun bin ich sicher, dass die Oper, wäre es um die Inthronisation Josephs II gegangen, ganz anders gestaltet wäre. Josephs Nachfolger Leopold war Mozart offensichtlich als Mensch und Kaiser gleichgültig (und vielleicht verachtete er ihn sogar), außer, dass er ihn als Brötchengeber brauchte. Vielleicht wäre das sogar ein Interpretationsansatz, der einen Sinn dieser Oper in unsere Zeit transportieren könnte: in einer Aufführung Mozarts Gleichgültigkeit gegenüber dieser Staatsmacht namens Leopold zu zeigen und gleichzeitig seinen Zwang, sich um eine Stelle bei eben dieser Staatsmacht zu bemühen.


    Zitat

    Original von Ulli:
    Wer anderes als Mozart konnte zu dieser Zeit Charaktere musikalisch besser zeichnen?


    Ganz sicher niemand – aber das macht es ja gerade so schade, dass angesichts eben dieses Librettos die psychologisierende Charakterzeichnung praktisch keine Chance hat außer im Sinne einer sehr schematischen barocken "Affektgestaltung", und deswegen nur die grandiose Musik, quasi als „absolute Musik“, bleibt.


    Gruß
    Pylades

    Hallo zusammen,


    Zitat

    Original von Waltrada:
    Bei "Titus" habe ich auch kein Problem mit der Handlung, allerdings dürfte das Happyend aus heutiger Sicht, die eher pessimistisch ist und Einstellungen wie Rache fördert, nicht mehr zeitgemäß sein.


    Zitat

    Original von Severina:
    "unverständlich" bezieht sich meiner Meinung nach nicht auf die Handlung an sich, der man natürlich problemlos folgen kann, sondern auf die ihr innewohnende Logik...


    So wie Severina es deutet, meinte ich meinen "Verriss" der "Clemenza di Tito" im Mord-und-Totschlag-Thread eigentlich. Sicher lässt sich die Oper verstehen im Sinne von "Was geschieht als Nächstes?" auf der Bühne. Nicht recht verstehen lässt sie sich aus den Motiven der Handelnden, und erst recht nicht aus den musikalischen Motiven.


    Aber sicher ist sie da in "guter" Gesellschaft - z.B. einer ganzen Menge Barockopern. Die aktuelle Theaterwirksamkeit von Händel-Opern ließe sich nicht erklären, würde hier die "Regie" nicht massiv eingreifen - Händels Musik und die zugehörigen Libretti halten das nicht nur ganz gut aus, sie fordern die Herstellung von Bezügen zu unserer Erfahrungswelt geradezu - auch wenn Händel das so gar nicht gemeint haben kann.


    Einen interessanten Aspekt kann man bei Fidelio wahrnehmen: über die ganze Oper gesehen gibt es einige Handlungsstränge, die nicht recht motivisch miteinander verknüpft sind, aber...die Kerkerszene!!! - Vom Vorspiel zu Florestans Rezitativ bis hin zum Trompetensignal, welches die Ankunft des Ministers ankündigt, ist sie vielleicht die konziseste, dynamischste und folgerichtigste Opernszene, die überhaupt je komponiert worden ist, und Text und Musik bilden hier eine perfekte Einheit. Zu dieser Szene stehen das singspielhafte Geplänkel am Anfang der Oper und dann auch das feierliche Ende mit der "ministerialen" Hymne und dem Jubelchor in keinem rechten Zusammenhang.


    Gruß
    Pylades

    Mordversuche, die das Leben nicht schöner hätte komponieren können…


    Hallo zusammen,


    der zu seiner Zeit hochberühmte Tenor Leo Slezak, zu seinen Lebzeiten einer der größten „Otellos“, was angesichts der Konkurrenz von Sängern wie Renato Zanelli etwas bedeuten will, war gewiss kein Dummkopf. Dennoch hatte er keinerlei Hemmungen dem Publikum zu gestehen, dass er, obwohl er die Rolle des Manrico viele Male gesungen habe, vom Inhalt des „Trovatore“ kein Wort verstanden hätte. Nun ist meine persönliche Meinung, dass die Handlung gerade dieser Oper gar nicht so unwahrscheinlich ist: sie spielt in der Zeit um 1400 in der Gegend von Zaragoza und hat die Thronfolgewirren nach dem Tode des aragonesischen Königs Pedro IV zum Thema. Kindesraub, Hinrichtungen ohne Federlesen, das wird es in den „hoch-religiösen“ Zeiten der Reconquista auf allen Seiten ausgiebig gegeben haben.


    Ein Opernplot voller geplanter Morde, die dann doch nicht stattfinden, und den ich für deutlich absurder halte, ist zum Beispiel das Libretto zu ausgerechnet des Erzdramatikers und musikalischen Menschendarstellers Mozarts „La Clemenza di Tito“. Gerade eben hörte ich mir die Oper an in der musikalisch und sängerisch hervorragenden Aufnahme unter Gardiner und verfolgte parallel dazu das Textbuch – was nach Kurzem ein Gefühl der Orientierungslosigkeit hinterließ.
    Daraufhin las ich mir die in einem der Booklet-Artikel zusammengefasste Handlung durch – und war beim Lesen massiv erinnert an Evelyn Hamanns Nummer als Ansagerin, in der sie dem staunenden Publikum eine Zusammenfassung der ersten und bereits gesendeten Folgen einer englischen Familien-Soap gibt und sich dabei hoffnungslos in den Tücken der englischen Phonetik verheddert. Ähnlich also ging es mir mit den Namen der Tito-Partien – wer von denen nun gerade welchen Mordplan mit welchen wie auch immer gearteten Gewissensbissen zusammenbraut oder abbläst, wer kann’s wissen? – Nur das der Kaiser Titus ein richtiger Gutmensch ist, das ist zum Schluss nicht zu verkennen, und wenn man den Zweck der Oper kennt, nämlich als Festoper bei der Inthronisation des Nachfolgers des von Mozart verehrten Kaisers Joseph II. zu dienen, dann reicht das ja vielleicht auch.
    Schön aber immerhin ist in dieser Oper, dass es zum Schlimmsten nicht kommt, und daher zählt sie sowohl in Hinsicht auf darin stattfindende Gewalt wie auch in Hinsicht auf Erotik zu den absolut jugendfreien musikdramatischen Werken, ist sie doch noch deutlich harmloser als zum Beispiel die „Zauberflöte“. Und sie hat den Riesenvorteil, dass man sich Mozarts phantastischer Musik – etwa der grandiosen Ouvertüre – ohne schlechtes Gewissen hingeben darf, während man nicht im Mindesten auf den völlig sinnentleerten Text achtet.


    Gerade in diesem Thread las ich kürzlich in einem Posting von Peter – „oper337“ – die vielleicht schönste Definition dessen, was Oper ist und sein kann: „…es ist ja ärger als beim Derrick!“. Für „La Clemenza di Tito“ gilt das nicht: zwar mörderisch verwirrend und chaotisch wie ein Parteitag, so endet sie doch harmonisch und voller Güte, man könnte fast sagen, wie ein Parteitag kurz vor der Wahl. Und genau wie auf einem Parteitag versteht der beeindruckte Zuschauer von dem, was sich wirklich abspielt, nicht das Geringste.


    Gruß
    Pylades