Hallo Tastadur,
Dank Dir für Deine hochinteressanten Hintergrundbericht. Als Nichtmusiker hört man ja von der Problematik recht wenig. 
Hallo Wolfgang,
ich hab mir nun in den vergangenen Wochen und Monaten eine Unzahl an CDs gekauft oder augeliehen, bei denen es mir um die in diesem Thread geschilderte Thematik geht. Und ich kam und komme aus dem Staunen nicht mehr heraus….
Russisches
Was mir durch die Namen Svetlanov, Mravinsky, Kondrashin und auch Rozhdestvendsky auf der einen, Namen wie Staatsorchester der USSR, Großes Radio & TV-Sinfonieorchester, Akademisches Sinfonieorchester der USSR, Orchester des Kulturministeriums der USSR, Leningrader und Moskauer Philharmoniker, Orchester des Bolshoi-Theaters Moskau aus den Jahren 1960-1980/85 so alles auf den Plattenteller gekommen ist, ist von ihrer Klangwirkung in der Tat unbeschreiblich. Am augenfälligsten ist der „Effekt“ tatsächlich bei russischem Programm, das wie gemacht für dies Orchester scheint. Vor allem die Bläser, die ja letztendlich die Klangwirkung erzielen, klingen signifikant anders als heute und der Musik und ihren Eigenheiten mehr gerecht werdend (Soweit ich mal gelesen hab, sind die russischen Versionen von Oboe, Klarinette und Horn an uralte historische Vorbilder (zB das Hirtenhorn aus der Region Vladimir, oder das Goozli) angelehnt, deren typischer Klang zwar weiterentwickelt, aber doch weitgehend beibehalten wurde).
Allzu Bekanntes wie die Rachmaninov’schen Sinfonien und sinfonischen Dichtungen, eine Sheherazade,
Prokofievs „Klassische“ Erste (!), Stravinskys Balette profitieren ungeheuer von den klanglichen Gegebenheiten (die aber zugegebenermaßen nicht immer ein Luxusklangbild bieten)und nicht zuletzt „braucht“ die typisch russische Musik Borodins, Glazunovs, Balakierevs, Arenskys usw geradezu diesen Klang. Auch Tschaikovsky unter Mravinsky oder noch mehr unter Svetlanov hört sich einfach spannender und authentischer an. Auch Shostakovichs Musiksprache schreit förmlich nach diesem Klang.
Auch wenn „unterm Strich“ zB die Rachmaninov-Einspielungen unter Ashkenazy in der Gesamtbeurteilung (Interpretation UND Klang) die zeitgemäßeren und vielleicht auch „besseren“ sind, so kommen sie doch, was die Stimmung angeht, nie und nimmer an die alten USSR-Aufnahmen ran. Es fehlt schlichtweg was.
Selbst Beethoven oder Wagner – oder wie kürzlich erst erstanden – Mravinskis Alpensinfonie erklingen hier in einem herrlich „anderem“ Licht. Auch wenn dies sicher nicht Aufnahmen sind, die im Kontext der ganz „Großen“ mithalten können.
Leider gibt es diesen Klang nicht mehr....
Böhmisches/ Tschechisches
Mindestens genau so augen- bzw ohrenfällig sind die „alten“ Aufnahmen mit den Vaclavs Smetacek, Talich, Neumann sowie Karel Ancerl und den Tschechischen Philharmonikern oder dem Sinfonieorchester Prag. Musik aus Böhmen und Mähren mag ich gar nicht mehr mit anderen Orchestern hören. Da die Musik der Meister Dvorak, Smetana, Janacek, Novak, Ryba, Suk uvm – wenn auch vielleicht nicht unbedingt gewollt – typisches Lokalkolorit in ihrer Musik pflegen, bedarf es fast dieses alten Klanges der genannten Orchester. Am deutlichsten wird dies mE an Dvoraks Sechster unter Smetacek, Dvoraks Neunter unter Ancerl, Dvoraks Sinf Dichtungen unter Talich. Die Liste ließe sich endlos weiterführen. Janaceks Sinfonietta oder Taras Bulba gibt es sicher in zwingenderen Aufnahmen, aber in keiner kommt das mährische „Gschmäckle“ so rüber wie bei Ancerl. Die genannte Auflistung ist natürlich vollkommen unvollständig. Ich (ich!) brauche keine Aufnahmen mehr aus Cleveland, aus London oder von mir aus Hollywood, soviel sicher berechtigte Meriten diese auch haben.
Auch wie die Tschechischen Philharmoniker der 1960er bis 1980er Jahre zB Mozarts Bläserkonzerte (Smetacek!), Beethovens Violinkonzert (Konwitschny), Stravinsky, Tschaikovsky, R. Strauß oder selbst Lalo (mit Ida Haendel!) zum Klingen brachten, lässt aufhorchen. Das macht einfach Spaß und Laune. Fast hätte ich die höchst faszinierenden Einspielungen der Sinfonien Gustav Mahlers vergessen. Vaclav Neumann und Karel Ancerl haben hier großartiges geschaffen und auf ihre Art klangfarbige Maßstäbe gesetzt.
Solch einen Klang gibt es - leider, leider - auch hier nicht mehr. Die heutigenTschechischen Orchester können hier nicht mehr ansatzweise mithalten.
Frankreich
In den vergangenen Monaten konnte ich mein Repertoire auch Dank Tamino auf Debussy, Ravel, Franck, Chausson, Ibert und all die anderen Franzosen ausweiten. Gekauft hab ich mir dann die (preiswert erhältlichen) Sammelboxen von Martinon und seinem Orchestre de Paris sowie (via unserer Stadtbibliothek) das nahezu vollständige (französische) Portfolio von Ernest Ansermet (dessen Orch de la Suisse Romande ich mal zu den französisch geprägten Orchestern zähle). Auch Michel Plassons Einspielungen mit dem Toulouser Orchester ist mittlerweile reich vertreten. Auch hier zeigt sich ein völlig anderer Orchesterklang als die weiter oben genannten Russen oder Tschechen. Allerdings kann ich diesen Klang nicht so in Worte fassen. Aber im Vergleich mit internationalen Spitzenaufnahmen hört man, dass es hier irgendwie „französischer“ (was immer das auch sein mag - aber bei dieser Musik hab ich eher Gusto auf einen Pastis als auf einen Wodka oder Becherovka
) klingt. Der Klang wird der Musik und ihrer Sprache erheblich gerechter.
Skandinavien/ England usw
Hier konnte ich, obwohl ich auch Musik aus diesen Ländern sehr gern höre, noch keine orchesterklanglichen Unterscheide ausmachen. Vielleicht liegt es an der Tatsache, dass ich kaum ältere (und eben noch nicht international geprägte) Einspielungen habe. Aus Barbirollis oder Sanderlings Gustav-Mahler-Einspielungen aus den 19060er und 1907er Jahren mit den BBC-Orchestern kann ich keinen „speziellen“ Klang heraushören. Gibt es diesen? Was macht ihn aus?
Ein typischer „nordischer“, sprich skandinavischer Orchester-Klang ist mir auch noch nicht aufgefallen. Die Aufnahmen, die ich besitze sind alles jüngeren Datums und somit vermutlich mit international angelegten Orchestern eingespielt.Auch wenn sich die Werke mit dem Sinfonieorchester Lathi unter Osmo Vanska schon bisserl anders anhören. Aber das sind ja auch jüngere Aufnahmen.
Rumänien/ Armenien
Eine Besonderheit ist sicher die Musik George Enescus, die es ja in einer Reihe hochkarätiger Aufnahmen gibt. Man denke nur an die Rumänischen Rhapsodien unter Dorati, Rozhdestvensky oder Ormandy. Aber, was das orchestrale Kolorit angeht, sind die Einspielungen der Sinfonien, der Suiten und der Rhapsodien mit der Philharmonia Moldava unter Alexandru Lascae aus Mitte der 90er Jahre was Besonderes. Nun ist die Philharmonia Moldava sicher kein Spitzenorchester und man hat alles schon „geschmeidiger“ und prägnanter gehört. Aber die Stimmung, die dieses Orchester in dieser Musik verbreitet, ist schon klasse; das Tempogefühl des Dirigenten vermutlich „authentischer“. Es gehört einfach zu dieser Musik. Einen Tick besser schafft das noch das Radio- und TV-Orchester Rumänien unter dem großen Constantin Silvestri aus den 1960er Jahren.
Auch das Armenische Philharmonische Orchester unter der Leitung von Loris Tjeknavorian ist sicher kein Eliteorchester und in gewisser Weise vielleicht entbehrlich, aber auch sie vermögen es, der Musik Aram Katchaturians ein gewisses Kolorit aufzudrücken, der dieser Musik und der lokalen Stimmung sehr gut tut. Auch die Sinfonien Kabalewskis können sie gut in Szene setzen.
Wie gesagt, ausmachen konnte ich noch keinen typischen englischen, skandinavischen, spanischen (auch wenn das Kastillische Sinfonieorchester Leon oder das Symphonieorchester Asturien die Werke Rodrigos würdig und ausgesprochend passend und farbig in Szene setzen können (Naxos Spanish Classics)), und vor allem keinen typisch „deutschen“ (?!) oder gar italienischen Orchesterklang. Hier wär ich über ein paar Informationen der Fachleute hier sehr dankbar.
Grüße aus dem sommerlich-heißen München
Thomas