Beiträge von ben cohrs

    Lieber Walter,
    wenn man über 20 Jahre lang mit dem Material zum Finale praktisch lebt, kommt man naturgemäß zu einer anderen Sicht der Dinge. Meiner Erfahrung nach spielen bei diesen Ansichten (wobei Deine Anischt "Bruckner hätte sicher noch Änderungen vorgenommen" weit verbreitet ist) doch vor allem Hörgewohnheiten eine Rolle.


    Die erhaltenen Manuskripte zum Finale zeigen, daß Bruckner noch während der Komposition das Konzept des Satzes mehrmals grundlegend verändert hat. Wenn man diese Werkphasen genau untersucht und verfolgt, zeigt sich, daß etliche Passagen kompositorisch schon äußerst gründlich durchgeschliffen sind. Ähnliches trifft auch auf die ersten drei Sätze zu.


    Bruckner wußte, er komponiert gegen die Zeit, und die einmalige Struktur des Finales spricht für sich: In einer Sinfonie, gewidmet dem lieben Gott, wagt Bruckner auch durch die Form und Themenkonstellation ein Finale zu schreiben, das so persönlich ist, wie ein Satz nur sein kann, in dem der Komponist seinen eigenen Verfall in Musik ausdrückt. Das ist radikal, fast exhibitionistisch und schwer zu ertragen.


    Das musikalische Material wird bewußt einer Dekonstruktion unterworfen. Die Musik wird dadurch fast minimalistisch, komponiert sich ihrer eigenen Auflösung entgegen (übrigens, worauf mich mein Freund Peter Maxwell Davies im Gespräch hinwies, ganz ähnlich wie bei Sibelius; Max glaubt, dies sei der eigentliche Grund dafür, warum Sibelius in den letzten Jahren fast verstummte).


    Schau Dir die Themen an: Das Eingangs-Motto (Umkehrung des Eingangsthema-Nachsatzes im Kopfsatz, T. 18/19, Hörner) spielt eine wichtigere Rolle als das "Hauptthema" -- als rhythmisch geprägte Begleitfigur in Durchführung und Reprise, vor allem jedoch als Ausdruck des ewigen Gefangenseins in den unauflöslichen und unaufhörlichen Tritonus-Sequenzen (Coda-Beginn! finale Ces/f-Kadenz!): Durch diese bevorzugte Behandlung wird das eigentliche Unisono-Hauptthema ebenso wie durch seine eigene Gestalt selbst regelrecht "entmannt"(!). Die punktierten Sexten fallen durch Tredezimakkord-Brechungen stets abwärts, werden zwar aufwärts sequenziert (als verminderter Septakkord d-f-as-es), müssen dann aber endgültig fallen und sinken buchstäblich vor unseren Ohren ins Grab (nämlich den achttaktigen Blech-Choral bei Ende der ersten Gruppe, vom hoffnungsvollen C-Dur hin in die barocke Grab-Tonart f-moll).


    Die Gesangsperiode ist direkt aus dem Hauptthema entwickelt. Jeglicher lyrische Charakter ist negiert. Der klassische männlich-weibliche Gegensatz der beiden Themen wird dadurch völlig aufgehoben, zusätzlich distanziert durch Bruckners typisches "Doppelunisono". Das bedeutet: Hier endet für Bruckner jegliche Hoffnung auf Liebe und Erfüllung. Am erschütterndsten dann der Choral -- ebenfalls herabsinkend, am Ende in knirschenden Dissonanzen in sich zusammenstürzend. Ist auch der Glaube dahin?


    Aus solchen Parametern entwickelt Bruckner seinen Satz gnadenlos weiter. Ein Purgatorio-Fegefeuer wie gar nicht schrecklicher zu denken. Daß der Satz dennoch mit einem Halleluja enden soll und (tatsächlich in der letzten Coda-Skizze dokumentiert) zur Ruhe eines Orgelpunkts über D zurückfindet, nachdem alle thematischen Entwicklungen buchstäblich zum Teufel gegangen sind, ist dann umso anrührender: Nur die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Genau dies drückt Bruckners Musik aus, jenseits aller Vorstellungen eines "positiven" Finales "wie in der Fünften oder Achten".


    Wenn man nun eine so radikale Satz-Konzeption gegen die übliche Erwartung des "Finales aller Finali", des "größten Finalsatzs von allen" setzt, wird vielleicht klar, warum die meisten es mit einer viersätzigen Neunten so schwer haben: Viele Menschen scheuen die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tod. Bruckners Neunte und besonders ihr Finale hingegen setzen sich mit dem eigenen Sterben hörbar auseinander. Schon das ist unbequem, weil uns diese Musik die eigenen Defizite vor Augen bzw. Ohren führt. Dann die radikale Konsequenz, mit der Bruckner vorgeht im Komponieren -- die Musik, die da entstanden ist, ist vielleicht zu schrecklich, als daß wir sie wirklich hören möchten. (Mich erinnert das übrigens immer an den ergreifenden Schluß von "Alexis Sorbas": Sorbas steht am geöffneten Fenster und lacht dem Tod entgegen.)

    Lieber Obsi: Schuberts unvollendete viersätzig hab ich schon 2004 dirigiert; meine Druck-Ausgabe von Scherzo und mutmaßlichem Finale erscheint nächstes Jahr...


    Lieber Peter: Argumente wie "Niveau halten" und "was kann danach noch kommen?" halte ich für gefährlich und demagogisch, weil es sogenannte "Totschlags-Argumente" sind, also eigentlich gar keine Argumente. Sie werden meistens von Menschen verwendet, die nicht willens sind, von Hörgewohnheiten abzurücken, oder Menschen die nicht willens sind, sachlich zu argumentieren. Ich finde das immer wieder bedauerlich.


    Lieber JR: Man kann über den musikalischen Wert des h-moll-Satzes, den Schubert später zur Rosamunde-Entreacte umfunktionierte (dies beweist die erste Seite des Autographs) natürlich geteilter Meinung sein. Ich halte ihn für einen seiner kühnsten und gewagtesten Sätze: Eine Sonatenform mit drei Themengruppen und zwei Durchführungssträngen, mit Passagen, die bereits an Bruckner erinnern -- und sogar schon wie im Finale der Neunten Bruckners die kühne Idee, die Gesangsperiode direkt aus dem Hauptthema zu entwickeln! Es wundert mich also gar nicht, daß dieser Satz verkannt wird.

    Loge: Du hast die Doppeldeutigkeit meiner Frage nicht erkannt.


    Wir können davon ausgehen, daß Schubert selbst keine Aufführung als Halbsinfonie gestattet hätte. Das lag fern jeglichen Praxis-Verständnisses seiner Zeit.


    Deshalb meine ich: Entweder die Sinfonie in viersätziger Realisation oder gar nicht.


    Alles andere bedeutet - wie bei Bruckners Neunter - unter dem Mäntelchen falsch verstandener "Authentizität", Schubert zur Beute unseres heutigen Geschmacks werden zu lassen ...

    Lieber Walter:
    Solche "Zitate" oder besser "Anklänge" (Allusionen) sind immer im Kontext der Dramaturgie des gesamten Stückes zu sehen. Abgesehen davon waren offenbar Beethovens Dritte und Neunte für Bruckner so grundlegend wichtig, daß sich Anklänge in jeder seiner Sinfonien finden lassen.


    In der Neunten fügen sie sich eben ein in das Konzept einer solchen "sinfonischen Studie über die letzten Dinge", gewidmet dem lieben Gott.


    Eigenartig -- ich habe Daniels Interpretation gerade umgekehrt als ausgesprochen von Bach, Schubert und Beethoven her gedacht empfunden!


    Allerdings ist Daniel sehr interessiert an historisch informierter Praxis. Furtwängler, Horenstein und Skrowaczewski pflegten/pflegen dagegen einen stark "romantisierenden" Bach, Beethoven und Schubert. Insofern meinst Du wohl auch "Deinen" Bruckner aus dieser Haltung heraus?

    Hätte, könnte, dürfte, wollte – Tatsache bleibt, daß die Faktenlage zur "Unvollendeten" dermaßen gering ist, daß selbst musikwissenschaftliche Koryphäen ins weitschweifige Phantasieren kommen, während andererseits das WENIGE, was man nun wirklich weiß, offenbar keinen zu interessieren scheint ...


    ... das nachweislich von Hüttenbrenner gefälschte "Dankschreiben" Schuberts an den Musikverein in Graz ...


    ... damit zusammenhängend falsch das ganze Konstruktionsgebäude, Schubert habe überhaupt die zwei Sätze aus der Hand gegeben und die Sinfonie zweisätzig als "vollendet" betrachtet ...


    ... die Existenz der Komposition des dritten Satzes (mit Ausnahme des zweiten Trio-Teils) ...


    Abgesehen von der Feststellung, daß Schubert im Falle der h-moll-Sinfonie soweit bekannt keinerlei Versuche zu einer Veröffentlichung gemacht hat. Fakt ist: 1828, als Schubert starb, wohl knapp sechs Jahre nach Beginn der Partitur, war das Werk zumindest unfertig. Wir wissen nicht, ob er das Werk aufgegeben hat oder Teile verloren gegangen sind. Doch die Frage sollte sich nachdrücklich stellen, ob es überhaupt statthaft sei, die Halb-Sinfonie in diesem Zustand aufzuführen.

    ... allerdings: Marcus Bosch ist unangefochtener Sieger in den Wertungen "Gesamtspielzeit der ersten drei Sätze" und "Spieldauer des ersten Satzes". Er unterbot den bisherigen Spitzenreiter, Bruno Walter, um 31 Sekunden und legte mit 49:31 die bislang schnellste Einspielung der ersten drei Sätze aller Zeiten vor!


    ÜBERBLICK: DIE SCHNELLSTEN AUFNAHMEN DER NEUNTEN (SATZ I-III)


    • Walter, Bruno; Vienna Philharmonic: 20/8/53: AS Disc NAS 2402; 50:00 (21:04; 10:03;18:30)
    • Walter, Bruno; New York Philharmonic; 27/12/53; Archipel ARPCD 0144; 50:37 (20:33; 10:08; 19:40)
    • Knappertsbusch, Hans; Bavarian State Orchestra;10/2/58; Orfeo d'Or CD 578 021; 51:17 (20:40; 10:01; 20:04)
    • Walter, Bruno; New York Philharmonic; 17/3/46; Music and Arts CD 1110; 52:00 (21:38; 9:35; 19:42)
    • Horenstein, Jascha; Pro Musica Symphony Vienna: 1953; Vox Legends CDX25508; 52:28 (21:40; 9:52; 20:50)
    • Barbirolli, John; Halle Orchestra; 29/7/66; BBC Legends CD BBCL 40342; 53:00 (22:13; 9:52; 20:56)
    • Kabasta, Oswald; Munich Philharmonic; 1943; Music and Arts CD 969; 53:08 (21:49; 8:47; 22:32)
    • van Beinum, Eduard; Concertgebouw Orchestra; 16/1/41; Haydn House CD SDA 2005-022; 54:00 (23:04; 8:32; 21:51)
    • Abendroth, Hermann; Leipzig Radio Symphony Orchestra; 29/10/51; Arioso CD Set ARI 108; 54:00 (23:27; 8:59; 21:37)
    • Skrowaczewski, Stanislaw; Southwest German Radio Symphony Orchestra; 1970's; En Larmes 01-57; 54:15 (20:25; 9:30; 24:15)


    ZUM VERGLEICH
    Bosch, Marcus; Aachen Symphony Orchestra; 2007; Coviello Classics SACD; 49:31 (19:56; 10:46; 18:49)

    Dazu wäre zu sagen, daß es sich natürlich nicht um die Welt-Ersteinspielung der rekonstruierten Sinfonie, und nicht einmal unserer Fassung handelt, sondern nur die Ersteinspielung einer aktualisierten Version (welche freilich aufgrund der Erfahrungen in Aachen inzwischen nochmals umgearbeitet werden mußte: Erst die Harding-Aufführung gibt den Letztstand wieder, an dem nun wirklich keine Note mehr verändert werden soll.)


    Ich würde doch auch gerne nochmals darauf hinweisen wollen, daß meine Kollegen und ich wieder einmal nett in die Schubladen gesteckt worden sind, die es dann Finale-Gegnern umso leichter machen, auf uns einzuprügeln --


    John Phillips hat Dirigieren und Komposition in Wien studiert (bei Alfred Uhl, keine schlechte Adresse) und ist ein ausgewiesener Experte in Sechterschem Tonsatz; erst dann hat er Musikwissenschaften als Zweitstudium drangehängt.


    Nicola Samale ist kein Musikwissenschaftler, sondern Komponist und vor allem Dirigent; er bereitet gerade die Uraufführung seiner neuesten Oper vor, und über seinen Werdegang und sein Schaffen gibt ein Wikipedia-Artikel Auskunft.


    Und ich selbst empfinde die Verkürzung auf den "Musikwissenschaftler" immer fast wie eine Diffamierung, denn es wird meinem Bemühen nicht gerecht, die Musik in einer Vielfalt von Möglichkeiten zu vermitteln -- undzwar sowohl das Wissen um(über Musik wie auch das Musizieren selbst. Deshalb bezeichne ich mich bewußt selbst als "Dirigent, Musikforscher und Kulturpublizist".

    Lieber Flotan: Sostenuto spielen hier nur die Violinen im Choral, und das sollen sie auch. Ansonsten bin ich glücklich, daß hier übermäßiges Sostenuto-Spiel eher generell vermieden wird. Und was das Blech betrifft: Bruckners ^-Akzente bedeuten aber eben gerade ein marcato non sostenuto, und ich bin immer froh, wenn das endlich mal gemacht wird.
    :pfeif:


    Nochmals: Das Freitag-Konzert kenne ich nicht! Mein Eindruck gründet sich auf dem Donnerstags-Konzert. Die Beteiligten sollen aber am Freitag etwas müde gewesen sein -- kein Wunder ...
    :rolleyes:


    Lieber Honigschlecker: Lag Dein Intermezzo-Eindruck am Tempo? Besorg Dir mal die Schuricht-Aufnahme ... Oder kann es nur sein, daß Du die üblichen Kaugummi-Tempi vermißt?
    :D


    Notabene: Allerdings ist das Adagio der Neunten das einzige von Bruckner, das ein zweites Thema mit langsamerem Tempo hat. Wer schon das erste Thema zu langsam nimmt, kommt früher oder später in die Klemme ...
    :untertauch:


    Was die Hörner betrifft: Zum einen geht das Stück mordmäßig auf die Kondition. Zum zweiten saßen sie hinter den Holzbläsern und wollten Rücksicht auf ihre Kollegen nehmen. Das erklärt ihre Zurückhaltung.

    ANTON BRUCKNER: IX. SINFONIE D-MOLL WAB 109
    (MIT FINALE / AUFFÜHRUNGSFASSUNG SAMALE-PHILLIPS-COHRS-MAZZUCA, 2007)
    Swedish Radio Symphony Orchestra, Daniel Harding, Berwaldhallen, Stockholm, 8. November2007


    Aus verständlichen Gründen vermeide ich es üblicherweise, Konzerte oder Produktionen öffentlich zu kommentieren, an denen ich mit beteiligt war, oder wenn es sich bei den Ausführenden um Freunde handelt. Ausnahmen mache ich nur, wenn das Ergebnis besonders bemerkenswert war. Dies war der Fall, als Daniel Harding Bruckners Neunte mit dem Schwedischen Rundfunk-Orchester aufführte – Premiere in mehr als einer Hinsicht: Soweit mir bekannt, war dies die erste Aufführung meiner Neu-Ausgabe von Satz I–III in Schweden; die Neunte war dort bislang nie mit vervollständigtem Finale erklungen; es war überdies die erste Aufführung unserer Neu-Ausgabe des Finales mitsamt der Änderungen seit der letzten Aufführung (der korrigierte Neudruck wird 2008 erscheinen); und nicht zuletzt war es auch das erste Mal, daß Daniel Harding Bruckners Neunte in Angriff nahm. Ich kenne Harding seit knapp 10 Jahren, als er seine Zusammenarbeit mit der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen begann. Angesichts seines guten Händchens für aufregende wie neuartige Aufführungen hatte ich mir schon gedacht, daß dies zumindest ein gutes Konzert werden würde, und so entschied ich, auf eigene Kosten nach Stockholm zu reisen. Doch ich muß zugeben, meine Erwartungen wurden weit übertroffen! Man mag mir vergeben, es zu erwähnen – aber für jemanden, der ein solches Werk bereits selbst dirigiert hat und sich dafür so sehr engagiert, bringt es gemischte Gefühle mit sich, andere Dirigenten damit zu erleben – meistens eine Art Pein, und bestenfalls eine bittersüße. Doch alles, was ich nach Hardings Aufführung fühlte, war ungetrübte Freude und Glück.


    Wie oft geschieht es, daß ein Top-Orchester, selbst wenn es sich oft an Aufführungspraxis interessierte Dirigenten einlädt, die Mozart, Haydn, Schubert oder Beethoven zumindest mit reduziertem Vibrato, klarer Phrasierung und Artikulation spielen lassen, sobald Bruckner auf die Pulte kommt, in den ›Bruckner-Modus‹ schaltet – mit dem typischen, massiven Sostenuto-Spiel, begrenzter Dynamik, schwammiger Artikulation und Phrasierung! Wenn es dann auf einen ›Bruckner-Dirigenten‹ trifft, der lediglich einen wohlklingenden, pseudo-religiösen, monumentalen Bruckner pflegt, mit beinahe Mahler'schen Tempofreiheiten und viel Rubato, ist das Ergebnis vorhersehbar: Convenience-Bruckner, der, von Nuancen abgesehen, auf der ganzen Welt ›so wie immer‹ klingt, geradeso, als ob man bei MacDonald's essen geht, und egal ob in Berlin, Boston oder Barcelona. Noch schlimmer, wenn solche Dirigenten kein Interesse an Orchesterbalance haben, einen Blechbläserklang wünschen, der die Hörer durch schiere Kraft zu überwältigen sucht; Dirigenten, denen es egal ist, ob die Holzbläser durchhörbar sind, die die Streicher mit ihrem fortwährenden, schnell langweilig werdenden ›molto sostenuto con molto vibrato‹ gewähren lassen, und die die Streicher nach moderner Gepflogenheit platzieren, alle Geigen links, alle Bässe rechts: Dann werden die wichtigen Bratschen und Celli ebenso unhörbar wie die delikaten Dialoge der Geigengruppen. (Notabene: Es gibt keinen einzigen Sitzplan eines Konzertorchesters im 19. Jahrhundert, bei dem die Geigen anders als links und rechts sitzen!)


    Welche Erlösung dann, Dirigenten zu begegnen, die Bruckner zwar dirigieren, sich aber nicht von der ›Bruckner-Gemeinde‹ als ›Bruckner-Dirigenten‹ feiern lassen, und die lediglich daran interessiert sind, seine Musik genauso klar, balanciert und überlegt herauszubringen wie die von Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Berlioz oder Liszt. Daniel Harding scheint einer dieser seltenen Vögel zu sein – und umso mehr, da er tiefes Verständnis und langjährige Erfahrung mit Werken der genannten Komponisten hat. Seine Vorstellung davon, wie eine Bruckner-Sinfonie klingen sollte, scheint daraus direkt hervorgegangen zu sein. Alt-ehrwürdige Brucknerianer mögen sich nun alarmiert fragen, ob denn dann Bruckner überhaupt noch nach Bruckner klingt? Die Antwort: Ja und nein. Einerseits wird Bruckner so endlich nicht mehr als ›erratischer Block in der Musikgeschichte‹ betrachtet, sondern mit seinen Vorbildern und Vorgängern in einen angemessenen Kontext gestellt. Andererseits bin ich sicher, daß auch all die, die einen monumentalen, nicht zu schnellen Bruckner mit majestätischem Klang und feierlichen Blech von einem solchen Ansatz nicht enttäuscht sein werden – zumal Harding die Bratschen links hinter die ersten, die Celli rechts hinter die zweiten Violinen, alle Bässe rechts am Rand plazierte. Dadurch wird eine gute Streicher-Balance mit großer räumlicher Durchhörbarkeit aller Stimmen erzielt. Dies ist für Bruckner besonders wichtig, weil er seine Instrumentation vom Streichersatz her konzipierte und bei der Übertragung der Particell-Skizzen in die zu erarbeitende Partitur zunächst die Streicherstimmen als Haupt-Träger des Geschehens eintrug.


    Schon Hardings Beginn der Sinfonie setzte die Markierungen für deren Entwicklung: Die Streicher-Klangfläche baute klar auf den Kontrabässen auf; die Hörner beachteten mit großer Sorgfalt die schweren Anfangs-Akzente, die die Viertaktigkeit ihrer Phrasen sicherstellt, und gaben dieser Musik, die oft nur verschwommen klingt, klare Konturen. Dann der Nachsatz des Eingangsthemas mit dem berühmten Hornruf und der ›Kernspaltung‹, ebenfalls klar strukturiert, mit deutlich akzentuierten Bässen in T. 24–6. Das erste Crescendo ab T. 27 brachte ganz ähnlich wie bei Celibidache die None zum Klingen, die zwischen den ersten und zweiten Violinen alle zwei Takte entsteht. Das Streichertremolo wirkte durch leichtes Marcato bei Tonwechseln lebendig und konturiert. Die Holzbläsermotive und Imitationen immer durchhörbar, das Tempo fließend, alles wohl kontrolliert. Dann das massive Unisono-Hauptthema im Tempo, doch voller Farbe und Sattheit und mit klar deklamierter Rhythmik: Sehr beeindruckend! Auch wenn Harding den Grundpuls sehr flexibel handhabte – an den formalen Gelenken stimmten die Tempo-Verhältnisse: Die Gesangsperiode war ein Drittel langsamer, die schwierig zu kontrollierende Schlußperiode wieder im Hauptzeitmaß. Besonders beeindruckend dort die fast nie zu hörende, zweitaktige Phrasierung des Orchesters, mit klarer Artikulation, doch trotzdem weite Klangräume erzeugend, zugleich vorangetragen durch die Achtel-Ketten von Flöten, Oboen und Klarinetten. Superb war das ebenfalls schwer zu kontrollierende, gefährliche Accelerando in die Hauptthemenreprise hinein, die, zu früh begonnen und zu sehr beschleunigt, vielen Dirigenten aus der Hand schießt und zu schnell wird. Bei Harding kam das Thema in T. 333 so ziemlich genau im Haupttempo wieder. Der Satz entfaltete sich durchaus breit, in gut 25 Minuten, doch die schwierigen Tempi meisterte Harding, als ob er in den letzten Jahren nichts anderes als Bruckner dirigiert hätte. Besonders beeindruckend war auch seine Kontrolle der Dynamik, von dem spukhaft flüsternden Tremolo kurz vor der Schlußperiode der Exposition bis hin zum niederschmetternden Satz-Ende, zugleich die so ungemein wichtige Kontrolle der Lautstärke-Gipfel der Sinfonie beachtend: Der Schluß der Coda war zwar Ziel des Satzes, aber nicht der Sinfonie, die auf den Adagio-Höhepunkt und den Finale-Schluß hin ausgerichtet war.


    Ähnlich beeindruckend das Scherzo: Harding stürzte sich attacca hinein, den Puls des Kopfsatzes beibehaltend und die zweitaktige Phrasierung penibel beachtend. Wie oft lassen Violinen und Celli die Endnote ihrer Anfangsphrasen geradezu peinlich herausplatzen, obwohl dies nicht nur die unwichtigste Note der Phrase ist, sondern auch noch die "1" des leichten Rückschlags-Taktes im ›Schwer-Leicht-Pendel‹! Hier klangen die Endnoten stehts korrekt zurückgenommen, das Scherzo-Thema mit aller angemessenen Wucht, Schrecken und Donner – und insbesondere einem beherzten Pauken-Spieler, der Holzschlägel benutzte und den explizit von Bruckner mit ›trem.‹ herausgestellten Wirbel zum Ende des Themas (T. 50) betonte. Das klang nicht minder beeindruckend als in der Wiener Aufnahme unter Bernstein, wo mir diese Stelle erstmals ins Bewußtsein kam. Der Pauker war sogar so sensibel, die lauten oder leisen ›Themen-Tattoos‹ jeweils mit dem gleichen Schlägel zu schlagen (also die leisen Stellen im Scherzo ab T. 114 genauso wie alle Stellen im Trio; andererseits die lauten Stellen im Scherzo überall gleich und genau wie bei der späten Rückkehr in der Themenüberlagerung in der Coda des Finales). Vorzüglich auch die delikaten, durchsichtigen Holzbläser. (Schade war, daß die Musik dann doch so vorantrieb, daß das ungemein schwierige accelerando ab T. 147 trotz bester Bemühungen fast nicht erfolgen konnte.) Auch das Trio folgte attacca, wobei Harding die von Bruckner absichtlich notierten Leertakte im Übergang (T. 248–50) penibel befolgte. Der Satz schwang rasch, exaltiert und viertaktig voran und widerstand sogar der üblichen Verlangsamung des zweiten Themas, was nur gelingen kann, wenn die Geigen vorher nicht ritardieren (ein Problem der Bogen-Führung) und die Trompeten die Achtelbewegung streng durchhalten. Dessen ungeachtet hatten die exzellenten Flöten keine Probleme mit ihrer gefürchteten Sechzehntel-Passage. Auch der berühmte, gefährliche Hickser der Geigen bei T. 82 kam couragiert.


    Für meinen eigenen Geschmack begann das Adagio etwas zu langsam (aber immerhin erkennbar in Vier anstelle der üblichen Acht geschlagen) und schwach: Diese ungeheure Exclamatio sollte meiner Meinung nach doch den Charakter eines Aufschreis haben, wobei ich immer an »Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?« denke. Schade auch, daß das Hauptthema ab T. 6 ungeachtet des ff an Intensität verlor. Doch endlich einmal hörte man im Folgenden deutlich die immer bedeutsamer werdenden Artikulationen gegen den Takt, begonnen von den Oboen in T. 9. Auch das oft verschwommene Zweiunddreißigstel-Motiv der Geigen und Bratschen, das die Trompeten ab T. 17 imitiert, kam stets klar durch. (Es ist durchaus eine Frage des Tempos, ob sich die von Bruckner durchgezogenen Zweiunddreißigstel auch wie ausnotiert spielen lassen, oder aus Verlegenheit bei zu langsamem Tempo als richtiges Tremolo gespielt werden müssen!) Dann die Wagner-Tuben im Choralthema warm und dunkel timbriert – ein gefürchteter Einsatz, da sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht angewärmt werden konnten. (Bruckner hat klugerweise zu Beginn zwei Hörner zur Verstärkung mitgegeben.) Den angemessenen Kontrast brachte das gut phrasierte Gesangsthema mit dem delikaten, Polka-artigen Trio. Das Adagio kam bald wiederum in einen bemerkenswerten Vorwärts-Schwung. Geradezu überirdisch der herrliche Streicherchoral bei Buchstabe L, mit sehr reduziertem Vibrato, aber intensivem, reinen Streicherton, und frei im Tempo. Der Übergang zu dem berühmten, großen Crescendo gewann geradezu bohrende Intensität in den berstenden Sekunden der Oboen und Klarinetten. Die Steigerung selbst entfaltete sich mit vorantreibenden Synkopen der Bratschen, feierlichen Bläsersextolen, und schmerzlichen Aufschreien des Hauptthemas vor dem berühmten cis-moll-Tredezimakkord. Der anrührendste Moment der Aufführung war die unglaublich spannungsvolle, lange Pause Hardings nach diesem Aufschrei – und dann die Wieder-Aufnahme vom Satzbeginn, als ob nichts geschehen wäre. Harding widerstand auch der üblichen Versuchung, das Tempo von da an allmählich zu verlangsamen, was dem Satz natürlich unweigerlich die Luft abschnüren würde. Stattdessen erklang die Coda in einem ruhig pulsierenden Herzschlag, ohne den Fluß der Musik vollends zu beenden.


    So konnte auch das Finale ganz natürlich und beinahe attacca folgen. Diese Aufführung hatte für mich geradezu Modell-Charakter. (Ich muß in aller Unbescheidenheit – und bei allem gebotenen Respekt angesichts der unendlich viel größeren Erfahrung Hardings als Dirigent – zugeben, daß ich es selbst sicher nicht hätte besser machen können. Und wer mich und meine eigenen Aufführungen kennt, weiß, was es mir bedeutet, dies so zu sagen.) So hörte man zum Beispiel endlich einmal das Anfangsthema konsequent gegen den Takt betont, und so auch im gesamten weiteren Verlauf des Satzes. Angesichts der vielen Wiederholungen kann es nur allzuleicht passieren, daß ein Orchester nach zwei oder drei guten Anfangstakten wieder in Routine zurückfällt und immer nur die "1" betont, auch wenn es sich stets um unbetonte Endnoten handelt. Das ist für das Finale besonders gefährlich, da sonst die wiederholten punktierten Rhythmen allzuleicht den Eindruck von Monotonie erzeugen, wenn man da nicht sehr differenziert. Das mächtige Choralthema wurde gewichtig phrasiert, hatte aber zugleich ein herrlich singendes Sostenuto der Violin-Begleitung: Die vorzüglichen Musikerinnen und Musiker vermieden hier jede Verkürzung der Viertelnoten, wie man sie aus Bequemlichkeit leider so oft hören kann. Die Streicher ließen hier keine Wünsche offen – ein bemerkenswertes Beispiel guter Bogenkontrolle! Die Durchführung setzte sich weiträumig fort; zugleich waren die ständigen Begleiter, die Varianten des Eröffnungsmotivs, jederzeit gut durchhörbar, was sehr schwierig ist – etwa, wenn z. B. allein die Oboen dies Motiv gegen viele andere Instrumente durchzusetzen haben. Die Fuge nahm Harding in Vier. Dadurch erhielt diese zentrale Sektion Gewicht, ohne an Wildheit zu verlieren; optimal durchhörbar waren die verwickelten, um ein Viertel gegen den Takt versetzten Imitationen. Auch der Rest des Satzes entfaltete sich äußerst sicher, klar ausgerichtet auf die Coda als Ziel, mit ihrer Themen-Überlagerung, Kadenz und abschließendem Halleluja.


    Nur selten höre ich Aufführungen, bei denen man so oft denkt »Ja! Genau so!« Auch ein so engagiertes Orchester habe ich selten erlebt: Der Geist, der im Schwedischen Rundfunkorchester herrscht, erinnerte mich an den der basisdemokratisch ausgerichteten Deutschen Kammerphilharmonie Bremen. Jegliches Ellenbogendenken scheint zu fehlen; die Musikerinnen und Musiker kommunizieren gut miteinander und saugen Informationen des Dirigenten auf wie ein Schwamm. Und für mich das ganz große Plus des Konzertes: Sie spielten den vierten Satz mit der gleichen Hingabe und Begeisterung wie die ersten drei Sätze, nahmen Bruckners Musik endlich einmal ernst. (Wie wird sich wohl das Orchester fühlen, wenn es in der Zukunft unter anderen Dirigenten vielleicht einmal wieder nach dem Adagio die Sinfonie beenden muß?) Man mag den Bläsern gern vergeben, daß sie am Ende ein wenig nachließen – besonders die Hörner: Allzuverständlich in einem so fordernden Werk von 85 Minuten Länge, noch dazu mit einem gewichtigen ersten Teil vor der Pause: Dort erklang eine tief bewegende, fein ausgearbeitete Aufführung von Mendelssohns Violinkonzert e-moll in der kaum bekannten, doch sehr überzeugenden Urfassung (herausgegeben von Larry Todd). Solist war Daniel Hope – für mich einer der besten und außergewöhnlichsten Geiger unserer Zeit. Sein Reichtum an Farben, sein musikalischer Geschmack wie auch seine brennende Hingabe an die Musik machen jedes seiner Konzerte zum Ereignis. Davon zeugte auch seine Zugabe – eine Eigenbearbeitung der ersten hebräischen Melodie (›Kaddish‹, 1914) von Maurice Ravel, also des jüdischen Totengebets, eine innige Lamentation, die perfekt zu Bruckners dem lieben Gott gewidmeter Neunter hinleitete.


    Es gab im Vorfeld großes Interesse der schwedischen Medien wie auch der Zuhörer: Zur Konzert-Einführung von Katarina Lindblad (mit mir als Gast) kamen mehr als 200 Leute. Zwar gab es beim Mendelssohn einmal ein leises Handy-Klingeln, lautes Knistern von Bonbon-Papier und gelegentlich Türklappen. (Diese Ignoranten sterben leider wohl nie aus.) Doch insgesamt folgten die Hörer mit erstaunlicher Konzentration – regelrechte Totenstille herrschte gar im Adagio nach dem großen Höhepunkt. Das Orchester und sein Dirigent bekamen nach der Neunten eine wohlverdiente, lange ›Standing Ovation‹. Das Konzert wurde am nachfolgenden Abend wiederholt und live übertragen. Für uns als Autoren war dies – nach gut 40 Aufführungen der verschiedenen Phasen unseres ›work in progress‹ seit 1985 – nun tatsächlich die wirkliche Uraufführung dieser Aufführungsfassung, die uns insgesamt fast 25 Jahre unseres Lebens beschäftigt hat. Wir wünschen uns nur noch, daß sich weitere aufgeschlossene Dirigenten wie Harding finden lassen, die bereit sind, dem rekonstruierten und ergänzten Satz unvoreingenommen eine Chance zu geben. Freilich: An der Maßstäbe setzenden Interpretation Hardings werden sie sich messen lassen müssen.


    © Benjamin-Gunnar Cohrs (Bremen), 10. November 2007
    für: http://www.tamino-klassikforum.at

    Liebe Forianer:
    Wer das phänomenale Konzert unter Harding in Stockholm nicht hören konnte,
    hat noch eine Chance zum Download. Bis zum 9. Dezember ist der Mitschnitt in guter Qualität auf der Homepage des Schwedischen Rundfunks abrufbar.
    Ohne die drei Wehs vorweg:


    sr.se/cgi-bin/berwaldhallen/program/index.asp?ProgramID=2545&Format=107798813


    Später mehr, nur in aller Kürze: Für mich war das die bisher beste und befriedigenste Aufführung der viersätzigen Neunten überhaupt. Ich muß in aller Unbescheidenheit zugeben, ich hätte es keinesfalls besser gemacht.
    :D

    Lieber Helmut, vielen Dank für die interessante Information, daß die Pressekonferenz am 15. stattfindet. Um 17 Uhr übrigens.
    Ich hatte eigentlich mit dem Dramaturgen des Theaters, Kai Wessler, den 14. um 14 Uhr abgestimmt; er war ebenso überrascht wie ich, daß der Termin ohne Abstimmung mit mir verschoben wurde. Ich habe daher sowohl aus Termingründen (Verpflichtungen am 15. und 16.) wie auch grundsätzlichen Erwägungen meine Teilnahme an der Pressekonferenz abgesagt: Ohne Dein Posting wäre ich wahrscheinlich völlig umsonst am 14. in Aachen aufgeschlagen ...

    Liebe Forianer:
    Inzwischen habe ich einige Details zu den beiden Konzerten unter Daniel Harding mit der schwedischen Erstaufführung des komplettierten Finales.


    Sie finden statt am 8. (19.00 Uhr) und 9. November (19.30 Uhr) in der Berwaldhallen, Stockholm. Im ersten Teil gibt es Mendelssohns e-moll-Violinkonzert mit Daniel Hope als Solist (neue Urtext-Ausgabe).


    Das Konzert am Freitag wird ab 19.30 Uhr vom schwedischen Rundfunk live übertragen. Irgendwann sicher auch über den Programmaustausch von einer deutschen Sendeanstalt; den Termin liefere ich nach, wenn ich ihn weiß.


    Ich selbst werde vom 7. bis 9. November in Stockholm sein; am 8. gibt es um 18 Uhr einen Pre-Concert-Talk von Katarina Lindblad, bei dem ich als Interviewpartner mitwirken werde.

    Komisch, daß bisher, soweit ich sehe, niemand die Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern unter Lorin Maazel erwähnt hat (DGG), die ich nicht nur für eine der konzeptuell schlüssigsten und feurigsten des Werkes, sondern zugleich auch eine der besten Einspielungen von Maazel überhaupt halte.


    Meine weiteren Favoriten sind Carlos Paita (Lodia/eine sehr dramatische Darbietung!) und eine alte Barbirolli-Aufnahme (früher einmal bei Nixa/Dutton erhältlich).


    Eine weitere Frage in dem Zusammenhang: Etliche Dirigenten kürzen im Kopfsatz die Wiederholung der Exposition. Mir scheint das das formale Gleichgewicht der Sinfonie empfindlich zu stören. Wie seht Ihr das?

    Liebe Interessenten:
    Zu meiner Überraschung ist, wie ich soeben aus dem Internet erfuhr, die Aufnahme aus Aachen unter Marcus Bosch bei Coviello bereits erschienen und im Handel erhältlich. Übrigens handelt es sich um die erste Einspielung der komplettierten Neunten auf Hybrid-SACD. Die Aufnahme ist nicht zuletzt auch dank der von Bosch gottlob gewählten antiphonalen Aufstellung der Violinen räumlich gut abgebildet.

    Der Komplettierungsversuch des Finales durch Nors S. Josephson wurde völlig überraschend und ohne jede Vorankündigung letzte Woche in Ludwigshafen unter Ari Rasilainen aufgeführt. Interessehalber ein Auszug aus der einzigen aufgefundenen Rezension...
    :stumm:


    ***************************



    Werke des Abschieds
    Meisterkonzert in der Rheingoldhalle mit Bartók und Bruckner


    Die Meisterkonzerte in der Mainzer Rheingoldhalle stellten zwei Werke des Abschieds an den Beginn ihres Zyklus. Da der Tod die Komponisten eingeholt hat, blieben beide Werke unvollendet, aber nicht unvollkommen.


    […]


    In den letzten Jahren hat sich die Auseinandersetzung mit der neunten Sinfonie von Anton Bruckner auf den fehlenden Schlusssatz konzentriert. In seinem Todesjahr konnte Bruckner nur die ersten drei Sätze vollenden. Der Finalsatz liegt nur in fünf Skizzen vor. Rekonstruktion der ungeschriebenen Teile oder Dokumentation der Bruchstücke - das ist hier die Frage. Rasilainen stellte eine von Nors S. Josephson auskomponierte Rekonstruktion ans Ende. Diese Version fiel arg schmalbrüstig aus. Man vermisste Bruckners kühne Kontrapunktik und vor allem eine alles überwölbende Coda, womit Bruckner in seinen Sinfonien stets den triumphalen Schlusspunkt setzt.


    Umso überzeugender gelang der originale Bruckner in den vorangegangenen Sätzen. Rasilainen nutzte das Klangvolumen seines großen Ensembles zu Bläserwucht und Monumentalität. Klug disponierte er die Steigerungen bis zum Fortissimo-Höhepunkt. Das Scherzo gewann bei allem dämonischen Unterton eine Leichtigkeit und Unrast, die fast nach Mendelssohns Nachtmusiken klang. Das Adagio war getragen vom sakralen Bruckner-Ton - Wendungen aus der Sinfonie 7 und 8 klangen auf, auch der Miserere-Ruf aus seiner d-Moll-Messe. Packend baute Rasilainen diesen Klangraum aus flirrendem Streicher-Tremolo und mächtigen Tutti-Steigerungen. So gelang eine packende Spielzeit-Eröffnung.


    [Main-Rheiner Allgemeine Zeitung, 23.10.2007, Siegfried Kienzle]

    Naja -- ganz so schlimm, wie in der Bruckner-Literatur dargestellt, war es dann auch nicht. Immerhin hat Brahms selbst dem frischgebackenen Chordirektor Richard von Perger, um Rat befragt, welches seiner Chorwerke et aufführen sollte, zu Hören bekommen, er solle doch lieber Bruckners Te Deum aufs Programm setzen ...


    Wer Wien kennt, weiß, daß es da natürlich per se und seit eh und je viele Rivalitäten und Animositäten gibt, aber auch, daß in Wien nichts so heiß gegessen wird, wie es gekocht wird.


    Und ich denke, selbst Bruckner hätte Brahms´ Motette "Warum ist das Licht gegeben" gefallen ..

    Hey Jaan: Wie war das doch noch gleich? "Denn alles Fleisch, es ist wie Gras"?
    Dann wissen wir ja, was wir rauchen müssen ...
    :D
    Ich höre jedenfalls Brahms gern und Bruckner gern und habe beim Singen im Chor auch immer ihre Werke gehabt. Für mich sind Brahms und Bruckner zwei Welten für sich, auch wenn es einige Berührungspunkte gibt.

    Gottlob -- ich halte persönlich gar nichts davon, durch solche Vergleiche unterschiedliche Komponisten-Persönlichkeiten auf der rein geschmäcklerischen Ebene quasi gegeneinander auszuspielen ...


    Man stelle sich nur folgende Threads vor
    W en mögt Ihr lieber --
    -- Bach oder Händel?
    -- Mozart oder Haydn?
    -- Ravel oder Debussy?
    -- Hinz oder Kunz?
    :kotz:

    Wenn ich unmittelbar beteiligt bin, halte ich mich mit Interna immer bedeckt und bitte um Verständnis. Wenn es Neuigkeiten gibt, die ich weitergeben darf, tue ich das hier auch. Ansonsten bleibe ich diskret. Auch die Aachener Aufführung habe ich bewußt nicht wertend kommentiert. Und ich denke, das gehört einfach auch zum guten Ton -- genauso, wie ich z. B. keine Rezensionen über CDs schreibe, für die ich beispielsweise das Booklet verfaßt habe ...

    Liebe Forianer:


    Die Aufnahme der Neunten mit Finale (Samale et al.) aus Aachen unter Markus Bosch erscheint Mitte November bei Coviello Classics als Hybrid-SACD.


    Außerdem ist eine neue hochkarätige Aufführung der komplettierten Neunten zu vermelden -- die schwedische Erstaufführung, unternommen vom Sinfonieorchester des Schwedischen Rundfunks unter Leitung von Daniel Harding, am 8. und 9. November in der Berwald-Halle Stockholm.

    Kurze Anmerkungen zum Umfeld:


    Mendelssohn nahm sich dafür die Entwürfe einer fast fertigen Instrumentalsinfonie her und arbeitete offenbar die Skizzen zum ursprünglichen 4. Satz in den Kantaten-Teil ein. Es wäre interessant, sich vorzustellen, wie ein rein instrumentales Finale geklungen hätte.


    Ich habe mit der Bezeichnung "Sinfonie" eigentlich gar kein Problem, auch wenn Mendelssohns eigene Bezeichnung "Sinfonie-Kantate" sicher angemessen ist. Man denke nur an die "Gothic Symphony" von Havergal Brian, die ebenso strukturiert ist -- drei Instrumentalsätze und riesiges, 70minütiges Te Deum als Kantaten-Finale -- oder an Mahlers "Sinfonie der Tausend".
    .
    Für Insider und Zitat-Sucher: Das Motto "Alles, was Odem hat" ist eine Anspielung auf das Scherzo-Thema der Großen C-Dur-Sinfonie von Schubert ...


    Und Bruckner hat im Finale-Beginn der Achten den "Ritt-Muss" aus dem Lobgesang-Finale aufgegriffen...