Bevor ich auf mein Verständnis von Mahler eingehe, möchte ich auch an dieser Stelle mein Verständnis vom „Verstehen von Kunst“ kurz darlegen.
Kunst und damit auch Musik zeichnet sich dadurch aus, dass der Prozess des Verstehens nicht an ein Ende kommt. Man kann sie nicht letztgültig verstehen. Musik/Kunst ist offen für Sinngebung durch den Rezipienten, allerdings nicht in beliebiger Form, denn das Material gibt die Richtungen vor.
Mit der Frage, ob jemand ein Werk nun richtig oder falsch verstanden hat, bin ich entsprechend vorsichtig. Ich denke, es geht vielmehr um ein „mehr oder weniger“ verstehen. Musikverstehen ist auch kein objektiver Prozess, sondern im höchsten Maße subjektabhängig, z.B. von dessen Hörerfahrung.
Warum diese Einleitung?
Um von Beginn an deutlich zu machen, dass ich nicht den Anspruch habe, Mahler „richtig“ verstanden zu haben oder glaube, dass ich seine Musik nicht irgendwann oder in kurzer Zeit nicht anders verstehen werde.
Nun zu Mahler!
Hier mein Versuch (weitere werden wahrscheinlich folgen) mein Verständnis seiner Musik in Wort zu fassen, in dem vollen Bewusstsein, dass dies nicht wirklich gelingen kann (Wozu bräuchte man sonst die Musik?):
Ich verstehe die Musik Gustav Mahlers jenseits aller strukturellen Fragen als die Musik eines Suchenden.
Mahler war insofern seiner Zeit voraus, als er früher als andere gespürt hat, dass es keinen Halt oder keine wahre Orientierung mehr für den Menschen gibt. Die traditionellen Sinnstifter und Bindungen, wie besonders die Religion, haben ihre unbezweifelbare Berechtigung verloren. Gleichzeitig wird aber in seiner Musik spürbar, wie groß das Bedürfnis des Menschen bzw. sein Bedürfnis nach genau diesem Halt ist. Die Sehnsucht nach gefestigtem Glauben, nach unendlicher Liebe, nach Sinn konnte Mahler trotz aller Zweifel nie aufgeben. Wahrscheinlich, weil der Mensch an sich immer einen Halt braucht.
Genau vor diesem Hintergrund erlebe ich Mahler Musik tatsächlich als „zerrissen“. Zerrissen zwischen der Erkenntnis der Haltlosigkeit und dem Bedürfnis nach Halt, zerrissen zwischen Glaube und Zweifel, zerrissen zwischen dem Wunsch nach bedingungsloser Liebe und der Erfahrung der Enttäuschung…..
Zwischen allen diesen Polen spielt sich seine Musik ab. Nichts ist mehr eindeutig. So werden die lyrischsten Stellen seiner Musik oft überraschend zerschlagen. Harmlose Ländler verwandeln sich in dämonische Tänze. Eine schöne Melodie wird gleichzeitig durch eine quäkende Klarinette verhöhnt. Manches nimmt fast den Charakter von Kitsch an, weil die Sehnsucht nach Harmonie so groß ist, Mahler gleichzeitig aber dieser Harmonie nicht mehr traut.
Seine Musik zeichnet sich durch Schwanken zwischen Extremen aus – manchmal im schnellen Wechsel, manchmal gleichzeitig.
Und selbst da, wo es eindeutig zu sein scheint (s. Schlusssatz der 2. Sinfonie), geht Mahler dann so überschwänglich vor, als ob er sich selbst überzeugen oder überreden muss (Es wäre doch so schön!!!). Der Kontrast beispielsweise zur 6. Sinfonie könnte kaum größer sein. Was vermeintlich in der 2. Sinfonie noch an Glauben bestand, weicht in der 6. Sinfonie der Ernüchterung.
Und um auf eine der Ausgangsfragen zurückzukommen:
Ja! Ich bin begeistert von dieser Musik, weil sie ein Lebensgefühl wiederspiegelt, das auch unsere Zeit betrifft. Mahlers Zeit ist tatsächlich gekommen.
Erstmal bis hierhin!