Die Entdeckung der letzten Monate waren für mich die Bach-Einspielungen der Netherlands Bach Society unter Jos van Veldhoven:

Dorothee Mields (Sopran I)
Johannette Zomer (Sopran II)
Matthew White (Countertenor)
Charles Daniels (Tenor)
Peter Harvey (Bass)
Total 36 Mitwirkende

Caroline Stam (Sopran)
Peter de Groot (Countertenor)
Gerd Türk (Tenor - Evangelist)
Charles Daniels (Tenor)
Stephan MacLeod (Bass - Christus)
Bas Ramselaar (Bass - Petrus/Pilatus)
Total 21 Mitwirkende (!)

Johannette Zomer (Sopran)
Annette Markert (Alt)
Gerd Türk (Tenor)
Peter Harvey (Bass)
Total 59 Mitwirkende
Auffällig sind die sehr kleinen Besetzungen, vor allem in der Johannes-Passion. Der "Chor" besteht lediglich aus den Solisten, die durch einige "Ripienos" verstärkt werden. In der Johannes Passion sind das gerade mal 4 zusätzliche Sänger, in der h-Moll Messe sind es 8. Man wähnt spröden Sektierer-Klang. Eine h-Moll Messe braucht doch die sakrale Wucht eines grossen Chors. Das erstaunliche ist aber, dass hier von Magerklang keine Rede sein kann. Schon die 4 Eröffnungstakte im Kyrie bringen den gewohnt satten Chorklang, allerdings in einer Kompaktheit, wie er im grossen Chor kaum zu erreichen ist. Dass dies gelingt, liegt sicher einerseits an den hervorragenden Solisten (es sind ja alles Solisten, auch die Ripienos), aber auch an der ausgezeichneten Akustik (Waalse Kerk, Amsterdam) und der state-of-the-art Aufnahmetechnik (Super Audio CD). Was der Masse abgeht, wird an Transparenz und kammermusikalischer Präzision gewonnen. Nie hat man Bachs polyphones Stimmengewebe durchsichtiger, verfolgbarer gehört. Die Johannes-Passion war für mich an vielen Orten geradezu eine Neuentdeckung, nicht nur weil hier die Erstfassung von 1724 rekonstruiert wurde (ohne Traversen!), sondern wegen der kammermusikalischen Anlage, die das Werk von einer ganz neuen, intimen Seite zeigen.
Die Gesangs- und Instrumentalsolisten musizieren auf betörendem Niveau. Die historische Aufführungspraxis hat in den letzten 30 Jahren eine unwahrscheinliche Entwicklung genommen. Über Leonhardt, Harnoncourt, Brüggen, Hogwood, Gardiner, Koopman, Goebel, Herreweghe, Suzuki u.a. sind wir inzwischen in der 4. oder gar 5. Generation angelangt. Die jungen Solisten haben die Erkenntnisse der jeweils älteren Generation sozusagen mit der Muttermilch eingesogen und musizieren auf den alten Instrumenten inzwischen mit einer Selbstverständlichkeit, der alle Dogmatik fremd ist. Hier muss nichts mehr "bewiesen" werden. Es gibt auch keine Scheu mehr vor Schönklang, vor gelegentlichem Vibrato, vor fliessenden Tempi. Mit einem Wort: es wird undogmatisch. mit Herzblut musiziert. Das Wissen um adäquaten Stil ist da - es braucht nicht mehr doziert zu werden.
Auich ein anderer Streitpunkt hat sich inzwischen erledigt: die Frage nämlich, ob das Wort oder die Musik bei Bachs Kantaten und Passionen das Primat haben soll. Das "oder" wird hier kurzerhand durch ein "und" ersetzt ("das süsse Wörtlein und"). Wieso soll das eine dem anderen aufgeopfert werden? Wieso soll die Ausdeutung von Text nicht auch klangästhetischen Reiz haben? Hier wird es exemplarisch vorexerziert. Der Text wird beim Wort genommen und klangsinnlich umgesetzt. Mal steht der Text im Vordergrund, mal die Musik.
Bei der Frage Countertenor oder Alt scheiden sich die Geister. Ich persönlich mag Alt-Stimmen sehr, habe erst durch Andreas Scholl den Männeralt schätzen gelernt. Was dem Countertenor vielleicht an Fülle und weiblichem Charme abgeht, macht er durch Klarheit wett. Im Vergleich h-Moll Messe/Johannes Passion und den Weihnachtskantaten, wo eine Altistin singt, kann man die jeweiligen Vor- und Nachteile schön vergleichen. Ich bin mittlerweile indifferent, mit einer leichten Bevorzugung der Countertenöre. Nach längerer Gewöhnung an die klare Diktion der hohen Männerstimmen erscheinen die Alt-Stimmen oft etwas schwer.
Also, eine warme Empfehlung für diese wunderbaren Einspielungen, die zudem noch von aufwändig gestalteten, kartonierten 200-Seiten Booklets angereichert werden. Es gibt von der Netherlands Bach Society auch eine Matthäus-Passion. Es war ihre erste grosse Bach-Einspielung. Eine ebenfalls sehr schöne Aufnahme, aber für meinen Geschmack noch nicht ganz auf dem Topniveau der drei hier vorgestellten Einspielungen.
Spielmann