Mein letzter Stand in Sachen Tamino-Web Auftritt ist der, daß wohl die letzten Beiträge verloren sind, deshalb hab ich diesen, von einigen Flüchtigkeiten bereinigt, wieder eingestellt. (Generell finde ich die Möglichkeit, den Text innerhalb von 10 Stunden zu korrigieren, als zu kurz. Man möchte doch vielleicht einmal darüber schlafen. Dann fallen einem Fehler eher auf oder es finden sich sogar inhaltliche Ergänzungen ein.)
Bevor mich Alfred wegen Inaktivität rausschmeißt, erlaube ich mir einen Hinweis auf die im Mai erschienene CD von Patricia Petibon:

“Rosso – Italienische Arien des Barock, Venice Baroque Orchestra, Andrea Marcon”
Antonio Sartorio (1630 - 1680), Giulio Cesare in Egitto
1) Quando voglio [2:41]
Alessandro Stradella (1642 - 1682), San Giovanni Battista
2) Queste lagrime e sospiri [4:42]
George Frideric Handel (1685 - 1759)
Alcina
3) Tornami a vagheggiar [4:58]
Rinaldo
4) "Lascia ch'io pianga" [5:38]
Ariodante HWV 33
5) "Volate, amori" [3:49]
Giulio Cesare in Egitto
6) "Piangero la sorte mia" [6:59]
Alessandro Scarlatti (1660 - 1725), La Griselda
7) Se il mio dolor t'offende [2:40]
Georg Fridrich Händel (1685 - 1759)
Alcina
Ah, mio cor [12:24]
Ariodante HWV 33
9) Neghittosi, or voi che fate [3:19]
Nicola Porpora (1686 - 1768), Lucio Papirio
10) Morte amara [4:30]
Antonio Vivaldi (1678 - 1741), L'Olimpiade
11) Siam navi all'onde [7:18]
Antonio Sartorio (1630 - 1680), L'Orfeo
12) Orfeo, tu dormi [5:17]
Benedetto Marcello (1686 - 1739), Arianna
13) Come mai puoi vedermi piangere [5:14]
Alessandro Scarlatti (1660 - 1725), Il Sedecia, Re di Gerusalemme
14) Caldo sangue [5:55]
Spontan wäre man geneigt den Titel “Rosso” mit Patricia Petibons roter Haarpracht zu verbinden, sie selbst meint: „Rot ist eine starke Farbe, sie steht für Leben, Tod, Leidenschaft, Liebe, für Wein, einfach für alles. Rosso ist ein ausdrucksvolles Wort, das wunderbar auf die Barockmusik und überhaupt auf die ganze Welt des Barock paßt. Daher ist diese CD für mich eben rot und nicht weiß.“ Das Recital ist eine geschickte Mischung von alt bekannten Namen (Händel, Vivaldi, Scarlatti, Marcello) und relativ unbekanntem (Sartorio, Porpora und Stradella) - eine Verkaufsstrategie, welche in den letzten Jahren des Öfteren zu beobachten ist. Händel stellt mit sechs Arien etwa die Hälfte der CD und appelliert an diejenigen, die diese Arien einmal mit Patricia hören wollen. Allerdings muß sie sich hier der Konkurrenz stellen.
Auf „Lascia ch'io pianga“ hätte sie ruhig verzichten können, die Arie ist zumindest mir durch ihre Allgegenwärtigkeit bis in die Kaufhäuser (z. B mit der Streisand) hinein verdorben. Im Vergleich mit der fehlbesetzten Bartoli oder auch Kozena (mit gleichem Orchester aber noch langsamer) ist sie überlegen und mit Fleming oder Cotrubas (beide unberührt von der Originalklangbewegung) gleichwertig, wenn auch durchaus unterschiedlich. An die schlichte Klage von Arleen Auger reicht sie m.E. nicht heran. Natürlich gibt es hier eine Fülle von weiteren Einzelaufnahmen, die ich aber nicht herangezogen habe (Zeitaufwand). Als Morgana in Alcina, „Tornami a vagheggiar”, gefällt sie mir besser als Natalie Dessay bei Christie. Die Stimme vom Patricia Petibon hat im Vergleich mehr Substanz, Farbe und eine gesunde Tiefe. In der Interpretation trifft sie das Frohlockende dieser Arie sehr gut – trotz oder vielleicht auch wegen kleiner Manieriertheiten. Veronica Cangemi hat gewiß eine schöne Stimme, die sich leider durch Boltons Begleitung auch interpretatorisch nicht entfalten darf. Generell ist das Zusammenspiel von Andrea Marcon mit dem Venice Baroque Orchestra und der Sängerin den obengenannten Aufnahmen deutlich überlegen. Ihre Alcina, „Ah, mio cor”, ziehe ich Aufnahme von Fleming und Harteros vor. Die Fleming hat sicherlich die reichere Stimme, aber sie macht daraus wenig. Man höre sich allein die Variationen von „perché“ an, dieses ‚Warum‘ an die Götter erinnert den Hörer durchaus an seine eigenen Fragen an das Schicksal. Harteros ist leider auch nicht sonderlich differenzierend und könnte ihr Vibrato schon einmal mit einem geraden Ton unterbrechen. Wem das radikales Ausdrucksstreben von Petibon zuviel ist, sei an Arleen Auger in der Gesamtaufnahme unter Hickox (Orchesterklang leider mulmig) verwiesen: eine schöne, leuchtende Stimme, die Rolle mit viel Ausdruck gestaltet, dem es der Sutherland leider mangelt. Auch Augers Zornesausbruch in „Ma, che fa gemendo Alcina?“ ist überzeugend, wenn nur das Orchester das Tempo mehr anziehen würde.
Aber der eigentlich interessante Teil der CD sind die weniger bekannten Arien. "Quando voglio" aus der Oper "Giulio Cesare in Egitto" von Antonio Sartori beginnt mit Trommeln und Kastagnetten und fetzigen Streicherrhythmen. Petibon singt, tanzt, spricht, stöhnt, stockt, aber immer im Rhythmus und endet flüsternd. Eine sehr sinnliche Aneignung Kleopatras im Geiste Carmens. Es folgt die Klage "Ansaldo Ansaldi" aus dem Oratorium "San Giovanni Battista" von Alessandro Stradella. Welch ein Wechsel, ganz instrumental geführt entsteigt die Stimme den Streichern. Gesang pur.
Petibon reizt die barocke Affektenlehre bis auf das letzte aus, überschreitet dabei vokale Grenzen, aber selbst wenn ihr etwas nicht gelingt, da kommt die Bühne des Lebens aus den Boxen. Da wird gejauchzt, gestöhnt, geschrien und geflüstert, so wird das Leben Ismaels in Scarlattis Il Sedecia, Re di Gerusalemme, „Caldo sangue“, im wahrsten Sinn des Wortes ausgehaucht. Vielleicht kann man diese Musik nur auf diese Weise für die Moderne retten. Es ist mir vollkommen klar, daß dieses hinter den Notentext gehen bzw. darüber hinausgehen nicht jedem gefallen kann, aber diese Musik verträgt das. Natürlich geht das bei Mozart nicht. Petibon läuft dann m.E. Gefahr, tendenziell wie als Despina oder Blonde die Rollen zu karikieren – obwohl sie in diesen Rollen immer noch „klasse“ ist und sich vom Ensemble abhebt.
Im übrigen geschieht dieses Überschreiten der Singstimme meist nicht aus Not, sondern im Bewußtsein vokaler Möglichkeiten. Wenn Petibon haucht, dann muß sie nicht wie etwa die Bartoli überbrücken, daß ein gesundes Pianissimo nicht mehr zur Verfügung steht, welches Petibon in Händels Giulio Cesare in Egitto, "Piangero la sorte mia“, präsentiert.
Natürlich hat sie auch Grenzen. In Vivaldis "Siam navi all'onde algenti" aus L'Olimpiade" ist Petibon nicht so geläufig wie Simone Kermes und muß die Koloraturen stimmlich zurücknehmen. Kermes hat einerseits die etwas substanzreichere Stimme und ist ihr auch koloraturtechnisch überlegen, aber wie effektvoll Petibon hier, aber auch nur hier, aus der Not eine Tugend macht, ist sehr gelungen. Übrigens hätte ich nie gedacht, daß sie über eine solche Bruststimme verfügt. Ich glaube allerdings nicht, daß die Kermes ein solch schönes und lang anhaltendes Legato wie Patricia in Sartorios L'Orfeo, „Orfeo, tu dormi“, gelingt. Es sind solche Arien, wie auch die bereits genannte Scarlatti-Arie Caldo sangue die auch den penibelsten Kritiker verstummen lassen muß.
Die genannten Einwände bei Vivaldi bedeuten nicht, daß ihr Koloraturen, Staccati oder Registersprünge nicht gelingen. Entscheidend ist, daß diese Mittel nie Selbstzweck sind. So können wir bewundern, wie ihre instrumental geführte fast mit dem Orchester verschmelzt, ebenso wenig Mühe bereiten ihr langgezogene Messa di voce-Effekte und ihre Vibrato-Kontrolle ist geradezu verblüffend.
Empfehlen kann ich jedem Liebhaber dieser Sängerin aber auch dem Neugierigen das Video auf der Website der Deutschen Grammophon. Selten habe ich eine Sängerin im Studio mit solch einem Körpereinsatz gesehen und wie wunderbar dieser mit der Musik korrespondiert. Einsatz ist vielleicht das falsche Wort, die Musik springt ihr in Körper und Glieder. Da wird manches auf der Bühne, was man als Personenregie begriffen hatte, als ihr ureigenster Beitrag erfahrbar.
Resümierend möchte ich meinen, daß uns Paticia Petibon auf überzeugende Weise in die musikalische Gefühlswelt des 17. und frühen 18. Jahrhunderts führt, indem es ihr gelingt deren eigenartige Melange von wahren und künstlichen Gefühlen in ihrer Kunst zu vereinen. Wer nur eine weitere CD voller Bravourarien auf dem Markt befürchtet hat, wird angenehm enttäuscht. Natürlich erwarten den Hörer auch Koloraturen, Staccati oder Registersprünge, vor allem aber eine seltene Ausdrucksradikalität, die gerade auch in den überwiegend ruhigen und besinnlichen Passagen punktet.
Liebe Grüße an alle
arimantas
P:S. Da ich nicht ganz auf dem Laufenden bin, weiß ich nicht, ob die CD bereits von einem Tamino besprochen wurde.