Beiträge von Ullrich

    Anner Bijlsma: Es muss einen überkommen, es muss einfach passieren.


    Der am 17. Februar 1934 in Den Haag geborene niederländische Cellist Anner Bijlsma (Bylsma) starb 85jährig am 25. Juli 2019 in Amsterdam.


    Anner Bijlsma spielt J. S. Bach, Erste Suite für Cello allein in G-Dur BWV 1007 (11. Juli 2000, YouTube)


    An erster Stelle Mensch, Humanist, Musiker, Lehrer. An zweiter Stelle, aber zuerst und prominent wahrgenommen: Cellist. Das Cello war seine Stimme, mit der er seine Lebensphilosophie kommunizierte - dieser stille, bescheidene, bedächtige, humorvolle Mann, dieser reflektierte Vertreter einer Musikergeneration, aus der die historisch informierte Praxis des Musizierens hervorging. Wer ein wenig dieser einzigartigen Persönlichkeit nachspüren möchte, der lese das Interview „Zu Besuch bei Anner Bijlsma“, das Bijlsma Ende 2017 für Stefan Siegert und das VAN Magazin gegeben hat (Suchbegriffe: van siegert bijlsma oder: Facebook -> VAN Magazin). Der in der Überschrift wiedergegebene Satz entstammt diesem Interview, das eine Vielzahl von ausführlichen Zitaten enthält und schon deshalb lesenswert ist: die Weisheit eines ganzen Musikerlebens.


    Verstummt war sein Cello krankheitsbedingt schon 2005, aber das hinderte ihn nicht daran, weitere neun Jahre seine Meisterkurse zu geben. Ich trauere um den Verlust dieses großartigen Menschen, der in seinen Aufnahmen weiterleben wird. Aus deren Vielzahl sticht für mich seine letzte Aufnahme der Bach-Suiten heraus, die er 1992 für Sony Vivarte auf dem Stradivari-Cello „Servais“ (1701, Collection of the Smithsonian Institution) im Kammermusiksaal der American Academy of Arts & Letters, New York City, aufgenommen hat: Man höre sich nur einmal in das Präludium der ersten Suite ein: Es gibt keine Routine, keinen Akademismus, fernab von allem Dogmatischen fühlt er diese Musik in wechselnden, dramatisch sich aufbauenden Tempi, bis er abrupt wieder das Eingangstempo einschlägt und den Satz so auslaufen lässt. Das ist eine hochspannende Gestaltung, wie ich sie sonst nirgends gehört habe.


    Lieber Willi,


    das war absolut positiv zugunsten von Järvi gemeint. Im Vergleich zu dem "Hexenkessel", den Järvi da mit seinen Frankfurtern stellenweise entfesselt hat, hörte sich Sinopoli mit seinem Philharmonia O. fast blass an. Allerdings muss man einfach in Rechnung stellen, dass es da schlichte Begrenzungen aus der Aufnahmetechnik heraus gibt ... Sehr bewundert habe ich die Fähigkeit Järvis, diese elende Partitur durchhörbar zu machen - naja, sagen wir mal, hörbar zu machen, was diese Partitur hörbar zu machen eben zulässt.


    Ich finde es super, dass Du Dich für dieses Stück interessierst, lieber Willi, ganz sicher. Da wird das, was wir als Romantik kennen, bis ins Unerträgliche hinein auf die Spitze getrieben, und es auf sich zu nehmen, sich diesem Moloch auszusetzen, ist aller Ehren wert. Irgendwann gehst Du vielleicht den nächsten Schritt und interessierst Dich für "den Schönberg", der nach dieser frühen Phase kommt - vielleicht wirst Du dann feststellen, wieviel zugänglicher und bekömmlicher Schönberg dann schrieb ...


    Gesessen haben wir in Reihe 18 irgendwo im rechten Bereich. In diesem wunderbaren Saal hat es wirklich eine ausgesprochen schön durchgezeichnete Akkustik.

    Lieber Willi,


    eine grandiose Piano- und Pianissimo-Kultur, da gebe ich Dir Recht. Aber gerade den langsamen Satz des Klarinettenkonzerts habe ich so schamlos romantisierend lange nicht mehr gehört. Selbstverständlich bot das den geeigneten Untergrund für Sharon Kams recht gefühlsbetonten Ansatz. Ihre Legatokultur unterscheidet ihren Mozartansatz tatsächlich von anderen, sie neigt für mein Ohr dazu, luftschlangenartig die melodischen Girlanden aneinander zu binden, dass es eine Freude ist. Das erzeugt streckenweise eine ganz eigene schwebende Atmosphäre. Dass sie das Mozartkonzert auch technisch in jeder Hinsicht bewältigt, hat Sharon Kam auf ihren beiden Aufnahmen unter Beweis gestellt - am Samstag waren mir dann doch zu viele Schleifer und (teil-)verschluckte oder verkürzte Einzelnoten dabei. Aber unterm Strich: Ich habs genossen, Sharon Kam nach so langer Zeit mal wieder im Konzert zu hören, das war mir eine echte Freude. Verfolgt hatte ich ihren Weg kontinuierlich, seit sie nach dem ARD-Musikwettbewerb groß rauskam. Schön fand ich auch, dass sie auf der Bassettklarinette spielte - allerdings ein moderner Bau.


    Ich bin schon Schönberg-Fan, so ab dem zweiten Streichquartett etwa, aber diese ollen frühen Schinken, an denen habe ich schon immer schwer zu würgen. Eine Woche früher hatten wir hier in Bonn die Gurre-Lieder, das war vielleicht noch schwerer verdaulich, klanglich und lautstärkemäßig auf die massiven Heerscharen bei Pelleas und Melisande noch einiges draufgesattelt. Goutieren kann ich das nicht, ich nehms dann eben aus historischem Interesse - irgendwie muss man das kennen, um zu verstehen, dass die tolle Musik, die Schönberg danach schrieb, quasi als unausbleibliche Reaktion auf diese Höchstspätromantik sein musste.


    Jeden Respekt vor der Leistung der Hessen, grandios dieses Orchester.


    Paavo Järvi ist für mich ein Phänomen jedes Mal, wenn ich ihn sehe - wie kann ein Dirigent mit dem Charisma einer holzgeschitzten Marionette es auf die Vielzahl der Posten schaffen, die er so beackert? Sein Dirigierstil - also nur bewegungsmäßig - erinnert ja in vielen einstudierten Schlenkern an Furtwängler, vielleicht liegts daran?


    Pelleas und Melisande habe ich in der Aufnahme unter Sinopoli - das gibt nicht annähernd etwas von dem Eindruck wieder, den Järvi am Samstag von dem Stück ausgebreitet hat.

    Dvoraks Streichquartette habe ich mit dem Panocha-Quartett (Supraphon) und bin davon höchst begeistert - Einzelaufnahmen von anderen Quartetten mögen den Panochas diese oder jene Meriten voraus haben, als Gesamtaufnahme ist das für meine Ohren unerreicht schlüssig. Von den Stamitzens habe ich mich sehr schnell wieder getrennt - farblos in der Gestaltung und ein unzumutbarer Aufnahmeklang.

    Dementsprechend bin ich von den Panochas, ihrer Farbigkeit und Unmittelbarkeit, auch bei den Trios begeistert (die ich allerdings nur mit ihnen kenne), nämlich das Terzetto hier: ( )(<- zielst Du zum Klicken genau dorthin, bitte) und die Miniatures bei der nebenstehenden CD.

    Eine sehr nette Idee zu Günter Wands 100. Geburtstag und zehntem Todestag: Das BBC Symphony Orchestra, dessen Principal Guest Conductor er 1982 bis 2002 war, richtet jetzt den "Günter Wand Conducting Chair" ein - allerdings speziell für Semyon Bychkov, womit der Wunsch nach weiterer partnerschaftlicher Zusammenarbeit zum Ausdruck gebracht werden soll.

    Zitat

    Kann es nicht sein, dass das Trio eine Möglichkeit ist, Melodien zu präsentieren, die relativ allein dastehen können, die also nicht durch orchestrale Kniffe aufgepeppt werden können/müssen?. Mir kommt es oft so vor, dass manche großartige Synfonie melodienmäßig gar nicht so viel zu bieten hat. Vielleicht ist es ja sogar so, dass so manche kleine Melodie nur unter diesen Umständen, also in kleinem Rahmen, bestehen kann.

    Lieber Klaus, so hab ich es noch gar nicht gesehen, aber es ist bestimmt richtig, dass die Ausprägung der jeweiligen musikalischen Gestaltungsmittel und das Gleichgewicht zwischen den einzelnen Parametern sicherlich auch von der Besetzungsstärke und -zusammensetzung bestimmt wird. Ein Trio erreicht weder die Klangfülle noch die Lautstärke eines romantischen Orchesters. Ich könnte mir wie Du vorstellen, dass davon eine Rückkoppelung auf die individuelle Melodiengestaltung ausgeht. Andererseits gibt es ja gerade bei Beethovensinfonien diese Liszt-Bearbeitungen für Klavier oder auch seine eigenen für Klaviertrio. Oder die verschiedenen Versionen von Schönbergs Verklärter Nacht für Streichsextett, Kammerorchester und Klaviertrio. Oder die Bearbeitungen diverser Streichquartette für Streichorchester. Brahms' Fünfte Sinfonie von Schönberg. Bachs Orgelwerke für romantisches Orchester. Bruckner-Sinfonien oder Wagner-Vorspiele für Orgel. und und und ... Alles das funktioniert ja, mal mehr, mal weniger gut. Mit Schwerpunkt auf den Melodien, dem Rhyhmus oder der Harmonik.


    Also diese Beispiele scheinen mir eher nicht dafür zu sprechen, dass die Kammermusik, das Trio ... einen besonderen Schwerpunkt auf der Melodie hat. Klar finden sich z. B. in den Streichtrios von Beethoven, Schönberg, Mozart schöne Melodien - aber das ist doch auch im ganzen übrigen Werk dieser Komponisten der Fall. Mir geht es eher so, dass ich diese ganz andere Klangwelt in der Kammermusik, eben auch in den Trios suche, manchmal dieses durchsichtige Gespinst, dass so wenige Musiker zu schaffen in der Lage sind. Aber die können auch richtig reinhauen, wenn es z. B. bei einem Bartók-Quartett schlagzeugmäßig zur Sache geht. Heißt: mich begeistert bei den Trios eher, dass so wenige Musiker mit ihren eigenen Mitteln genauso in der Lage sind, die ganze Vielfalt einer Musikwelt zu schaffen, wie dies auch einem Orchester gelingt. Die Entscheidung, ob für ihn die Melodie oder andere Parameter im Vordergrund stehen sollen, muss jeder Komponist bei Kammermusik genauso wie bei einer Sinfonie und jeder anderen Gattung treffen, scheint es mir.


    ps.: Ich weiß, der Hinweis kam schon mal von anderer Seite, aber mir tut es irgendwie immer körperlich weh, wenn ich Dich etwas über Sinfonien schreiben sehe, deswegen gestatte mir die offene Frage: Könntest Du Dich gegebenfalls überwinden, Deine höchst individuelle Schreibweise von Sinfonie aufzugeben und Dir eine der beiden vorgesehenen Schreibweisen Sinfonie oder Symphonie auszusuchen? Ich fänd's super und würde Deine Beiträge dann noch lieber lesen.

    Zitat

    P.S. Warum hört man eigentlich die Neunte so selten im Konzert? Haben die Dirigenten heute Angst davor?

    Warum hast Du diesen Eindruck, lieber Willi? Die nächste Gelegenheit in der Nähe dürfte am 22. und 23.02.2013 in der Kölner Philharmonie sein, Andris Nelsons dirigiert das WDR Sinfonieorchester Köln. Direkt anschauen/-hören kannst Du Dir das Konzert vom 12.02.2011 in der Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker mit Simon Rattle. Am 28.04.2012 war sie im Rahmen des Brahms-Festivals an der Musikhochschule Lübeck unter Jens Georg Bachmann zu hören. Das Studio Orchester Ulmer Musikfreunde e. V. spielte sie in Ulm am 20.11.2011 unter Wilhelm F. Walz. Am 17. und 18. Juni 2012 hättest Du sie im Kieler Schloss mit den Kieler Philharmonikern unter Georg Fritzsch hören können - soweit einfach mal zusammen geschrieben, was mir auf erste Anfrage unter den Google kam. Für mich klingt das nicht nach selten und auch nicht nach Angst.

    Das ist ja nett, genau dieselbe Assoziation hatte ich auch, nämlich just zu Tochs Cellokonzert - wenn schon auch recht entfernt. Dass Toch trotz seiner Rückbezüge eine etwas zeitgemäßere Tonsprache findet, ist ganz sicher richtig - aber das scheint für Hans Gál nicht so sehr im Fokus gestanden zu haben.

    Operneinspielung des Jahres (19. Jh.) unter Abbado

    finde ich schon super.


    Aber noch besser kommt es bei der Operneinspielung des Jahres (20./21. Jh.). Der Preis geht nämlich an Stefan Blunier mit dem Beethoven Orchester Bonn und den Solisten, Chor und Extrachor des Theaters Bonn für Franz Schrekers Irrelohe.


    Glückwunsch!

    Hallo Joseph,


    ich freue mich, dass Du Dich so positiv äußerst - mit dem, was Du da sagst, triffst Du genau meine Eindrücke. Ich bin ausgesprochen hingerissen von dem, was ich bei Gielen höre - oder besser: es ist mitreißend, wie er seinen Beethoven dirigiert, und Du sagst völlig zu Recht: "nie gehetzt". Jedes seiner Tempi empfinde ich in dem Augenblick als "das richtige".


    Sehr schön!


    Ich bin gespannt auf Deine angekündigten weiteren Eindrücke.


    Die Erste und die Zweite sind so ... "anders" ... sehr gewichtig beethoven'sch ...

    Zitat

    Nun, ich kenne einen Komponisten namens Gal, dem es wichtig ist, von Hans Gáls Musik nichts zu kennen und nicht verwandt mit ihm zu sein - Gál hat in Österreich einen schlechten Namen, gilt als zu konservativ und uninteressant.

    Der Bernhard Gál mit seinem Aktionismus - ist schon klar, aber der künstlert ja auch zwei Generationen später herum. Ohrenschmausig hört sich das für mich nicht unbedingt an, was er so macht, kein Wunder, dass er in Österreich einen schlechten Ruf hat, aber konservativ kommt er mir nicht vor. Hans Gál komponiert schon eher konservativ, das ist ja im Ansatz nicht unbedingt was Schlimmes - könnte man für Pfitzner auch annehmen, ohne dass das der Ohrenschmusigkeit entgegen stehen müsste.

    Als ich gestern Hans Gáls Cellokonzert hörte, war mir wieder einmal völlig unklar, warum seine Kompositionen so überhaupt keine Rolle in der öffentlichen Rezeption spielen. In diesem Thread über Ohrenschmäuse müsste er an einer der vordersten Stellen genannt werden - und dabei lege ich durchaus den Ohrenschmausbegriff zu Grunde, von dem ich vermute, dass Alfred ihn in seinem Eröffnungsbeitrag anfordern wollte.


    Die Suche des Namens

    ergab, dass Hans Gál am ehesten noch als Musikwissenschaftler bekannt ist - als Komponist dann allenfalls noch jenen wie Holger Sambale, Davidoff oder Edwin Baumgartner. ... und das in einem wienzentrierten :no: Forum!


    Gerne lege ich seine Ohrenschmausmusik jedem ans Herz. Seine hinreißenden vier Sinfonien sind gerade in großbritischen Neueinspielungen erschienen. Sein Cellokonzert liegt in einer Neuerscheinung mit Antonio Meneses vor. Seine Klavier- und Kammermusik (Cello!) ist ausgesprochen entdeckenswert.


    Alles sehr ohrenschmausig!

    Zitat

    Jedes Taminomitglied muss sich entscheiden und darf nur eine Frage ankreuzen.


    Mir ist schon bewusst, dass ich eigentlich nicht berechtigt bin, in diesem Thread überhaupt Laut zu geben, nachdem ich mich bisher in keiner Weise in Euere Grabenkriege eingemischt hatte.


    Aber seht Ihr nicht auch die Gefahr, dass Ihr mit der Vorschrift "Nur ein einziges Kreuz" die Mehrzahl der TaminotInnen von der Abstimmung ausschließen könntet? Ich zum Beispiel könnte keine Stimme abgeben, weil ich mich bemühe, jede Aufführung (arg konzentriert ausgedrückt) aufgrund und im Kontext der ihr eigenen Gegebenheiten zu beurteilen. Von daher wären für mich zwingend alle drei Kreuze zu setzen.


    Aber "künstlerische Freiheit" wird ja bei ausführenden Künstlern in diesen heiligen Hallen nicht besonders hoch geschätzt, so viel habe ich im Zusammenhang mit Operndiskussionen immerhin doch schon mitgekriegt. Möglicherweise ist eine möglichst breite Beteiligung ja auch gar nicht gewünscht ...

    gar nicht erfolglosen Adorno.


    Ja, danke, auf den hätte ich auch so kommen können.


    Ich dachte jetzt eher auch an solche, die einen gemischten Weg gegangen sind und dabei vor allem als Lehrer reussierten, Beispiel: der von Norbert anderenorts ins Spiel gebrachte Robert Fuchs, Professor für Theorie in Wien, der als Lehrer von Mahler, Korngold, R. Strauss, Wolf, Sibelius, Schreker, Zemlinsky, des bei Alfred beliebten Melartin und anderen schon mal eher genannt wird denn als Komponist seines überschaubaren eigenen Oeuvres.

    Ich nehme an, dass die meisten Theoretiker zumindest in ihrer Jugend praktiziert haben, dann aber ihren eigenen Produkten gegenüber zu kritisch waren oder erkannt haben, dass die Theorie ihnen besser liegt.

    Weil ihnen die Phantasie und Begabung fehlten, um Arbeitsergebnisse zustande zu bringen, die ihrer gehobenen Kritikschwelle genüge taten? Weil ihnen die praktische Ausübung mangels Phantasie oder Begabung nicht so sehr lag?


    Oder wo siehst Du da die Zusammenhänge? Gib doch mal bitte ein Beispiel für so einen Jugendkomponisten, der sich später aus kritischer Sicht auf seine Produkte zurückzog, um der Theorie den Vorzug zu geben. Sibelius vielleicht, weil er seine achte Sinfonie vernichtet hat?

    Herzlichen Glückwunsch, Maestro!


    Hier trage ich natürlich Eulen nach Athen, wenn ich auf Kocsis' Einspielung der Bartók-Konzerte unter Iván Fischer hinweise. Aber die teilweise "gnadenlose" Perkussivität, die Kocsis hier entwickelt, muss man gehört haben. Und er entwickelt mit dieser "harten" Spielweise eben durchaus einen wesentlichen Aspekt von Bartóks Musik, der nicht von allen so ausgespielt wird, schafft aber zugleich eine ausgewogene Sicht, indem er den lyrischen Grundton dieser Musik niemals vernachlässigt.


    Kocsis' Aufnahme der vier Klavierkonzerte von Rachmaninov unter Edo de Waart hat mir diese Musik erschlossen. Noch heute greife ich immer wieder mal zu diesen Aufnahmen: Kocsis hat Rachmaninovs ausdrucksform für meine Ohren vielleicht besser erfasst als viele andere nach ihm.


    Eine Offenbarung war jedoch meine erste Begegnung mit Kocsis als Dirigent. Noch keine dieser Aufnahmen hat mich bisher enttäuscht. Besonders hervorheben möchte ich seinen Bartók mit der Ungarischen Nationalphilharmonie für seine (gefühlte) Authentizität und seine für meine Ohren vollkommene Ausführung!

    Ja, lieber Wolfram, aber was Du hier einforderst, ist die subjektive Einbringung von persönlichen Erfahrungen oder von solchem Teufelszeug wie Gefühlen. Wie sich aus der einen oder anderen Äußerung ergibt, hält mancher dies für Schwäche und erklärtermaßen für etwas unbedingt zu Vermeidendes. Man könnte hier einen wie auch immer gearteten Schutz- oder Abwehrmechanismus vermuten, oder auch sonstige Ursachen. Auf mich persönlich wirkt ein solcher Objektivismus wenig authentisch und nicht sehr vertrauenerweckend. Andererseits empfinde ich Menschen, denen es bedauernswerterweise nicht gelingt, dieses Gefängnis ihrer selbst zu durchbrechen, auch wenig interessant - um so mehr, wenn bei ihnen noch andere unangenehme Eigenschaften hinzukommen. Aber ich schweife ab, natürlich hat alles dies nichts mit einem Forum für klassische Musik zu tun - zurück zur Schönheit der Musik.


    Nachdem Helmut so freundlich war, den Blick auf subjektive Einflüsse zu gestatten, verstehe ich Dich richtig, dass Du persönliche und kulturelle Einflüsse und solche der Zeitperiode auf die individuelle Wahrnehmung dessen, was schön ist, für bedeutender hältst, als bisher angenommen werden durfte? Das würde ich ohne Weiteres bejahen. Wobei wir einerseits ja heute schon in Zeitabschnitten von mehreren Jahrhunderten denken können, wenn wir Heutigen in der Musik zum Beispiel des Barock - oder noch viel früher - schöne Stellen finden. Andererseits ist die kulturelle Globalisierung offensichtlich, wenn einige unserer besten Musiker und größten Klassikliebhaber aus z. B. Japan und China kommen.


    Warum aber bringt der Ästhetikprofessor trotz seines breiten Wissens und seiner tiefen Erkenntnisfähigkeit eventuell selbst kein schönes Musikstück zustande? Könnte es sein, dass individuelle Fähigkeiten beim Komponisten hinzutreten müssen, die sich mit der geisteswissenschaftlichen Elle vielleicht doch nicht ohne Weiteres messen und benennen lassen? So etwas wie Phantasie, Begabung, Gestaltungswillen ... oder gar ein göttlicher Funke?

    Die Tonqualität ist übrigens eine riesige Überraschung. Die DG fabrizierte bis in die siebziger Jahre wesentlich verrauschtere Sachen.

    Naja verrauscht - Du weißt schon, dass die DG in den 70er Jahren noch keine SACDs produziert hat, oder? Es könnte schon sein, dass die originale NWDR-Aufnahme noch ein wenig mehr Rauschen bot als die jetzt auf dieser Hybrid SACD angebotene digitale Bearbeitung. Aber das Hörerlebnis (Klarheit, Rauscharmut, Verzerrungsfreiheit) - da gebe ich Dir gerne Recht - ist überwältigend, wenn man das unvorbereitet hört. Dabei würde mich schon interessieren, wie sich SACD Multichannel bei einer Mono-Aufnahme auswirkt. (Ich höre so eine Hybrid-Platte ja nur mit zwei Ohren auf Kopfhörer.)


    Davon mal abgesehen: Ja, diese Erste ist gewaltig, sog- und rauschhaft, und zwar für meine Ohren besonders im dritten und vierten Satz - von daher teile ich Deine Einschätzung völlig. Aber auch diese Haydn-Variationen gehören für mich zu den Besten.

    Wir befinden uns hier ja schließlich ... nicht in einem philosophischen Seminar.

    Für diese Klarstellung, lieber Helmut, ausspreche ich meinen Dank, denn genau dieser, wie Du jetzt anmerkst, fälschliche Eindruck konnte - nein: musste - sich dem unbefangenen Leser in den letzten Wochen an verschiedenen Stellen auf den Seiten des Tamino-Klassikforums aufdrängen.



    Du argumentierst in Deinen Ausführungen prozessual.

    Ja, sozusagen naturgesetzlich zwingend, den von Haus aus bin ich Jurist, in und von Prozessen lebe ich.



    Sie denkt gleichsam statisch.

    Hat sie dann nicht ein methodisches Problem? Musik ist ein Prozess, sie ist im Entstehen und im Vergehen begriffen und ist nur so lange, als sie wird. Sobald der Prozess beendet ist, existiert auch die Musik nicht mehr. Wie kannst Du also einem Betrachtungsobjekt, das qua seiner natürlichen Existenzumstände nur prozessual existiert, mit einer statischen Methode beikommen wollen? Die Methode ist dem Objekt nicht angemessen und kann schon deshalb nicht zu zutreffenden Ergebnissen führen.



    Entscheidend für die Frage, wie ich die Sonate als musikalisches Kunstwerk höre und beurteile, ist das, was sich im Augenblick der Interpretation akustisch ereignet.

    Aber dann kannst Du doch schon methodisch keinerlei Aussagen über das musikalische Kunstwerk treffen. Denn Du betrachtest ja nur einen Abklatsch des musikalischen Kunstwerks, der durch die Vielzahl der von mir oben genannten Parameter praktischer Musikexistenz kontaminiert ist - Ausführende, Raum, Rezipienten etc. Du betrachtest - um Dein Beispiel aufzugreifen - Pollinis Nachschöpfung von Schuberts B-Dur Sonate am {Datum} um {Uhrzeit} im {konkreten Konzertsaal} vor {Anzahl oder namentliche Benennung} Zuhörern - aber was viel schlimmer ist: Du kannst wesensnotwendig nur das betrachten, was Du von dieser Darbietung Pollinis wahrgenommen hast und wie Du es wahrgenommen hast, und mit Du meine ich tatsächlich Dich als konkrete rezipierende Person, denn ich als konkrete rezipierende Person werde etwas völlig anderes wahrgenommen haben. Da Ästhetik, wie Du behauptest, den Augenblick des akustischen Ereignisses betrachtet, kann Ästhetik mithin immer nur das subjektive Erleben des Ästheten beschreiben. Dann ist Ästhetik ja offenbar eher eine Art von Poesie und also als Subjekt ein Objekt ihrer selbst. Mindestens ist sie von allgemein gültigen Aussagen weit entfernt, da sie die subjektive Ebene aus methodischen Gründen nicht verlassen kann. Das wiederum finde ich ein bisschen armselig für die vielen Worte, die darum gemacht werden.



    Das, was Pollini gerade spielt, ist für Kant ein "Gegenstand" der Wahrnehmung

    Ich stelle mal einfach so die Lebensdaten in den Raum: Kant 1724-1804, Pollini geboren 1942. Dass Ästhetik nicht zu den exakten Wissenschaften gezählt werden kann, legen, so scheint es mir, verschiedene Betrachtungen im vorliegenden Forum dringend nahe - auch wenn dies kein philosophisches Seminar ist. Aber die Behauptung, Pollinis Spiel sei Gegenstand von Kants Wahrnehmung, ist entweder dreist oder bedarf doch noch einmal einer eingehenderen Betrachtung unter Gesichtspunkten der Metaphysik oder Religionskritik.



    Ich bin sehr wohl am Hören interessiert, aber nicht an der "Verwertung" des Gegenstandes in irgendeinem Sinn. Denn: Was "schön" ist, lässt sich nicht "verwerten". Das ist sein Wesen.

    Lieber Helmut, dass Du nicht an der Verwertung von Pollinis Klavierspiel interessiert bist, habe ich Dir ja gerne geglaubt. Aber Du hast die Fähigkeit, solchen Aussagen, die irgendwie ganz ok klingen, dann noch eine Schote hinter her zu schicken, mit der man sich nur lachend in die Ecke schmeißen kann - das ist schon köstlich! Da gibst Du dem Begriff "happy end" immer wieder eine neue Bedeutung.

    ob sie bereits aus den Noten vor dem inneren Ohr des Subjektes zu tönen beginnt.


    Übrigens ist das ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, dass das Subjekt sehr wohl eine Rolle spielt.

    :yes: Lieber Wolfram, dieses Hören der Partitur vor dem inneren Ohr, die Fähigkeit, die gelesene Partitur bereits in der eigenen Vorstellung in Musik um zu setzen, hatte ich bereits als Hörvorgang, als Wahrnehmen der (selbst und intern) aufgeführten Musik verstehen wollen. Es fällt quasi das Parameter Hörraum als beeinflussendes Element weg. Das ausführende und das rezipierende Subjekt werden eins, aber der Vorgang ist der oben beschriebene: zur niedergeschriebenen Partitur tritt der existenznotwendige Vorgang des Musikmachens hinzu, die Rezeption.



    Zitat

    Andere Frage: Wäre ein "schöner" Sonnenaufgang auch dann schön, wenn kein Mensch auf der Erde wäre, um ihn zu sehen?

    Da auf diesen Seiten so mancher ja mit Vehemenz die Auffassung vertritt, Schönheit sei ein philosophischer Begriff und müsse es auch bleiben, kann die Antwort nur lauten: "Nein". Ein "schöner" Sonnenaufgang wäre nichts, jedenfalls nicht schön, denn ohne Menschen wäre keine Philosophie.

    Schönheit ist aber ein Wesenmerkmal dieses Objekts selbst.

    Das behauptest Du mal einfach so. Aber vielleicht hat Kant ja das Ganze auch nicht richtig zu Ende gedacht.


    Wann entsteht denn Schönheit? Und an dieser Stelle konzentriere ich mich mal auf Musik und deren schöne Stellen. Schönheit der Musik kann doch frühestens dann entstehen, wenn die Musik entsteht, oder? Wann entsteht die Musik? Wenn Sie aufgeführt wird. Denn erst dann wird sie wahrgenommen. Bis dahin ist sie beschmiertes Papier, und nach dem Verklingen des letzten Tons ist sie wieder nur beschmiertes Papier.


    Die Erfindung der CD und ihrer Vorgänger hat daran nichts geändert. Denn auch die Bits und Bytes auf der CD werden erst dann Musik, wenn das Abspielergebnis durch einen Menschen wahrgenommen wird. Im übrigen leben wir ja gewohnheitsmäßig mit der Fiktion, dass die Bits und Bytes ein Abbild einer vorangegangenen Aufführung von Musik durch Menschen dokumentieren.


    Wenn aber Schönheit der Musik frühestens mit der Musik selbst entsteht, ist Schönheit doch nicht denkbar, vor allem nicht erfahrbar, nicht wahrnehmbar ohne alle Begleitumstände, die das Ergebnis von Musikaufführung bedingen. Das heißt: das Objekt selbst, also das beschmierte Papier, also die Komposition der Musik, also der Beitrag des Komponisten zu der ihm zugeschriebenen Musik, ist nur ein Anteil des Ganzen, ein Teilbeitrag zur Musik und damit ein Teilbeitrag zu ihrer Schönheit oder Unschönheit - und an dieser Stelle sei einmal offen gelassen, wie groß dieser Anteil ist.


    Aber am Ende des Tags ist eben dieser Teilbeitrag nichts, wenn die Musik nicht aufgeführt und deshalb nicht wahrnehmbar wird. Es müssen die Musiker ihren Beitrag leisten und ihre Vorstellung von dem umsetzen, wovon sie glauben, dass der Komponist es sagen wollte oder das sie es mit der Musik sagen sollten, der Aufführungsort, Kirche, optimaler Konzertsaal, Besenkammer oder sonstiges hat seinen Anteil, der Rezipient hat seinen Anteil, ist er ausgeschlafen oder müde, widerwillig oder offen für Neues, schwerhörig oder mit gespitzten Öhrchen gesegnet und und und.


    Wenn also Musik und damit ihre Schönheit überhaupt erst unter Einfluss so vieler Parameter entsteht - greifen Kants und Hofmanns Ansätze zu kurz. Das Objekt hat - mindestens in der Musik - überhaupt keine Schönheit. Wenn Schönheit dann endlich entsteht, weil die Musik wahrgenommen wird, ist das Objekt nur ein Teil der Parameter, die Einfluss haben können auf die - in ihrer Entstehung als Musik höchst komplexe - Schönheit des Wahrgenommenen. Die reine Quinte kann dann je nach ihrer Ausführung und dem Ausmaß des Tinitus des Hörers und des Überhalls des Aufführungsorts hübsch häßlich werden.

    Was meinte Crock mit "Akrobat schööööööööööööööööön!"

    Nichts für ungut und ohne alle Besserwisserei: Mit Crock ist vermutlich Grock gemeint, dessen Markenausruf u. a. war: "Nit möööööglich!". "Akrobat - schööön!" war der Ausruf von Charlie Rivel. Weder Rivel (+1983) noch Grock (+1959) stehen derzeit hiesig für Nachfragen zur Verfügung.

    Bei Taschner ist alles so selbstverständlich und schwerelos, trotz tonlicher Einschränkungen, der Bruch ist einfach genial, mit einer wunderschönen Phrasierung im 2. Satz, die ich so noch nicht gehört habe. Das ist kein süßer Brei.

    Wie erfreulich, dass Du gerade seinen Bruch ansprichst. Das ist - aus genau den von Dir geschilderten Gründen - zu einer meiner Lieblingsaufnahmen dieses Konzerts geworden.

    Danke Harald, für diese Erinnerung.


    Gerhard Taschner ist für mich eng mit dem Violinkonzert von Fortner verbunden, das er mehrmals einspielte. Besonders die Aufnahme (interner Tamino-Link ->) unter der Leitung Furtwänglers schätze ich - anders als offenbar Furtwängler selbst - außerordentlich. Viel zu jung musste er seine kurze Karriere aufgeben, viel zu früh starb er.


    In seinen (wenigen) Aufnahmen ist uns sein Geigenton erhalten!

    Richtige Musik "zum Genießen" findet man aber kaum (oder doch ?). Das Argument, Musik müsse "erarbeitet" werden oder "erlitten" kann ich für mich nicht gelten lassen, Mozart mußte ich mir auch nicht "erarbeiten" Das gilt natürlich auch für viele andere Komponisten.

    Die Bedingung "Musik nach 1925" ist aber auch nicht so richtig durchgängig berücksichtigt in diesem Thread ...



    Als Musik, die man sich nun wirklich überhaupt nicht erarbeiten muss, werfe ich mal in den Ring:


    Hans Pfitzner, Sextett g-moll op. 55, ein spätes Werk, das an den Hörer nur wenig erschröckliche Anforderungen stellt und jedem, der seinen historisch berechtigten Widerwillen gegen Pfitzner hintan stellt, unmittelbar eingängig sein sollte.