Beiträge von Ullrich

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    Original von Rideamus
    nämlich mit Carlos Kleiber, von dem es leider keine 6. gibt.


    Lieber Rideamus,


    die Sechste mit Carlos Kleiber findest Du auf dieser Einspielung:



    Aber Vorsicht: Das ist nichts für den Einstieg! Das Bandrauschen erreicht mittlere Orkanstärke und nervt zunehmend, zumindest den Kopfhörerhörer zunehmend. Das Orchester hatte augenscheinlich nicht seinen besten Tag oder spielte mit dritter Garnitur. Die Klangqualität ist wie 1954er in Stereo. Aber die Interpretation ist überirdisch - eben Kleiber Sohn!


    Liebe Grüße, Ulrich

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    Original von Fairy Queen
    Ich werfe mal als versöhnliches Resümée den Goethe-Satz ein:


    Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen


    Liebe Feenkönigin,


    aber ob da die bierseligen Männer-Gesangvereine wirklich darunter fallen??? Ich weiß nich ich weiß nich ... :no: :no: :no:


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    Original von Fairy Queen
    Apropos Repertoire für Frauenchor: schonmal Poulenc, Vincent d'Indy und Rossini probiert?


    Dankeschön!!! Genau: Poulenc - der Hammer, d'Indy - ganz toll, nur Rossini muss nicht unbedingt, aber dafür Verdi in den 4 pezzi sacri - wundervoll :jubel: :jubel: :jubel:


    Zitat

    Original von Fairy Queen
    Ich gehe fast eine Wette ein, dass das für die Damen sagen wir mal"geistig anspruchsvoller" ist...


    Schade, da wird im Zweifel keiner gegenhalten ... :D


    Liebe Grüße, Ulrich

    Lieber Waldi,


    was für ein netter Einstieg, in vielem nimmst Du mir das Wort aus dem Mund.


    Als ich den Entschluss, um meine Aufnahme ins Forum zu bitten, einmal gefasst hatte, ging alles ganz einfach und schnell. Eine E-Mail an Alfred, noch am gleich Abend ein sehr angenehmer freundlicher Anruf von ihm - durch diese Ansprache gleich zu Beginn habe ich mich wie persönlich eingeladen und einfach herzlich willkommen gefühlt -, und dann folgte die Freischaltung binnen kürzester Frist. Den Ausschlag für meinen Entschluss gab letztlich völlig zufällig eine CD-Bestellung, bei der ich in Kontakt zu einem Forumsmitglied kam - letztlich war die Zeit ganz einfach reif.


    Was hat mich zuvor solange abgehalten?


    Die Möglichkeit, still und heimlich mit zu lesen, vermindert natürlich als solche schon den Leidensdruck, dass ich mit meiner Klassikleidenschaft im Familien- und Freundeskreis allenfalls gelitten bin. Die Gewissheit, dass da draußen in der virtuellen Welt noch mehr Freaks wie ich sind, an deren drängendsten musikalischen Problemen ich teilhaben durfte, beruhigt und pflegt das persönliche Phlegma, das die Anmeldung als nicht so vordringlich erscheinen lässt. So konnte ich eineinhalb Jahre gut mit dem bloßen Mitlesen leben.


    Andererseits gab es immer wieder und immer öfter den Kick, dass ich so gerne hier eine Meinung beigetragen und dort etwas ergänzt hätte und es einfach uncool fand, nicht unmittelbar mitschreiben zu können. Auf die naheliegende Idee, eine Mail über einen Moderator zu senden, bin ich gar nicht gekommen. Hätte ich auch nicht gemacht, weil meine Ehrfurcht vor dieser versammelten Fachkompetenz schon erheblich war (und immer noch ist) - und man will ja nichts Dummes von sich geben. Je weiter ich mit las, desto mehr bekam ich das Gefühl, allmorgendlich bei Freunden vorbei zu schauen, wie es denen denn heute wohl geht.


    Jetzt bin ich am sechsten Tag dabei und stelle gerade den 23. Beitrag fertig, mal längere, mal kürzere Beiträge, und ich merke, meine Probleme fangen gerade erst an: mein Eindruck von der versammelten Fachkompetenz war nicht etwa Augenwischerei. Es war schlicht Harakiri, im Beethoven-Irrwege-Fred meinen ersten Sachbeitrag zu posten, und auch noch zum Thema HIP. Ich kann doch niemandem das Wasser reichen, dessen ästhetische Urteilsfähigkeit an Adorno gebildet ist und der mit den Inhalten ganzer Bibliotheken, von deren Autoren ich vielfach noch nie gehört habe, um sich wirft. Ich habe mich doch nur durch jahrzehntelanges Hören, Reflektieren, Nachfühlen und ein bisschen begleitendes Lesen dazu durchgerungen, eine bestimmte Interpretationsrichtung als für mich als Hörer persönlich angemessen zu finden. Macht aber nichts: Erfreulicherweise lässt man hier auch die Underdogs leben. Jedenfalls war ich verblüfft, auf dieses erste Posting sofort Reaktionen zu erhalten und so völlig unvermittelt in den Lauf der Diskussion eingebunden zu sein. Allein schon dadurch hatte ich die Chance, meine Ideen zu überprüfen und weiter zu entwickeln - das ist etwas völlig anderes, als das bloße Mithören, bei dem ich die Botschaft wohl lese, allein sie nicht wirklich umsetze. Und in den nächsten Tagen stellte sich heraus: da sind auch Freds, bei denen ich mich nicht doppelt und dreifach schlagen muss.


    Die Themen sind so vielseitig und umfassend hier, dass ich immer wieder etwas finden werde, worauf meine Interessen anspringen. Das Schöne ist: Ich darf überall etwas dazu geben, muss aber nicht. Und ich gestehe gerne: Teil meines wohligen Gemeinschaftsgefühls ist auch das Wissen, dass meine Altersklasse hier stark vertreten ist - ich empfinde das immer noch als untypisch fürs www - und es keine Altersgrenze gibt, auch nicht nach oben.

    Also wenn dieser Fred noch offen ist, teile ich gerne mit, dass mir von den drei großen Konzerten Dvoraks


    das Cellokonzert h-moll op. 104


    das liebste ist. Einerseits natürlich schon deshalb, weil das ein Cellokonzert ist, dann aber auch, weil es mich in seiner Lebendigkeit, Vielschichtigkeit, Eloquenz aus dieser Trias am unmittelbarsten anspricht.


    Aus den diversen Aufnahmen, die ich kenne, bevorzuge ich die sagenhafte, noch gar nicht so alte mit Jean-Guihen Queyras, Jiri Belohlavek und der Prager Philharmonie. Wer hier den Thrill des Neuen, Andersartigen aus interpretatorischen Mätzchen sucht, für den gilt: Fehlanzeige. Aber für alle anderen ist dies eine in jeder Hinsicht beglückende Einspielung.

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    Original von Ulrica
    Lieber Ulrich,
    da muss ich dir teils widersprechen.


    Liebe Ulrica,


    dann widersprich mir doch jetzt mal ... :D


    Zugegeben, ich hatte den Idealfall des Frauenkammerchors im Hinterkopf, der sein Repertoire auch beherrscht. Aber das Risiko, dass das Können des Musikers hinter seinem Wollen zurückbleibt, lässt sich nie ausschließen. Aber dazu ist ja schon viel gesagt worden in diesem Fred.


    Die Gleichsetzung zeitgenössisch = grottenschwer ist so nicht zwingend. Aber ganz sicher gibt es auch grottenschwere zeitgenössische Literatur. Ob aber jetzt Regers op. 111 c so viel leichter ist, weiß ich nicht. :pfeif:


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    Original von Ulrica
    Die Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass es fast nur entweder Volksweisen dreistimmiger Art oder gleich neutönende Hammerstücke gibt, es fehlt das weite Feld der Klassik fast völlig.


    Och nö, so ist es jetzt aber doch auch nicht. Mendelssohn Bartholdy, Schumann, Brahms, Reger und andere, da gibt es doch eigentlich ganz viel, und nicht alles was neu ist, ist auch neutönend, und auch nicht zwingend gleich ein Hammerstück.


    Zitat

    Original von Ulrica
    während so mancher Männergesangsverein sich eine Menge einbildet (vor allem, dass man mit genug Bier in der Birne bereits zu höheren Sangeskünsten berufen ist :D).

    :hahahaha: :hahahaha: :hahahaha: :hahahaha: :hahahaha:


    Liebe Grüße, Ulrich

    Lieber Edwin,


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    nichts

    würde ich nie und nimmer behaupten! :angel:


    Deine Beschreibung des Museums im Design 2000 finde ich ja sehr hübsch. Aber was soll sie uns sagen???


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Leider ist das Museum leer, weil es zur Hängung der alten Objekte ungeeignet ist. Es ist aus Sicherheitsgründen (Brandschutz etc.) auch permanent geschlossen.


    Empfindest Du denn wirklich das alles als so blutleer?


    Gestern habe ich die Eroica mit Gardiner angehört. Hast Du das auch schon mal gehört? Der zweite Satz hat mich völlig fertiggemacht, diese Klangschichtungen, die da auf mich einstürmen. Der letzte Satz hat mich dermaßen mitgerissen. Das ist doch höchst lebendige diesseitige heutige Interpretation. Mitreißend, aufwühlend. Revolutionär! Wie kann da immer wieder das Wort vom "weichgespülten" Beethoven aufkommen, ausgerechnet bei Gardiner???


    Ich will nicht wieder auf Dausgaard zurückkommen, aber vielleicht hörst Du Dir das doch mal irgendwann an, lässt Dich davon ergreifen. Wie kann jemand diese Interpretationen als "lean", als schmalbrüstig empfinden? Ich kanns nicht nachvollziehen.


    Deshalb verstehe ich auch nicht dieses Museumsbild der leeren Räume, weil alles dies so lebendige Musik ist.


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Aber die Leute stehen davor und sagen: Ja, eine tolle Replik. Aber ich schau' mir lieber die xy-Kirche an, die ist wirklich aus dieser Zeit...


    Einerseits geht das ja leider nun mal so nicht mehr, unter anderem, weil die Damen und Herren Originalausführenden nicht mehr unter den Lebenden weilen und viele ihrer (Blas-)Instrumente ihre Spielbarkeit aufgegeben haben, und auch die erhaltenen nicht mehr den Klang, etc. pp., von damals haben.


    Aber vor allem deshalb ist das Bild schief, weil wir von höchst lebendiger, in jedem Augenblick ihrer Interpretation neu geschaffener Musik reden, und nicht von einem Steinkonglomerat, das vor Jahrhunderten so hingestellt wurde und sich seitdem im wesentlichen nicht mehr verändert hat.


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Soll heißen: Alle HIP-Aufführungen sind zwangsläufig Rekonstruktionen ...
    so klingt wie seinerzeit ...
    Aber die pure Nachahmung einer fiktiven (weil eben nicht 1:1, also mit Klangbeispielen, belegbaren) Aufführungssituation ...


    Welchem der diversen HIPpisten, lieber Edwin, ging es denn darum, eine Rekonstruktion, eine Nachahmung zu schaffen? Mir ist keiner bekannt. Nach dem, was ich so mitgekriegt habe, ging es doch darum, ein bereinigtes Fundament - um in dem Gebäudebild zu bleiben -, einen neuen Tanzboden zu bauen, auf dem die Musik mit veränderten Vorgaben neu interpretiert werden konnte. Dass das so klingt wie seinerzeit, der Illusion hat sich ganz sicher niemand hingegeben. Es ist von Anfang an immer nur darum gegangen, Musik zu interpretieren und dabei soweit wie möglich die musikalischen Mittel zu kennen, die in der Entstehungszeit zur Verfügung standen, und sich dem Einsatz derartiger Mittel anzunähern. Also ging es um lebendige Interpretation mit einem erweiterten Wissenshorizont, aber weder um Rekonstruktion noch um Nachahmung.


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    wenn sich das Ergebnis als relativ trockenes Aufsagen der Noten erweist.


    Wen meinst Du? Wer macht das denn so? Bitte Nachweise.


    :jubel: :jubel: :jubel:

    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Für mich muß also ein Interpret, will er von mir als solcher angesprochen werden, auch noch ein paar eigene Gedanken einbringen. Das kann im Extremfall der Typ Bernstein sein mit seinem philosophischen oder emotionalen Zugriff, oder, im entgegengesetzten Fall, der Typ Boulez mit seinem strukturellen und klanglich ausgerichteten Denken. Aber die pure Nachahmung einer fiktiven (weil eben nicht 1:1, also mit Klangbeispielen, belegbaren) Aufführungssituation ist für mich höchst unbefriedigend.

    :jubel: :jubel: :jubel:


    Ich freue mich sehr, dass wir uns so einig sein können. :hello:


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Abgesehen davon: Die Uraufführungssituation sagt wenig aus.


    Die Kenntnis von der Uraufführungssituation ist Teil der historischen Informationen, die wir zur weiteren Beurteilung benötigen. Wenn Grossmann und Schoonderwoerd mit kleinen Ensembles musizieren, ist ihnen ausweislich der den Aufnahmen mitgegebenen Texte ausdrücklich bewusst, dass diese Besetzungen zwar tatsächlich so gespielt wurden, sie sich aber auf die konkreten Räume bezogen, in denen einzelne Aufführungen durchgeführt wurden - speziell also im Palais Lobkowitz. Beethoven hat im Schriftwechsel mit Lobkowitz genau diese auf den Saal zugeschnittene kleine Besetzung als Mindestbesetzung gefordert. Ich empfinde gerade das Klangergebnis bei der von Grossmann im Palais Lobkowitz dirigierten Eroica als überaus bereichernd, weil es zeigt, dass in der richtigen Saalakustik auch die kleine Besetzung keine "Miniaturisierung" der musikalischen Wirkung zur Folge haben muss; das ist bei Schoonderwoerd leider nicht so günstig. Aber noch einmal: Alle Interpreten , die so etwas machen, sind sich bewusst, dass dies weder das Beethoven vorgeschwebt habende Non-plus-ultra ist, noch irgendeinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit für die Aufführungspraxis hat.


    Und: Ich finde das mehr als nur interessant, ich kann diese Interpretationen genießen.


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Außerdem erscheint es mir nicht wirklich sinnvoll, ein bestimmtes Werk in ein früheres Jahrhundert zurückzuverpflanzen, denn ich kann meine Hörerfahrung nicht zurückverpflanzen und mein Lebensgefühl auch nicht.


    Genau. Und weil das nicht sinnvoll und auch gar nicht möglich ist, versucht es auch gar niemand.


    Zitat

    Original von Edwin Baumgartner
    Ein programmatisches Stehenbleiben bei hip finde ich allerdings weniger hip als öde. Und in manchen Fällen wohl auch feige.


    Macht ja nix - bin ich eben ein kleiner Feigling :untertauch:


    Liebe Grüße, Ulrich

    Zitat

    Original von Ulrica


    diese Aussage verstehe ich nicht ganz. Meinst du, die Sängerinnen ließen sich leichter auswählen?!


    Liebe Ulrica,


    bitte verzeih die Missverständlichkeit.


    Ich meinte, dass wir über ein relativ klares, leider kleines Repertoire für Frauenkammerchor verfügen. Erfreulicherweise wird dieses laufend erweitert, und übernehmende Anleihen aus anderen Aätzen für gleichstimmige Chöre sind möglich. Aber in die Gefahr, sich mit einer Orchestermesse, einem Requiem oder Bachs h-moll-Messe zu übernehmen, gerät der Frauenkammerchor wohl eher selten. Deshalb, so meinte ich, mag dem Frauenkammerchor die geeignete Auswahl an aufzuführenden Musikstücken aus dem vorhandenen Repertoire gefahrloser gelingen. Danke für Deine interessanten Anmerkungen!


    Liebe Grüße, Ulrich

    Zitat

    Original von BigBerlinBear
    Andreas Staier auf einer sehr schönen Kopie eines Wiener Walther-Pianos aus dem Jahr 1785 lässt dei "Puppen tanzen", obwohl die meisten Beiträge dieser CD um das Jahr 1760 komponiert wurden und von ihrem Laufwerk her ganz eindeutig für ein Cembalo konzipiert sind. Das Freiburger Barockorchester begleitet unspektakulär und kompetent:
    Für mich eine der schönsten Haydn-Einspielungen des vergangenen Jahres :beatnik:

    Zitat

    Original von Chorknabe
    Im acapella-Chorgesang geht es um Homogenität, Zusammenklang, Unterordnung des Einzelnen für den Gesamtklang. Dafür muss der Einzelne einen sehr reinen und recht vibratoarmen Ton produzieren. Solistisch ausgebildete Sänger sind dazu häufig nicht mehr in der Lage. Das hat zur Folge, dass viele acapelle-Chormusik von Berufschören nicht wirklich klangschön bewältigt werden kann, weil diesen Chören stimmliche Möglichkeiten fehlen. Ser wenige ausnahmen wie bspw der RIAS-Kammerchor oder der Stuttgarter Kammerchor (hier bin ich mir jedoch nicht sicher, ob es ein echter Berufschor ist) sollen aber dennoch hier genannt werden. ...


    Hier ist also der eigentümliche Effekt zu beobachten, dass die Ausbildung der Profis sich offensichtlich negativ und nicht positiv auf die Möglichkeiten zur Gestaltung bestimmter Musik auswirkt. Was zusätzlich untermauert: Nichtprofis sind keineswegs per se schlechter als Profis!


    Lieber Thomas,


    schön, dass das mal einer so offen und mutig ausspricht :jubel:, Du triffst genau meine Wahrnehmung bei vielen Profichören.


    Der Kammerchor Stuttgart, wenn Du den unter Frieder Bernius meinst, ist ein reiner Profi-Projektchor, "immer setzt die Einladung zur Mitarbeit eine erfolgreiche vokalsolistische Ausbildung voraus", heißt es im Beiheft zu Carus CV 83.206. Gerade beim Kammerchor Stuttgart sind die Ergebnisse offenbar verschieden: Die Einspielung Felix Mendelssohn-Bartholdy, Hebe Deine Augen auf, Kirchenwerke VII, Carus 83.206 ist so ein typisches krasses Negativbeispiel: Da zittert und bebt es, man meint, die könnten einfach nicht sauber und geradeaus singen. (Nicht zu verwechseln übrigens mit der Stuttgarter Kantorei, einem sehr ambitionierten und engagierten Liebhaberchor, der sich auch fallweise professionelle Unterstützung hinzuholt.)


    Aber ich würde dem RIAS-Kammerchor das wunderbare SWR-Vokalensemble als löbliche Ausnahme professioneller Chorkultur an die Seite stellen wollen.

    Lieber Wolfgang,


    die wird auch gerne gelobt.


    Ich finde sie aber gerade für Mahlers Achte arg beschränkt in ihrer Aufnahmetechnik. Vor allem: Diese Aufnahme mit dem Frankfurter Museumsorchester hat kaum mehr etwas gemein mit dem, was Gielen zuletzt mit dem SWR-Symphonieorchester in seinem Zyklus und danach zur Zehnten (Cooke) gemacht hat, da sind wirklich Welten dazwischen. Deswegen: Lass Dich bitte nicht (gegebenenfalls) abschrecken von der alten Aufnahme der Achten.


    Liebe Grüße, Ulrich

    Zitat

    Original von Stabia
    Ich denke, es ist legitim, herauszufinden, in welchen Klangvorstellungen die Komponisten ihre Werke geschrieben haben.u nd bei Beethoven müssen es ja wirklich nur Vorstellungen, Erinnerungen gewesen sein. Die Instrumention, die einen so wesentlichen Einfluß auf den "Sound" hat konnte ja nur so und nicht anders ausfallen, wie der Komponist wußte, wie es klingt und seiner Meinung nach klingen soll.


    Liebe Stabia,


    ist zwecklos, kannst Du vergessen, Edwin versteht das nicht. :no: Da könntest Du ihm ein ganzes Buch schreiben.


    Ich muss allerdings sagen, mir geht es umgekehrt genauso. Ich verstehe auch nicht, was das bedeuten soll, wenn die Forianer hier Musik für das einundzwanzigste Jahrhundert hören wollen, oder wie das hier immer formuliert wird. Versteh ich wie gesagt nicht, weil die KollegInnen doch selbst Beethoven für das neunzehnte Jahrhundert hören. :baeh01: :baeh01: :baeh01:


    Na, sei's drum.


    Ich habe mir aufgrund Deiner freundlichen Empfehlung zur Siebenten mit Dausgaard heute seine Einspielung der Achten zugelegt, und muss sagen: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: :jubel: Selbst für Edwin, wenn er sich das denn mal unvoreingenommen anhören würde, könnte die Besetzungsstärke keine Rolle mehr spielen, weil die Akustik der Konzerthalle in Örebrö einen wundervollen, von der Aufnahme eingefangenen Raumklang bietet, so dass Du vom Klang auf die tatsächliche Orchestergröße nicht wirst schließen können. Eine tolle Basslinie. Ich will gar nicht in eine Einzelbesprechung einsteigen, da reiht sich ein musikalischer Höhepunkt an den übernächsten, die Musik wird mit einem ganz unbeschreiblichen Schwung angegangenen, mit einem gerade dieser Symphonie entsprechenden steten Augenzwickern. Ich liebe das. Sage keiner, da werde nicht "interpretiert", oh doch, und trotzdem hält man sich an Notentext und Tempovorgaben.


    Davon muss ich mehr haben, das geht mir wie Dir.


    Liebe Grüße, Ulrich

    Lieber Thomas,


    danke für Deine Worte. Besser kann man es kaum fassen, was die Vorbereitung auf eine Wettbewerbsteilnahme für einen Chor bedeuten kann.


    Aber auch Dir, liebe Musika,


    muss ich beipflichten, einerseits natürlich darin, dass es genügend hervorragende Chöre gibt, die - aus welchen Gründen auch immer - nicht an Wettbewerben teilnehmen. Ich habe einen Chor erlebt, der nach einem erfolglosen - vom Chor als ungerecht bewertet empfundenen - Wettbewerb geschworen hat, nie mehr zu einem Wettbewerb zu fahren - zum Glück hat der Schwur nicht gehalten.


    Zum anderen sprichst Du zu Recht die Tränen an, die fließen, wenn die ablehnende Entscheidung der Jury vom Chor nicht verstanden wird. (Man kann natürlich schon die Frage stellen, ob die Jurys sich nicht bemühen könnten, ihre Entscheidung über das Chorleitergespäch hinaus für die Teilnehmer verständlicher, transparenter zu machen - aber dies zu klären, wäre ein weites Feld.) Jedenfalls: Dann braucht es eine/n starke/n ChorleiterIn, die/er den Haufen zusammenhält und neu motiviert - keine leichte Aufgabe, nicht beneidenswert. Aber wenn das gelingt - und bei einem Chor, der lange zusammen ist, wird es gelingen - ist der Zusammenhalt, die Verschwörung, um so fester und gibt neue Kraft.


    Allerdings: die Jury ist auch nicht immer leicht zu verstehen für so einen armen Chor. So kann die Jury einen Chor ablehnen, weil er alle Stücke auswendig singt statt vom Blatt. Oder weil der Jury die Chorkleidung nicht gefällt. Wie soll ein Chor, der vom Saalpublikum recht weit vorne gesehen/gehört wird, damit schon sinnvoll umgehen? Dass das zu Missmut und bis zu Tränen führt, versteht sich.


    Nur: ein Argument gegen die Teilnahme am Wettbewerb kann ich hierin nicht sehen. Der Stress ist riesig - und stärkt den Chor für die kommenden vier Jahre.


    Liebe Grüße, Ulrich

    Zitat

    Wikipedia meint:
    Ein Laie ... ist
    im allgemeinen Sprachgebrauch jemand, der auf einem bestimmten Gebiet keine Fachkenntnisse hat – also das Gegenteil eines Fachmanns ...


    Ich habe keinen Zweifel, dass es Chöre gibt deren Mitglieder oder/und deren LeiterInnen keine Fachkenntnisse haben und auch nicht im Lauf der chorischen Tätigkeit erwerben - vielleicht weil sie schlicht nicht interessiert sind, vielleicht weil im Zentrum des sozialen Events nicht das Singen steht, sondern die Geselligkeit. Ich gehe davon aus, dass derartige Laienchöre zugleich Hobbychöre sind. Nur bezweifele ich, dass solche Chöre in nennenswerter Weise nach außen hin in Erscheinung treten werden.


    Deshalb gehe ich für den Regelfall und die absolute Mehrzahl der nichtprofessionellen Chöre, die sich bemerkbar machen, davon aus, dass ihre Mitglieder und ihre LeiterInnen sich genau diese Fachkenntnisse im Laufe ihrer chorischen Tätigkeit aneignen, soweit sie sie nicht sogar schon mitbringen: Gerade ein nicht-professioneller Chor ist ein Gebilde, dessen Mitglieder vielfältige unterschiedliche Erfahrungen mitbringen, die sich gegenseitig bereichern, und in vielen Chören singen neben denen, die das Singen als Hobby ausüben, auch Profis oder werdende Profis oder Semiprofis mit. Und das Mitglied und die ChorleiterIn werden diese Fachkenntnisse auch nach ihren besten Kräften und Fähigkeiten einsetzen, sonst würde ihnen das Ganze schon bald keinen Spaß mehr machen - behaupte ich mal einfach so. Oftmals wird ein solcher Chor von einer/m Profi geleitet werden, zwingend ist dies nicht.


    Was macht nun den Liebhaber aus?


    Zitat

    Wikipedia meint:
    Ein Amateur (franz. für „Liebhaber“) ist eine Person, die – im Gegensatz zum Profi – eine Tätigkeit aus Liebhaberei ausübt, ohne einen Beruf daraus zu machen bzw. Geld für seine Leistung (zu erhalten).


    Der Begriff sagt wenig über die Sachkenntnis von Amateuren aus, die durchaus professionelles Niveau haben kann. Dagegen wird der Begriff amateurhaft abwertend im Sinne von „nicht auf professionellem Niveau“ gebraucht. Aus diesem Grund wird zur Beschreibung einer zwar als Amateur ausgeübten, aber dennoch als professionell anzusehenden Leistung häufig der Begriff der „Semi-Professionalität“ verwendet.


    Nach dem vorstehenden sollte also für die Mehrzahl der in der Musikszene bemerkbaren nicht-professionellen Chöre der Begriff Liebhaberchor anstelle des diskriminierenden Begriffs Laienchor (= Chor ohne jede Fachkenntnis) angebracht sein.


    Ab wann erreicht nun der Liebhaberchor den Status des semi-professionellen Liebhaberchors? Nach der Definiton bei Wikipedia dann, wenn die Leistung des Chors als professionell anzusehen ist.


    Wo ist der Maßstab? Es ließe sich sagen: Wenn die Leistung unterhalb des Niveaus des RIAS-Kammerchors oder des SWR-Vokalensembles liegt, ist die Leistung nicht professionell. Das ist ein sicherer Maßstab, mit dem feststeht, dass es keine semi-professionellen Chöre, nämlich Liebhaberchör mit professioneller Leistung gibt.


    Man könnte auch sagen, wer einen ersten bis dritten Platz seiner Kategorie im Deutschen Chorwettbewerb belegt, erfüllt den semi-professionellen Standard. Das würde sogar recht weit gehen und diesen Standard öffnen.


    Unterm Strich scheint die Kategorie "semi-professioneller Chor" wahrscheinlich verzichtbar. Sie soll ohnehin nur kennzeichnen, dass der Liebhaberchor nicht bloß amatuerhaft tätig ist. Dem Chor, der geeignet wäre, in diese Kategorie zu fallen, bringt sie letztlich nichts. Denn er gibt ohnehin sein Bestes und wird die Früchte seiner Arbeit ernten, wenn zugleich sein Marketing und seine Präsenz stimmen.


    Liebe Grüße, Ulrich

    Zitat

    Original von musika
    auch wer Jahrzehnte lang in einem Chor singt und auch Stimmbildung genießt, ist in meinen Augen kein Profi.


    Gesangsausbildung und Stimmbildung sind zwei Paar Schuhe und es wäre einfach, käme man mit Stimmbildung in einen Profichor.


    doch es sind keine Vollprofis, die von eingem z.B. Agenten vermittelt werden. Sie singen aus Freude am Gesang und auch da wird manchmal in der Literatur zu hoch gegriffen, doch man sollte auch sie nicht vergleichen mit Vollprofis.


    Liebe Musika,


    schön, dass wir uns so einig sind :pfeif: .


    Ich habe ja auch kein einziges Wort über Profis, Vollprofis und Profichöre verloren, sondern mich ausschließlich über den Wert von Liebhaberchören und semi-professionellen Liebhaberchören ausgelassen.


    Liebe Grüße, Ulrich

    Unser verehrter Orchesterdirigent beim Musikverein Langenfeld, Alfred Gillessen, konnte zornig werden, wenn irgendein Buchstabenquäler wieder einmal meinte, uns als Laienorchester bezeichnen zu müssen. Die Bezeichnung Laie fand er unangemessen, wir seien ein Orchester von Liebhabern.


    Wer jahre- und jahrzehntelang im Chor singt, viele bis ungezählte Aufführungen hinter sich gebracht hat, wöchentlich manchmal mehrmals und auch an ganzen Wochenenden zur Probe geeilt ist, Stimmbildung betrieben und sich dem Willen seines Dirigenten unterworfen hat, der ist beim schlechtesten Willen kein Laie mehr.


    Zitat

    Wikipedia meint:
    Ein Laie ... ist
    im allgemeinen Sprachgebrauch jemand, der auf einem bestimmten Gebiet keine Fachkenntnisse hat – also das Gegenteil eines Fachmanns ...


    Und genau diese Fachkenntnisse eignet sich der interessierte Liebhaberchorist im Laufe seiner chorischen Tätigkeit doch gerade an. Und er wird sie auch nach seinen Kräften und Fähigkeiten einsetzen, sonst würde ihm das Ganze schon bald keinen Spaß mehr machen - behaupte ich mal einfach so.


    Was macht nun den Liebhaber aus?


    Zitat

    Wikipedia meint:
    Ein Amateur (franz. für „Liebhaber“) ist eine Person, die – im Gegensatz zum Profi – eine Tätigkeit aus Liebhaberei ausübt, ohne einen Beruf daraus zu machen bzw. Geld für seine Leistung (zu erhalten).


    Der Begriff sagt wenig über die Sachkenntnis von Amateuren aus, die durchaus professionelles Niveau haben kann. Dagegen wird der Begriff amateurhaft abwertend im Sinne von „nicht auf professionellem Niveau“ gebraucht. Aus diesem Grund wird zur Beschreibung einer zwar als Amateur ausgeübten, aber dennoch als professionell anzusehenden Leistung häufig der Begriff der „Semi-Professionalität“ verwendet.


    Im Bonner und im Kölner Raum können wir uns über eine ganze Reihe semi-professioneller Liebhaberchöre freuen. Dass solche Chöre landes- oder deutschlandweit im direkten Vergleich bestehen können, beweisen sie durch ihre Platzierungen z. B. im Deutschen Chorwettbewerb, Internationalen Chorwettbewerb in Montreux, etc. Jedem am Chorsingen Interessierten kann nur empfohlen werden, einmal einige Urlaubstage auf den Besuch des Deutschen Chorwettbewerbs - die Wertungssingen und Veranstaltungen sind öffentlich - zu verwenden. Das sind Leistungen, die wahrgenommen werden sollten, und die nicht mit dem Etikett Laienchor = :kotz: abgetan werden können.


    Die semi-professionellen Liebhaberchöre, aber auch die sonstigen Liebhaberchöre, sind - in der Stadt und ganz sicher noch viel mehr auf dem Land - ein unverzichtbarer Kulturträger in unseren unter der Etatschraube ächzenden Strukturen; was uns ohne diese Chöre verloren ginge, wäre möglicherweise nicht wiederherzustellen.


    Allerdings: Darin kann ich Tastenwolf wohl zustimmen: Teil der Semi-Professionalität ist die Auswahl für den konkreten Chor unter dessen konkretem Leiter geeigneter Literatur. Die geeignete Auswahl mag einem Frauenkammerchor repertoirebedingt leichter fehlerlos gelingen, als dem gemischten Chor, der sich Repertoirebegehrlichkeiten gegebenenfalls widerstandloser ergeben wird.


    Nur scheint mir dies eben die richtige Reihenfolge in der Sichtweise zu sein: Zunächst einmal ist der Wert unserer Liebhaberchöre, und der semi-professionellen allzumal, hervorzuheben. Erst dann müssen zu Recht die natürlichen Beschränkungen des Liebhabertums zur Sprache gebracht werden.


    Liebe Grüße, Ulrich

    Zitat

    Original von Carola
    Je mehr schon in der Partitur notiert wurde, desto weniger Raum bleibt für Improvisationen. Wem dieses Kleid zu eng ist, der oder die soll selber komponieren.


    Liebe Carola,


    genau, dass es so sein müsste, fand ich immer ganz selbstverständlich. Dass dies aber keineswegs herrschende Meinung ist - also kein allgemeiner Konsens - musste ich im Fred zu Beethovens Symphonien - Interpretation ... lernen.


    Letztlich ist es aber gerade auch diese selbstgesteckte (?) Grenze, die Walter gerne überwunden sähe. Und wenn ich ihn recht verstehe, sucht er diesen Weg nicht auf der rationalen Ebene, sondern eher auf derjenigen des Genusses, der Emotionalität. Ich sehe es auch so, dass wir solche rationalen Grenzen - wie die Definition der Auslegungsgrenzen des Notentextes eine ist - nur auf der emotionalen Ebene überwinden können. Das sollte dann aber auch offen so ausgesprochen werden.


    Und an diese emotionale Schnittstelle passt es doch gut, wenn Du Deine Vorliebe für Glenn Goulds Bach-Interpretation als unstimmig gegenüber Deiner Grenzdefiniton zur Auslegung des Notentextes empfindest. Das zeigt doch sehr schön, dass beide Parameter ihren gleichberechtigten Stellenwert haben.


    Liebe Grüße, Ulrich

    @ WolfgangZ


    Zitat

    Original in wikipedia:
    Menschen mit einem apollinischen Lebensstil, abgeleitet von der mythischen Gestalt Apollon, stellen nach Nietzsche ihre theoretischen, intellektuellen, nach Maß, Ordnung und Harmonie strebenden Triebe in den Mittelpunkt.


    Das Begriffspaar apollinisch/dionysisch wurde durch den Philosophen Schelling geprägt, durch Nietzsche wurde es später nachhaltig bekannt (vgl. Friedrich Nietzsche, Kunst und Wissenschaft).


    Von „http://de.wikipedia.org/wiki/Apollinisch“


    Lieber Wolfgang,


    apollinisch und Bernstein :hahahaha: - ich weiß nicht, ob das zusammengeht ... eher: nö. Beide Zyklen Bernsteins sehe ich als in hohem Maße subjektiv und, wenn Du so willst, dionysisch an, den ersten (New Yorker) Zyklus noch mehr als den nachfolgenden (bei DG) mit verschiedenen Orchestern. Und die Auswirkungen dieser Charakteristik sind es gerade, die ich an Bernsteins Mahler-Interpretation so sehr schätze. Andere finden das ja eher überholt...


    Das analytische Primat würde ich vielleicht in Michael Gielens Einspielungen verwirklicht sehen. Seine Erste, Vierte, Neunte, Zehnte kenne ich, und finde alle diese Aufnahmen sehr überzeugend - aber auf ihre Art eben völlig anders als Bernstein. Den Gielen-Zyklus würde ich mir ohne weiteres als zweiten Zyklus neben Bernsteins anschaffen.


    Den gelungen Mittelweg - finde ich - hat Chailly gefunden, den ich ebenfalls sehr schätze - andere meinen, das wäre nicht Fisch, nicht Fleisch, da haben wir dann wahrscheinlich den apollinisch-dionysischen Salat. Noch mittelwegiger finde ich den Zyklus von Gary Bertini mit dem Kölner Rundfunk-Symphonieorchester. Den hatte ich (auch) aus Lokalpatriotismus erworben und dann bald wieder veräußert - ein wahrer, aber irgendwie polierter Mittelweg, ich finde, eher ein misslungener.


    Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los: Mahler und Mittelweg, das passt nicht.


    Liebe Grüße, Ulrich

    Zitat

    Original von Walter Heggendorn
    Beim Lesen eines Kochrezepts mag einem das Wasser im Mund zusammenlaufen aber essen kann man das Rezept nicht (ausser es ist aus Reispapier).


    Weshalb wurde in unserem Kulturkreis die textgetreue Interpretation ein solches Dogma?
    Weshalb hat neben dem legitimen, aber starren (für viele Leute notwendigen, weil stabilisierenden) Dogma der Texttreue in der sog. E- Musik nicht auch eine Prise improvisatorische „Leichtigkeit des Seins“ ihren Platz


    Lieber Walter,


    danke schön für diese schöne Rezeptur. Mit diesem herrlichen Bild sprichst Du eine weitere meiner Leidenschaften an, und während ich auf Dein schönes Bild schaue, wird mir bewusst, wie frei, kreativ und lustvoll ich meinen Kochkünsten nachgehen kann, ein Rezept, wenn ich es denn nutze, als Ideenstarter, als Gedankenanreger nutzend, aber nicht als das Gesetz, das Ihr befolgen sollt, und nicht mal als Krücke, um zum gewünschten Ergebnis zu gelangen, vielleicht eher als Flügel.


    Alfred hat im Beethoven-Interpretations-Fred ein, wie ich finde, sehr schönes anderes Bild benutzt:



    Und gleich war eine andere Leidenschaft angesprochen, das Spiel mit Farben und Formen, die Freiheit und Ausdrucksfähigkeit, die dies in mir anspricht und die ich in ein Bild hineingießen kann, wenn ich mir diese Freiheit gestatte.


    Was bedeutet es, wenn ich mir diese Freiheit bei der HIP-Frage nicht gönne? Wenn ich darauf beharre, am Anfang sei der Notentext und der Wille des Komponisten, und danach komme (möglichst) nur noch deren Exekution?


    Zitat

    Original von Robert Stuhr
    Besetzung, korrekte Wahl der Instrumente, deutsche oder amerikanische Aufstellung, Aufführungsort, historische Verortung der Komposition und des Komponisten, das geistig-gesellschaftliche Umfeld usw, sind Dinge, die ich gut überprüfen kann. Tempofragen und alle Merkmale einer Interpretation, die ich mit der Partitur überprüfen müßte, verschließen sich mir (beim Tempo kann man ohnehin ewig streiten).


    Unsere individuelle Rezeption dürfte ganz erheblich von unserem eigenen geistig-gesellschaftlichen Umfeld, unserer gegebenenfalls jahrzehntelangen Hörerfahrung, unserer sozialen Prägung, Zufälligkeiten unserer persönlichen Entwicklung vorgegeben oder mindestens beeinflusst sein. Spielt aber möglicherweise die jeweilige Individualpsychologie eine ebenso ausschlaggebende Rolle?


    Ich stelle den Notentext und den Willen des Komponisten als das Gesetz über alles. Ist es dafür völlig bedeutungslos, dass ich Jurist bin, mich also inzwischen seit fast dreißig Jahren - unglaublich ist das - mit Gesetzen beschäftige? Andererseits gibt es Juristen, die diesen Zwang, den Notentext und Komponistenwillen als das letzte Gesetz anzuerkennen, nicht haben, sondern in munterer Vielfalt die vielen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten nebeneinander bestehen lassen und goutieren können. Bin ich also ein zwanghafter Charakter?


    Oder: Ich meide Interpretationen, bei denen - so kommt es bei mir an - der Wille, ja sogar die Gefühle des Dirigenten den Notentext und Komponistenwillen in für mich unerträglicher Weise überlagern. Liegt das vielleicht daran, dass ich Probleme damit habe, meine eigenen Gefühle zu zu lassen, habe ich gar Angst vor soviel unkontrolliertem Gefühl?


    Nun halte ich mich, was die geschilderten möglichen Zusammenhänge angeht, für nicht so einmalig, als dass ich nicht eine gewisse Spiegelung derartiger Zusammenhänge auf der sozialen Ebene annehmen würde - wenigstens ebenso stark, wie diejenige anderer bei den Mitgliedern der Gesellschaft vorhandener psychologischer und sozialisatorischer Vorgaben. Und da gehe ich schon von einer Rückwirkung auf die Art und Weise der musikalischen Rezeption zwischen Texttreue und freier Improvisation aus.


    Möglicherweise ist die HIP/HOP-Diskussion, wie sie im parallelen Beethoven-Fred ihre schönsten Blüten treibt, viel stärker von derartigen individualpsychologischen und sozialisationsbedingten Grundlagen geprägt, als uns das in jedem Augenblick bewusst ist. Die Beiträge von Peter Brixius, Loge, Miguel54, Hildebrandt und anderen in allen Ehren - dankbar bin ich für sie und sie haben mich ganz entscheidend weitergebracht -, sie zeigen doch, dass, wenn die Ansichten auf ihre Spitze getrieben werden, HIP- und HOP-Befürworter am Ende nicht zusammenkommen können (solange sie nicht die Synthese zulassen, was ja erfreulicherweise auch einige geschehen lassen). Denn die Diskussionen beziehen sich eigentlich nicht aufeinander, können dies in der Form, in der sie geführt werden, auch gar nicht, weil ausschlaggebend für den einen wie den anderen Standpunkt die jeweilige unüberprüfbare Prämisse ist. Die jeweilige Prämisse wiederum scheint auf der individualpsychologischen und Sozialisationsebene zu fußen.


    Deshalb haben wir es hier bei uns wohl auch nicht so einfach, mal eben gerade lustvoll darauf los zu improvisieren: Der Notentext prägt seit so langer Zeit unsere Musik, dass die Loslösung ein kaum zu überwindendes Problem darstellt. Das war in Amerika etwas ganz anderes: der von den Siedlern mitgebrachte Notentext traf ganz unmittelbar auf nicht-notengebundene Musik der Ureinwohner und später auf die ebenfalls überlieferte Musik der aus Afrika in das Land geholten Menschen.


    Solche unmittelbaren Einflüsse waren bei uns in Europa ja nur eher spärlich vorhanden, und wenn, dann wurden sie aus den bereits genannten Gründen eher abgewehrt.


    Und dennoch gab es die Freiheit, sich vom Notentext zu lösen sehr wohl. In den Zeiten vor der Wiener Klassik allemal - der Lullist hat eben auf einige Aspekte hingewiesen, und die weitere Bearbeitung eigener oder "sogar" fremder Notentexte war bekanntlich üblich.


    Dann kam Mozart, der sich so gespielt haben wollte, wie er es aufgeschrieben hatte, und andere wollten keine Werkinterpretation, sondern Wiedergabe des Notierten. Ich liebe die Anekdote über den jungen Günter Wand, der auf die Frage, welche Beethoven-Interpretation man von ihm denn nun erwarten könne, eine wie Furtwängler oder eher eine wie Toscanini, gesagt haben soll: "Wie Beethoven."


    Und trotzdem gab es auch in diesen nachklassischen Zeiten den freien, wenn auch gebundenen Umgang mit dem Notentext: Für "richtig" :baeh01: halte ich die Interpretationen der Symphonien Robert Schumanns, wie sie Gardiner oder auch Harnoncourt gespielt haben. Aber in hohem Maße goutiere, genieße ich die Einspielungen der Symphonien, die Riccardo Chailly jüngst mit dem Gewandhausorchester Leipzig vorgelegt hat, Schumann in der Bearbeitung von Gustav Mahler. Das hat nach meinem Bild nur noch wenig mit dem Klangbild zu tun, das Schumann vorgeschwebt haben mag, das ist schon nach der unglaublichen Anzahl der angeblich vielen hunderten angebrachter Veränderungen im Notentext dessen Vergewaltigung, aber es ist bei der zweiten bis vierten Symphonie (die Erste finde ich in dieser Fassung weniger gelungen), und besonders bei der Dritten, eine klangliche Schlemmerei ohnegleichen. Ich stelle dann mein schlechtes Gewissen Schumann gegenüber hintenan :pfeif: , und genieße nur noch :angel: .


    Aber natürlich, auch Mahlers Improvisation über Schumanns Symphonien MUSSTE in Notentext gegossen werden, damit wir heute dieses "Sakrileg" überhaupt erneut begehen und Schumann in Mahlers Gestalt aufführen können.


    Letztlich hörte ich eine jazzartige Gitarrenimprovisation über eine der Cellosolosuiten J. S. Bachs. Nun liebe ich die Suiten sehr, halte sie für vollendet, und mich ließ die ganze Zeit die Frage nicht los: Brauche ich das, braucht das irgendjemand? Was soll denn nach dem Vollendeten noch kommen, was tatsächlich eine tiefergehende Erkenntnis oder einen größeren Lustgewinn ermöglichen könnte? Oder bin ich vielleicht einfach lustfeindlich?


    Oder greift das Bild von dem Rezept, lieber Walter, vielleicht auch einfach zu kurz, wenn ein Notentext vorhanden ist? Ist ein Notentext seit der Wiener Klassik nicht im Regelfall wesentlich differenzierter in seinen ausgeschriebenen Vorgaben, als es ein Rezept sein kann oder auch nur sein will? Und andererseits: Die Sachertorte, so habe ichs in Erinnerung, ist keine Sachertorte mehr, sobald der Konditor nur ein Jota vom Rezept abweicht.

    Also wenn ich mich entscheiden müsste für die einsame Insel ... blabla :baeh01: ...


    ... Bernsteins Zyklus für die Deutsche Grammophon würde es sein. Immer wieder schwanke ich zwischen diesen und den New Yorker Aufnahmen, und beide Zyklen haben ihre unbedingten Meriten. Aber letztlich zieht es mich immer wieder zu der Erfahrung hin, die Bernsteins Leben mit Mahler ausmacht. Genug kurioses gibt es in diesem Zyklus immerhin immer wieder, genannt sei hier nur die Besetzung der 4. Symphonie mit Knabensopran :hahahaha: . Trotzdem: Bernstein hat mich in meinem Mahlerverständnis geprägt, indem er mich in den New Yorker Einspielungen in Mahler eingeführt hat ... seine späteren Äußerungen dazu (DG) sind dann einfach zu reizvoll für mich.


    Mit Solti bin ich dagegen nie warm geworden, seine Auffassung sagt mir absolut nichts - das zeigt, wie völlig subjektiv diese ganze Rezeptionssache ist: Die hochgelobte Einspielung der achten finde ich blass, insbesondere in der akustischen Erfassung unzureichend, die Sängerleistung greift zu kurz. Bernsteins Achte ist bestimmt nicht das Gelbe vom Ei - obwohl von manchen gelobt - aber Bernstein kommt in seiner Emotionalität dem metaphysischen Kern immer noch näher als Solti.


    Sehr hilfreich fand ich und finde ich immer noch und immer wieder die Gedanken, die sich Tony Duggan zu einer Vielzahl von Einspielungen zu jeder der Symphonien, zu den Liedern und dem Lied von der Erde gemacht hat. Das ist subjektiv, geht aber teilweise sehr in die Tiefe, auch in seiner Auseinandersetzung mit den Musikstücken selbst. Diese Ausführungen sind zu finden bei Musicweb-international unter Composer Profiles, Composer Profiles (international), Gustav Mahler und wirklich lesenswert, obwohl teilweise nicht mehr auf aktuellstem Stand.


    Neben die beiden Bernstein-Zyklen treten für mich folgende Einzelaufnahmen, die sich für mich aus verschiedenen, die ich besitze/besaß oder hören durfte, als die für mich maßgeblichen herauskristallisiert haben:


    1. - Bernstein (DG) und Michael Gielen, SWR-SO, Hänssler (2002)


    2. - Bernstein (DG) und Ivan Fischer, Milne, Remmert, Budapest Festival Orchestra (2005)


    3. - Bernstein (DG) und Riccardo Chailly, Lang, Concertgebouw Orkest (2003)


    4. - Michael Tilson Thomas, Claycomb, San Francisco Symphony (2003)


    5. - Bernstein (DG), Bernstein (DG), Bernstein (DG) und dann noch Rudolf Barshai, Junge Deutsche Philharmonie (1999) auf Brilliant mit Barshais hörenswerter Rekonstruktion der Zehnten


    6. - Bernstein (New York) und Claudio Abbado, Berliner Philharmoniker (2004)


    7. - Bernstein (DG) und Michael Tilson Thomas, San Francisco Symphony (2005)


    8. - Kent Nagano, Greenberg, Dawson, Matthews, Koch, Manistina, Gambill, Roth, Rootering, Deutsches Symphonie-Orchester Berlin


    Das Lied von der Erde - Bernstein (DG) und
    - Rafael Kubelik, Baker, Kmentt, BayR-SO (1970, Audite live)
    - Otto Klemperer, Ludwig, Wunderlich, (New) Philharmonia Orchestra (1964-66)


    9. - Bernstein (DG) und Riccardo Chailly, Concertgebouw Orkest (2004)


    10. (Cooke) - Simon Rattle, Berliner PO (1999)
    - Michael Gielen, SWR-SO (2004)


    Dass ich mich hier auf Aufnahmen der letzten zehn Jahre beschränke - abgesehen von Lied von der Erde, da kenne ich keine überzeugende neue Aufnahme (Sinopoli nicht, Boulez nicht ...) -, soll die älteren Aufnahmen in keiner Weise herabsetzen. Mit Walter, Horenstein, Klemperer, Barbirolli, Kubelik - von denen allen sich Aufnahmen bei mir finden - wird hier kaum ein Missgriff zu tun sein - näheres hierzu bei Tony Duggan (siehe oben). Ich schätze eine aktuelle Aufnahmetechnik gerade bei Mahler sehr, daher kommt das Bemühen, aktuelle Aufnahmen zu nennen.


    Der Hinweis bei der Fünften auf die Junge Deutsche Philharmonie unter Barshai mag zunächst verblüffen - da mag manches im argen liegen, was die Äußerung dieses jungen Orchesters eben als Orchestergesamtheit angeht, und nicht an das Concertgebouw, die Wiener, Leipziger oder Dresdener herankommen, aber in ihrer Aufgeregtheit und Unmittelbarkeit ist diese Aufnahme ein seltsam einmaliges Spitzenprodukt und sehr empfehlenswert, wie ich finde.


    Liebe Grüße, Ulrich

    Zitat

    Original von Loge
    Aber zu glauben, die HIPisten hätten bei Beethoven die Textreue erfunden und den romantischen Ballast abgeworfen, trifft nicht zu.
    Loge


    Lieber Loge,


    völlig d'accord - da hatte ich schlicht schlampig formuliert; ich gelobe, zukünftig differenziertere Darstellung zu versuchen.


    Selbstverständlich hat die Arbeit von Toscanini, Leibowitz, Wand und anderen - zu Karajan mag ich mich nicht äußern, das kann Edwin besser als ich - ganz außerordentlich zu einer Entschlackung der Beethovenrezeption zu einem sehr frühen Zeitpunkt beigetragen, völlig unbestritten.


    Wenn ich konkret auf die Arbeit der HIPologen abstellte, war mir an dem durch Sie herbeigeführten deutlich veränderten Hör-/Klang-/Gesamteindruck auch durch die Verwendung historischen Instrumentariums gelegen. Gerne wird dieser Einschnitt hier von manchen als quasi historischer Irrtum zum falschen Zeitpunkt gesehen, die Musik werde dadurch zu schlank, zu bedeutungslos. Au contraire, meine ich: die Musik erhält dadurch Ihre Bedeutung zurück, ihre Würde - Beethovens Würde.


    Liebe Grüße, Ulrich

    Zitat

    Original von WolfgangZ


    Dennoch hat mich der intensivere, da quantitativ reduzierte Farbklang neues Interesse für das Werk gewinnen lassen. Ich habe die "Scheherazade" über Jahre ruhen lassen, hatte keine Lust auf diese Breitwandillustrationsmusik.


    Es mag aber sein, dass der naivere Hörer zunächst auf die klangopulenten Einspielungen zurückgreifen sollte, wie sie auch hier empfohlen werden .. wobei ich natürlich nur zwei, drei kenne.


    Mit dieser Aufnahme geht es mir ganz ähnlich wie Wolfgang. Mit keiner bin ich warm geworden, zuviel Glanz, zuviel Glamour, ein Beispiel die bereits genannte unter Gergiev mit dem Kirov Orchester. Ich dachte wirklich, dieser Komponist und dieses Stück seinen nichts für mich.


    Wie sehr hat mich diese Einspielung verblüfft und begeistert - gekauft hatte ich sie, weil Anima Eterna und Jos van Immerseel von mir immer erst mal Vorschussvertrauen erhalten.


    Da wird eine Vielfalt an Klangerlebnissen aneinander gereiht, wie wir sie von Orchestern, die nicht auf historisch informiertem Instrumentarium spielen, eben nicht mehr erwarten können. Die Interpretation ist nicht so brilliant funkelnd wie Gergievs. Vielleicht wird man sie sogar etwas zurückhaltend empfinden - mich störts nicht, weil ich dieses Stück neu erleben und entdecken durfte ... übrigens auch die anderen auf der CD enthaltenen Werke.


    Zitat

    Original von ben cohrs:


    Ich mag es, wenn man die sinfonischen Strukturen hört und wenn der erste Satz nicht so runtergehudelt wird.


    Diesbezüglich ist die Aufnahme von Immerseel mit Anima Eterna leider sehr mechanisch geraten, auch wenn es faszinierend ist, das Stück mal auf Instrumenten von ca. 1900 hören zu können.


    Dass die sinfonischen Strukturen hier nicht besonders betont werden, mag sein. Hudel oder bloße Mechanik kann ich hier indessen wirklich nicht hören.


    Für mich die frischeste Aufnahme von allen verfügbaren.


    LG, Ulrich

    Zitat

    Original von pbrixius
    ... "hinter das man nicht mehr zurück kann" - impliziert eine Idee des Fortschritts, den es so in der Kunst nicht gibt. Selbstverständlich kann und muss man die Leistungen zur Kenntnis nehmen ... Aber eine Verpflichtung kann es in Sachen Kunst nicht geben.


    Eine ganz wesentliche und grundlegende Aussage zu allen unseren Bemühungen um die Interpretation von Beethovens und anderer Symphonien, finde ich. Nur entpuppt sich die Aussage „Alles ist Kunst.“ ja leider immer wieder als Totschlagsargument: Im Prinzip kann die Diskussion dann an dieser Stelle aufhören.


    Die gängigen Bilder der Beethoveninterpretation sind seit den 80ern bereits in Frage gestellt, und zwar gründlich, und seitdem, finde ich, gibt es hierzu auch keinen allgemeinen Konsens mehr. Von meinem Ansatz her bedauere ich dies nicht, aber dies ist nicht der Punkt. Es ist spannend zu sehen, wie gerade in letzter Zeit neue Beethoven-Einspielungen aus dem Boden geschossen sind: Vänskä mit den Symphonikern aus Minnesota, Paavo Järvi mit der Deutschen Kammerphilharmonie in Bremen, Dausgaard mit dem Schwedischen Kammerorchester, Antonini mit dem Baseler Kammerorchester; und daneben Einzelaufnahmen wie die von Grossmann, Schoonderwoerd et al. ... was mag da noch kommen? Kammerorchester, ja, aber was ist daran verkehrt. Auch Vänskä wird seine Symphoniker nicht in Mahler-Besetzung auftreten lassen, Zinman hat seine Besetzung verkleinert, Harnoncourt hat mit dem Europäischen Kammerorchester gespielt.


    Zugegeben: Eine Art Virus ist von der HIP-Bewegung ausgegangen, hinter den man ganz sicher irgendwann wieder „zurück kann“. Aber jedenfalls im Augenblick hat er die ausführenden Orchester erfasst.


    Sogar das Bonner Beethovenorchester hat über HIP nachgedacht und sich so vieles zu eigen gemacht, man lässt sich nicht nur vereinzelt von Dirigenten wie Christoph Spering oder Bruno Weil dirigieren, und dies gerät für mein Ohr durchaus zum Vorteil für Orchester, Werk und Komponist.


    Nachdem ich unsere Bonner zuletzt mit Mozart und Beethoven gehört hatte, war ich einigermaßen stolz - und gedachte mit nachträglichem Entsetzen eines Konzerts, das vor einigen Jahren unter Krzysztof Penderecki stattgefunden hatte. Damals war ich zornig nach Hause gegangen: Ich hatte mich auf Pendereckis Beethoven gefreut und gemeint: er ist doch Komponist, das Anliegen eines anderen Komponisten zu erfassen und zu musizieren, muss doch sein höchstes Ziel sein ... und dann spielte er einen Beethoven, der in tiefstem Romantizismus versank. Gut, damals war ich noch HIP-Hardliner, heute sage ich: eine der vielen möglichen Interpretationsmöglichkeiten ...


    Aber auch dieses Beispiel der Entwicklung eines Orchesters zeigt, welchen Reichtum uns die historische Aufführungspraxis - so darf man HIP ja politisch korrekt gar nicht mehr nennen - eröffnet hat. Und dass heute Beethoven von Kammerorchestern gespielt werden kann, ist Teil dieses Reichtums.


    Die Orchesterbesetzungen einschließlich der sie ausmachenden, in der Historie wechselnden oder modifizierten Instrumente stellen doch keine sich jeweils abwechselnde Verbesserungsstufe dar: Es sind aufeinander folgende Orchestertypen, die im Laufe der Zeit immer wieder anders - nicht besser, sondern für die jeweilige Zeit typisch - klangen und besetzt waren: Das Orchester im Barock, zu Mozarts Zeit, zu Bruckners Zeit, das Wagnerorchester, Mahlerorchester ...


    Vielleicht noch deutlicher ist das Beispiel der Entwicklung der Tasteninstrumente: Das ist ein Baum, an dem viele Früchte hängen, deren jede anders schmeckt. Nur weil Orgel, Cembalo, Hammerklavier, Konzertflügel sämtlich mit Tasten versehen sind, ist es doch nicht das gleiche Instrument. Ein jeder dieser Instrumententypen hat eine eigene Klangtypik, eine eigene Ausdrucksvielfalt - keines ist dem anderen überlegen, sondern es kann nur darum gehen, diese Typologie auszunutzen.


    Wenig hilft es dagegen, mich darauf zurück zu ziehen, dass ich den Konzertflügel nun einmal seit Jahren gewohnt bin, und ihn deshalb als überlegen empfinde - oder das Hammerklavier, oder das Cembalo. Viel hilft es aber zu fragen: konnte Beethoven Anfang des 19. Jahrhunderts sich schon eine Klangcharakteristik des Konzertflügels vorstellen und konnte er deshalb die Ausführung seiner Musik mit dem Konzertflügel - oder auch mit dem romantischen Orchester - gewollt haben; ich meine nicht.


    Deshalb muss die Frage erlaubt bleiben: Gibt es einen Interpretationsansatz, der ein höheres Maß an Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen darf? Oder wenigstens muss die Frage erlaubt bleiben: Welche Qualität an Gültigkeit ist dem einen wie dem anderen Interpretationsansatz eigen?


    Geht es wirklich um Demontage des Beethovenbilds? DER TITAN!!!!! Wessen Bild war das denn? Hat Beethoven sich als DER TITAN!!!!! gesehen? Wohl kaum.


    Wo kam der Titan her? Aus einer postmortalen romantischen Verklärung eines als übermenschlich empfundenen Wesens, das eine Musik von ganz außerordentlicher Qualität geschaffen hatte und aus dessen politischer und soziokultureller Ausschlachtung vielleicht? Das lasse ich mal als These so stehen. Viel spricht dafür, wenn man sich die Empfindungen anschaut, die viele heute formulieren, wenn sie eine Interpretation einer Beethoven-Symphonie etwa durch Furtwängler beschreiben wollen.


    Dabei nehme ich einen emotionalen Überbau wahr, der die Musik als solche mit außermusikalischen Kontexten belädt. Was ich meine ist: Beethoven hat eine ganz außergewöhnliche Musik geschrieben, in der er - auch - seine Gefühlswelt zum Ausdruck gebracht hat, in der er sicher auch eine Vielzahl außermusikalischer Aussagen verankern wollte ...


    ... Eben: Beethovens Gefühlswelt, Beethovens Aussagen. Beethovens Kontext. Warum müssen wir so wenig Vertrauen dahinein haben, dass Beethoven seine Sache schon gut gemacht hat? ..., dass er es tatsächlich geschafft hat, seine Gefühlswelt, seinen außermusikalischen Kontext auch angemessen und vollumfänglich in seine Musik gegossen zu haben?


    Statt dieses Vertrauen zu haben, fragt der „herkömmliche“, romantisierende Interpretationsansatz nicht: was steckt in der Musik, so dass ich nur das Beste hervorbringen muss. Sondern: DER TITAN!!! Ich muss den TITAN zum Ausdruck bringen. Ich muss meine ganze Ehrfurcht vor diesem Übermenschen Beethoven zum Ausdruck bringen und seine Musik damit überziehen. Ich muss meine Gefühle als Dirigent, die ich diesem Übermenschen entgegenbringe, in diese Musik hineinlegen, wenn ich sie dirigiere. Und entsprechend wird dann Furtwänglers Interpretation als diejenige beschrieben, die die letzten Geheimnisse in sich trägt. Dabei sind es nicht Beethovens Geheimnisse, sondern Furtwänglers.


    Das kann man hören wollen, warum nicht. Ich meinerseits bin froh, dass HIP die Arbeit geleistet hat, diese Geheimnisse anderer Leute weg zu räumen, und die Musik, wie sie von Beethoven geschaffen wurde, wieder frei zu legen.


    Mit Spannung erwarte ich, wie sich dies weiter entwickelt. Ob ich die Rückschritte Norringtons und Harnoncourts zur herkömmlichen Orchesterbesetzung und in deren Folge Paavo Järvi, Vänskä, Dausgaard, Zinman ... gut finden soll - ich weiß es noch nicht.


    Unterm Strich hat Blackadder mit seiner sozialhistorischen Einschätzung natürlich schon völlig Recht - nur enthebt uns das der jede Generation drängenden Frage nach dem Kanon der Interpretationsansätze, die Gültigkeit beanspruchen sollen?