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Original von Walter Heggendorn
Beim Lesen eines Kochrezepts mag einem das Wasser im Mund zusammenlaufen aber essen kann man das Rezept nicht (ausser es ist aus Reispapier).
Weshalb wurde in unserem Kulturkreis die textgetreue Interpretation ein solches Dogma?
Weshalb hat neben dem legitimen, aber starren (für viele Leute notwendigen, weil stabilisierenden) Dogma der Texttreue in der sog. E- Musik nicht auch eine Prise improvisatorische „Leichtigkeit des Seins“ ihren Platz
Lieber Walter,
danke schön für diese schöne Rezeptur. Mit diesem herrlichen Bild sprichst Du eine weitere meiner Leidenschaften an, und während ich auf Dein schönes Bild schaue, wird mir bewusst, wie frei, kreativ und lustvoll ich meinen Kochkünsten nachgehen kann, ein Rezept, wenn ich es denn nutze, als Ideenstarter, als Gedankenanreger nutzend, aber nicht als das Gesetz, das Ihr befolgen sollt, und nicht mal als Krücke, um zum gewünschten Ergebnis zu gelangen, vielleicht eher als Flügel.
Alfred hat im Beethoven-Interpretations-Fred ein, wie ich finde, sehr schönes anderes Bild benutzt:
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Original von Alfred Schmidt
Und eigentlich sollte der Genuss bei Musik ja an erster Stelle stehen.
"Beethoven als Aquarell" - Ohne mich jetzt auf die genannte Aufnahme zu beziehen (Ich kenne sie nicht- mir hat schon Abbados Aufnahme mit den Wiener Philharmonikern nicht gefallen) - das trifft es bei etlichen heutigen Aufnahmen ziemlich genau.
Andere Einspielungen erinnern hingegen an expressionistische Bilder.
Ich sehe hingegen Beethoven als Ölbild, aus dessem dunklen Hintergrund sich die leuchtenden Farben entwickeln, schwer, glühend, leuchtend - aber niemals plakativ ordinär.
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Und gleich war eine andere Leidenschaft angesprochen, das Spiel mit Farben und Formen, die Freiheit und Ausdrucksfähigkeit, die dies in mir anspricht und die ich in ein Bild hineingießen kann, wenn ich mir diese Freiheit gestatte.
Was bedeutet es, wenn ich mir diese Freiheit bei der HIP-Frage nicht gönne? Wenn ich darauf beharre, am Anfang sei der Notentext und der Wille des Komponisten, und danach komme (möglichst) nur noch deren Exekution?
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Original von Robert Stuhr
Besetzung, korrekte Wahl der Instrumente, deutsche oder amerikanische Aufstellung, Aufführungsort, historische Verortung der Komposition und des Komponisten, das geistig-gesellschaftliche Umfeld usw, sind Dinge, die ich gut überprüfen kann. Tempofragen und alle Merkmale einer Interpretation, die ich mit der Partitur überprüfen müßte, verschließen sich mir (beim Tempo kann man ohnehin ewig streiten).
Unsere individuelle Rezeption dürfte ganz erheblich von unserem eigenen geistig-gesellschaftlichen Umfeld, unserer gegebenenfalls jahrzehntelangen Hörerfahrung, unserer sozialen Prägung, Zufälligkeiten unserer persönlichen Entwicklung vorgegeben oder mindestens beeinflusst sein. Spielt aber möglicherweise die jeweilige Individualpsychologie eine ebenso ausschlaggebende Rolle?
Ich stelle den Notentext und den Willen des Komponisten als das Gesetz über alles. Ist es dafür völlig bedeutungslos, dass ich Jurist bin, mich also inzwischen seit fast dreißig Jahren - unglaublich ist das - mit Gesetzen beschäftige? Andererseits gibt es Juristen, die diesen Zwang, den Notentext und Komponistenwillen als das letzte Gesetz anzuerkennen, nicht haben, sondern in munterer Vielfalt die vielen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten nebeneinander bestehen lassen und goutieren können. Bin ich also ein zwanghafter Charakter?
Oder: Ich meide Interpretationen, bei denen - so kommt es bei mir an - der Wille, ja sogar die Gefühle des Dirigenten den Notentext und Komponistenwillen in für mich unerträglicher Weise überlagern. Liegt das vielleicht daran, dass ich Probleme damit habe, meine eigenen Gefühle zu zu lassen, habe ich gar Angst vor soviel unkontrolliertem Gefühl?
Nun halte ich mich, was die geschilderten möglichen Zusammenhänge angeht, für nicht so einmalig, als dass ich nicht eine gewisse Spiegelung derartiger Zusammenhänge auf der sozialen Ebene annehmen würde - wenigstens ebenso stark, wie diejenige anderer bei den Mitgliedern der Gesellschaft vorhandener psychologischer und sozialisatorischer Vorgaben. Und da gehe ich schon von einer Rückwirkung auf die Art und Weise der musikalischen Rezeption zwischen Texttreue und freier Improvisation aus.
Möglicherweise ist die HIP/HOP-Diskussion, wie sie im parallelen Beethoven-Fred ihre schönsten Blüten treibt, viel stärker von derartigen individualpsychologischen und sozialisationsbedingten Grundlagen geprägt, als uns das in jedem Augenblick bewusst ist. Die Beiträge von Peter Brixius, Loge, Miguel54, Hildebrandt und anderen in allen Ehren - dankbar bin ich für sie und sie haben mich ganz entscheidend weitergebracht -, sie zeigen doch, dass, wenn die Ansichten auf ihre Spitze getrieben werden, HIP- und HOP-Befürworter am Ende nicht zusammenkommen können (solange sie nicht die Synthese zulassen, was ja erfreulicherweise auch einige geschehen lassen). Denn die Diskussionen beziehen sich eigentlich nicht aufeinander, können dies in der Form, in der sie geführt werden, auch gar nicht, weil ausschlaggebend für den einen wie den anderen Standpunkt die jeweilige unüberprüfbare Prämisse ist. Die jeweilige Prämisse wiederum scheint auf der individualpsychologischen und Sozialisationsebene zu fußen.
Deshalb haben wir es hier bei uns wohl auch nicht so einfach, mal eben gerade lustvoll darauf los zu improvisieren: Der Notentext prägt seit so langer Zeit unsere Musik, dass die Loslösung ein kaum zu überwindendes Problem darstellt. Das war in Amerika etwas ganz anderes: der von den Siedlern mitgebrachte Notentext traf ganz unmittelbar auf nicht-notengebundene Musik der Ureinwohner und später auf die ebenfalls überlieferte Musik der aus Afrika in das Land geholten Menschen.
Solche unmittelbaren Einflüsse waren bei uns in Europa ja nur eher spärlich vorhanden, und wenn, dann wurden sie aus den bereits genannten Gründen eher abgewehrt.
Und dennoch gab es die Freiheit, sich vom Notentext zu lösen sehr wohl. In den Zeiten vor der Wiener Klassik allemal - der Lullist hat eben auf einige Aspekte hingewiesen, und die weitere Bearbeitung eigener oder "sogar" fremder Notentexte war bekanntlich üblich.
Dann kam Mozart, der sich so gespielt haben wollte, wie er es aufgeschrieben hatte, und andere wollten keine Werkinterpretation, sondern Wiedergabe des Notierten. Ich liebe die Anekdote über den jungen Günter Wand, der auf die Frage, welche Beethoven-Interpretation man von ihm denn nun erwarten könne, eine wie Furtwängler oder eher eine wie Toscanini, gesagt haben soll: "Wie Beethoven."
Und trotzdem gab es auch in diesen nachklassischen Zeiten den freien, wenn auch gebundenen Umgang mit dem Notentext: Für "richtig"
halte ich die Interpretationen der Symphonien Robert Schumanns, wie sie Gardiner oder auch Harnoncourt gespielt haben. Aber in hohem Maße goutiere, genieße ich die Einspielungen der Symphonien, die Riccardo Chailly jüngst mit dem Gewandhausorchester Leipzig vorgelegt hat, Schumann in der Bearbeitung von Gustav Mahler. Das hat nach meinem Bild nur noch wenig mit dem Klangbild zu tun, das Schumann vorgeschwebt haben mag, das ist schon nach der unglaublichen Anzahl der angeblich vielen hunderten angebrachter Veränderungen im Notentext dessen Vergewaltigung, aber es ist bei der zweiten bis vierten Symphonie (die Erste finde ich in dieser Fassung weniger gelungen), und besonders bei der Dritten, eine klangliche Schlemmerei ohnegleichen. Ich stelle dann mein schlechtes Gewissen Schumann gegenüber hintenan
, und genieße nur noch
.
Aber natürlich, auch Mahlers Improvisation über Schumanns Symphonien MUSSTE in Notentext gegossen werden, damit wir heute dieses "Sakrileg" überhaupt erneut begehen und Schumann in Mahlers Gestalt aufführen können.
Letztlich hörte ich eine jazzartige Gitarrenimprovisation über eine der Cellosolosuiten J. S. Bachs. Nun liebe ich die Suiten sehr, halte sie für vollendet, und mich ließ die ganze Zeit die Frage nicht los: Brauche ich das, braucht das irgendjemand? Was soll denn nach dem Vollendeten noch kommen, was tatsächlich eine tiefergehende Erkenntnis oder einen größeren Lustgewinn ermöglichen könnte? Oder bin ich vielleicht einfach lustfeindlich?
Oder greift das Bild von dem Rezept, lieber Walter, vielleicht auch einfach zu kurz, wenn ein Notentext vorhanden ist? Ist ein Notentext seit der Wiener Klassik nicht im Regelfall wesentlich differenzierter in seinen ausgeschriebenen Vorgaben, als es ein Rezept sein kann oder auch nur sein will? Und andererseits: Die Sachertorte, so habe ichs in Erinnerung, ist keine Sachertorte mehr, sobald der Konditor nur ein Jota vom Rezept abweicht.