ZitatOriginal von musicophil
Eigentlich hat ein Regisseur keine Handlungsfreiheit.
Das sehe ich anders, aber die Freiheit ist nicht unbegrenzt und schon gar nicht willkürlich, insofern stimme ich Dir zu.
ZitatOriginal von musicophil
Eigentlich hat ein Regisseur keine Handlungsfreiheit.
Das sehe ich anders, aber die Freiheit ist nicht unbegrenzt und schon gar nicht willkürlich, insofern stimme ich Dir zu.
[zitat]Original von Alfred_Schmidt
Ich bin davon überzeugt, daß weder das Publikum Verdis, noch irgendeinen Opernbesucher später - die "politischen Aussagen" interessiert haben[/zitat]
Ich meine mich zu erinnern, daß es im 19. Jahrhundert handfeste politische Opernskandale gab, auch in Bezug auf Verdi (Sizilianische Vesper?) - und in Brüssel löste eine Opernaufführung (Auber?) 1830 eine Revolution aus!
Oder ein Blick nach Rußland: Da es verboten war, den Zaren auf die Bühne zu bringen, hatte meines Wissens Modes Mussorgski große Schwierigkeiten mit seinem "Boris Godunow".
In der Oper Kát'a Kabanová (Leos Janácek) spielt ein Fluß, genauer: ein Strom eine besondere Rolle: die Wolga. Der Lehrer Kudrjasch sitzt am Ufer: Seit 25 Jahren bewundere er den Blick auf den Strom und kann immer noch nicht genug bekommen. Die Magd Glascha reagiert verständnislos. Dies ganz zu Beginn, als Eröffnung.
Am Ende steht die unglückliche Kát'a am Ufer, sie hört geheimnisvolle Stimmen aus dem Wasser, malt sichin ihrem Wahn einen idyllischen Frieden im Grab aus und stürzt sich in die Wolga. Am Schluß wird ihre Leiche geborgen - Verzweiflung, Ratlosigkeit - die unheimlichen Stimmen (wortloser, unsichtbarer Chor) erklingen noch einmal. Ende.
Der Fluß ist hier nicht nur dekoratives Element, sondern steht dramaturgisch im Zentrum, Anfang und Ende, als Projektionsfläche: Jeder sieht etwas anderes in ihm.
Ich habe die Oper vor Jahren in Frankfurt erlebt und war sehr beeindruckt.
ZitatOriginal von Draugur
Ich würde mich zunächst mal bühnen- und kostümbildlich an der Zeit um 1868 orientieren. Man könnte am Schluss Verweise z. B. auf das Bild zur Kaiserkrönung von Adolf v. Menzel einbauen. Es würde auch nicht schaden, irgendwo auf der Festwiese Pickelhauben und entsprechende Fahnen usw. zu zeigen, nur wäre es zu platt, wenn Sachs die tragen würde. Das sollte alles nicht zu affirmativ und bejahend ausfallen, aber die Frage, wie man das vermeidet, ist mir im Moment etwas zu schwierig.
Das wäre nicht mein bevorzugter Zugriff auf das Stück, ich würde auch hier eine eher abstrakte und nüchterne Optik bevorzugen, die dem Zuschauer Raum für dessen eigene Fantasie lässt - genau das ist es, was mir bei vielen Regietheater-Inszenierungen fehlt.
Interessante Ideen, könnte ich mir gut vorstellen.
ZitatOriginal von Draugur
Dabei besteht aber die Gefahr, dass man dem Werk seine Rezeption als Schuld anlastet. Natürlich hat man das Werk und vor allem den Schlussmonolog im Dritten Reich gerne gehört. Für mich nachvollziehbar, nicht besonders überraschend und vor allem nicht so spannend, dass man es immer wieder aufgreifen und problematisieren müsste.
Die Bezüge Wagner - Antisemitismus - Nationalsozialismus gibt es nun einmal, gerade bei den "Meistersingern". Aber Du gibst die entscheidenden Stichworte: Es ist weder überraschend noch spannend, immer wieder dieselben geschichtlichen Zusammenhänge vorzuführen, ich finde das auch öde (wie die in der Politik immer wieder mal auftauchenden Nazivergleiche). Insofern fand ich ja gerade den Ansatz Neuenfels' in Stuttgart so erfrischend und überzeugend, weil er damals ganz neue, kreative Wege ging und, wie ich mich erinnere, einen recht menschlichen und differenzierten Hans Sachs auf die Bühne brachte.
Fairy Queens und Alvianos Ansicht, daß auch Verstörendes und Grausames auf die Opernbühne gehört, schließe ich mich gern an:
ZitatOriginal von Fairy Queen
Nur überzeugend und künstlerisch schlüssig zählt, sonst nichts.
Auch, wenn es bewußt schockiert.
ZitatOriginal von Alviano
Wirken denn die szenischen Lösungen in Heidelberg noch irgendwie provozierend? Es scheinen zumindest keine musealen Aufführungen zu sein...
Nein, museal weniger, aber provozierend? Auch nicht so sehr, allerdings besuche ich nicht alles.
Sehr empfehlen kann ich den Heidelberger "Don Giovanni" (weiß allerdings nicht, ob es noch läuft), sowohl musikalisch wie inszenatorisch: Alle Sänger waren ständig auf der Bühne und sprangen fortwährend in ihre Rolle bzw. wieder hinaus. Ein witziges Beispiel: Leporello befreit sich aus der Klemme seiner Gegenspieler/innen, indem er sich einfach auf einen Stuhl setzt und mit Gesten anzeigt, daß er jetzt "aus dem Spiel" ist. Die Bühne selbst ist kahl und leer, mit einem Minimum an Requisiten. Die Inszenierung verläßt sich vollständig auf dasintelligente und komische Spiel der handelnden Personen. Ich fand es sehr unterhaltsam, war drei- oder viermal dabei.
Schockierend? Ein Bekannter fand es tatsächlich so, empörte sich über die ständige Präsenz der Sänger: So hätten Mozart/Da Ponte sich das nicht gedacht. Eben kein 1:1, aber alle Einfälle im Geist des Werkes, ich fand's klasse!
Heidelberg hat auch einen bemerkenswerten "Figaro", aber wie ich finde, in der Regie nicht ganz so überzeugend wie "Don Giovanni", etwas zu viel Klamauk (Gräfin als Schuhfetischistin und Alkoholikerin!), das zwar gekonnt, aber die dunkleren Seiten werden zu sehr ausgeblendet.
Viel Spaß mit "La Juive" - von Morabito/Wieler habe ich viel Gutes gesehen: Die verstehen es, spannendes Musiktheater zu bieten. Du wirst doch sicher berichten?
ZitatOriginal von Draugur
Bitte nicht ganz so platt
Einverstanden, also dann ernsthaft: Wie könnte eine "Meistersinger"-Inszenierung denn die Reichsgründung 1871 thematisieren? Und wie wäre der Bezug zu unserer Zeit? Das wären dramaturgische Fragen, die sich mir spontan stellen würden.
Zu einer gelungenen Inszenierung, nicht nur der "Meistersinger", gehört für mich, daß sie die Fäden aufnimmt, die das Werk selbst enthält (nicht solche, die lediglich dem Hirn des Regisseurs entspringen, das interessiert mich weniger) - zum Werk gehört für mich auch seine Rezeptionsgeschichte - gerade bei Wagner ein wichtiges Thema.
Wenn eine solche Aufführung, so wie ich es kurz skizziert habe, "schockiert" - umso besser. Wenn die Schocks dagegen lediglich unmotivierte Tabuverletzungen (z. B. sexueller Art) darstellen, die dem Werk mehr oder weniger aufgestülpt werden - das finde ich nicht schockierend, sondern letztlich genauso langweilig und belanglos wie eine konservative 1:1-Umsetzung des Librettos.
Gerade die Stuttgarter Oper hat in der jüngeren Vergangenheit hier Wunderbares geboten!
Alviano: Morgen (heute) werde ich in Frankfurt Paul Dukas' "Ariane et Barbe-Bleue" erleben, wozu Du ja schon dankenswerterweise Ausführliches und Informatives vorgelegt hast. "Schockierendes" habe ich dort demnach nicht zu erwarten. Eigentlich:ein wenig schade.
ZitatOriginal von Draugur
Wie wäre es denn mal mit einer Inszenierung, die den tatsächlichen historischen Bezug zur bevorstehenden Reichsgründung zeigt.
Hans Sachs als Bismarck, mit preußischer Pickelhaube, warum nicht? Aber ich fürchte, so etwas gab es schon irgendwo...?
ZitatOriginal von pbrixius
Es gab für einige Zeit einen scheinbar ewig geltenden Wertmaßstab, der ist aber heute obsolet. Nun muss man mit einer Reihe von konkurrierenden Maßstäben leben. Das schlechteste ist das eben aber auch nicht, denn es fordert Verstand und Gefühl. Mich interessieren die dialektischen Beziehungen zwischen den verschiedenen Modellen, ängstliche Menschen mauern sich in eine der Orthodoxien ein ...
Bemerkenswert an diesem Gedanken finde ich, daß dies, nämlich der Verlust verbindlicher Wertmaßstäbe, nicht nur für die Musik oder Kultur unserer Zeit gilt, sondern für unsere Zeit generell (man denke an den Wertewandel beim Thema "Familie", beispielsweise). Ich vermute, so war's auch gemeint.
Zitat[...] ich möchte aus den überschnellen Zuweisungen, die oft genug noch dem 19. Jahrhundert geschuldet sind, hinaus ins offene Land [...]
Dahin zieht es mich auch. Vielen Dank für die guten Anregungen!
Ich finde es problematisch, so generell entscheiden zu wollen, in welche Zeit ein Regisseur die Handlung legt, ob in die dargestellte Epoche, in die der Lebenszeit des Komponisten/Librettisten, in unsere oder in irgendeine andere. Die Diskussion neigt ein wenig zum Dogmatismus, wie ich finde.
Ein Beispiel: Vor Jahren erlebte ich in Stuttgart eine Neuenfels-Inszenierung der "Meistersinger". Der 1. Akt zeigte Deutschland in Trümmern und spielte kurz nach Kriegsende 1945. Der 2. Akt präsentierte Deutschland in den 60er-Jahren. Im 3. Akt wurde das Volksfest in den Jubel der Deutschen 1989 gestellt, mit Bildern vom Brandenburger Tor nach Öffnung der Mauer.
Auf den ersten Blick: absurde Gags eines Regisseurs, der seine eigenen Phantasien dem Werk aufzwingt. Mir dagegen hat es eingeleuchtet: Wenn man weiß, wie die "Meistersinger" in der Nazizeit in die herrschende Ideologie eingebaut wurden ("Ehrt eure deutschen Meister... was echt und deutsch, wüßt' keiner mehr", gegen "welsche" Kunst usw.) - auch bereits "Regietheater", wenn man so will, wenn auch in historisch-korrekter Kostümierung - wenn man das also bedenkt, war Neuenfels' Hineinstellen der "Meistersinger" in die deutsche Geschichte zwischen 1945 und 1990 eine Rettungstat, sicherlich gewagt und bestreitbar, aber den Inhalt des Werks ernstnehmend - als Versuch, die nationalen Botschaften der "Meistersinger" mit der demokratischen Gegenwart auszusöhnen.
Das empfand ich damals als einen sehr heilsamen Schock!
ZitatOriginal von pbrixius
[...] ich halte viel davon zu werten, wer das nicht tut, der kneift "feige" davor, seine ästhetischen Kritierien zur Diskussion zu stellen.
Lieber Peter,
wenn ich beispielsweise einem Kunstbegriff huldige, in dem Wort und Ton ideal gestaltet sein soll, müßten meine Götter vielleicht Mozart, Wagner oder Janacek heißen (und ich neige mein Knie leicht, aber entschieden auch vor C. W. G.).
Wenn ich die Meinung verträte, Musik diene in allererster Linie dem Lobpreis Gottes und alle anderen Motive hätten sich hinten anzustellen: Bach? Messiaen? Palestrina?
In dieser Weise ließen sich sicher viele weitere Wertmaßstäbe errichten.
ZitatWenn aus einer Wertung - in typisch deutscher Manier - eine Hierarchisierung wird, werde ich schon misstrauischer. Wieviele Punkte Beethoven ist Mozart?
Klar, unsinnig, stimme zu. Nur: Auch ohne eine Punkte-Hierarchie aufbauen zu wollen - sind alle Kriterien gleichwertig?
ZitatWas für ein hanebüchener Unsinn, Symphonie vor einer anderen Gattung rangieren zu lassen (in der Hierarchisierung der Symphonie-Bonus)!
Jetzt werde ich unsicher: Die Symphonie ist ja nicht irgendeine Form. Wenn ich die Sonatenhauptsatzform als eine besondere der Aufklärung und dem vernünftigen Denken verpflichtete Bewußtseinsform begreife - eine Form, die sogar sich selbst dialektisch zum Thema macht - müßte ich dann nicht meinen Fokus auf Haydn, Beethoven, Brahms ... Schönberg, Webern ... bis hin zu den Seriellen richten?
(Was mich wiederum unsicher werden läßt: Ich kenne zu viele Komponisten, die in dieses Konzept nicht hineinpassen und die mich mit ihrer Kunst tief beeindrucken, z. B. Debussy oder der schwedische Außenseiter Allan Pettersson. Die spannendsten Begegungen mit Musik habe ich nicht selten gerade da erlebt, wo Komponisten meine ästhetischen Erwartungen durchbrochen haben.)
Das heißt, die Frage ist, ob man nicht die Kriterien selbst hierarchisieren darf/kann/soll/muß...? Das hätte dann Folgen für die Bewertung der Bedeutung der einzelnen Komponisten. Auch wenn man auf die abwertende Bezeichnung "Kleinmeister" dabei gut und gerne verzichten kann.
Beim Überlesen meines Beitrags merke ich, daß ich bei diesem Thema offensichtlich mehr Fragen als Antworten zu bieten habe. Was ja kein Fehler sein muß.
ZitatOriginal von pbrixius
Bevor man wohlgemut wertet, sollte man bescheiden an die Arbeit einer musikalischen Analyse gehen: und die heißt alles andere, als den musikalischen Befund an Beethovenschen Entwicklungsprinzipien zu messen. [...] Vor allem muss man - wie immer - erst einmal die Absicht des Komponisten Ernst nehmen - und ihm nicht übelnehmen, dass er andere Absichten hatte, als man es selbst gehabt hätte, hätte man nun das Talent und das Wissen des Meisters gehabt.
Das leuchtet mir unmittelbar ein, danke für den schönen und erhellenden Beitrag. Die wertschätzende Haltung, die ich hier wahrnehme, ist mir sehr sympathisch.
ZitatOriginal von Walter Heggendorn
Jeder ist ein „master“, ein Original, dem mit Respekt zu begegnen ist.
Stimme gern zu.
ZitatOriginal von pbrixius
Kurz, der Begriff des Kleinmeisters ist zu Recht aus der Debatte als unbrauchbar geschwunden. Das heißt nicht, dass man eine misslungene Komposition nicht als eine solche bezeichnen muss, ein von mangelndem Gestaltungswillen zeugendes Werk nicht als ein solches bezeichnet, Sackgassen der Kompositionsgeschichte nicht markiert.
Gerade da wird es interessant: Ist - nur als austauschbares Beispiel, das mir spontan einfällt - die "Minimal Music" eine Sackgasse? Mangelnder Gestaltungswille bei Philip Glass oder Steve Reich? Würde ich die Frage bejahen: Hole ich da nicht durch die Hintertür wieder Kriterien herein, nach denen ich bedeutende Komponisten von weniger bedeutenden unterscheide? Unterscheiden muß?
Ich mag es auch nicht, wenn Künstler, die abseits der anerkannten Hauptstraßen ihren eigenen Weg suchen und finden, vorschnell als "Kleinmeister" abgetan werden; vor allem mißfällt mir der abfällige Ton in solchen Urteilen.
Andererseits: Alle Komponisten, die, jeder auf seine Weise, Großes geleistet haben, auf eine Rangstufe zu stellen, eine Art Gleichmacherei - das fände ich auch unbefriedigend.
Oder ist es nur ein Mythos, der sich unreflektiert fortsetzt, daß Bach, Beethoven........ (analog in der Literatur: Goethe, Shakespeare...) zu den ganz Großen gerechnet werden dürfen, andere vielleicht "nur" zu den Großen?
Beim Stöbern in älteren Beiträgen gefunden:
ZitatOriginal von Edwin Baumgartner
Ich will aber auf drei historische Aufnahmen verweisen, die der Debussy-Liebhaber kennen sollte, nämlich auf die Einspielungen durch Désiré-Emile Inghelbrecht. Er kannte Debussy noch persönlich - aber nicht wegen der vermeintlichen Authentizität der Interpretation empfehle ich die Aufnahmen, sondern weil Inghelbrecht noch ein "auf die alte Art" spielendes französisches Orchester hat, also einen Klangkörper, wie ihn Debussy bei seinen raffinierten Farbmixturen im Ohr hatte.
Und Inghelbrechts Interpretationen sind einfach unfassbar: Die Musik hat eine Leuchtkraft ohne Gleichen, die Themen sind wesentlich plastischer als man es bei einem "Impressionisten" erwarten würde, und manchmal treibt Inghelbrecht sein Orchester in einen wahrhaft ekstatischen Taumel hinein. Ich kenne nichts Vergleichbares. Schön übrigens, dass die technische Qualität so gut ist, dass man die Details wirklich hören kann.
Dieser Empfehlung folgte ich neugierig, in der Hoffnung auf interpretatorisches Neuland - und als "Debussy-Liebhaber" lasse ich mich gern ansprechen. Pierre Boulez, in meiner persönlichen Werteskala bislang unangefochten der Debussy-Experte schlechthin, bekommt hier ernsthafte Konkurrenz; Edwins Begeisterung teile ich, danke für den Tip!
Und da ich auf den Pelléas mit Inghelbrecht nicht verzichten wollte (auch hier liebe ich Boulez' CBS-Einspielung aus den 60ern), habe ich mir kürzlich auch dies zugelegt
ZitatOriginal von Robert Stuhr
Der Vollständigkeit halber möchte ich daraufhinweisen, daß Naive in Frankreich eine 6 CD - Box mit Debussy-Aufnahmen veröffentlicht hat, jeweils mit Inghelbrecht am Pult. Die meisten Aufnahmen sind - soweit ich das sehen konnte - auch auf den CDs von Testament.
ZitatOriginal von Edwin Baumgartner
Es sind tw. unterschiedliche Aufnahmen! Debussy-Fans kann ich nur raten, die Box zu kaufen. Allein wegen "Pelléas" stünde das schon dafür. Da erfährt man nämlich, daß die vermeintlich etwas diffuse Oper zu den spannendsten Musikdramen der Geschichte gehört!
Ich hatte zunächst vermutet, mit dem Erwerb der Naive-Box einige Doubletten zu bekommen, durfte allerdings freudig überrascht feststellen, daß es sich um gänzlich unterschiedliche Einspielungen handelt: Die 3 Testament-CDs sind allesamt 1953-57 entstandene Mono-Studio-Aufnahmen der Firma Ducretet-Thomsen; die Naive-Box enthält ausschließlich (echte) Live-Aufnahmen aus dem französischen Rundfunkarchiv (Archives de l'Institut National de l'Audiovisuel, I.N.A.) aus Konzerten 1957-63, mit einer Ausnahme (La Damoiselle élue) stereo!
Ein "Überraschungsei" ist auch dabei: Die 3. der Pelléas-CDs in der 6-CD-Box enthält zusätzlich eine Live-Einspielung der Trois Nocturnes, ohne daß der Text Hinweise darauf gibt; auf einer weiteren CD der Box ebenfalls die Trois Nocturnes, aber nicht dieselbe Aufnahme: Es wird anders gehustet - und das ist ein wenig das Problem der Rundfunkaufnahmen: leise geht's da nicht zu. Aber eine packende Live-Atmosphäre. Die "Testament"-Aufnahmen sind trockener, knackiger. Ich wüßte im Moment nicht, welche Fassungen ich vorziehen soll, bin noch am Hören.
Der Pelléas ist eine konzertante Aufführung vom 13.03.1962, und dies ist nur eine von 8(!) Aufnahmen des Werkes mit Inghelbrecht (1955-63), die im Archiv des I.N.A. aufbewahrt werden.
Auch 2 Jahre alte Tamino-Empfehlungen können nachhaltig wirken.
Die Diskussion habe ich bislang mit Interesse verfolgt, auch wenn ich nicht alles so aufnehmen kann, wie ich es wünschte; einiges verstehe ich auch nicht - aber da Themen angeschnitten werden, die auch mich bewegen, hier mein Beitrag:
Die Aufspaltung des musikalisch interessierten Teils der Menschheit in die, die über ihre Gefühle den Zugang suchen, und solchen, denen es ums Erkennen geht, entspricht nicht meiner Erfahrung: Ich kenne, mich eingeschlossen, zu viele Hörer, die beides tun und wollen: fühlen und erkennen. Wenn eine Musik mich emotional anspricht, dichterisch gesprochen: in mir eine innere Saite zum Schwingen bringt - dann will ich im allgemeinen auch Näheres erfahren über Form, Struktur: "wie es gemacht ist".
Was mich dabei bewegt, ist die Frage, was denn überhaupt - über Analyse oder generell über wissenschaftliche Erkenntnisprozesse (intuitiv oder logisch-bewußt) - als objektiv wahr erkannt werden kann. Daß es nichts sei, daß es so etwas wie den "Gehalt", die "geistige Wahrheit" o. ä. überhaupt nicht gebe, leuchtet mir nicht ein. Gäbe es das nicht, könnten wir uns hier nur auf der Ebene "Das gefällt mir, das nicht" usf. austauschen. Das heißt: Es muß Objektivierbares geben, im Sinne von Semantik: Was bedeutet es? (Das kann die Intention des Komponisten sein, ich glaube aber, eher nicht: Mich interessiert, was das jeweilige Werk sagt, weniger, was der Komponist sagen will.)
Beethoven zum Beispiel: Niemand würde wohl ernsthaft behaupten, daß der Beginn der Fünften als "heiter-freundliche Einladung zu einem netten Spiel" zu verstehen sei; auch das breitgetretene Klischee "Schicksalssymphonie" hat ja Gründe, nicht nur im subjektiven Empfinden von Hörern.
Aber vielleicht geht es auch einfacher: Es gibt sicher Melodien, die wir hier einvernehmlich als "lustig" oder "traurig" begreifen würden. Um das zu überprüfen, habe ich mir das bekannte Liedchen "Hänschen klein" vorgesungen. Sollte ich hier so etwas wie einen objektiven Gehalt festlegen, käme ich schnell in Schwierigkeiten. Immerhin empfinde ich die schlichte Weise als wohlproportioniert, als stimmig - sie ist "schön"!
Meine Frage: Was kann musikalische Analyse hier leisten, im Sinne des Begreifens, des Erkennens - welche Möglichkeiten und Grenzen gibt es beispielsweise bei dem Kinderlied "Hänschen klein"? Zu einfach? Glaube ich persönlich nicht.
Immerhin, eine Vermutung: Ein kleines Kind, das ein Lied hört und das es dann selber singt, erlebt Musik auch hier schon nicht nur allein gefühlsmäßig-subjektiv; es hört intuitiv, ohne es benennen zu können, Form, Struktur - es erfährt Bedeutung und Sinn.
Sollte derselbe Mensch Jahre später - an musikalischen Eindrücken inzwischen reicher - daran gehen, Beethovens Fünfte zu hören und ggf. zu analysieren, müßte er/sie nicht bei Null anfangen. (Vielleicht paßt hier auch der Begriff des "hermeneutischen Verständnisses"?)
A propos Verständnis: Wenn ich es mir recht klar mache, müßte ich zumindest zögern und nachdenken, ehe ich die Frage, ob ich das Lied "Hänschen klein" wirklich "verstehe", mit einem selbstbewußten und eindeutigen "Ja" beantworten würde...
Hallo Raphael,
ein schönes Schulkonzert, und sich dem Thema derart spielerisch anzunähern, das gefällt mir! Es zeigt mir auch, daß man mit dissonanten Klängen wunderbar experimentieren kann, und wenn wir uns als Hörer erst einmal von der Gewohnheit zu verabschieden bereit sind, daß Dissonanzen sich in tonaler Weise wieder auflösen müssen und schon für sich allein, "schön" sein können - dann wird auch die Schönheit dodekaphon organisierter Musik erlebbar und faßbar.
ZitatOriginal von raphaell
Wo ich immer meine "Probleme" mit habe, sind die sehr kurzen Klavierstücke.
Diese Erscheinenn mir doch (mit ausnahme der Suite Op.25) recht experimentell und eher wie kleine Studien zur Zwölftontechnik.
Problem hier wie sonst bei Schönberg ist wohl auch, daß Interpreten heute oft kühl-analytisch da herangehen, Strukturen aufdecken. Das ist ja an sich nicht falsch, wenn nicht dabei der Ausdruck, die durchaus vorhandene Emotionalität verlorengeht.
Was Schönbergs Klaviermusik angeht, so erfolgte mein Zugang seinerzeit durch Glenn Gould, der in den Stücken regelrecht meditiert, sich auf Stimmungen einläßt und offenlegt, daß Schönberg hier wunderbare, teils bizarre, teils lyrische Miniaturen geschaffen hat. Experimentell, ja - und faszinierend.
Gegenbeispiel: Maurizio Pollini, dessen Spiel ich damals (ist schon lang her, müßte die LP mal wieder suchen und es überprüfen) als kalt und abweisend empfand. Das brachte mir Schönberg nicht näher.
Also immer auch eine Frage der Interpreten, durch die man den Zugang sucht, natürlich nicht nur bei Schönberg.
ZitatOriginal von raphaell
[...] wie ausdrucksstark die Dodekaphonie sein kann und dass sie nicht nur eine reine "Spielerei" ist!
Daß Musik mit 12 aufeinander bezogenen Tönen sui generis nicht expressiv sein könne, sondern kalt, konstruiert usw. sei - das halte ich ohnehin für einen der am weitesten verbreiteten Irrtümer über die Musik des 20. Jahrhunderts.
Was Schönberg betrifft: Da denke ich beispielsweise an die Variationen für Orchester, op. 31: hochemotionale Musik! Oder die Begleitmusik zu einer Lichtspielszene, op. 34 - Filmmusik (ohne Film)! Beides Werke, für die ich mich schon als 20jähriger (lange her) heftig begeisterte.
ZitatOriginal von pieter.grimes
...da hat der gute John Dew aber noch ein paar wichtige Leute vergessen...
der Buddha z.B. war auch so ein böser Atheist
Vergessen hat J. Dew Buddha nicht: Im Textheft verweist er sogar auf die entsprechenden Bezüge im "Parsifal". Nur: In der Inszenierung war davon nichts zu sehen, Buddha paßte ganz offensichtlich nicht ins Regiekonzept.
Das Problem haben, denke ich, alle Menschen, nicht nur Opernregisseure, daß es bei Schwarz-Weiß-Malerei immer viele Zwischenfarben gibt, die nicht integriert werden können.
Das Eindeutige in der Aussage war für mich auch dasjenige, das mich am Darmstädter "Parsifal" am meisten gestört hat, in ästhetischer Hinsicht nämlich. Es fehlte das Rätselhafte.
Und was ist mit
Don Carlo Gesualdo, Principe di Venosa (* 8. März 1566 wohl in Neapel oder Umgebung; † 8. September 1613 in Gesualdo, Provinz Avellino) ?
... vielleicht der Allerbedeutendste aus der Welt des Hochadels - was die Kunst des Komponierens betrifft.
ZitatOriginal von pfuetz
Wegen des massiven Ausverkaufs der Karten (ich habe wohl zu spät registriert, wann der Vorverkauf begonnen hatte), haben wir nun Karten für den 6. April, Rang, Seite links, Reihe 11, Plätze 135 + 136 (a 8,- EUR). Für den Preis kann es, egal, wie es ist, nur gut sein.
Daß man in Darmstadt auch auf den preisgünstigen Plätzen gut bedient ist - optisch wie akustisch -, habe ich selbst mit Freude erlebt. Also dann: Schon jetzt viel Spaß!
Ein paar Bemerkungen zur Inszenierung:
Der Regisseur John Dew erläutert im Programmheft ausführlich und in aller Breite, wohinaus es ihn treibt: 1964 erfaßte ihn als jungen Menschen, dem es vergönnt war, den "Parsifal" in Bayreuth zu erleben, mitten im 2. Akt, als der Protagonist sich seiner großen Aufgabe bewußt zu werden beginnt, "ein Gefühl des Unvollkommenen, eine Gewissheit, dass mein Leben sich anders entwickeln musste als bis dahin".
Die Darmstädter Inszenierung läßt keinen Zweifel, was damit gemeint ist: Religiöse Erweckung in der sehr christlichen Gralswelt im scharfen Kontrast zur atheistischen Klingsor-Welt. Die Bühne des 1. Akts zeigt einen Gurnemanz in schwarzer Priesterkleidung mit seinen Ministranten, die vor und hinter einer Mauer aus Großbuchstaben agieren, aus denen die Namen der vier Kirchenlehrer Augustinus, Hieronymus, Gregorius und Ambrosius sichtbar sind.
Unfreiwillige Komik entstand für mich beim Auftritt Parsifals, der mit dem riesigen Schwan-Kadaver konfrontiert wurde und äußerlich nur wenig überzeugend den unwissenden Knaben gab.
Im 2. Akt dann eine ähnliche Mauer mit Voltaire, Nietzsche, Marx und Spinoza, dahinter ein überdimensioniertes aufgeschlagenes Buch mit zwei Seiten aus Nietzsches "Fröhliche Wissenschaften" (Abschnitt "Der tolle Mensch"), aus denen Klingsor im Gelehrtenrock Kundry und die Blumenmädchen zaubert: So hübsch dieser Einfall eigentlich ist: erotische Phantasien als Kopfgeburten des Verstandes oder ähnlich - peinlich erscheint das mir angesichts der völligen Ironiefreiheit der christlichen Gegenwelt. Christentum = gut; Atheismus = böse.
Ein weiteres Detail: Das vornüber geneigte Kreuz (in Anspielung an ein Dali-Bild) zunächst mit Christus, dann mit der Schlange, mit weitaufgerissenen Maul. Auch hier: Eindeutige Symbolik.
Der 3. Akt setzt recht wortgetreu die Anweisungen Wagners um, mit grüner Aue und projizierter heiliger Quelle - die Schlußszene wie im 1. Akt im dunklen Kirchenraum. Und wer am Ende die eindeutige Botschaft immer noch nicht verstanden hätte, dem wär's spätestens im Schluß deutlich, wenn das Wagner-Zitat zu lesen ist: "Da wo die Religion künstlich wird, ist es der Kunst vorbehalten, den Kern der Religion zu retten."
Wer den "Parsifal" so versteht, der darf sich hier bestätigt fühlen. Auch wenn der Regisseur sich von der "Bühnenweihspiel"-Attitüde des Beifallsverbots distanziert und hoffte, das Publikum möge der Tradition hier nicht folgen und den Darstellern wie sonst auch applaudieren. Dem Wunsch wurde entsprochen, wobei die musikalische Leistung dies auch verdiente, wie ich bereits beschrieben hatte.
Fazit: Zuviel 1:1-Umsetzung, viel zu nah und vor allem völlig distanzlos an Wagners Ideologie der "Kunstreligion". Religion in der Musik? Die suche und finde ich angemessener bei Messiaen oder Bach (z. B. in einer wirklich ansprechenden Aufführung der Matthäus-Passion letzten Samstag) - oder bei Dieterich Buxtehude, an dessen "Membra Jesu nostri" in Heidelberg ich gestern selbst mitwirken durfte.
Ein paar Bemerkungen zur Inszenierung:
Der Regisseur John Dew erläutert im Programmheft ausführlich und in aller Breite, wohinaus es ihn treibt: 1964 erfaßte ihn als jungen Menschen, dem es vergönnt war, den "Parsifal" in Bayreuth zu erleben, mitten im 2. Akt, als der Protagonist sich seiner großen Aufgabe bewußt zu werden beginnt, "ein Gefühl des Unvollkommenen, eine Gewissheit, dass mein Leben sich anders entwickeln musste als bis dahin".
Die Darmstädter Inszenierung läßt keinen Zweifel, was damit gemeint ist: Religiöse Erweckung in der sehr christlichen Gralswelt im scharfen Kontrast zur atheistischen Klingsor-Welt. Die Bühne des 1. Akts zeigt einen Gurnemanz in schwarzer Priesterkleidung mit seinen Ministranten, die vor und hinter einer Mauer aus Großbuchstaben agieren, aus denen die Namen der vier Kirchenlehrer Augustinus, Hieronymus, Gregorius und Ambrosius sichtbar sind.
Unfreiwillige Komik entstand für mich beim Auftritt Parsifals, der mit dem riesigen Schwan-Kadaver konfrontiert wurde und äußerlich nur wenig überzeugend den unwissenden Knaben gab.
Im 2. Akt dann eine ähnliche Mauer mit Voltaire, Nietzsche, Marx und Spinoza, dahinter ein überdimensioniertes aufgeschlagenes Buch mit zwei Seiten aus Nietzsches "Fröhliche Wissenschaften" (Abschnitt "Der tolle Mensch"), aus denen Klingsor im Gelehrtenrock Kundry und die Blumenmädchen zaubert: So hübsch dieser Einfall eigentlich ist: erotische Phantasien als Kopfgeburten des Verstandes oder ähnlich - peinlich erscheint das mir angesichts der völligen Ironiefreiheit der christlichen Gegenwelt. Christentum = gut; Atheismus = böse.
Ein weiteres Detail: Das vornüber geneigte Kreuz (in Anspielung an ein Dali-Bild) zunächst mit Christus, dann mit der Schlange, mit weitaufgerissenen Maul. Auch hier: Eindeutige Symbolik.
Der 3. Akt setzt recht wortgetreu die Anweisungen Wagners um, mit grüner Aue und projizierter heiliger Quelle - die Schlußszene wie im 1. Akt im dunklen Kirchenraum. Und wer am Ende die eindeutige Botschaft immer noch nicht verstanden hätte, dem wär's spätestens im Schluß deutlich, wenn das Wagner-Zitat zu lesen ist: "Da wo die Religion künstlich wird, ist es der Kunst vorbehalten, den Kern der Religion zu retten."
Wer den "Parsifal" so versteht, der darf sich hier bestätigt fühlen. Auch wenn der Regisseur sich von der "Bühnenweihspiel"-Attitüde des Beifallsverbots distanziert und hoffte, das Publikum möge der Tradition hier nicht folgen und den Darstellern wie sonst auch applaudieren. Dem Wunsch wurde entsprochen, wobei die musikalische Leistung dies auch verdiente, wie ich bereits beschrieben hatte.
Fazit: Zuviel 1:1-Umsetzung, viel zu nah und vor allem völlig distanzlos an Wagners Ideologie der "Kunstreligion". Religion in der Musik? Die suche und finde ich angemessener bei Messiaen oder Bach (z. B. in einer wirklich ansprechenden Aufführung der Matthäus-Passion letzten Samstag) - oder bei Dieterich Buxtehude, an dessen "Membra Jesu nostri" in Heidelberg ich gestern selbst mitwirken durfte.
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PS:
ZitatOriginal von pfuetz
Auch ich habe vor, dort hinzugehen. Werde also auch berichten!
Hallo Matthias, bin gespannt auf Deinen Bericht, vor allem ob Du zu gleichen oder anderen Ergebnissen kommst!
ZitatOriginal von Zwielicht
Aber im zweiten Satz von Beethovens Fünfter haben die Fanfaren doch eine ganz andere Funktion als in Haydns Nr. 100: Sie sind eine Vorwegnahme bzw. Präfiguration des sieghaften Tonfalls im Finale - also durchaus affirmativ. Da bewegt sich Beethoven auf den Spuren der Revolutionsmusik (im Finale ganz explizit), was Haydn niemals in den Sinn gekommen wäre.
Leuchtet ein. Insoweit wäre Haydn Mahler näher als Beethoven: Militärfanfaren nicht als Freiheitssignal, sondern als Bedrohung!
Das wirft für mich die Frage auf, ob Haydn und Beethoven das Herannahen der französischen Truppen auf Wien 1809 (?) bzw. die Expansion Frankreichs generell ganz unterschiedlich erlebt und bewertet haben (auch wenn das evt. nur indirekte Schlüsse auf Nr. 100 zuließe).
Hallo Zwielicht,
danke für die aufschlußreiche Erläuterung; Paukenmesse und Missa Solemnis sind mir inzwischen auch schon eingefallen. Das bestätigt für mich, daß Haydn den Einsatz von Militärmusik in der Symphonie bestimmt nicht nur als Gag gemeint hat. Übrigens präsentiert die von mir erwähnte Scherchen-Aufnahme eine Art Verfremdung des Fröhlichen, dies hat für mich etwas Beklemmendes - auch hier Nähe zu Mahler, dessen scheinbare fröhliche Weisen recht schmerzvoll sein können.
Daß Mahler hier möglicherweise Haydn zitiert, wäre nicht so überraschend: Der Schlußtakt seiner Ersten spielt, wenn ich es recht weiß, an eine Stelle aus Beethovens "Fidelio" an.
Beim Anhören des 2. Satzes (wieder Haydn) fühlte ich mich auch stark an den 2. Satz von Beethovens Fünfter erinnert: Auch eine Anspielung? Auch bei Beethoven das Hereinbrechen von Militärfanfaren in den langsamen Satz, der in der klassischen Symphonie bekanntlich oft die Rolle der lyrischen Insel einnimmt.
Jedenfalls scheint es mir, daß Haydn hier Beethoven nicht nur ein formales Modell liefert, sondern auch schon in der Intention seinem Schüler näherkommt, als man gemeinhin gern annimmt.
Noch zu Scherchen: Irre, wie er mit wahnsinnigen Tempo-Extremen (furios der letzte Satz!) den ernsthaften Kern, ich möchte fast sagen, herauskratzt!
ZitatOriginal von Hildebrandt
Hast Du den Rameau schon?
Ist noch auf dem Wege; Du siehst, daß Deine emsigen Bemühungen auch hier nicht ganz vergeblich waren.
ZitatOriginal von Hildebrandt
Und kauf Dir doch bitte endlich die Cembalo-Einspielung von Guillot.
Ts, ts, ts, lieber Hildebrandt: Schau doch bitte mal nach, was ich hier am 19.02.2008 um 20:18 Uhr zum Besten gegeben habe...!
Musikalische Leitung | Constantin Trinks
Inszenierung | John Dew
Bühne | Heinz Balthes
Kostüme | José-Manuel Vázquez
Choreinstudierung | André Weiss
Kai Stiefermann a. G. (Amfortas), Thomas Mehnert (Titurel), Dimitry Ivashchenko (Gurnemanz), Norbert Schmittberg (Parsifal), Andreas Daum (Klingsor), Katrin Gerstenberger (Kundry), Sven Ehrke (Erster Gralsritter), Thomas Mehnert (Zweiter Gralsritter), Aki Hashimoto (Erster Knappe), Stefanie Schaefer (Zweiter Knappe), Markus Durst (Dritter Knappe), Jeffrey Treganza (Vierter Knappe), Aki Hashimoto, Allison Oakes, Stefanie Schaefer, Margaret Rose Koenn, Anja Vincken, Niina Keitel (Blumenmädchen), Elisabeth Hornung (Stimme aus der Höhe)
Was ich gehört habe:
Titurel: gut.
Amfortas: etwas zurückhaltend, anfangs blaß, schöne Stimme, litt eher diskret.
Gurnemanz: etwas Probleme in der Tiefe, wenig plastisch, aber solide und konstant.
Parsifal: hell, strahlend, wenn auch eindimensional.
Klingsor: überzeugend, klar.
Kundry: im 1. Akt zu brav, zeigte wenig Wildheit und Schroffheit; blühte im 2. Akt auf, große Stimme, klasse!
Erster Knappe/Erstes Blumenmädchen: Eine auffallend schöne Einzelstimme!
Klingsors Zaubermädchen: lebendig, klangvoll, gute Abstimmung.
Chor: im 1. Akt leichte Abstimmungsschwierigkeiten (Gralsszene), aber mit Leuchtkraft, im 3. Akt kraftvoll, mächtig, ausdrucksstark.
Das Ensemble insgesamt: Homogen, gut aufeinander eingestimmt, kein Ausfall, das hatte ich auf diesem hohen Niveau hier nicht unbedingt erwartet, erfreulich.
Orchester (das ist mir gerade bei Wagner besonders wichtig!): im 1. Akt noch recht nüchtern, fast kühl, klar, gut konturierte Farben, im 2. Akt beherzter, leidenschaftlicher, im 3. Akt weitere Steigerung, beeindruckend - nur gelegentliche Intonationstrübungen der hohen Streicher und Holzbläser, kleinere Fehler, insgesamt aber sicher (auch das Blech!) - gelegentlich laut (tolle Akustik!), deckte manchmal die Sänger zu.
Dirigent: klares Dirigat, souverän, aus einem Guß, ließ das Werk in großen Bögen sich natürlich entfalten - da ich zuletzt Kegel und Kubelik auf CD im Vergleich gehört hatte: eher Richtung Kubelik, auch im Tempo, das mir zum Schluß hin geringfügig schneller als gewohnt erschien.
Fazit: ein musikalisch rundum befriedigendes und lohnenswertes Erlebnis!
Was ich gesehen habe:
Zur Inszenierung (John Dew): Wagners "Kunstreligion" affirmativ und unkritisch beim Wort genommen: Gralswelt=Christentum, Klingsors Welt=Atheismus (Klingsor als Nietzsche!) - o je! Aber konservative Wagnerianer wird's freuen...
ZitatOriginal von Hildebrandt
Die hab ich.
Aber es ist ein Scherchen-Denkmal mit einer Instrumentierung für Solo(hauptsächlich)bläser und kleinere Orchestergruppen, dann wieder Cembalo solo. Ein sehr eindringlich gemachtes, hervorragend artikuliertes und bis zum Schluss spannendes Abenteuer - möglicherweise als Antwort auf Gräsers Instrumentierung.
Aber ein bisschen zu viel Abenteuergeschmack bleibt mir doch übrig.
Inzwischen eingetroffen:
Nach zweimaligem Hören: ja, wirklich eindringlich, spannend - und sehr, sehr streng: J. S. Bach als gnadenlos unerbittlicher Übervater! Scherchens eigene Fassung, die keinen Wert auf Schönklang legt und ganz darauf setzt, in unterschiedlichen instrumentalen Kombinationen (Bläser, Streicher, einzeln, zusammen, auch Cembalo solo) das kontrapunktische Geflecht bloßzulegen- ein durchaus plausibler und legitimer Weg, das steht fest.
Was mich auch hier wieder, wie schon bei Beethoven, Haydn..., an Scherchens Interpretationskunst fasziniert, ist seine Fähigkeit, zu sezieren, Strukturen bloßzulegen, ohne - und hierin unterscheidet er sich, wie ich meine, von z. B. Michael Gielen (auch ein großer Sezierer) - auf Emotionalität zu verzichten, im Gegenteil: Ich erlebe seine Art fast immer als leidenschaftlich, packend, niemals kalt.
Gleichwohl strahlt seine "Kunst der Fuge" eine Unnahbarkeit und Unerbittlichkeit aus, die mich eine gewisse Ambivalenz empfinden läßt (Hildebrandts Geschmacksverwirrung kann ich also durchaus verstehen).
Als Vergleich habe ich eine Fassung mit Sir Neville Marriner (Academy of St. Martin-in-the-Fields) hinzugezogen; der kommt mir allerdings zu verspielt-freundlich, fast möchte ich sagen, harmlos daher - aber vielleicht höre ich dies nur so im unmittelbaren Kontrast zu Scherchen.
ZitatOriginal von brunello
Für die Nichtösterreicher im Forum - unser Staatsbürgerschaftsrecht ist eines der restriktivsten innerhalb der EU
Oh, und ich dachte, durch die Mitgliedschaft bei Tamino würde mir nach einer gewissen Zeit (6 Monate?) ganz automatisch ein Rechtsanspruch auf einen österreichischen Paß zuwachsen - allerdings singe ich nicht so schön, oder sagen wir, anders als Frau Netrebko, das gebe ich ja zu.
Gerade kennengelernt und in höchste Be- und Verwunderung versetzt: die Einspielung mit dem Orchester der Wiener Staatsoper unter Hermann Scherchen aus den 50ern: Ja, es stimmt:
[zitat]Original von ThomasNorderstedt
Für mich ist das größte Wunder dieser Sinfonie, dass sich der militärische Komplex – sieht man von dem Überraschungsmoment ab – bruchlos in das einfügt, was ich als normale Welt der Haydn-Sinfonie ansehe: herrlich dahinperlende sangliche Melodien, gute Laune bzw. Beschwingtheit, Ausflüge in die harmonische Welt und immer wieder Überraschungen.[/zitat]
Daß Fröhlichkeit und militärischer Lärm hier so scheinbar harmonisch sich fügen, empfinde ich, folge ich der Lesart Scherchens (und ich folge ihr willig), als unheimlich und erschreckend. Zum Beispiel die Stelle am Schluß des 2. Satzes, wenn die Trompetenfanfare ansetzt, als ob plötzlich Mahlers Fünfte hereinbräche, und dann das, ich möchte sagen, grausige Abflauen danach - das zeigt deutlich, wie sehr der gemütliche Papa H. in den Hintergrund getreten und einem Bewußtsein gewichen ist, dem nicht nach Witzen, sondern nach bitterer Verfremdung zumute ist.
Gibt es nicht auch eine Haydn-Messe, in der er Kriegstrommeln mit der Bitte nach Frieden verbindet? Oder verwechsle ich etwas?
ZitatOriginal von Siegfried
[...] die Leistung der noch nicht so bekannten Sängerriege [...]
Die Namen waren mir in der Tat bislang nicht bekannt. Hier meine persönlichen Eindrücke, was die musikalischen Aspekte angeht (zur Inszenierung, die ein recht problematisches Werkverständnis zeigt, demnächst mehr):
Parsifal in Darmstadt 2.3.08
Musikalische Leitung | Constantin Trinks
Inszenierung | John Dew
Bühne | Heinz Balthes
Kostüme | José-Manuel Vázquez
Choreinstudierung | André Weiss
Kai Stiefermann a. G. (Amfortas), Thomas Mehnert (Titurel), Dimitry Ivashchenko (Gurnemanz), Norbert Schmittberg (Parsifal), Andreas Daum (Klingsor), Katrin Gerstenberger (Kundry), Sven Ehrke (Erster Gralsritter), Thomas Mehnert (Zweiter Gralsritter), Aki Hashimoto (Erster Knappe), Stefanie Schaefer (Zweiter Knappe), Markus Durst (Dritter Knappe), Jeffrey Treganza (Vierter Knappe), Aki Hashimoto, Allison Oakes, Stefanie Schaefer, Margaret Rose Koenn, Anja Vincken, Niina Keitel (Blumenmädchen), Elisabeth Hornung (Stimme aus der Höhe)
Titurel: gut.
Amfortas: etwas zurückhaltend, anfangs blaß, schöne Stimme, litt eher diskret.
Gurnemanz: etwas Probleme in der Tiefe, wenig plastisch, aber solide und konstant.
Parsifal: hell, strahlend, wenn auch eindimensional.
Klingsor: überzeugend, klar.
Kundry: im 1. Akt zu brav, zeigte wenig Wildheit und Schroffheit; blühte im 2. Akt auf, große Stimme, klasse!
Erster Knappe/Erstes Blumenmädchen: Eine auffallend schöne Einzelstimme!
Klingsors Zaubermädchen: lebendig, klangvoll, gute Abstimmung.
Chor: im 1. Akt leichte Abstimmungsschwierigkeiten (Gralsszene), aber mit Leuchtkraft, im 3. Akt kraftvoll, mächtig, ausdrucksstark.
Das Ensemble insgesamt: Homogen, gut aufeinander eingestimmt, kein Ausfall, das hatte ich auf diesem hohen Niveau hier nicht unbedingt erwartet, erfreulich.
Orchester (das ist mir gerade bei Wagner besonders wichtig!): im 1. Akt noch recht nüchtern, fast kühl, klar, gut konturierte Farben, im 2. Akt beherzter, leidenschaftlicher, im 3. Akt weitere Steigerung, beeindruckend - nur gelegentliche Intonationstrübungen der hohen Streicher und Holzbläser, kleinere Fehler, insgesamt aber sicher (auch das Blech!) - gelegentlich laut (tolle Akustik!), deckte manchmal die Sänger zu.
Dirigent: klares Dirigat, souverän, aus einem Guß, ließ das Werk in großen Bögen sich natürlich entfalten - da ich zuletzt Kegel und Kubelik auf CD im Vergleich gehört hatte: eher Richtung Kubelik, auch im Tempo, das mir zum Schluß hin geringfügig schneller als gewohnt erschien.
Fazit: ein musikalisch rundum befriedigendes und lohnenswertes Erlebnis!
PS: Kann es sein, daß das Darmstädter Opernhaus in den letzten Jahren renoviert worden ist? Ich meine mich zu erinnern, daß bei meinem letzten Besuch (Jahre her) die Akustik nicht so berauschend gewesen war. Gerade in dieser Hinsicht - ich saß im Rang (es gibt nur einen) - war ich hochzufrieden!
War gestern dabei. Mein Eindruck: Inszenierung von der Intention her völlig daneben: Intellektuellenfeindliches Musiktheater. Wagners "Kunstreligion" beim Wort genommen, leider ohne kritische Distanz!
Musikalisch dagegen: Beeindruckend, vor allem das Orchester! Sängerisch ordentlich.
Eine genauere Besprechung folgt in den nächsten Tagen; ich denke, vor allem zur Regie ist einiges anzumerken.