Dank an Davidoff für die Erinnerung an ein Werk, das ich eben in dieser Aufnahme gehört habe:
Erstaunlich und packend, wie Inghelbrecht, den ich erst gerade als Debussy-Interpret kennenlerne, die Partitur zum Klingen bringt: immer in höchster Konzentration und Anspannung, gleichsam wie unter Strom stehend, elektrisiert – durchaus eindrucksvoller und spannender als Ernest Ansermet, von dem ich noch eine LP besitze.
Eine merkwürdige Klangwelt, die staunen macht, wenn man mit La mer, Trois nocturnes oder Images vertraut ist und Ähnliches im Martyre erwartet: eine vergleichsweise spröde und rauhe, teilweise schroffe Musik, in einer Art nüchternen Extase, die leise an die Tonsprache Brittens (War Requiem) oder, mehr noch, an Messiaen denken läßt, dessen Oper Saint Francois d’Assise, der ebenfalls eine Heiligenlegende zugrunde liegt, nicht nur thematisch verwandt scheint: Die Aufschichtung von Klangblöcken, die scheinbare Statik, die langsame Entfaltung, der musikalische Gestus, der Hang zum Mystischen – daß Messiaen Debussy bewunderte, ist hier sinnlich erfahrbar. Am Ende des Martyre vermisse ich fast schon die Ondes Martenot!
An manchen Stellen meine ich die Andeutung von Parsifal-Zitaten herauszuhören (Karfreitagszauber?), allerdings viel versteckter als in Pelléas et Mélisande einige Jahre zuvor, hier war es noch ganz deutlich.
Debussy selbst bezieht sich in einem Interview, das er während der Komposition des [Martyre[/i] gab, kritisch auf Wagner, die Möglichkeit der Erneuerung einer „Musica sacra“ erörternd:
[zitat]Parsifal ist eine hübsche Sache ... Das ist Theater – dieses Gift der Vereinfachung. Wagner selbst bezeichnet seine Werke als Schauspiele. Er weiß zu gut den Anfechtungen der Demut zu widerstehen, als daß er der Religion zu ihrem Ruhme dienen könnte. Für das Gebet sind seine Attitüden zu dramatisch. Er löst sich nicht von seinen hochfliegenden und künstlichen Theorien. Es braucht eine Selbstentäußerung ganz anderer Art, um das Göttliche zu preisen.
Claude Debussy, Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews. Reclam/Stuttgart 1971, S. 303[/zitat]
Daß Le Martyre, trotz seiner christlich-religiösen Botschaft, nicht gerade die Sympathien der Katholischen Kirche gewann, im Gegenteil! – das hat Davidoff oben schon ausgeführt. Interessant ist hierbei die Frage nach den religiösen Motiven des Komponisten:
[zitat]Wer gibt uns die reine Liebe der frommen Musiker vergangener Zeiten zurück? Wer wagt von neuem die grandiose Leidenschaft eines Palestrina? [...] Ich selbst bin weit entfernt von diesem Zustand der Gnade. Ich bin kein praktizierender Christ im kirchlichen Sinn. Ich habe die geheimnisvolle Natur zu meiner Religion gemacht. Ich glaube nicht, daß ein Mann im Mönchsgewand Gott näher steht, noch daß ein bestimmter Ort in der Stadt der stillen Andacht förderlicher ist.
Vor einem bewegten Himmel, dessen wunderbare und unaufhörlich sich wandelnde Schönheiten ich stundenlang betrachte, erfaßt mich eine unbeschreibliche Gefühlsbewegung. Die unermeßliche Natur strahlt zurück in meine wahrheitshungrige, arme Seele. Hier sind die Bäume, die ihre Arme hoch in den Himmel recken, hier die duftenden Blumen, die in der Wiese lächeln, hier ist die Erde, gar lieblich geschmückt mit lieblichen Kräutern ... Und unmerklich falten sich die Hände zur Andacht. Fühlen, zu welch aufwühlenden und gewaltigen Schauspielen die Natur ihre vergänglichen und erschauernden Geschöpfe einlädt, das nenne ich beten.
Im übrigen bekenne ich Ihnen, daß der Stoff des Martyre de Saint Sébastien mich vor allem wegen der Mischung von lautem, prallen Leben und christlichem Glauben gefangennahm, die ich darin fand.
ebd., S. 304[/zitat]
Ein Bekenntnis, das mich berührt. Mehr noch ergreift mich das Werk – sicher eines der bedeutenden sakralen Schöpfungen des 20. Jahrhunderts!