Liebe Freunde,
ich nehme dies zum freudigen Anlaß, auf Brahms´ "Schicksalslied" zu sprechen zu kommen. Ich möchte dazu ein wenig weiter ausholen. Einfach nur aus Freude an meiner Aufnahme des Stücks, unter Robin Ticciati mit den Bambergern und dem Chor des Bayerischen Rundfunks. Seit ewigen Zeiten schon begleitet mich Haitinks (Chor und SO des BR) Einspielung der Altrhapsodie, mit der unübertrefflichen Alfreda Hodgson, und der ganz wundervollen Nänie nach Schiller. Die neuere Ticciati-SACD ließ mich im Stillen zu dem Schluß kommen, daß das Münchner Chorensemble weltweit das beste ist für dieses spezielle Repertoire.
Da ich bei weitem kein Hölderlin-Experte bin, erlaube ich mir, an die gewisse Nähe des Schicksalslieds zu der Engelmetaphorik in Rilkes reifer Lyrik zu rühren. Daß der Engel als Motiv der christlichen Weltanschauung zugehört, unterscheidet die beiden dichterischen Konzepte nicht so grundsätzlich, wie man meinen könnte. Es gibt ein Hölderlin gewidmetes hymnenartiges Gedicht aus Rilkes Spätzeit, das die Motivik des Schicksalsliedes durchaus aufgreift.
Zuvor möchte ich auf die von Helmut referierte Erlösungsperspektive bei Brahms eingehen. Soweit ich mich erinnere, übersandte er das Manuskript der "Nänie" nach dessen Tod an die Mutter Anselm Feuerbachs, um ihr so zu kondolieren. "Auch das Schöne muß sterben" - "Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich".
Brahms überläßt, anders als Schiller, nicht dem Gemeinen das Schlußwort, das klanglos zum Orkus hinabgeht. Er funktioniert vielmehr das der Nänie den Titel gebende "Klaglied", zu dem sich im Fazit die Tränen der um ihre Toten Weinenden verdichten, zu einer Wesensbestimmung und damit Rechtfertigung aller, und deshalb auch: seiner Musik um. Ich fand das immer überwältigend. Schon die Lichtheit der ersten Chortakte, "Auch das Schöne muß sterben" hat etwas Jenseitiges, Klagloses. Aber in der für das letzte Verspaar aufgesparten Reprise enthüllt sich erst der Kern dieser Musik, die quasi das Tor zu einer anderen Welt aufstößt.
Der Antikenkontext der Komposition ist demnach hybrid - wenn man etwa die Bedeutung Schillers für die Brahms-Zeitgenossen bedenkt oder sich, was nicht das Gleiche ist, Feuerbachs klassizistischen Malstil ins Gedächtnis ruft. Die "Nänie" bringt in gebildeter und etwas kataloghafter Form vieles zusammen, was zu musikalischen Kontrasten einlädt und aus den Skizzen von Adonis´ oder Achilles´ Tod zunächst die Apotheose der Thetis erwachsen läßt, gewiß eine stellvertretende Mater dolorosa in griechischem Gewande. Aber auch eine ergreifende Suggestion fern aller Bekenntnisse.
Schillers Text entstand um 1800, fern der Zeitenwende, der Brahms sich näherte, als er 1881 die Komposition beendete. Aber auch die zehn Jahre zuvor erfolgte Vertonung des Hölderlingedichts greift weit zurück, und die Aneignung ist wie dort sehr persönlich.
Um die oben behauptete Nähe Hölderlins zu Rilke zu belegen, möchte ich der behaupteten Starrheit der Entgegensetzung von Götter- und Menschenwelt entgegenhalten, daß die gedankliche Klammer des Textes wie folgt lautet:
Ihr wandelt droben im Licht usw.
...
Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn usw.
Die Apostrophe zum Eingang und die durchgehaltene Perspektive "von unten" fügen sich, wie ich meine, bruchloser zusammen, als es andere meinen. Was sich hier durchhält, ist freilich nicht eine ungebrochene Kontinuität von irdischer uns göttlicher Welt, sondern die Kontinuität unserer menschlichen Existenz, die in die Welt geworfen wird, sterblich ist und doch hinausgreift über sich in eine höhere Welt.
Wenn Rilke, im "Ange du Méridien" (und den Derivaten, etwa dem "Einsamen"), eine Existenzform entwirft, so muß man an die Unheimlickeit des "Leiermanns" der Winterreise zurückdenken, es ist auch ein Liebäugeln mit dem Abgrund. Hölderlins "Schicksalslied" vermeidet derartige Signale. Selbst die wie eingeschobene Mittelstrophe erinnert den einen oder anderen von uns vielleicht an Rungesche Tageszeiten, an den Morgen mit allen Attributen vom offenäugig schlafenden Säugling, knospender Flur und lichten Höhen, befremdlich in seiner seraphischen Sphärenmusik.
Nicht erst das Adjektiv "keusch" weist dieses paradiesische Jenseits als verloren aus. Aber ich bin nicht berufen, Hölderlins Text angemessen auszulegen. Für mich interessant ist vor allem, wie inspiriert Brahms für diese unanschauliche, unbetretbare Welt bezwingende Töne findet. Wiederum ist der Textvorwurf vor allem Subtext einer Selbstrechtfertigung der Musik schlechthin.
"Glänzende Götterlüfte/ rühren euch leicht
Wie die Finger der Künstlerin/ heilige Saiten"
Das menschliche Ohr ist demnach ein empfindliches Kontaktfeld zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, und die Musik macht das Angewehtsein vom Ewigen menschlich erfahrbar. Die kontrastierend ausgemalte blinde Schicksalsheimat des Menschen wirkt bei Brahms erst recht kalt und routiniert-konventionell; keine Apotheose einer Meeresgöttin hat hier Platz. Aber die Rückkehr zum Verklärungsreich hat auch hier das letzte Wort, und ich habe große Zweifel, daß es ein Wort aus der Bibel ist.