Beiträge von farinelli

    Liebe Freunde, hochgeschätzte Bachiana!


    Ich stehe noch immer im Eindruck der subtilen Analyse von Schumanns Fantasiestück op. 73,1, die Bachiana hier vorgelegt hat.


    Man kann den Weg stets nachvollziehen, doch nie voraussehen


    Wenn ich Einwände habe, dann nicht gegen die Analyse, sondern bloß gegen die damit verbundenen Wertungen. Daher möchte ich hier, auf der Grundlage von Bachianas Ergebnissen, eine andere Sicht der Dinge vorschlagen.


    Die Folie, von der Schumanns Musik sich abheben läßt, wäre auch für mich die periodisch streng und logisch gegliederte Musik der Klassik, par excellence Beethovens. Der Horizont von Erwartbarkeit, den ein metrisches Konzept auf der Grundlage symmetrischer, z.B. achttaktiger Perioden um ein Werk breitet, ordnet die Abfolge der musikalischen Ereignisse auch dem darauf eingestimmten Hörer zu. Ein Taminomitglied hat einmal für uns aufgezeigt, wie sich die Achttaktigkeit, wenn man ganze Takte wiederum als Schläge begreift, bis in Großstrukturen (es war m.W. der Kopfsatz der 5. Sinfonie von Beethoven) aufweisen läßt.


    Diese logische Ökonomisierung der Zeit wäre ein Thema für sich.


    Was nun Bachiana mit wünschenswerter Detailfülle an Schumann ausmacht, ist gerade das Gegenteilt davon: Diffusität, verschleierte Konturen, unrhetorische Beiläufigkeit, tonale Indirektheit usw. Novalis hat dafür, weit vorausschauend, einmal die Formel geprägt:


    Bestimmtseyn ohne bestimmt zu seyn


    Das Ideal Schumanns ist vielleicht eher das einer Träumerei, der man sich überläßt, die Freiheit des ausruhenden Beisichseins, nicht des reflektierten, selbstbewußten Kämpfertums. Schumanns wundervolle Musik spricht daher auch ganz anders an als etwa Beethovens Willensmusik, der man sich schwer entziehen kann mit ihrem Impetus und ihrem Zugriff. Schumanns Fantasiestück in seiner scheinbar zufälligen, rhapsodischen Abfolge befreit den Hörer von willentlicher Verengung. Nicht von außen genötigt, sondern innerlich angesprochen, so könnte man Novalis´ Formel übersetzen; seiner inne zu sein, ohne auf etwas gelenkt zu werden.


    Daß unsere Tagträume in den Momenten, wo wir uns selbst überlassen sind, oft in eine bestimmte Richtung gehen, steht auf einem anderen Blatt. Schumanns Fantasiestück ist schwärmerisch und sehnsüchtig wie ein verlorener Blick auf die eigene Kindheit.


    :hello:

    Liebe Freunde,


    nachdem ich gelegentlich dieses Thema bereits angesprochen habe, möchte ich, für die Audiophilen und die Nostalgiker unter uns, diesen Thread der blu-ray mit dem Zusatz: No Video Content widmen - wie hätte das Bruckner gefallen, der ja in Bayreuth auch gern die Augen geschlossen hielt.


    Um erst einmal ein paar Trümpfe und Appetizer in die Runde zu werfen, hier meine kleine Sammlung:




    Ich gestehe, daß ich fast noch mehr Nostalgiker als Audiophiler bin (weshalb der klanglich ungemein brillante Figaro unter Currentzis mich trotz allem nicht ganz befriedigt). Ich will auch nicht verschweigen, daß Karajans Mahler - ohnehin eine Notlösung, da mir die sechste als Sinfonie lieber gewesen wäre - sich auch beim besten Willen nicht wie eine soundtechnische Offenbarung anhört.


    Aber der Sibelius war heute ein Volltreffer. Keine meiner CD- oder SACD-Aufnahmen, ob nun Segerstam, Berglund, Blomsted, Vänskä, Ashkenazy oder Bernstein, konnte mir die Klangerinnerung an Maazels grandiose WBGs FFSS-Serie ersetzen. Und da ich hier wirklich einen guten Vergleich mit dem Originalvinyl habe, muß ich sagen: So wie diese Blu-ray klingen selbst die alten Platten nicht. Die räumliche Staffelung des Orchesters, die Transparenz und Dynamik sind eine Wonne und eine Wucht. Und Maazels so ungemein zupackende wie liebevolle, im farbigen Detail schwelgende, monumentale, zarte, organisch erzählte Realisation mit den Wienern bleibt meine Referenz.


    Wenn die Plattenfirmen an dieser Art der Edition festhalten, dann stehen den Hörern wirklich unschätzbare Wiederbegegnungen bevor. Man braucht lediglich einen guten Player (ich habe den Pioneer BDP LX88).


    Decca sei Dank!


    :hello:

    Ich sollte vielleicht klarstellen, daß ich weiter oben einen möglichen ästhetischen Standpunkt aus marxistischer Sicht bloß sehr grob und pointiert skizziert habe, ohne damit meine eigene Meinung oder gar Haltung zu formulieren.


    Helmuts Einwände haben mich ein wenig in die Lektüre zurückgetrieben. Wenn man die Verhältnisse wiederum stark vereinfacht, so läßt sich sagen, daß die Musik (sagen wir: zumal die des 19. Jh.) ihre tonal gebundene Grammatik so weit differenziert hat, daß sie geschmeidig genug wurde, die emotionale Innerlichkeit frappierend genau abzubilden. Nach Wagner und mit Schönberg wirft sie dann diesen ästhetischen Schein ab und zeichnet das nicht nur Schöne unserer inneren Regungen, Ängste und Leiden ohne Rückgriff auf die tradierten rhetorischen Kategorien, Formeln und Phrasen quasi seismographisch nach.


    (das ist von mir alles unverantwortlich simplifiziert)


    Wenn man diesen Prozeß in der Geschichte zurückverfolgt, scheint die von Helmut zitierte Wackenroderthese plausibel:


    "Es hat sich zwischen den einzelnen mathematischen Tonverhältnissen und den einzelnen Fibern des menschlichen Herzens eine unerklärliche Sympathie offenbart, wodurch die Tonkunst ein reichhaltiges und bildsames Maschinenwerk zur Abschilderung menschlicher Empfindung geworden ist. (...) Keine andere (Kunst) vermag diese Eigenschaft der Tiefsinnigkeit, der sinnlichen Kraft, und der dunklen, phantastischen Bedeutsamkeit auf eine so rätselhafte Weise zu verschmelzen."


    Lieber Zweiterbass: bedenke doch, daß die vegetative Steuerung des Herzens durch den Sympathicus gar nicht so einfach zu begreifen ist. Und wenn man unter Fibern nicht bloß Sehnen oder Fasern, sondern zumal die Nervenbahnen versteht, zugleich aber das Herz als emotionales Zentrum erkennt, so hat Wackenroder innerhalb seiner Metaphorik allemal recht.


    Ebenso interessant an dem Zitat scheint mir jedoch, neben der hier sehr früh gewählten Zuordnung zu einem historischen Prozeß, die Maschinenmetapher zu sein.


    Der "dunklen phantastischen Bedeutsamkeit", "sinnlichen Kraft" und "Tiefsinnigkeit" musikalischer Emotionen hat sich die Diskussion des Threads ja bereits verschiedentlich angenommen. Das Unbestimmte unserer Gefühlswelt offenbart sich auf der Zeitachse als Kontinuum unklar gegeneinander abgegrenzter Seelenzustände, räumlich hingegen als Schichtmodell, wo unter vordergründigen Affekte tiefere Gefühle schlummern.


    Schopenhauer hat, lange nach Wackenroder, unser Thema dahin eingegrenzt, Musik drücke zwar Emotionen aus, aber stest bloß in idealisierter Form - die Freude, den Schmerz; keinesfalls aber je eine wirklich subjektive Ausprägung davon. Man denkt hier unwillkürlich an die barocke Affektrhetorik, die ja noch bei Schopenhauers Ideal Mozart einige Gültigkeit besitzt. "Der Hölle Rache" ist nichts als das kalte Feuer triumphierenden Hasses, "In diesen heiligen Hallen" nichts als erhabene Humanität, "Dies Bildnis" nichts als schwärmerische Liebe, "Ach, ich fühl´s " nichts als abgrundtiefe Melancholie.


    Und dennoch, und das ist das eigentliche Wunder, empfinden wir Paminas Schmerz nicht über den Umweg eigener leidvoller Erfahrung, sondern unmittelbar durch Empathie - wir rechnen ihn ihr persönlich zu, und dadurch wird dieses halb puppenhafte Geschöpf für uns lebendig - es ist nicht zuvorderst der Schmerz, sondern ihr Schmerz.


    Dieser Aspekt gehört für mich neben die von Bachiana eingangs dieses threads so plastisch geschilderten Phänomene der Distanzlosigkeit zur musikalischen Emotion - der unvermeidlichen Identifikation mit Tristan (oder vielmehr der nicht abzuwehrenden Aufwühlung durch die expressive Emotionalität).


    Man mag sich fragen, ob nicht bereits in der Matthäuspassion die Spannung zwischen Empathie (ecce homo) und emotionaler Vereinnahmung des Hörers (etwa durch die dichte musikalische Affektdarstellung) stark ausgeprägt ist.


    :hello:

    Melante bricht ja hier sehr vorsichtig eine Lanze für die marxistische Ästhetik und Kunstwissenschaft. Er zitiert ein in der DDR seinerzeit verbotenes Buch; aber selbst die regulären Veröffentlichungen sind oft sehr niveauvoll und anregend - man muß die Standpunkte ja nicht teilen.


    Aus marxistischer Sicht ist ein schrankenloser Individualismus bzw. Subjektivismus ein Irrweg. Im ersten Fall setzt sich ja ein Einzelner in seinen Ansprüchen über alles andere hinweg - z.B. der Typus des Renaissance-Fürsten. Im zweiten Fall verinnerlicht ein Individuum seine Abgespaltenheit und Entfremdung (von Freundschaft, Liebe, Familie, gesellschaflicher Anerkennung, materiellem Erfolg usw.) und identifiziert sich damit. Die Winterreise ist insofern ein beredtes Zeugnis für die unauflösbaren Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jh., zugleich aber auch ein Beispiel für ästhetischen Konsequenzen, die sich daraus ergeben, daß man diese Entfremdung existentiell verabsolutiert, statt sie soziologisch zu hinterfragen.


    Irgendwo zwischen dieser Kreuztragung eines irgendwie (auch selbst-)auferlegten Leidens (ohne religiöse Hoffnung) und einer rauschhaften Selbstverwirklichung à la "Le poème de l´extase" bewegt sich, wenn ich sie recht verstehe, Bachianas Distanznahme zur Musik des 19. Jh. Brahms´ "Wiegenlieder meiner Schmerzen" - so nannte er die späten Klavierstücke, die Fantasien und Intermezzi - könnten hier exemplarisch für ein privates Einlullen im Schmerz stehen, ein Verhätscheln des Herzeleids, wozu die zahllosen Lieder über Texte scheiternder oder enttäuschter Liebe passen.


    Aber auch die großen Erlösungsdramen des 19. Jh., von der Missa solemnis und Freudenode bis zu Mahlers 8. oder dem Parsifal, haben etwas irgendwie Angestrengtes und Anstrengendes an sich. Adrian Leverkühns "Doktor Fausti Weheklag" als "Monstre-Werk der Klage" bringt den Typus dieser Generalexekution des um Erlösung wimmernden Individuums auf den Punkt.


    Mein innerer Anlaß, mich an dieser Diskussion überhaupt zu beteiligen, ist die von mir bereits mehrfach im Forum geäußerte Erfahrung, daß die Beschäftigung mit der - nicht nur geistlichen - Musik des 15., 16. und 17. Jh. irgendwie immun macht gegen die Vereinnahmung durch die romantische Musik, wie Bachiana und andere sie hier schildern. Die Missa pro defunctis von Victoria, das Stabat Mater pour les religieueses von Charpentier ergreifen mich anders als, vielleicht, der Parsifal, auf einer tieferen, ich möchte sagen: älteren Ebene, mit einem anderen Ernst, einer anderen Trauer und Tröstung.


    Holger hat ja, im Zusammenhang mit Cortot über Schumann, bereits darauf hingewiesen daß auch die Erlösung des Subjekts von sich selbst zum romantischen Programm gehört. Von daher wäre es ja nur folgerichtig, wenn wir, im Ausgang des romantischen Zeitalters, auf der Schwelle zum 21. Jh. uns auf die vorsubjektive Epoche zurückbesinnten.


    :hello:

    obwohl ich eigentlich nur noch high res files hören möchte (aber na ja; immerhin wurde ich so auf die Einspielung aufmerksam):



    Natürlich gehört das nur am Rande daher, aber diese Interpretin ist wirklich umwerfend schön. Sie bietet, neben D. 960, eine sehr spezielle Auswahl an Schubertwalzern, -Ländlern und Deutschen Tänzen, sehr introvertiert und französisch, ohne daß man hier die böse Kritik an Benedetti Michelangelos Chopin variieren könnte ("Mazurken als Trauerfälle"). Das ganze klangschön, schwebend, melancholisch und heiter; ein zeitloses Plädoyer für schönste Schubertmusik.


    Ich habe übrigens die französische Ausgabe erwischt, sie heißt sehr bezeichnend: Des fragments aux étoiles und spielt auf Novalis an.


    :hello:

    Gestern erworben:



    gekauft übrigens wegen des günstigen Preises und Kenntnis der 8., die aus diesem Zyklus nicht nur der Aufnahmetechnik wegen herausragt - eine wirklich grandiose Einspielung.


    Vom ersten Hineinhören lassen mich die anderen Sinfonien etwas zwiespältig - ich bin durch Solti, Levine und Haitink verwöhnt. Gergiev läß eine deutliche Handschrift erkennen, aber ich vermisse ein wenig die Wunderhornpoesie. Auch klanglich sind die SACDs aus dem Barbican Centre "nur" sehr gut. Allerdings habe ich keine mehrdimensionale Abspielmöglichkeit dafür (surround).



    Zugegeben (ich wußte es schon aus der Luxusausgabe der Butterfly, immerhin eine Mittsiebziger-Decca): das klingt natürlich noch immer irgendwie analog - zumal diese DGG wahrlich kein Ohrenschmaus ist - eine hauchige, schlecht aufgelöste, an Bässen und Höhen arme Grammophonproduktion. Aber dennoch - obwohl ich lieber die Sechste gehabt hätte - das Scherzo, das Adagietto sind hier in wohl vorerst unübertreffliche Wiedergabequalität zu hören. Für mich ein Nonplusultra an Präzison und Lebendigkeit. Und im Folder erfahren wir, daß Karajan erst so spät, mit Mitte 60 nach fast 20 Jahren bei den Berlinern, eine Mahlereinspielung gewagt hat wegen der jahrelangen dafür benötigten Proben. Das will ich glauben.


    :hello:

    Eine sehr spannende Diskussion, der man sich auch persönlich stellen muß. Die Gretchenfrage also.


    Ich denke, die kritische Rezeptionshaltung R. Wagner gegenüber läßt sich mindestens bis zu Nietzsche zurückverfolgen. Nicht so sehr Kritik an Wagner, als eine Analyse des eigenen Rezeptionsverhaltens. Man kann das z.B. bei Nietzsche auf seine ästhetischen Idealkonzepte zurückverfolgen - und die sind apollinisch (Chopin - "Chopins Barcarole"), nicht dionysisch. Diskursiv, geformt, Distanz gewährend. Gefühle in ihrer überwältigenden Unmittelbarkeit instinktiv abwehrend und herunterspielend.


    Der Romantik ging es ja u.a. um eine Ausleuchtung der Seele in all ihrer Tiefe und Leidenschaft. Bei Wagner kommt hinzu die formale Gestaltung der Zeitlichkeit des Erlebens - z.B. des Jetzt, des Augenblicks. Musikalische Zeit. Musikalische Seelenverhätnisse.


    Wenn man, wie Glockenton, die Suspense-Spannung mit dem Sexuellen kurzschließt, zeichnet man Wagner zu mechanistisch. Man denke an den Beginn von Tristan, den Dialog Brangäne-Isolde nach dem ersten Gesang des jungen Seemanns. Die rhythmisch akzentuierte, dennoch nicht schematische Begleitung im Orchester zu "Blaue Streifen steigen im Osten auf" als Kontrastfolie zu Isoldes exaltiertem Ausbruch nach "Nimmermehr - nicht heut, noch morgen" usw. Man mag, verglichen mit einer zornigen Händelarie, Isoldes Affektgewitter als Unmittelbarkeit hinstellen - gleichwohl wird die Zerrissenheit der Figur hier nicht als einfache Identifikationsnummer über den Hörer gestülpt. Man vernimmt stattdessen das komplexe Charakterbild einer enttäuschten Liebenden in aufgesetztem Haß und Selbsthaß (später, wiederum kontrastierend, den tödlich stoischen Tristan, der Isolde gegenübertritt). Alles ist spannungsvoll, sprechend, psychologisch tief. Nah am Phänomen, aber wesenhaft erfaßt, nicht effekthascherisch überzeichnet.


    Die "großen Gefühle" als ästhetisch vermittelte, als künstlich evozierte finden sich nicht erst in Wotans Abschied, sondern schon im Barock und der Klassik. Bei Wagner neu ist die Gestaltung des Werdenden, der Gestaltlosigkeit (nicht bloß im Es-Dur des Rheingolds). Debussy im Pelléas hat die Ausformulierung des Affekts, nicht seine übergängliche und unfaßliche Morphologie zurückgenommen. Der Parsifal bot schon bei Wagner das Vorbild. Arkels Leidensgebärde, Golauds Eifersuchtspathos, Yniolds Angst werden breit ausgemalt. Nur die Liebe zwischen den Protagonisten bleibt aphoristische Andeutung.


    Der Genuß der ästhetischen Distanz ist seit Aristoteles und Horaz bis zu Schopenhauer und Nietzsche fester Bestandteil des Erlebens von Kunst. Dabei stehen sich rettende Distanz und zugemutete Unmittelbarkeit in immer heiklerer Spannung gegenüber - man denke an die Entwicklung visueller Gewalt im Film, von Hitchcock über Lynch bis zum modernen Horrorfilm. "Schindlers Liste" mit seinen distanzlosen Kopfschuß-Hinrichtungen wäre für die Western der 40er undenkbar. In "Dead Man" von Jarmusch wird das Stilmittel bereits persifliert. Stones "Natural born Killers" ästhetistiert die filmisch mögliche Gewalt in ungeahntem Ausmaß. Tarantino zieht die Konsequenzen aus dem Dilemma künstlich übersteigerter Gewaltdarstellung als vermeintlicher Rettung des Realismus - sie wird zur Satire ihrer selbst. Der 11. September war sozusagen die Umsetzung ins Reale. Maximale Medienwirksamkeit. Man erinnert sich: Der total Krieg, noch totaler, als man ihn sich vorstellen kann. Das hat noch keinen zurückgeschreckt, geschweige einen Künstler von Rang.


    :hello:

    Nietzsches Wagner-Aphorismen sind das scharfsinnigste, unbestechlichste, boshafteste und brillanteste Liebesgeständnis an Wagners Musik. Es gibt eigentlich nichts, was sich darüber hinaus noch anmerken ließe. Selbst Thomas Mann folgt nicht Wagners Kunst, sondern Nietzsches Deutung derselben. Wahrscheinlich kann man sogar Adornos Thesen auf Nietzschesche Denkfiguren zurückführen. Und Nietzsches Geistigkeit, die sich Wagners Musik so viel wie möglich (vergeblich freilich) widersetzt, hat lediglich in Flauberts impassibilité als Verweigerung ästhetischer Subjektivität ein Pendant.


    :hello:

    Lieber WoKa,


    natürlich bin ich mit allem einverstanden, was aus deiner freundlichen Feder fließt, dem Forum zu frommen.


    So sehr ich deine Begeisterung für die Norman-Einspielung unter Masur teile - singulär ist für mich Lisa della Casa unter Böhm. "Am Ende sagt ein Kind, wie alles gemeint war" - frei nach Mahlers Selbstkommentar zum Schlußsatz der IV., hat ihr schlichter, liedhafter Ansatz kaum Nachfolgerinnen gefunden (Janowitz - in "Beim Schlafengehen" viel zu getragen - oder eher noch Popp vielleicht ausgenommen). Bezeichnend, daß es (soweit ich sehe) keine Aufnahme der Vier Letzten mit Grümmer gibt (das wäre eine ideale Interpretin).


    Vier letzte Lieder sind, seit und mit Flagstad, eine Domäne der Heroine*, mehr Einsamer im Herbst oder Abschied als jugendlich naiver Kontrast zum Spätwerks-Mythos. Insofern reiht sich auch die Norman unter die Regel. Aber das ist meine ganz persönliche Meinung ...


    *Wer´s nicht glaubt, lese diesen youtube-Kommentar zur Furtwängler-Uraufführung:


    Furtwängler entering the flood of the fatal river as a gigantic figure under the dying sun over the mountains ..... a pandemonium of unescapable power and beauty ...... this is toxic music in this land is no sorrow , no mercy , ...... ...... only the crepuscular singing of the adored and final destiny ......
    and suddenly ,
    5:54 love ..... flowing like blood ........


    :hello:

    "Erst kratz´ ich ihm die Augen aus, und dann laß ich mich scheiden!" -


    wie oft habe ich das hier im Forum schon gedacht. Nein, der dritte Akt von Verwechslungskomödien ist fast immer schwach (die Verwicklungen werden entwickelt) - der Rosenkavalier ist da das beste Beispiel. Eigentlich könnte man den Schluß, bis auf das Terzett, kürzen. Schnitzler hätte die Marschallin auf die Terrasse vom Onkel Greifenklau gesetzt und erzählen lassen, wie es dem Vetter Ochs jüngst schlecht ergangen sei. Und dann hätte der reuige Octavian mit der unpäßlichen, da schwangeren Sophie noch einen kurzen Auftritt. "Ja ja, die jungen Leut´ ..."


    :hello:

    Guten Morgen, lieber Rheingold1876, und hab vielen Dank für die CD-Empfehlung. Ganz wundervoll!


    Wenn du Recht hättest mit deiner Einschätzung, wäre das sehr traurig. Aber ich denke auch oft, daß die Kunst des 19. Jh. uns allmählich, ihrer inneren Selbstverständlichkeit nach, verloren geht. Dann stehen wir davor wie heute vor der Kunst des 18. Jh. und müssen sie HIP-mäßig rekonstruieren.


    :hello:

    Lieber Hart, lieber Helmut,


    wiewohl ich, fern von Schwetzingen, selten Liederabende besuche (dort hörte ich immerhin einmal Mitsuko Shirai), sprechen mir eure beiden letzten Beiträge aus der Seele. Ein leises, beredtes Plädoyer für die Subjektivität, für das Je ne sais quoi, das Inkommensurable. Und vielleicht ließe sich dennoch sagen, daß große Interpretationskunst nur zustande kommt, wenn der Hörer im entscheidenden Moment bereit ist, sich zu öffnen - wenn er das, was der Interpret gleichsam "channelt", perziperen kann - so daß wahre Inspiration bloß im Gleichschwingen von Sender und Empfänger stattfindet.


    Und noch ein anderer Gedanken bewegt mich. Geschichlich hat nichts auf die spezifische sängerische Leistung, die Ästhetik Fischer-Dieskaus hingewiesen. Er faßt singulär zusamen und entwickelt, was in ihm zum Ausdruck drängt. Man konnte sich zuvor gewisse Valeurs in der Gestaltung eines Kunstliedes vielleicht vorstellen; aber man mußte sich stimmliche Qualitäten zusammenphantasieren, die bis zu Fischer Dieskau in keinem menschlichen Individuum zur Kongruenz kamen.


    Ich mußte dieser Tage oft daran denken, als ich mir bei youtube verschiedene Versionen von Schumanns "Waldgespräch" aus op. 39 anhörte, von denen keine mich befriedigte. Vielleicht gibt es ja irgendwann einmal eine Frauenstimme, die das bewältigt - das Drängen des Mannes, sein Grauen, die irisierende Frauenerscheinung und ihre bedrohliche, schneidende Kälte am Schluß (da müßte es wie die Flagstad klingen). Aber dies nur in Parenthese.


    :hello:

    Lieber Rheingold1876,


    das ist zwar auch wieder o.t., aber vielleicht kannst du mir das Rätsel lösen, wieso auf dem liner der Karajan-Schöpfung der DGG (ich glaube 1966) neben Kmentt und Wunderlich (was mir nebenbei auch nicht ganz klar ist) auch Christa Ludwig groß abgebildet ist. Singt sie da im Chor :pfeif: ?


    :hello:

    Liebe Freunde,


    ich weiß nicht, ob mir eine Entgegnung gelingen wird.


    Aber Schubert scheint mir, wenn man die Romantikfrage zunächst einmal ausklammert, doch einer psychologischen Konkretion und Plastizität verhaftet, die seiner Gestaltungsfähigkeit auch irgendwie Grenzen setzt.


    Ich wähle hier einmal das Lied "Erstarrung". Alles darin erscheint in Schuberts Vertonung veranschaulicht, vermenschlicht. Schubert "malt" förmlich die Unruhe und Verzweiflung des im Schnee Irrenden, das Pathos der auf die nackten Erde gepreßten Lippen, den flüchtig gestreiften Trost einer imaginären Blume.


    Wenn man, nur unter diesem Aspekt, ein Lied wie "Ich will meine Seele tauchen" aus Schumanns "Dichterliebe" vergleicht, begreift man die Unterschiede. Nicht nur entbehrt Heines hochsymbolischer Text aller ins Anschauliche rückübersetzbarer Gesten. Der "Kelch der Lilie" existiert ebenso wenig, wie man die Seele "hineintauchen" könnte. Die aphoristische Faktur der Musik, der jähe Einsatz der Singstimme, die arabeskenhafte Klavierbegleitung haben nichts Anschauliches; sie bringen den Text auf andere Weise zum Leuchten. Gewiß wird die Wendung vom Blumen- zum erotischen Motiv wunderbar ausgekostet; gewiß atmet das Stück eine Atmosphäre vage zielgerichteter Nervosität und zugleich schwebender Zartheit. Aber das zwischen den Zeilen ausgebreitete Begehren wird zuletzt nirgends greifbar. Das Stimmungshafte ersetzt die emotionale Gebärde (man denke nur an die Heinevertonungen Schuberts, etwa "Am Meer"). Schubert, wenn man so will, buchstabiert die Affektsituation eines Textets quasi restlos aus. Schumann, etwa in der "Mondnacht", benutzt sogar die anschaulich-plastische Klanggebärde ("Und meine Seele spannte/ Weit ihre Flügel aus"), um den Text an die Offenheit zurückzugeben, zur Intensivierung des zuletzt nicht Faßbaren.


    Den Gegenpol bildete etwa Schuberts "Über allen Gipfeln/ Ist Ruh", das jeden Vers episodisch illustriert, aber die Kernaussage des Textes, wie mir scheint, verfehlt.


    :hello:

    Tut mir leid. Ich bezog mich auf deinen Beitrag etwas weiter oben:


    In der Urfassung des Liedes der Leiermann, die in h-Moll steht (die Zweitfassung steht in a-Moll), endet die melodische Linie der Singstimme mit dem kleinen Sekundfall G-Fis. Da es sich bei dem G um ein Achtel, beim Fis aber um den Wert einer Dreiviertel-Note handelt, wirkt diese melodisch klangliche Figur wie ein Schrei, - ein Schrei der sich auf eine Antwort richtet, die nicht kommt. Sie kann nicht kommen, da dieses Lied einen offenen Schluss hat: Die melodische Linie endet auf der Quinte und verhallt dort.


    Nun setzt aber auch „Gute Nacht“ mit einem kleinen Sekundfall (F-E) ein. Die Fallbewegung F-E-D auf den Worten „Fremd bin ich“ kann man als eine Art „Urmotiv“ der Winterreise betrachten. Budde weist aber darauf hin, dass diese Tonfolge, musikgeschichtlich betrachtet, eigentlich eine Schlussfigur darstellt. Er bezieht sich dabei auf den zweiten Satz von Beethovens viertem Klavierkonzert op.58. Und dann schlussfolgert er:
    „Wenn Schubert den Zyklus mit einer Schlußfigur eröffnet, deren semantischer Charakter der Figur eingeschrieben ist, dann setzt er damit ein Zeichen für den gesamten Zyklus. Der Anfang ist auf kein Ziel hin gerichtet; im Anfang liegt zugleich das Ende beschlossen.“


    Ich finde den Bezug des Schlusses vom Leiermann auf den Ausklang von "Frühlingstraum" als Klammer zwingender als die fallende Halbtonschritt-Figur im Verweis auf den Beginn von "Gute Nacht". Die Offenheit der Frage "Wann halt ich mein Liebchen im Arm" in Schuberts beispielloser Vertonung ist die Folie, vor der die Offenheit des Leiermann-Endes mit seiner zaghaften Frage zu diskutieren wäre - beide Male ist die Frage rhetorisch, beide Male weiß der Wanderer, daß die Antwort negativ ausfällt, daß die Frage sinnlos ist.


    :hello:

    Der Konnex "offene Frage", fallender Halbtonschritt in Moll sowie leere Quinte als Ausklang verweist, zwingender als auf "Gute Nacht", auf den "Frühlingstraum". Die zyklische Struktur erscheint mir daher nicht derart zirkulär, à la Robert Musil ("einen Refrain, der wie der Irrsinn wiederkehrt").


    :hello:

    Lieber Helmut,


    ich besitze diese Aufnahme (noch) nicht; aber offenbar handelt es sich um dieseselbe wie unter


    https://www.youtube.com/watch?v=B_dzPSMKcyw


    HIP-Charme meets Schubert - verblüffend straffe Tempi, detailliert-delikate Begleitfinessen, eine vom Arioso aufs stilisiert Sprechdeklamatorische heruntergebrochene Vokallinie.


    Ob´s unter seiner Rinde wohl auch so reißend schwillt - kann man das so singen wie van Elsacker?


    Prinzipiell haben wir einen Sänger, der die ganze Winterreise mit ungefähr einer Stimmfarbe bewältigt. Ein hochkultivierter Sänger, gewiß, einer, dem der semantische Gehalt am Herzen liegt. Aber auch einer, der sich aller Expression und Expansion verweigert, der in Minimalamplituden hineinpreßt, was anderswo geschrien, geklagt, geschluchzt oder - pardon, gesungen wird.


    Hier hört sich manches wie bloß markiert an; gehaltene Töne, besonder am Versende, werden, mit dem interpunktiven Senken der Stimme, gleichsam abgebrochen (nicht weil er´s nicht anders könnte, sondern weil es die geprochene Deklamation so machen würde).


    Von den tiefen und verstörenden Emfindungslagen höre ich nichts. Ein im Kern unaffizierter Sänger, der die Winterreise quasi bloß "vorführt". Und was den "Lindenbaum" angeht -


    Am Brunnen vor dem Tore
    da steht ein Lindenbaum


    - welcher Reichtum an vokaler Entfaltung, nämlich der Vokalfarben, die ja nicht wie im Italienischen immer ein reines A-E-I-O-U bedeuten, sondern Helldunkelschattierungen ermöglichen. Brunnen, Tor und Lindenbaum sind eine Szenerie - die Tiefe des Brunnens, das offene Tor bieten gleichsam die dunkelgrundigen Leerstellen, aus denen der Lindenbaum wie eine Epiphanie hervortritt (und so hat Schubert die sich erfüllende Phrase ja auch vertont). Das sängerische Gleichmaß van Elsackers ist hier das falsche Maß, in meinem Empfinden. Vielleicht bin ich durch die Masterclass-Vorführungen bei Elisabeth Schwarzkopf verdorben.


    :hello:

    Sehe ich genauso, lieber Helmut. Und so, wie die Septimenspannung als Sprungbrett für etwas ganz Neues fungiert, nämlich die zurückgenommen-beschwichtigte Melodieführung im zweiten Teil der Strophe, so ist das Verb "schlafen" das Bindeglied zum Bedeutungsfeld von "träumen", dem beinah der gesamte Rest des Liedes gewidmet wird. Vom "schnarchen" ließe sich dieser Übergang kaum so bruchlos bewältigen. Wie umsichtig und plastisch Schubert diese im Grunde ja abstrakte Gedankenbewegung musikalisch umsetzt, ist schon sehr eindrucksvoll.


    (das bezog sich auf deinen vorletzten Beitrag)


    Deine Schilderung des Höreindrucks der Altus-Aufnahme ist, was die sprachliche Umsetzung von akustischen Phänomenen angeht, schwer zu übertreffen. Man hört, was du schreibst.


    :hello:

    Kurios, diese Disputation um das Schnarchen.


    Aus dem stilistischen Blickwinkel des 19. Jh. ist Schnarchen, sehr harmlos, ein oft, vielleicht etwas augenzwinkernd, verwendetes Synonym für Schlafen.


    Sprachgeschichtlich ist es, im MHD, mit Schnauben bzw. Schnaufen verwandt, also geräuschhaftem Atmen, das gleichsam akustisch-metonymisch fürs Schlafen steht - ein evokatorischer Teilaspekt.


    Nun ordnet Müller in der ersten Strophe zu "Im Dorfe" in den ersten drei Versen die nächtlichen Akteure nach akustischen Merkmalen an, und zwar kommen alle in einem geräuschhaften Spektrum überein.


    Die Schubertsche Konjektur "schlafen" (statt "schnarchen") bricht nun diese akustische Front auf. Und gleichwohl hält Schubert im pianistischen Begleitmotiv ja am illustrativen intermittierend-rasselnden Klangsymbol fest. Die von Helmut so schön konstatierte Sachlichkeit der Stimmführung (Verse 1 und 2) wird aber in Vers 3, der ja die hier angesprochene Konjektur aufweist, verlassen, da die Singstimme den "neutral" fallenden Intervallraum verläßt und zu den Worten "es schlafen die Menschen in ihren Betten" expressiv überdehnt. Das Spannungsvolle in dieser thematischen Entwicklung der 1. Strophe geht einher mit dem Effekt, daß der Wanderer nunmehr nicht mehr der Geräuschkulisse des Dörflichen mitsamt den Schläfern gegenübersteht, sondern zwischen beiden sich findet - den bösen, hetzenden, doch gebundenen Hunden (Symbolen des Schlafs und Traums seit Aischylos, Eumeniden V. 94 ff) und den arglos träumenden Schläfern.


    Diese Zwischenstellung ist sonderbar gespenstig genug; sie erklärt auch, warum die von Schubert gewählte Vokallinie sich nicht mehr mit dem rückgesetzten "schnarchen" verträgt.


    :hello:

    Lieber Helmut,


    das letzte Zitat stammt von mir, nicht von Holger; und es war auf den Begriff "Erlebnislyrik" (vs. Gedankenlyrik) i.S. von Goethes "Willkommen und Abschied" hin formuliert, ich bezog mich damit auf einen Diskussionsbeitrag von WolfgangZ. Lyrik wird immer irgendwelche Erlebenisse reflektieren; Erlebnsilyrik als Ausdruck und Gestaltung erlebter Unmittelbarkeit ist sie damit noch nicht notwendig.


    :hello:

    Lieber WolfganZ, liebe Freunde,


    wenn man das Begriffspaar Erlebnis- bzw. Gedankenlyrik, aus heuristischen Gründen, hier einmal akzeptiert, so hat Müllers Text, für sich genommen, tatsächlich Teil an beiden Alternativen. Die emotionale Wirkung, die aus der Metaphorik zu erwachsen scheint, diese durchgängig gefühlshafte Konkretisierung ist aber zunächst das Ergebnis der Schubertschen Vertonung.


    Man nehme nur das Lied "Erstarrung", das die Gefühsllage der Verzweiflung und Ausweglosigkeit so suggestiv vor uns ausbreitet. Das Verhältnis von Unruhe und Kreisläufigkeit der musikalischen Bewegung, die trostlosen Dur-Aufhellungen, die schmerzlichen Akzente - all das entstammt einer wie aus einem Guß geformten, dabei ungemein komplexen kompositorischen Architektur. Der Text nimmt, etwa bei den Versen "Wenn meine Schmerzen schweigen, wer sagt mir dann von ihr" eine Wendung ins Gedankliche vor, die ohne Schuberts Musik kaum jene emotional eingebundene Wirkung entfalten könnte - jedenfalls für mein lyrisches Empfinden.


    Neben dieser emotionalen Grundhaltung der einzelnen Lieder bieten sich im Wechselspiel von Deklamation und Begleitung sehr differenzierte Gestaltungsmöglichkeiten. Ich greife, weil sie wohl jedem Hörer besonders vertraut sein dürfte, Fischer-Dieskaus Realisation der Phrase "Der Wind spielt drinnen mit den Herzen/ wie auf dem Dach - nur nicht so laut" heraus. Diese mit höchster Klangkultur im piano ausgekostete Stelle mit ihren Fermaten und Atempausen legt ein ganz besonderes Gewicht auf diesen Perspektivwechsel "nach innen" - sie distanziert den Wanderer innerhalb des Eifersuchtstableaus der "Wetterfahne".


    Bei Prey vernehme ich eher die Kontiniutät des Affekts, wie schon beschrieben, durch die Entwicklung der auf "treues Frauenbild" gipfelnden rhetorischen Phrase, woran dann besonders die Akzentuierung der "reichen Braut" anknüpft. Es geht mir hier gar nicht inhaltlich um die Haltung des Wanderers, ob darin nun Verachtung oder Wut oder Hohn anklingt. Es geht mir um die Akzentuierung des Adjektivs "reich" als solches, das durch die Aussprache gleichsam selbst reich gemacht und illustriert wird - das ist ein gutes Besipiel anschaulichen Sprechens, wie es die Lyrik des 19. Jahrhunderts vielfach verlangt und wie es heute, scheint mir, nicht mehr selbstverständlich gepflegt wird. Die Worte lösen, scheint mir, bei den Sängern, nur selten konkrete Suggestionen aus; und was bleibt, ist das emotionale Gerüst von Schuberts Musik.


    Das ist, selbstredend, eine stark vereinfachende These.


    :hello:

    Zit.:


    Das ist ja, was ich hier kritisiert habe, - möglicherweise mit etwas deftigen und unangemessenen Worte (was ich bedauere). Aber in der Sache habe ich nichts zurückzunehmen: Dieser Thread soll sich nicht um die Interpretation der Wintereise oder einzelner Lieder drehen - und das tat er über eine lange Strecke -, sondern um die Vorstellung neuer Aufnahmen derselben und die reflexive Auseinandersetzung damit.
    Ist es so falsch, wenn man das reklamiert (als derjenige, der den Thread gestartet hat)?


    Zit.:


    Hier, in „Im Dorfe“, geht es um die Begegnung des wesenhaft einsamen Wanderers mit einer in nächtlichem Schlaf ruhenden kleinen – dörflichen – Welt, die Müller mit nur wenigen lyrischen Strichen zeichnet (so etwas kann er sehr gut!). Drei Sätze, bzw. Satzteile sind syntaktisch gleich gebaut, - werden mit dem sachlichen „Es“ eingeleitet. Man muss dabei bedenken, dass diese Verse ja vom Wanderer gesprochen sind. Er also verfällt in diesen sachlich-lakonischen Stil, - worin sich die Distanz, die Ferne ausdrückt, in der er diese Welt erlebt. Übrigens: Die liedkompositorische Größe Schubert zeigt sich darin, wie er diesen lyrisch lakonischen Stil in Musik umsetzt: Im, ebenfalls musikalisch-lakonisch daherkommenden, stereotypen Auf und Ab der melodischen Linie am Anfang nämlich.


    Die Hunde und ihre rasselnden Ketten haben als lyrisches Bild in diesem Gedicht eine gleichsam evokative Funktion: Sie lassen im Wanderer imaginativ eine Welt erstehen, aus der sich ausgeschlossen fühlt. Es ist eine, die er zwar nicht realiter erfährt, die er aber durchaus als nächtlich-dörfliche Realwelt innerlich imaginiert. Die Bilder der beiden ersten Strophen skizzieren lyrisch eine Welt – wenn man so will: ein „Milieu“ – , die der monologisch in seiner Innenwelt versunkene Protagonist in die Außenwelt als quasi reale Form individuell menschlichen und gesellschaftlichen Lebens projiziert, - im Wissen darum, dass sie ihm ein für allemal verschlossen, unzugänglich bleiben wird. In diesem Akt der Imagination ereignet also letzten Endes die – diesen Menschen existenziell erschütternde – Erfahrung gesellschaftlicher Exorbitanz.


    Gottseidank fordert das theoretische Interesse gegen alle selbstauferlegten diskursiven Zwänge ihr gutes Recht!


    :hello:

    Glockenton spricht mir in vielem aus dem Herzen. Auch in meinen Ohren bleiben viele Interpreten dem poetischen Gehalt manches schuldig.


    Was nun Fischer-Dieskau betrifft, so liegen von ihm ja auch recht unterschiedliche Ansätze vor. Mit Gerald Moore 1955 läßt er die "Wetterfahne" mit einem verhalten empörten Ton einsetzen, um die Wut dann, vielleicht notengerecht, beim "sie pfiff" usw. voll ausbrechen zu lassen. Mit Billing z.B. klingt Dieskau anfangs weicher und ängstlicher, vielleicht hilfloser. Mit Brendel, man verzeihe mir, kann ich die hier vielgerühmte Homogenität nicht erkennen - allderdings bin ich auf die Amazonschnipsel angewiesen, ich besitze diese Aufnahme mit.


    Ich schätze sehr Hermann Prey, auch in der Engel-Aufnahme. Wenn man sich die Passage:


    Er hätt´ es eher bemerken sollen,
    des Hauses aufgestecktes Schild,
    so hätt´ er nimmer suchen wollen
    im Haus ein treues Frauenbild


    herausgreift, so legt Prey hier ein ausgedehntes crescendo an. Die Klavierbegleitung hat ja etwas walzerhaftes (bei Mahler wäre das ein Totentanz). Die pianistische Rhetorik des Begleitmotivs zu den zitierten Versen läßt sich bis zu Mozart zurückverfolgen als mocking phrase (Holzbläser, z.B. Finale 2. Akt Figaro). Daraus darf man schließen, daß das "Auspfeifen" der Wetterfahne nicht im forte auf "pfiff" gemalt wird, sondern sich aus der Szene danach entwickelt.


    Ich glaube, daß sich das bösartige Timing dieser zweiten Strophe nirgends so gut realisiert findet wie bei Prey und Engel, wo Klavier und Stimme gleichsam Kopf an Kopf ihre Jagd austragen.


    Geschenkt, daß Prégardien davon nichts hören läßt. Das von ihm und Staier gewählte Tempo ist fast doppelt so schnell wie bei Engel (oder Moore oder gar Sawallisch). Prégardien hat keine Mühe mit diesem Tempo, seine Stimme ist ungemein beweglich. Aber es gibt keine differenzierte Emotionalität oder Entwicklung. Deswegen kann ich hier, beim besten Willen, auch keinen "Winterreisenden" vernehmen.


    :hello:

    Lieber Dieter,


    dein Statement ist mir, ehrlich gesagt, zu vage. Streisand hat z.B. eine - ziemlich schwache - Version von "Verschwiegene Liebe" eingesungen. Da bleibt sie hinter ihren stimmlichen Möglichkeiten zurück, sie trieft vor Ehrfurcht vor der "hohen Kunst".


    Wenn du etwa meinst, daß ein Sänger ohne großen vokalen Anspruch, mit schlichter Singfreude, den Spagat zwischen Brendel und, sagen wir, Gilbert Schuchter gewinnen kann, dann solltest du dir die Mühe machen, das für alle nachvollziehbar an der Winterreise zu belegen.


    Augenblicksweise mag das auch seine Berechtigung haben. Aber die Winterreise ist zuletzt zu anspruchsvoll, um sie für Quereinsteiger zu empfehlen (meine Meinung).


    P.S.: Aber aber, lieber Helmut - der Aspekt "Charakterisierung" spielt wirklich keine Rolle? Kein pars pro toto?


    Auch hier bleibt Prégardien seinem Grundverständnis dieses Liedes treu: Der einsame Wanderer imaginiert sich eine Welt, die ihm ein für allemal verschlossen bleiben wird, und es bleibt ungewiss, ob er ihr vielleicht doch zugehören möchte, oder sich endgültig mit seinem Schicksal der gesellschaftlichen Exorbitanz abgefunden hat. Das ist Prégardiens „Winterreisender“ - darin auch der von Fischer-Dieskau übrigens -, und diesen gestaltet er sängerisch mit bemerkenswerter Konsequenz.


    Gerade diese focussirende Zuspitzung ist ja so spannend.


    :hello:

    Zit.:
    "als Plattform für den Start zu philosophisch-reflexiven Höhenflügen benutzt zu werden"


    pour revenir à nos moutons


    der Hinweis auf Schuberts angebliches Verdikt gegen alle übertriebene expressive Interpretation ist so ein Punkt, wo sich die Geister scheiden. Was etwa den "Schwanengesang" betrifft, so sind, wenn man "Aufenthalt" einmal mit Prey/ Klien gehört hat, alle übrigen Interpreten dem Lied seine Wirkungsabsicht schuldig geblieben. Erst Goerne/ Eschenbach erreichen wieder eine vokal erfüllte Version.


    Wenn man, im Rahmen der "Winterreise", vorschnell den Wanderer in seiner Rolle anhand eines einzigen Liedes, nämlich "Im Dorfe" charakterisiert, so hat man elegant verschwiegen, daß ein Prégardien den "Stürmischen Morgen" mit Sordinen belegt, um ein gepflegtes, aber nichtssagendes Ergebnis zu erzielen. Selbst Fischer-Dieskau bringt dieses "Es ist nichts als der Winter" forciert und damit verfehlt. Die Fähigkeit Preys, hier, schon mit einigem Stimmvolumen einsetzend, die Klimax rein aus vokaler Fülle zu realisieren, verweist auf die emotionale Skala, in der Schuberts Komposition gedacht ist.


    Ich schreibe dies nur, da einige der vorigen Beiträge eine gewisse Tendenz zu Entemotionalisierung der Schubertschen Vertonung nahelegen. Ich höre mir eine Neuinterpreation immer anhand der "Wetterfahne", "Auf dem Flusse", "Einsamkeit", "Der Stürmische Morgen" und "Mut" an. Wer das nicht hinbekommt, sollte die Finger von der "Winterreise" lassen.


    :hello:

    Wenn man von den Mißhelligkeiten absieht -


    eine sehr spannende Diskussion, und kontroverse Positionen vieler zur Beteiligung angeregter Taminos.


    Mein Senf darf da natürlich nicht fehlen. Die "Milieu"-Frage würde ich, nach Art eines gordischen Knotens, zunächt dahingehend auflösen, daß ich für Schuberts lyrischen Kosmos die Existenz eines städtischen Milieus grundsätzlich bestreiten würde. "Großstadtlyrik" gibt es vor Baudelaire eigentlich nicht; und eine Vorstufe dazu ist allenfalls Heine mit seiner Zersetzung des romantischen Naturerlebnisses.


    Bis zu Baudelaire ist das romantische Stadtgedicht naturhaft panoramatisch angelegt - Heines "Die Stadt" kaum anders als Wordsworths "Composed upon Westminster Bridge". Die Stadt ist der Negativkontrast zur beglückenden Natur, und eine - selbstredend nur großstädtisch situierbare - Ätiologie menschlicher Leidenschaften, wie sie etwa die Sonette Shakespeares entwerfen, wird in der Empfindsamkeit und Romantik von harmoniesüchtigen Modellen des Einschwingens auf das natürliche Maß abgelöst.


    Städtisches Flair in der Winterreise ("Die Wetterfahne", "Rückblick") entfaltet daher gewaltige zentrifugale Kräfte und Repulsionen; nur daß die Natur die soziale Entfremdung nicht auffängt, sondern erst recht widerspiegelt.


    Die Natur der Winterreise ist v.a. deswegen so befremdlich und grausig, weil sie eben das Verprechen, den Menschen für sein Erlittenes zu entschädigen und zu trösten, nicht einlöst. Vor aller Konstruiertheit ist der Winter eine allsinnfällige Metapher dieser Überschreibung des Naturtopos. Dialektisch aber verweist die Verweigerungshaltung der gefrorenen Welt auf einen unverbrüchlichen Anspruch auf Wärme, auf Begegnung und Kommunikation.


    Es gibt in der Winterreise sogar Ansätze für eine - ebenfalls romantische - Ästhetisierung der Winterwelt, etwa im "Stürmischen Morgen", die die weiße Leere als Raum der Freiheit erlebbar macht. Spuren dieser Heroisierung hört man allenthalben, "Auf dem Flusse", "Einsamkeit", "Im Dorfe".


    "Erlebnislyrik" im Sinne der Unmittelbarkeit, wie sie Goethes "Willkommen und Abschied" repräsentiert, bietet die Winterreise in meinen Augen nirgends. Schon Eichendorff, darauf hat einer meiner Vorredner hingewiesen, konstruiert seine Gedichte aus formelhaften Chiffren; Heine und Baudelaire werden ihm darin folgen. Man könnte vereinfachend sagen, die Unmittelbarkeit der Erlebnislyrik wurde in den folgenden Generationen zur Technik des poetischen Erzeugens von Emotionen und Stimmungen umfunktioniert, mit einem hohen Grad an Bewußtheit der Materialhaftigkeit der lyrischen Sprachformen.


    Die Winterreise gehört daher allenfalls in die Nähe des Symbolismus. Sie spielt - insofern hat Helmut recht - in toto die Karte der Naturlyrizismen aus; "Realismus" etwa im Sinne einer konkreten sozialgeschichtlich verwertbaren Aussage ist darin nicht vorhanden - das entspricht der Position Holgers. Dem widersteht nicht, daß die Bildlichkeit in der Winterreise oft beunruhigend konkret und "real" gefaßt wird, man denke bloß an den "Leiermann". Aber auch die Präraffaeliten malten mit dieser beunruhigenden Deatailphantasie, ohne je "realistisch" zu malen.


    :hello:

    Lieber Helmut,


    ich kann dir hier nur auf der ganzen Linie zustimmen. Und es leuchtet mir auch sofort ein, daß das eigentlich Faszinierende am "Lindenbaum" die musikalische Evokation von Zeitlichkeit, von verklärter oder aufgeladener Erinnerung ist, von Bildern, vollgesogen mit individuell Erlebtem.


    Du weißt, ich reagiere allergisch auf die Thomas Mannsche Vereinnahmung des Lindenbaumlieds (im Zauberberg). Dort, im Schnee-Kapitel, suggeriert ein tödlicher Schneesturm dem verirrten Skiwanderer Hans Castorp die Annehmlichkeit einer Rast, die allerdings den sofortigen Erfrierungstod zur Folge hätte. Überdies ist das kontemplative, ruhiggestellte Leben ein zentrales Thema des Romans und gebiert, in extremer Konsequenz, eine lebensfeindliche Haltung.


    All das führt, auf den "Lindenbaum" projiziert, bloß zu Unsinn. Weder sind die "kalten Winde" irgendwie lebensbedrohlich, noch wäre die - jahreszeitenübergreifend-zeitlose - Verheißung der Ruhe im Schatten des Baums an eine tödliche Gefährdung (wie das Erfrieren) gebunden. Man muß schon alle lichten, friedlich glückverheißenden Assoziationen dieser Musik ausblenden, um die fatale Botschaft einer Todesverlockung zu vernehmen.


    Die erste Strophe immerhin gefällt mir bei Bostridge besser als bei Gerhaher das ganze Stück - er singt hier so verhalten, gedämpft und getragen, als handle es sich um eine ernste, keine freundliche Sache.


    Wenn man die DVD von Bostridges Winterreise mit Julius Drake einlegt, kann man unter dem Track "over the top with Franz" das Making of des Winterreisenfilms anschaun. Das ist ein recht amüsanter Einblick in die Schwierigkeiten, denen sich Pianist und Sänger ausgesetzt sahen, wenn der Regisseur seine Ideen entwickelte. Ursprünglich sollte alles in einem viktorianischen, nun ruinösen Krankenhaus für Psychiatrie spielen (Bostridge war diese Festlegung auf den Psychopathen zu eindimensional; später wählte man einen Studioaufbau).


    Sehr witzig ist die Stelle, wenn Julius Drake darüber sinniert, ob er nun ein Krähenkostüm anziehen müsse, und wie er mit den Krähenfüßen an die Klavierpedale reiche. Das ist immerhin eine erstaunliche Assoziation, von der Krähe zum Flügel als ständigem Begleiter. - Berührend auch Bostridges Einsicht im Laufe der dramaturgischen Umsetzung, er sei offenbar doch nicht "that shy", wie er gedacht habe.


    :hello:


    ein wundervolles Buch über die Empfindsamkeit der Männer, über einen kurzsichtigen Frauenversteher und verkrachten Genfer Universitätsdozenten, der mit 16 000 Tagebuchseiten in vierzig Jahren zugleich etwas wie ein Proust avant la lettre war. Ich habe mich in allem wiedererkannt.


    :hello: